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5. Zur »Therapie« der unglücklichen Einheit 

 

 

Entwickelte »Runde Tische«

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Ich empfinde das Bemühen, mit sehr viel Geld und gutem Willen die deutsche Vereinigung gestalten zu wollen, als tragisch. Die unseriösen Machenschaften können wir bei den folgenden Überlegungen ruhig vernachlässigen. Ich bin dabei erinnert, wie oft ich schon von Menschen erzählt bekam, meist unter Anzeichen tiefer Erschütterung, wie sie von ihren Eltern durch materielle Zuwendung zufrieden und glücklich gemacht werden sollten. Die Eltern wußten es nicht anders und konnten es nicht besser. Aber die Kinder brauchten meist etwas ganz anderes: körperlichen Kontakt, Zuhören, Interesse, Verständnis, auch Spiel und Kampf und Streit. 

Dies alles bekamen sie nicht oder nicht genügend, dafür aber reichlich Geschenke. Sie mußten damit zwangsläufig in einen tragischen Konflikt geraten, sie waren gelähmt in ihrer Kritik und wagten nicht, ihre Enttäuschung zu zeigen, um die Eltern nicht zu kränken und nicht als »undankbar« beschuldigt zu werden. An diese Berichte bin ich erinnert, wenn ich an unsere deutsche Situation denke.

Es fließt unvorstellbar viel Geld, aber es versickert, und die Menschen werden nicht froh dabei. Geld ist sozusagen wie das Blut in den Adern der »sozialen Marktwirtschaft«. Es versorgt und belebt den ganzen gesellschaftlichen Organismus und wird jetzt für uns gespendet. Das »Beste« wird für uns gegeben. Doch im Grunde genommen brauchen wir etwas ganz anderes. Wir haben eine bittere Vergangenheit, die ungeklärt immer mehr in uns absackt und die wir nicht einfach verkaufen können.

Wir tragen aufgekeimte, aber bereits wieder enttäuschte Hoffnungen in uns, seitdem wir das Geld in der Hand halten und uns Zufriedenheit nicht kaufen können, und wir sind durch die Herrschaft dieses Geldes vielfach bedroht und unerträglich belastet. Nein, nicht daß es ohne Geld ginge, aber wenn es an die Stelle menschlicher Beziehungen und grundlegender Bedürfnisse tritt, hilft es nicht nur nicht, sondern vergrößert nur die Not.

Daß im Unterschied zum Marshall-Plan heute ungleich viel mehr Geld für den Neuaufbau einer Gesellschaft aufgebracht werden muß, liegt vor allem an den psychosozialen Fehlentwicklungen auf beiden Seiten: Wir wollen mit unseren neurotischen Versorgungs­wünschen und der Anspruchs­haltung sofort das westliche Niveau geschenkt bekommen und möglichst auch noch für alles Vertane und Verlorene entschädigt werden, und der Westen wird Opfer seiner neurotischen Leistungs- und Erfolgs­sucht, so daß gepowert wird, nur um die »Überlegenheit« und »Stärke« zu beweisen. Um die unglückliche Vereinigung zu einer sinnvollen werden zu lassen, ginge es darum, unsere beiderseitigen Fehlhaltungen zu erkennen und aufgeben zu lernen. Eine solche Einstellung und ein Bemühen darum wäre bereits ein riesiger Gewinn. Aber davon sind wir noch weit entfernt.

Wieder fällt mir das Wort »tragisch« dazu ein. Als der Bundeskanzler am 7.4.91 bei seiner ersten Reise in die »neuen Bundes­länder« nach den ersten gesamtdeutschen Wahlen Erfurt besuchte, sprach er erstaunliche Worte, sinngemäß: Die ökonomischen Schwierigkeiten werde man in einigen Jahren schon erfolgreich bewältigen können, doch die psychologischen Probleme machten ihm Sorgen; es sei die Frage, ob die Westdeutschen so viel Geduld und Verständnis für die (armen) Ost­deutschen aufbringen könnten, die vierzig Jahre in einem so furchtbaren Stasisystem leben mußten!

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Ja, genau darum geht es! Doch wo bleibt die andere Seite? Macht sich der Kanzler aller Deutschen keine Sorge, ob wir Ostdeutschen genug Geduld und Verständnis für die Westdeutschen aufbringen, die über vierzig Jahre ihre einseitige und entfremdende Prägung durch das Wertesystem des Geldes erfahren haben? Um dieses gegenseitige Verständnis unserer Fehlent­wicklungen geht es aber.

Daß es psychologische Schwierigkeiten gibt, ist also nicht mehr zu verbergen, aber daß dies beide Seiten betrifft, wird noch längst nicht verwirklicht oder gar akzeptiert. So passiert die Besser-Wessi-Arroganz: Sie wollen Geld geben, auch Personal­exporte, selbst Geduld und Verständnis, aber auf keinen Fall die eigene Not bedenken und die Notwendigkeit zur eigenen Veränderung sehen.

Am 10.4.91 kam der Bundeskanzler in einem Interview erneut auf die psychologische Seite der Vereinigung zu sprechen, und er forderte mehr Verständnis füreinander mit dem Hinweis, daß die Westdeutschen nicht so auftreten sollten, als wenn sie alles besser wüßten und könnten, und die Ostdeutschen müßten eben auch begreifen, daß der westliche Wohlstand nur durch harte Arbeit erreicht werden konnte.

Des Kanzlers Worte in alle Ohren, die immer noch glauben, man könne die psychosoziale Dimension der deutschen Vereinig­ungs­not geringachten, doch haften dem frommen Wunsche mindestens drei Probleme an: Erstens lassen sich durch Forderungen und die Einsicht in ein Problem noch keine wirklichen Verhaltensänderungen erreichen. Hier bedarf es der innerseelischen Bewältigung und Aufarbeitung der Hintergründe für das Fehlverhalten, und ein neues Verhalten ergibt sich in der Regel auch nicht von allein, sondern es muß eingeübt werden, und auch dafür bedarf es geeigneter Strukturen.

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Und zweitens, wenn es darum geht, daß die Ostdeutschen nur westliche Strukturen zu übernehmen haben, dann sind alle Westdeutschen den Ostdeutschen permanent überlegen, dann wissen und können sie ganz selbstverständlich alles besser, weil sie in das System hineingewachsen sind und sich über vierzig Jahre daran gerieben und auch damit auseinandergesetzt haben und auf diese Weise wesentliche Erfahrungen integriert haben. Das alles fehlt den Ostdeutschen. Auf dieser Ebene ist es also unsinnig, kein überlegenes Verhalten zu fordern, wo es einfach vorhanden ist. Wollte man dem Wunsche nachkommen, müßte man sich zu einem verlogenen und aufgesetzten Verhalten zwingen.

Würden sich aber West- und Ostdeutsche auf menschlicher Ebene begegnen, also wenn sie sich darüber verständigen würden, wie sie wirklich leben, was sie ängstigt und freut, wie sie die Beziehungen in der Familie zwischen den Geschlechtern und in der Sexualität gestalten, wie glücklich oder unzufrieden sie sind, dann dürfte es keinen großen Unterschiede mehr geben — allerdings ist diese Art von Begegnungen mit internalen, offenen, ehrlichen und sehr persönlichen Mitteilungen auf beiden Seiten nicht üblich. Im Westen scheint es mir noch schwieriger zu sein, wirklich von sich zu sprechen, weil dies sofort als »Schwäche« ausgelegt werden könnte und damit die Gefahr droht, an »Marktwert« zu verlieren. Dagegen hat die Angst und Einschüchterung durch die Stasiüberwachung im Osten weniger die privaten Mitteilungen berührt.

Und drittens ist die ständige Beteuerung, daß im Westen halt schwer gearbeitet werden mußte für den erreichten Wohlstand, für sehr viele Ostdeutsche eine permanente Kränkung und Beleidigung, denn hier wurde auch schwer gearbeitet, doch häufig entsprach die Effektivität der Arbeit nicht ihrem Aufwand, aber dies hat das System der Plan- und Kommandowirtschaft zu verantworten und nicht so sehr die Menschen. Und außerdem wollen die meisten Menschen hier hart arbeiten, nur sie haben keine Arbeit — da wirkt des Kanzlers Formulierung bereits zynisch.

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Doch trifft die Formel von der »harten Arbeit« schon ein zentrales Problem, nämlich die Frage nach dem wirklichen Sinn und Wert solcher Art Anstrengung. Wenn vor lauter Arbeit das Leben versäumt wird und Geld dafür entschädigen soll, kann diese Formel kein Segen mehr sein. Und wenn harte Arbeit auf der einen Seite Wohlstand beschert und auf der anderen Seite Armut und Umweltzerstörung vergrößert, wird sogar ihr Fluch offenkundig. Eine wirkliche deutsch-deutsche Versöhnung wird nur dann zustande kommen, wenn Arbeit zu einem zentralen Thema wird und eine große Aussprache darüber einsetzt, welches Maß an Arbeit und welcher Grad von Wohlstand für uns, die nächsten Generationen, die Welt und die Natur und für die Verteilung der Güter auf Erden notwendig und erträglich ist.

Diese große Aussprache zum Thema »Arbeit und Wohlstand — Grund- und Ersatzbedürfnisse« wäre der erste »therapeutische« Schritt. Diese Aufgabe könnte sachbezogen von den Medien vorbereitet, von den Experten diskutiert, von den Künstlern und Schriftstellern emotional nahegebracht werden. Doch die neue, heilsame Qualität der Aussprache könnte aus den weiter­entwickelten »Runden Tischen« erwachsen: eine Auseinandersetzung zum Thema, die vor allem die Beziehungsprobleme und unbewußten Bedürfnisse mit einschließen würde. Gruppendynamisch oder mit der Methode der »themenzentrierten Interaktion« (nach Ruth Cohen) ließe sich diese sonst ausgesparte Dimension erschließen und eine neue Chance eröffnen, ökonomische und menschliche Interessen zu versöhnen. Am Ende könnten vielleicht Ideen und praktische Vorschläge für die Struktur einer »menschlichen Marktwirtschaft« herauskommen.

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In der Psychotherapie ist dies kein seltenes Ergebnis, daß mit der zunehmenden Fähigkeit zu befriedigenden, lustvollen mitmenschlichen Beziehungen und dem Mut zu offenen und ehrlichen emotionalen Mitteilungen das Begehren nach materiellem Wohlstand und Konsum abnimmt. Die suchtartig gesteigerten Ersatzbedürfnisse dürfen dann auf normale Konsumbedürfnisse zurückkehren.

Ein »Runder Tisch menschliche Marktwirtschaft« könnte Politiker, Arbeitgeber und -nehmer, Gewerkschafter, Arbeitslose, Sozialhilfeempfänger, Frauen und Männer und Kinder, Ost- und Westdeutsche und Experten jeder Art zusammenführen und Erfahrungen sammeln, die für weitere Entscheidungen hilfreich sein könnten. 

Die von Konkurrenz- und Machtinteressen und von intellektuell-argumentatorischem Schliff und Schnörkel befreite Kreativität würde Wahrnehmungen und nur erlebbare Erfahrungen befördern, die die andere und unterdrückte Seite unseres Menschseins, die für unser Leben und unser Überleben immer wichtiger wird, zur ausgleichenden Geltung bringen. Die aufgaben- und themenbezogene Arbeit solcher »Runden Tische«, die vor allem die emotionale Seite und die menschlichen Bedürfnisse mit berücksichtigt, könnte eine wichtige neue Beratungsfunktion für alle politischen und wirtschaftlichen Entscheidungen einnehmen.

 

Zwiegespräche

 

Zwiegespräche wollen das gegenseitige menschliche Verstehen befördern, sie sind nicht auf notwendige Entscheidungen aus, sie müssen nicht einmal bestimmte Themen oder Aufgaben anzielen.

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In allen menschlichen Auseinandersetzungen spielen unbewußte Vorgänge (Bedürfnisse, Wünsche, Ängste) und Beziehungskonflikte (Projektionen, Rivalitäten, abgewehrte Gefühle, Wünsche und Sehnsüchte gegenüber dem Gesprächspartner) eine wichtige Rolle. Die unbewußte Beziehungsdynamik ist in der Regel der Grund für unglückliche Entscheidungen, für Sieg oder Niederlage, für den Zwang zu Abstimmungen.

Mit nur geringem Aufwand, ohne die Leitung durch einen Fachmann, bieten Zwiegespräche eine Möglichkeit, den Partner des Gespräches besser kennenzulernen, sich selbst besser verständlich zu machen und damit Beziehungsstörungen zu verringern. Bei vielen Veranstaltungen und Diskussionen in Westdeutschland ist mir immer wieder deutlich geworden, wie wenig wir Ost- und Westdeutschen uns wirklich kennen und voneinander wissen. Von daher kommt es, daß wir unsere Verschiedenheit meist unterschätzen. Häufig bin ich auch aus ganz ehrlichem Engagement heraus gefragt worden, womit denn jetzt am besten im Osten geholfen werden könne. Dabei wird fast immer und zuerst an materielle Dinge gedacht. Doch ich habe zunehmend die Überzeugung gewonnen, es geht vor allem um menschliche Begegnungen mit persönlichen Mitteilungen. Damit meine ich besonders die Gelegenheit, zueinander von sich zu sprechen, nicht mehr über etwas zu sprechen oder gar nur geltungsstrebig aneinander vorbei zu reden bzw., bloße Konversation als Zeitvertreib zu treiben.

Von-sich-Sprechen meint das allmähliche Sich-ehrlich-Machen, ganz authentisch die innerste Befindlichkeit allmählich mitzuteilen: die Gefühle, auch die Ängste und Sehnsüchte, die Befürchtungen, die Wünsche und Hoffnungen, die heimlichsten Freuden und Leiden. Bleiben dabei bohrendes Fragen, Drängen, Abwerten, Rechtfertigen und Zurechtweisen ausgeschlossen, werden zutiefst menschliche Begegnungen ermöglicht, die das sonst vorherrschende Abwehrverhalten allmählich unnötig werden lassen.

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Hinter den Masken erscheinen wieder die Menschen. Zwischen Ost- und Westdeutschen könnte damit vor allem auch das kollusive Zusammenspiel vermieden werden, daß im Moment den politischen Alltag bestimmt. Mit Kollusion ist ein gemeinsames, allerdings unbewußtes, Grundleiden gemeint, das nur unterschiedlich, meist polar entgegengesetzt abgewehrt wird (also, zum Beispiel in den Gegensatzpaaren Aktivität und Passsivität, Dominanz und Abhängigkeit, Herrschsucht und Gefügigkeit, Selbstbewußtsein und Selbstunsicherheit, Überheblichkeit und Gehemmtheit). Solche kollusiven Beziehungen zur gemeinsamen Abwehr des inneren Mangelsyndroms sind für die deutsch-deutschen Verhältnisse im Augenblick recht typisch. 

Ursprünglich waren solche Zwiegespräche für Paare entworfen: als ein ganz ungestörtes, wesentliches Gespräch von etwa eineinhalb Stunden Dauer mit dem Ziel, sich wechselseitig einfühlbar zu machen (vor allem von dem Psychoanalytiker Michael Lucas Möller; vgl. Möller: Die Wahrheit beginnt zu zweit). Möller schreibt dazu: »Das Geheimnis der Zwiegespräche beruht auf der Chance, die sich zwei Menschen bieten, ihre Andersartigkeit zu akzeptieren. Die Kultur des anderen wird aufgrund der wechselseitigen seelischen Übersetzungsarbeit gleichsam durchsichtig. Die übliche Abwertung des Fremden, ein archaisches Angstsymptom und die Essenz jeder Art von Rassismus, verliert ihren Boden.«

Es geht also darum, sich in wichtigen und wesentlichen Dingen mitzuteilen, dem anderen auch wirklich zuzuhören und die Äußerungen des jeweiligen Partners anzunehmen, also nicht in Frage zu stellen oder zu bewerten, sondern sich in die Sicht und Erfahrungswelt des anderen einzufühlen. Solche Zwiegespräche können zwischen Paaren, Freunden, Kollegen, aber auch mit Fremden geführt werden.

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Für unsere Überlegungen geht es vor allem um Ost-West-Zwiegespräche mit dem Ziel, die sehr unterschiedlichen persönlichen Erfahrungen in beiden Systemen, die Verschiedenheit der Lebensstile, die Kluft des Erlebens und Verhaltens herauszuarbeiten und sich verständlich zu machen (vgl. Möller/Maaz: Die Einheit beginnt zu zweit, Berlin 1991) Solche Zwiegespräche können einmalig, in beliebigen Abständen fortgeführt oder in mehreren Sitzungen gebündelt geführt werden. Für den deutschen Vereinigungsprozeß wären organisierte Treffen zwischen Ost- und Westdeutschen denkbar, also für alle beliebigen Bürger, aber eben auch für Politiker, die verschiedenen Parteimitglieder, Kirchenvertreter, Wirtschaftsexperten und Fachleute jeder Art, sowohl untereinander als auch mit den jeweiligen politischen Gegnern und den kollusiven Partnern. Es könnten auch Politiker und Wähler, Manager und Arbeitslose, Vorgesetzte und Untergebene miteinander ins Gespräch kommen und die jeweils anderen Erfahrungen und Befindlichkeiten kennenlernen.

Am Sinn und Wert solcher Gespräche, mit denen man die Einfühlsamkeit, Zugewandtheit und Achtung fördern und vermitteln kann, dürfte es kaum Zweifel geben. Sie aber auch tatsächlich zu organisieren und zu führen, ist noch eine ganz andere Sache. Da dürfte es viele Widerstände geben, denn letztlich werden über solche Zwiegespräche auch die Abwehrstrategien aufgeweicht, an denen aber die meisten so hartnäckig festhalten, um sich nicht wirklich begegnen zu müssen. Und wer sich selbst nicht zu begegnen wagt, der wird auch einem anderen Menschen nicht wirklich begegnen wollen und können. Dies hat wieder etwas mit den eigenen bitteren und schmerzlichen Erfahrungen zu tun, die aus der Verdrängung wieder auftauchen könnten, wenn endlich etwas möglich scheint, was man immer ersehnt, aber nie bekommen hat. Andererseits kann es aber auch sehr hilfreich sein, die tiefe Erleichterung kennenzulernen, die eintreten kann, wenn man sich endlich mal wirklich mitteilt.

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Zwiegespräche könnten die psychologische Dimension in den Vereinigungsprozeß hineinbringen, der ja bisher vorrangig politisch und ökonomisch vonstatten geht und an den Menschen zu scheitern droht. Zwiegespräche wären eine angemessene Antwort auf die illusionäre Hoffnung, daß alleine Geld und neue Wirtschaftsstrukturen unser Leben verbessern könnten. In solchen Gesprächen könnten wir lernen, die ostdeutsche und die westdeutsche Fassade aufzugeben, um dann festzustellen, daß wir in den ganz persönlichen Dingen sehr viel Ähnlichkeiten haben, und genau diese Erfahrung miteinander könnte die menschliche Vereinigung herstellen, ohne die sich die Politik wundlaufen und die Wirtschaft mehr Unglück bringen wird als gute und sichere Lebensgrundlagen. Es geht also darum, die psychologischen Barrieren abzubauen, Kollusionen und Kolonialisierung zu vermeiden, die nur die innere Mauer zwischen den Menschen verstärken. Und aus der größeren Nähe heraus und dem besseren Verständnis füreinander könnten auch Ideen für ein gemeinsames besseres und weniger entfremdetes Leben entstehen.

 

Selbsthilfegruppen  

 

In der DDR durfte es keine Selbsthilfegruppen geben. Die Staatsdoktrin besagte: In der DDR hat es keiner nötig, sich selber helfen zu müssen, denn der Staat sorgt für alle bestens. Dies war der typisch entmündigende Stil dieses Systems, das an keiner Stelle Selbstverantwortung und Eigenständigkeit seiner Bürger zuließ oder gar förderte. Dies hätte den Oberen bereits Angst eingeflößt und die angemaßte »Fürsorge«-Position in Frage gestellt, die aber war nötig, um einer nicht legitimierten Macht Inhalt zu geben.

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Die Infantilisierung der Menschen ist ein Wesenszug autoritär-repressiver Verhältnisse. Auch jedwede spontane Initiative, die Menschen gleichen Sinnes zusammengeführt hätte, galt dem Staat als subversive Gefahr, denn immerhin beginnt die Kraft des Volkes dort, wo Interessen übereinstimmen und Verständigung hergestellt wird, was im Oktober und November 1989 deutlich zu beobachten und zu spüren war. Das Verbot von Selbsthilfegruppen zeigte aber auch eine bornierte Unkenntnis der Bedeutung psychosozialer Faktoren bei der Entstehung wie auch Lösung von Konflikten, Krankheiten und Lebensschwierigkeiten.

Der »real existierende Sozialismus« blieb in allen Bereichen einer materialistisch-naturwissenschaftlichen Doktrin verhaftet, und dazu gehörte auch das blinde, irrationale Vertrauen auf Experten. Letztendlich mußte es für alle Störungen eine Lösung geben, die von außen und oben verordnet werden konnte. Man müsse halt den »klugen« Rat der Autoritäten befolgen, dann werde schon alles besser werden. So bekamen viele Menschen in Not nicht nur keine Hilfe, sondern wurden auch zusätzlich noch belastet und geschädigt, wenn sie zu hören bekamen: Du mußt, du sollst, befolge folgende Anweisungen ... Denn fehlendes Wissen oder mangelnde Einsicht sind in der Regel nicht die Gründe für Fehlverhalten, sondern diese sind nur tief in den seelischen Strukturen der Menschen zu finden. Wer dann noch belehrenden Rat bekommt, dem wird nochmals in die Wunde gestochen.

In der DDR mußte jede Gruppe von Menschen, die bestimmten Interessen folgte, einen Leiter haben, sie mußte organisiert und damit angemeldet sein, und damit kam sie unter autoritäre Bevormundung, und die wirklichen Bedürfnisse konnten nicht mehr gezeigt, gelebt und befriedigt werden.

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Auch in der Psychotherapie sind Selbsthilfegruppen eine unerläßliche Hilfe. Therapie heißt letztlich: Verändere dein Leben!, und das bedeutet einen jahrelangen Prozeß von Neuerfahrungen und mühsamen Umgestaltungen. Dies kann nicht allein in einer Therapiegruppe oder auf der Couch des Therapeuten gelingen. Um mit der Diskrepanz zwischen therapeutisch notwendigem und sinnvollem und gesellschaftlich möglichem Leben zurechtzukommen, in ständiger Auseinandersetzung und Reflexion zu bleiben, dazu sind Selbsthilfegruppen eine unerläßliche Hilfe. In solchen Gruppen können Patienten ständig ihre Erfahrungen austauschen, sich gegenseitig ermutigen und stützen und sich in schwierigen Situationen aussprechen, wobei allein schon der verständnisvolle Kontakt zu ähnlich Betroffenen eine wesentliche Hilfe bedeutet.

Immer sind Selbsthilfegruppen auch wesentliches Übungsfeld für alternative Lebensformen, die therapeut­ischen Zielvorstellungen entsprechen. Wobei das Wort »alternativ« insofern eine Berechtigung hat, weil durch die umfassenden Neu- oder Wieder­erfahrungen der verdrängten und abgespaltenen Wünsche und Bedürfnisse das Interesse wächst, das eigene Leben weniger entfremdet zu gestalten und wesentliche, entspannende und gesunderhaltende Verhaltensweisen wie Gefühlsausdruck, zwischenmenschliche Nähe mit verbaler und emotionaler Intimität weiterzuentwickeln und miteinander zu pflegen. Dafür bleibt in der Regel im durchschnittlichen Alltag kein Platz, ja man erntet eher Befremden und Hohn, will man diese Seiten zeigen und leben lassen.

Selbsthilfegruppen im Zusammenhang mit dem deutschen Vereinigungsprozeß könnte wesentliche psycho­soziale Funktionen erfüllen. Die allgemeine Verunsicherung, die vielfache Rat- und Hilflosigkeit, die vorhandene Empörung und Enttäuschung, die Ängste, aber auch die Hoffnungen und Pläne für die Zukunft fänden Raum und Zeit, um sich zu artikulieren, um Aufmerksamkeit und kritische Auseinander­setzung zu erfahren.

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Selbsthilfegruppen geben eine Minimalstruktur, einen geeigneten Rahmen, um sich zu entlasten, um Solidarität zu erfahren und zu üben, und zugleich werden Anregungen ermöglicht und neue Ein- und Aussichten gefördert. Es wäre vor allern eine wesentliche Chance, Verbundenheit durch gemeinsame Betroffenheit zu erfahren als Schutz gegen Vereinzelung, Resignation und Verzweiflung, und auch um belastende oder gar destruktive Konkurrenz und Feindseligkeit zu verhindern, die in Krisenzeiten leicht am Nächsten abreagiert werden.

Es gibt auch viele Themen, die im Moment fast alle im Osten angehen: die neuen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse, die Arbeitslosigkeit und soziale Not, die Folgen und Schäden des »real existierenden Sozialismus«, die Problematik westlicher Lebensart — Themen, über die Information, Austausch und gemeinsames Nachdenken wichtige Hilfen wären und damit auch gute Voraussetzungen für sinnvolle und notwendige Initiativen schaffen könnten. Es kann ja eben nicht nur darum gehen, mit den neuen Verhältnissen fertigzuwerden und sich darin halbwegs einzurichten, sondern vor allem auch darum, diese Verhältnisse aktiv mitzugestalten und nach eigenen Möglichkeiten und Bedürfnissen zu prägen. In diesem Sinne würden Selbsthilfe­gruppen auch den Boden bereiten für eine Basisdemokratie und Wege zu einer »menschlichen Marktwirtschaft« finden helfen. Ein Netzwerk von Selbsthilfegruppen wäre ein Meilenstein auf dem Weg zu einer »therapeutischen Kultur«.

Selbsthilfegruppen brauchen Initiatoren und Organisatoren. Sie brauchen vereinbarte Orte, Räume und Zeiten und die Bereitschaft, sich mitzuteilen und anderen zuzuhören.

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Es sollten Orte des wachsenden Vertrauens sein, wo es nicht mehr um richtige und falsche Meinungen, um dumme Fragen und schlaue Antworten, um bewertende Urteile und Streit gehen sollte, sondern darum, sich auszusprechen, den anderen verstehen zu wollen und sich auch einfühlen zu können, nicht Recht behalten oder bekommen zu wollen, nicht glänzen und angeben zu müssen, aber sich anregen lassen und lernen, auch gegensätzliche Meinungen nebeneinander stehen zu lassen. Selbsthilfegruppen brauchen keine Leiter, keine Referate und keine Dominanz von Experten. Sie werden getragen von einer gemeinsamen Idee und einem gemeinsamen Willen. Die Gruppen geben sich ihre Regeln selbst und sind offen für Veränderungen und Entwicklungen. Selbsthilfegruppen sind ein bedeutender Anfang für eine neue Kultur des Zusammenlebens, sie helfen, autoritäre Strukturen, Abhängigkeiten und Untertanengeist zu überwinden, sie relativieren das Verhältnis von Oben und Unten, sie fördern die Verantwortlichkeit und die Initiative des Einzelnen.

 

Balint-Gruppen

 

Michael Balint, ein aus Ungarn stammender englischer Psychoanalytiker hatte eine einfache, aber geniale Idee. Er führte Allgemein­ärzte zu einer Gruppe zusammen und analysierte mit ihnen gemeinsam die Beziehung zwischen dem Arzt und seinem Patienten, vor allem bei sogenannten Problemfällen. Damit wurde eine wesentliche Einengung des schulmedizinischen Denkens überwunden. Es ging nicht mehr um Krankheiten und ihre Diagnostik und Therapie mittels akademischer Kenntnisse, die den Patienten zu einem Objekt machen, sondern es ging um kranke Menschen in lebendigen Beziehungen und veränderlichen Situationen.

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Balint brachte somit eine zentrale Erkenntnis der Psychoanalyse in die Allgemeinmedizin, nämlich daß Krankheiten und ihr Erscheinungsbild wesentlich durch menschliche Beziehungen verursacht und ausgestaltet werden. Diese Tatsache gibt der Arzt-Patient-Beziehung eine herausragende Bedeutung für die Therapie, das heißt Therapie geschieht im wesentlichen in und durch die Beziehung. Balint prägte auch das Wort von der »Droge« Arzt: Der Arzt als Mensch und Beziehungspartner entscheidet mit der Art seiner Beziehungsgestaltung zum Patienten meist wesentlich mehr über den Erfolg einer Therapie oder den Ausgang einer Krankheit als Medikamente oder sonstige äußere Anwendungen und Verordnungen. Balint lehrte also die praktischen Ärzte, sogenannte schwierige Fälle als Ausdruck von Beziehungsstörungen zu verstehen.

Die Ursache vieler Krankheiten liegt in frühen Beziehungsstörungen zwischen Mutter, Vater und Kind, und meistens werden diese frühen Erfahrungen zu einem wesentlichen Muster für alle späteren Beziehungen. Durch diese Wieder­holungen werden die ursprünglichen negativen oder defizitären Erfahrungen allmählich verfestigt, bis sie sich anhand von Krankheits­symptomen bemerkbar machen.

Mit den angelernten Beziehungsmustern gestaltet in der Regel jeder Patient auch sein Verhältnis zum Arzt, darin liegt die Gefahr und die Chance für jede Therapie. Die Gefahr besteht darin, daß der Patient seine ungünstigen, ihn kränkenden und später krankmachenden Beziehungserfahrungen mit seinem Arzt wiederholt, und daß damit das eigentliche Problem chronifiziert wird, was bei vielen Erkrankungen leider häufig passiert, vor allem immer dann, wenn auf das Leiden des Patienten nur medizinisch reagiert und die psychosoziale Dimension der Erkrankung vernachlässigt wird.

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Die Arzt-Patient-Beziehung bietet aber auch eine großartige Chance, denn wenn sich in ihr die ursprünglichen Beziehungs­störungen wiederholen und spiegeln, dann können sie auch erkannt und zu einem besseren, letztlich gesünderen Ausgang geführt werden, vorausgesetzt, der Arzt versteht etwas von der Beziehungsdiagnostik und ist zu einer reiferen Beziehung, als es jemals die Eltern waren, fähig und bereit.

Man kann die Balintsche Idee etwa folgendermaßen zusammenfassen: Die unglücklichen, verletzenden und traumatischen Erfahrungen, die ein Mensch als Kind machen mußte und die Tatsache mangelnder Befriedigung und Bestätigung führen zu entsprechenden seelischen und charakterlichen Strukturen, wodurch die früheren Erfahrungen schließlich verinnerlicht sind. Die ursprünglichen Beziehungserfahrungen gerinnen also zu innerseelischen Strukturen, die dann dafür sorgen, daß möglichst alle zwischen­menschlichen Beziehungen nach dem Urmuster ausgestaltet und das heißt entsprechend manipuliert werden. Wenn der Arzt sich nicht entsprechend dem Beziehungsangebot des Patienten manipulieren läßt, wächst die Chance für günstigere Neuerfahrungen, an denen der Patient schließlich gesunden kann.

Um nur einige Beispiele für weitverbreitete manipulierende Beziehungsangebote zu geben: Schweigen nötigt die Beziehungsperson zum Sprechen, Hilflosigkeit provoziert Hilfe, Ratlosigkeit fordert Beratung, Fragen verführen zu Antworten, Schmerzen lösen schmerzlindernde Aktivitäten aus und so weiter. Nur, wer nicht wie erwartet reagiert, eröffnet eine Chance, daß die wirkliche Bedeutung oder Ursache von Schweigen, Rat- und Hilflosigkeit, von Schmerzen aufgedeckt werden kann. Und übrigens: Hinter jeder Frage steckt längst schon eine Antwort!

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Machen Sie die Probe aufs Exempel: Fordern Sie den nächsten Frager auf, er solle selber antworten. Sie werden verblüfft sein, was der Frager längst alles weiß. Fragen sind in aller Regel manipulierende Beziehungs­angebote.

Der Arzt braucht also ein psychosoziales Verständnis für die Entstehung von Krankheiten, und er braucht Selbsterfahrung über seine Art der Beziehungsgestaltung mit all seinen Fähigkeiten, aber auch Störungen und Begrenzungen, was allerdings an der Universität in der Regel nicht gelehrt wird. Eine solche Erfahrung erwirbt man sich durch eigene Therapie- oder Lehrerfahrung. Der Arzt entscheidet also häufig durch die Art und Weise, wie er auf das Beziehungsangebot (zum Beispiel Symptome) des Patienten reagiert und wie er selbst die Beziehung gestaltet (zum Beispiel autoritär-belehrend, medizinisch-sachlich oder menschlich-emotional), über den Ausgang einer Erkrankung, ob sie chronifiziert, symptomatisch nur beruhigt, aber nicht ursächlich geklärt wird, oder ob sie wieder in den zugrundeliegenden psychosozialen Kontext übersetzt wird und aus einem tieferen Verständnis durch Einsicht, emotionale Verarbeitung und schließlich neue Verhaltensweisen ausheilen kann.

Solche Balint-Gruppen gehören inzwischen zum festen Ausbildungsprogramm für alle psychotherapeutisch tätigen, aber leider noch nicht für alle Arzte, obwohl in jedem medizinischen Fachbereich die psychosoziale Dimension eine wesentliche Rolle bei allen Erkrankungen spielt. Eine beziehungsorientierte Analyse ist aber nicht nur für das Arzt-Patient-Verhältnis zum besseren Verständnis für krankhafte Zustände und deren Heilung von, unerläßlichem Wert, sondern auch überall dort, wo zwischen­menschliche Beziehungen entscheidenden Einfluß auf Sachinhalte, Entwicklungsprozesse, zu treffende Entscheidungen, zu lösende Aufgaben und zu bewältigende Konflikte nehmen, wären Balint-Gruppen eine sinnvolle Einrichtung und eine dringende Empfehlung.

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Ich denke vor allem an die Beziehungen zwischen Eltern und Kind, zwischen Lehrer und Schüler, zwischen Offizier und Soldat, Richter und Angeklagten, Vorgesetzten und Untergebenen, Politiker und Bürger.

Es ist klar, daß in einem Macht- und Kompetenzgefälle zwischen Menschen die Inhalte allen Geschehens häufig sehr nachhaltig durch unbewußte oder nicht reflektierte Beziehungsvorgänge beeinflußt werden. Besonders autoritäre Verhältnisse können die besten sachlichen Entscheidungen in ihren Wirkungen einschränken und den Erfolg verhindern, weil unbewußt Widerstand und Protest geleistet wird. Und dadurch werden auch wesentliche kreative und innovative Möglichkeiten beschnitten.

Im Unterschied zu Selbsthilfegruppen sind Balint-Gruppen also berufshomogene Gruppen von zum Beispiel Ärzten, Psychologen, Lehrern, Politikern und anderen, die regelmäßig zusammenkommen mit der Bereitschaft, über problemgeladene Beziehungen zu sprechen. Wie geht es einem Lehrer mit einem chronischen Störenfried in der Klasse, was empfindet ein Politiker gegenüber einem fordernden und ihn kritisierenden Bürger oder einem Vertreter der Opposition, was geht in einem Richter emotional vor, wenn er über einen Mörder oder Vergewaltiger zu entscheiden hat, wie geht es Eltern mit einem behinderten Kind, wie reagiert ein Vorgesetzter auf einen faulen oder unzuverlässigen Mitarbeiter? Wie geht es Westdeutschen mit Ostdeutschen und Ostdeutschen mit Westdeutschen?

Alles sehr wichtige Fragen, deren Beantwortung nicht nur wenig üblich, sondern auch sehr schwierig sein dürfte, doch von größtem Wert ist für gute Entscheidungen und vor allem für die Klärung und Auflösung zugespitzter Konflikte oder sogenannter »Sackgassen« der Beziehung.

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Natürlich räumt ein solches Vorgehen mit manchen Illusionen auf, zum Beispiel man würde stets sachlichrational entscheiden und urteilen, man habe alle Kinder gleich lieb, man würde keinen Schüler bevorzugen oder benachteiligen, man würde immer nur das Beste für seine Patienten wollen, man handle nur zum Wohle seiner Wähler und würde stets nach bestem Wissen und Gewissen seiner Aufgabe dienen. Dagegen wird unvermeidbar deutlich werden, daß man Kinder, Schüler, Patienten und Bürger auch haßt und ablehnt, daß sie einem gleichgültig sein können, daß man sich vor ihnen ängstigt, daß es erotische Gefühle gibt, die man nicht wahrhaben will, daß man Vorurteile hat und, alles in allem, daß die meisten sachlichen Entscheidungen stets von seelischen Hintergründen beeinflußt sind.

Von daher wird leicht verständlich, daß ein solcher Erkenntnisprozeß von vielen abgelehnt wird, obwohl er für alle anstehenden Aufgaben sehr hilfreiche Klärungen herbeiführen könnte. Balint-Gruppen sind in der Lage, die Gleichwertigkeit emotionaler Beziehungsvorgänge, die meist unbewußt ablaufen, zu den bewußten rationalen Überlegungen und Haltungen deutlich werden zu lassen und die verhängnisvolle Fehleinschätzung zu beenden, daß wir in wichtigen und ernsten Angelegenheiten und bei der Pflichterfüllung ganz sachbezogen und vernunftgetragen nach den vorgeschriebenen Geboten und Regeln entscheiden und handeln würden. Dies wäre ein wirksames Mittel gegen das Wuchern autoritärer Strukturen im Interesse wahrhaft demokratischer Verhältnisse.

Auch für das deutsch-deutsche Verhältnis, also die Beziehungen zwischen Ost- und Westdeutschen, die im Moment gemeinsam sehr viele, schwierige und belastende Sachaufgaben zu bewältigen haben, die aber, wie wir sehen müssen, vor allem durch Beziehungsprobleme erschwert sind oder daran sogar scheitern, wären Balint-Gruppen eine entscheidende Hilfe. Solche Balint-Gruppen brauchen für diese Aufgabe speziell ausgebildete Gruppenleiter.

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Zentren für psychosoziale Angelegenheiten  

 

Bei meinen Überlegungen gehe ich davon aus, daß der deutsche Vereinigungsprozeß im Moment vor allem ein psychosoziales Problem ist. Der politische Wille und die ökonomische Kraft für die Vereinigung scheinen hinreichend vorhanden, doch die unterschiedlichen psychosozialen Haltungen und Einstellungen, die überwiegend als fast entgegengesetzte Abwehrstrategien gegen das innere Mangelsyndrom nach den jeweiligen gesellschaftlichen Bedingungen und Nötigungen entwickelt wurden, erschweren und belasten den Prozeß der menschlichen Vereinigung und schlagen neue seelische und soziale Wunden. Sie sind auch der wesentliche Grund, weshalb die finanziellen Aufwendungen nicht wirklich greifen, die Menschen damit nicht zufrieden sind oder wenig Geduld und Verständnis für die Phase des gesellschaftlichen Umbaus aufbringen. 

Die vorhandenen psychologischen Mauern erschweren den Vereinigungsprozeß, und zu ihrer Auflösung bedarf es entsprechender Möglichkeiten und Mittel. Wollen wir psychosoziale Fehlentwicklungen überwinden und abbauen, dann sind folgende Schritte sinnvoll: zunächst Förderung eines Problem­bewußtseins, dann das Erkennen der eigenen Fehlhaltungen, Kontakt zur eigenen Entfremdung herstellen, einen emotionalen Verarbeitungs­prozeß ermöglichen, der vor allem Zorn, Schmerz und Trauer erlaubt, um dann gesündere und weniger entfremdete Verhaltensweisen einzuüben.

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Die deutsche Vereinigung konfrontiert uns erneut mit der Vergangenheit: Wir haben die national­sozialist­ische Schuld, die ostdeutsche und die westdeutsche Fehlentwicklung zu verstehen und unsere persönliche Betroffenheit dabei zu erkennen. Es geht weiter um die kritische Auseinandersetzung zwischen Ost und West, um das Erkennen unserer Unterschiede und Ähnlichkeiten. Das vorsichtig-verlogene Umgehen miteinander muß endlich einem offenen Meinungsaustausch weichen. Wir haben uns eine Menge zu sagen, vorzuwerfen, wir müssen streiten und können auch voneinander lernen.

Dadurch könnte eine wachsende Selbst- und Mitbestimmung für unsere neuen gemeinsamen Verhältnisse befördert werden, was etwas völlig anderes ist als der Triumph eines problembeladenen Systems über den Niedergang eines verrotteten Systems. Wir stehen vor der dringenden Aufgabe, die Entwicklungsbedingungen für die unterschiedlichen Sozialisationen gegenseitig zu verstehen und eine Annäherung durch Veränderungen und Entwicklungen auf beiden Seiten zu erreichen. Und wir stehen unter Druck, um angesichts der schnell wachsenden globalen Probleme, der Umweltkatastrophe, den wirtschaftlichen Problemen des Ostens und der rasenden Not des Südens hilfreiche und sinnvolle Konzepte zu entwickeln, vor allem was unseren eigenen Schuldanteil daran betrifft.

Ebenso wie die politischen und wirtschaftlichen Bemühungen ohne geeignete psychosoziale Unterstützung wenig Erfolg haben und keinen guten Widerhall finden, so sind auch alle Bemühungen um psychosoziale Veränderungen wenig erfolgreich, wenn sie nicht in ein gesellschaftliches und kulturelles Klima eingebettet sind, das entsprechende Erkenntnisse und Entwicklungen wünscht und befördert.

Aus der Psychotherapie wissen wir, daß eine Therapie nicht angeordnet werden kann, wie es in der Medizin sonst üblich ist, sondern sie kann nur vereinbart werden und setzt eine Bereitschaft zu Erkenntnis und Veränderung voraus.

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Die Vereinbarung beinhaltet Verpflichtungen und Verbindlichkeiten für beide Vertragspartner. Der Therapeut ist nicht ein bloßer Experte, der am »Objekt« Patient etwas zu vollziehen oder in Gang zu bringen hat, sondern er ist ein Beziehungs­partner, der als Mensch selbst in den therapeutischen Prozeß mit einbezogen ist. und sich praktisch in jeder therapeutischen Beziehung mitentwickeln muß. Die Bereitschaft zur therapeutischen Veränderung wächst mit dem Leidens­zustand eines Menschen.

Im Moment ist im Osten Deutschlands die psychosoziale Not ein wachsendes Problem, dies könnte den fruchtbaren Boden für sinnvolle Veränderungen darstellen. Andernfalls ist die Gefahr groß, daß die wachsende Krise gesellschaftliche und individuelle Fehlentwicklungen provoziert und damit das radikale Gewaltpotential vermehrt. Alle hier angestellten Überlegungen für notwendige psychosoziale Veränderungsprozesse können prinzipiell nur auf freiwilliger Basis, aus dem eigenen Wunsch oder auch der inneren Not heraus aufgegriffen werden. Allerdings können Entscheidungen durch förderliche oder hinderliche Bedingungen beeinflußt werden. Zu Zeiten der DDR waren die Rahmenbedingungen dafür ausgesprochen hinderlich, allerdings werden auch in der alten Bundesrepublik psychosoziale Vorgänge vernachlässigt, abgewertet oder vermarktet. In beiden Systemen bestand beziehungsweise besteht eine abwertend-diskriminierende Einstellung gegenüber psychischem Leiden.

Es müßte also vor allem darum gehen, förderliche Bedingungen für psychosoziale Angelegenheiten zu schaffen. Dies kann von entsprechenden Zentren geleistet werden, die zwar staatlich gefördert, aber ansonsten nicht von Machtinteressen und Parteipolitik beeinflußt sein sollten. Mit staatlicher Förderung sind finanzielle Mittel, aber auch eine grundsätzliche Bejahung der wachsenden Bedeutung der psychosozialen Dimension für die gesellschaftliche Entwicklung gemeint.

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Solche Zentren könnten wesentliche Funktionen und Aufgaben erfüllen:

1. Forschungsaufträge für psychosoziale Vorgänge in der Gesellschaft;
2. Öffentlichkeitsarbeit, Informationen und Aufklärungen, um das notwendige Problembewußtsein zu schaffen und zu fördern;
3. Organisation von umfassenden Basisaktivitäten für die Begegnung von Menschen mit der Möglichkeit internaler Mitteilungen (»Runde Tische«, Zwiegespräche, Selbsthilfegruppen, Balint-Gruppen);
4. Ausbildung von Organisatoren, Moderatoren, Gruppenleitern, Beratern und Supervisoren für die Organisation und Begleitung der notwendigen psychosozialen Aktivitäten.

 

Es gibt bereits eine Vielzahl von Institutionen und Organisationen, die sich solcher Aufgaben annehmen. Die vorhandene Kultur von Begegnungen, Wissens- und Erfahrungs­vermittlungen und politischer Bildung unterscheidet sich aber in einem wesentlichen Punkt von dem hier vorgetragenen Anliegen: Die emotionale Betroffenheit ist nicht Gegenstand der Veranstaltungen und auch nicht Anlaß für weitere tiefergehende Bearbeitung. Dazu fehlen in der Regel Raum und Zeit, häufig ist auch keine kompetente Ermutigung und Begleitung vorhanden, oder es fehlt überhaupt die Bereitschaft dazu. Im Osten werden zur Zeit eine Fülle von Lehrgängen, Seminaren und Workshops angeboten, meist von westdeutschen Institutionen und Beratern.

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Sicher, es gilt eine Menge Neues zu lernen und die Erfahrungen unseres eingemauerten Horizontes zu erweitern, doch wirft bereits die Einseitigkeit dieser Kurse ein bezeichnendes Licht auf die vorliegenden Verhältnisse: der Westen lehrt, der Osten lernt, andersherum läuft gar nichts. Ich will nicht den Streit neu entfachen, was wir denn zu lehren hätten, nein — doch unsere Lebenserfahrungen wären schon interessant. Dafür gibt es natürlich keine Zertifikate und keinen Pfennig. Aber die ungeklärten und belastenden Erfahrungen und Erlebnisse, die in den Menschen schmoren, erschweren jedes Lernen, und daß sich auch kaum einer für unsere persönlichen Erfolge und unseren Stolz interessiert, das kränkt und schürt den Widerstand gegen die neuen Herren. Aus keinem Lehrgang sollten deshalb Selbsterfahrungsmöglichkeiten ausgeschlossen bleiben, die Angebote zur Klärung der psychosozialen Probleme aus unserer Vergangenheit und in der Gegenwart im Umgang der Deutschen miteinander machen.

Ich denke dabei zum Beispiel an unsere Schulen. Die Überprüfung der Lehrer auf ihre Spitzeldienste und auf üblen psycho­logischen und propagandistischen Terror gegen Schüler ist richtig und notwendig. Verdorbene Charaktere sollten weder erziehen noch lehren. Aber damit ist es noch lange nicht getan. Kaum ein Lehrer konnte sich entziehen, das Loblied des Sozialismus zu singen, und heute sind sie angehalten, Demokratie zu lehren. Was lernen Schüler daraus: ehrlose Anpassung! Das Vertrauen dürfte in den Schulen für lange Zeit belastet sein. Ich würde es überhaupt nicht für absurd halten, wenn für einige Wochen der Fachunterricht beiseite geschoben würde und nichts anderes geschähe, als Beziehungsklärung zwischen den Lehrern untereinander und zwischen den Lehrern und Schülern, wobei über alle Vorbehalte, Verlogenheiten, Unehrlichkeiten, Ängste und Wünsche und Bedürfnisse gesprochen werden könnte.

Am Ende wäre eine völlig neue Ausgangsbasis für den weiteren Unterricht gegeben, die notwendigen sachlichen Lehrstoffe würden sich viel leichter und reibungsloser vermitteln lassen und auch besser aufgenommen werden, und schließlich würde sich durch einen ehrlichen Prozeß klären lassen, wer sich weiterhin für diesen Beruf eignet und Vertrauen gewinnen kann und wer nicht. Das halte ich für würdevoller als beschämende Überprüfungen und Abwicklungen oder gar nur neue Lippen­bekenntnisse.

Es gibt in der Kommunikation entscheidende Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen, die in den Bereichen Aktivität-Passivität, Nähe-Distanz, Offenheit-Verschlossenheit, Direktheit-Indirektheit, im Selbstwertgefühl und der Selbstorganisation (Selbständigkeit-Abhängigkeit) deutlich werden. Nun wird meistens davon ausgegangen, daß die ostdeutschen Eigenschaften, die das Überleben im SED-Staat sicherten, nunmehr abzulegen und die westdeutschen Eigenschaften, die den Marktwert sichern sollen, zu übernehmen seien. 

Erstens funktioniert so ein Umsprung nicht ohne weiteres, zweitens ist dies demütigend, und drittens wird dabei unterstellt, daß der eine Pol der Eigenschaftspaare besser als der andere wäre. Ein verhängnisvoller Irrtum. Es geht um beide Seiten, um die Fähigkeit, zwischen den polaren Verhaltensweisen frei entscheiden zu können. Jede Festlegung auf ein bestimmtes Verhalten bringt Einengung und läßt das Leben erstarren. DDR-Verhalten ist für westdeutsches Leben ungeeignet. Das ist richtig, andersherum wäre diese Aussage ebenso treffend gewesen. Aber ist BRD-Verhalten für das Leben geeignet?

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