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1  Das gestürzte Volk  

Der Phasenverlauf unserer Befindlichkeiten (28)   Das Verlust-Syndrom (34) 
Die Bedeutung der Arbeit (44)  Ungeeignet für die Marktwirtschaft (50)  Die ungeeigneten Bewältigungsversuche (56

 

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Als ich nach einem Titel für dieses Buch suchte und wir in unserem Klinikteam, wie so oft in dieser Zeit, zusammen­saßen und diskutierten, stand plötzlich das Wort vom »gestürzten Volk« im Raum, verbunden mit der Bildphantasie eines aus seiner Form gestürzten Puddings. Die DDR, das war ein durch und durch repressives System, das alles fließende Leben in eine Form preßte, bis es schließlich erstarrte. Die Mauer war das äußere Sinnbild für diese zwingende und zwängende Enge.

Jetzt sind wir wie ein Pudding aus der Form gestürzt und halten unsere Erstarrung, unfähig zur Teilhabe am fließenden Leben. Längst schon ist der äußere Halt zum inneren Korsett geworden. Und dennoch bleibt eine äußere haltgebende Form sehr erwünscht, weil sie die entschuldigende Erklärung für das zur Unfähigkeit geronnene, nicht mehr selbstbestimmte Leben abgeben kann. So sind auch unsere Hoffnungen, die Sehnsucht, die großartige Begeisterung des Aufbruchs im Herbst '89 geronnen zu einer müden, bisweilen auch verzweifelten Geste der Anpassung an eine neue, harte Struktur. 

Im Grunde genommen ist nicht die Regierung gestürzt, sondern nur ausgetauscht, aber die Macht des Volkes ist erneut und diesmal wesentlich effizienter denn je gestürzt worden. Es werden schließlich dafür auch Schuldige namhaft gemacht werden können, was auch schon geschieht, doch vielmehr sind unbewußte kollektive Prozesse zugange, die ich verstehen und erklären möchte mit der noch nicht völlig aufge­gebenen Hoffnung, daß wir doch noch Möglichkeiten für eine bessere Gestaltung unseres Lebens finden werden.

Wie schnell der Bundeskanzler vom umjubelten Helden zum eierbesudelten Prügelknaben und die Treuhand­ge­sell­schaft mit der undankbaren Aufgabe, Notschlachtungen auf der Freibank anzubieten, zur ungerecht­fert­igt­en Zielscheibe des gerechten Zornes wurden – auch wenn man beiden heimliche Fehler oder gar schlimme Machenschaften nachweisen kann –: dies ist ein Ausdruck für das ewig neue Retter-Opfer-Verfolger-Spiel, in dem wie im »Bäumchen, Bäumchen, wechsle dich« die Positionen getauscht werden können, ohne daß es wirklich konstruktive und befreiende Lösungen gibt. Statt Honecker jetzt Kohl, statt der SED jetzt die Treuhand – dies läßt in mir zwar eine makabre Schadenfreude anklingen, die jedoch rasch an der absurden Tragik dieser Verhältnisse wieder erstickt. 

Ich kann das ernsthafte und engagierte und in den meisten Fällen sicher auch redliche Bemühen der Oberen ebenso würdigen, wie ich die Not und Enttäuschung des größeren Teils der östlichen Bevölkerung teile. Weshalb muß dies so unglücklich verlaufen? Die Argumente, daß der Ablauf unvermeidbar wäre, kann ich nicht akzeptieren. Statt dessen glaube ich, daß wir unabwendbares inneres Leiden zu vermeiden trachten – auf beiden Seiten – und uns dadurch immer wieder vermeidbares äußeres Leiden schaffen.

 

Der Phasenverlauf unserer Befindlichkeiten

Die Befindlichkeit vieler ehemaliger DDR-Bürger läßt einen phasenhaften Verlauf erkennen. Zu DDR-Zeiten dominierte eine resignierte Anpassung mit depressiven und zwanghaften Zügen, was aber von den meisten als relative Zufriedenheit erlebt wurde, man hatte sich mit den Verhältnissen abgefunden und in den möglichen engen Grenzen recht und schlecht arrangiert.

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Gegenüber dem Westen fühlte man sich meist minderwertig, in der Geschlossenheit der Gesellschaft wurde dies aber hinge­nommen, weil ja doch jeder davon betroffen war – die gemeinsame Not linderte die Schmach.

Mit der anwachsenden Flucht- und Ausreisewelle wurde diese relative Zufriedenheit immer mehr labilisiert, schien es doch möglich zu werden, sich dem allgemeingültigen Trott zu entziehen und dem gemeinsamen Schicksal durch persönlichen Mut entkommen zu können. Bis zu dieser Zeit war wohl das Wesentlichste, daß sich die meisten Menschen auch mit ihren neurotischen Einengungen, Hemmungen, Defiziten und Verbiegungen abgefunden hatten, sich hatten abfinden müssen, wollten sie nicht gedemütigt, terrorisiert, bestraft oder ausgegrenzt werden.

Mit der »Wende« gab es eine grandiose Aufbruchstimmung, das kollektive Gleichmaß wurde durch die Ausreisemöglichkeit in Frage gestellt und individuelle Entscheidungen und Entwicklungen schienen wieder möglich. Es war eine grandiose Aufbruch­stimmung, die mit Recht als »aufrechter Gang« charakterisiert wurde. Alles vorher qualvoll Unterdrückte konnte sich jetzt wieder vorsichtig entfalten und formulieren: Aktivität, Mut, Kreativität, Spontaneität, Hoffnung, Begeisterung, Optimismus, Kritikfähigkeit, Offenheit, Ehrlichkeit. Dies geschah im Schutz und mit der Kraft sozialer Energie in Menschenmassen und in Gruppen. Zur individuellen Befreiung von den Folgen der jahrzehntelangen Repression waren Raum und Zeit zu eng bemessen. Aber längst vergessene Sehnsüchte und Wünsche, erstarrte Möglichkeiten waren wieder aktualisiert.

Mit der Grenzöffnung geschah eine rauschartig-kathartische Abreaktion aufgestauter Gefühle ohne hin­reich­ende Klärung. Wie sehr in den meisten Menschen in Ost und West auch innere Grenzen niedergerissen und Abspaltungen integriert sein wollten, ist kaum richtig bewußt geworden, auf keinen Fall zur Bearbeitung im größeren Stil gekommen.

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Ich behaupte aufgrund unserer Beobachtungen, daß die dumpf gespürte Sehnsucht nach Nähe, Menschlichkeit, Verbundenheit und Ganzheit, die in diesem historischen Moment ganz individuell mit hochgerissen wurde – eine Sehnsucht, die in den meisten Menschen schmerzlich ungestillt ist und deshalb mit großer Anstrengung verborgen wird, damit es nicht laufend so weh tut, wenn daran gerührt wird – im weiteren Verlauf wieder mit erheblicher Energie abgewehrt und kompensiert werden mußte. Wir im Osten hörten sehr bald auf oder haben gar nicht erst richtig damit begonnen, unsere Vergangenheit verstehen und klären zu wollen und eine eigene Demokratisierung mühsam zu erarbeiten. Und im Westen erfuhr die Vereinigungspolitik eine immer rasantere Beschleunigung, wobei die Verhältnisse im Osten meist als Erklärung dafür herhalten mußten.

Die Mauer war gefallen, wir standen uns entfremdet und beziehungsunfähig gegenüber – von da ab begann ein sich wechselseitig ergänzender und verstärkender Abwehrkampf gegen die bittere Einsicht von seelischen Verletzungen, Einseitigkeiten und Fehlentwicklungen. Die psychologischen Mauern übernahmen die ehemalige Grenzsicherung. Es müssen auf beiden Seiten erhebliche Ängste aktiviert worden sein, weil die bisherigen Arrangements massiv in Frage gerieten: Im Osten mußte unbedingt die Abhängigkeit und der Untertanengeist in einem neuen Akt der Unterwerfung gerettet werden, um sich schnell in den gewohnten Erfahrungen wieder zu stabilisieren. Soll denn unser Leben völlig »umsonst« gewesen sein, war die häufig zu hörende und ungläubig, aber angstvoll gestellte Frage. 

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Nein, die gelernte Anpassung sollte nicht in Frage gestellt werden, damit wären wir ja alle sehr persönlich nach Sinn und Wert und Schuld unseres entfremdeten Lebens gefragt. So war eine Stabilisierung durch neue Unterwerfung die schnellste Beruhigung, aber die aggressiven Energien, die mit jeder Unterwerfung entwickelt werden, vor allem Haß und Rachegelüste müssen jetzt sorgfältig und reuevoll versteckt werden, denn immerhin erfahren wir ja eine massive materielle Hilfe, für die wir dankbar sein müssen.

Mir begegnet diese eigenartige Ambivalenz immer wieder, und viele Menschen fühlten sich an Weihnachten erinnert, wenn sie mit Gaben überhäuft, sich zum Dank verpflichtet sahen und die Erwartung der Eltern auch deutlich spüren konnten, und doch erstarrte die Freudengeste gerade deshalb häufig zu einem gereizten: Ja, danke, das gefällt mir schon ... — und der Rest blieb unausgesprochen, meist auch noch gar nicht bewußtseinsfähig: Aber eigentlich möchte ich ja ganz was anderes, daß ihr mich gern habt und versteht, daß ihr euch Zeit für mich nehmt und überhaupt ... Und Eltern und Kinder könnten sich in die Arme fallen und gemeinsam weinend sich eingestehen, wie wenig das Jahr über Weihnachten für alle war!

Und im Westen mußte unbedingt das siegreiche Gefühl der Überlegenheit, des Erfolges gerettet werden – ja sogar mit der wohl einmaligen Verlockung, dieses auch ausführlich demonstrieren zu können. Diese große Chance, für lange Zeit von den eigenen Problemen und Schwierigkeiten ablenken zu können und jeden Zweifel am Wert des eigenen Lebens im westlichen System mit dem Hinweis auf den jämmerlichen Kollaps der sozialistischen Gesellschaft zu vertreiben. Aber wer denkt schon bei so großen politischen und wirtschaftlichen Aufgaben an den wahrscheinlichen psychologischen Hintergrund des Handelns.

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Die anfängliche Euphorie war schnell der Angst von Veränderung gewichen. So wurde fast intuitiv gelogen: Keinem soll es schlechter gehen im Osten — im Westen sei keine Steuererhöhung nötig! Damit waren die heiklen Punkte genau getroffen, denn es war längst geahnt, sonst hätte es nicht verneint werden müssen, daß es allen im Osten schlechter gehen wird — ich meine das nicht allein materiell, sondern vor allem auch seelisch — und daß den Westen die Vereinigung sehr teuer kommen wird, daß das »goldene Kalb« bis zur Erschöpfung gemolken werden wird.

Im Wettkampf der Systeme hat das eine zwar schlapp gemacht, aber es fällt schwer zu erkennen oder gar zuzugeben, daß es keinen Sieg ergibt. Mit der Vereinigung Deutschlands dürfte der wirtschaftliche Aufstieg des Westens endgültig beendet sein, auch wenn es noch einige Zeit eine Konjunktur auf Kosten der Ostdeutschen und Osteuropäer geben wird. Jetzt gehören wir zusammen, und keine Grenze schützt mehr vor unserer Armut und unserem gierigen Anspruch. Jetzt wollen wir auch von dem Kuchen essen und genießen, der uns als Erfüllung höchster Lebens­freude und größten Glücks Jahr und Tag vor die Nase gehalten wurde. Der Konflikt ist bei dieser Politik vorgezeichnet, und er schwelt im Moment vor sich hin.

Unsere Unterwürfigkeit mit der Illusion, den Wohlstand und damit das Heil als Entschädigung für alle innere und äußere Unbill geschenkt zu bekommen, war wesentlich begleitet von Angst vor Freiheit und Selbständigkeit. Nicht nur, daß die Politbürokratie solches Sehnen und Verhalten bestraft hätte – es ging noch vielmehr um die mögliche Erfahrung innerer Unfreiheit und unbewältigter Abhängigkeits­wünsche, die vermieden werden sollte.

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Freiheit will genutzt sein, sie fordert Entscheidung und Verantwortung. Bereits die Wahlfreiheit zwischen vielen Möglichkeiten ist vielen Menschen hier eine unerträgliche Last und Grund genug, noch lange Zeit im ausgefuchsten System des konkurrierenden Scheins übertölpelt zu werden. Und das innere Freiheitsbedürfnis, das jetzt herausdrängt, bringt uns noch mehr in Verlegenheit, weil damit die ganz persönliche Unterwerfungsgeschichte unserer Erinnerung wieder droht – und diese Angst wollen wir jetzt erfolgreich beschwichtigen, indem wir jetzt hilflos und lächerlich zugleich bemüht sind, möglichst schnell tüchtige Wessis zu werden. Nicht etwa durch einen eigenen Entwicklungsprozeß, sondern vor allem durch neue Autos, durch besseres Geld und Seminare, wie man sich richtig bewirbt, das beschämende Nachahmungsgebaren!

Inzwischen sind wir mitten in der Phase der Ernüchterung, Enttäuschung, der verbitterten Desillusionierung anhand der sozialen Krise mit den unerträglichen Erfahrungen eines »Manchester-Kapitalismus«. Es dämmert uns, um welchen Preis der erfolgreiche Wohlstand nur zu haben ist. Wir bekommen nichts mehr geschenkt. Und angesichts der Konfrontation mit den ganz realen Ängsten und existentiellen Bedrohungen wachsen Resignation, Depressivität, Larmoyanz, Gereiztheit und Gewalt. Was uns noch fehlt, aber nun dringend ansteht, ist der Mut zur Eigenständigkeit, zur Andersartigkeit und Fremdheit, eine kritische Infrage­stellung der westlichen Lebensart und schließlich eine Integration der unterschiedlichen Sozialisationen. Das zu erreichen halte ich für die wichtigste politische Aufgabe des nächsten Jahrzehntes, und dies wird ohne psychologische Hilfen nicht gehen.

Dieser Phasenverlauf unserer Befindlichkeiten wird gebrochen von sozial bestimmten Parametern, vor allem durch Alter, Geschlecht, Beruf und Verstrickung in das alte stalinistische System.

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Besonders betroffen von der Vereinigung im negativen Sinne sind ältere Menschen, Frauen, Behinderte und alle Berufe und Personen, die system­stabilisierende Bedeutung hatten (z.B. Funktionäre der Partei und des Staates, Stasileute, Offiziere, Staatsanwälte, Richter, Gesellschaftswissenschaftler, Lehrer). Die Älteren haben die geringsten Chancen, neue Arbeit zu finden, nochmal umzulernen, ihre Zukunft materiell zu sichern und ihrer Lebenserfahrung wegen geschätzt zu werden. Die Frauen müssen mit tiefer Beunruhigung den Wert ihrer bisherigen Emanzipation anfragen und sehen sich zunehmend der Hilfen beraubt, die ihnen ein gleichwertiges Berufsleben ermöglichten. Sie verlieren wegen ihrer Geschlechtsrolle an Marktwert und sind besonders konservativer Ideologie vom Heim-, Herd- und Kinderstubenleben ausgesetzt. Dabei wird erneut die entscheidende Frage nach der Beziehung zwischen Mann und Frau und zwischen Mutter und Kind im wesentlichen außer Acht gelassen.

 

Das Verlust-Syndrom  

 

Ich will keinen Zweifel daran lassen, daß ich den Untergang des DDR-Regimes ohne Wenn und Aber begrüße und daß ich die gewonnenen Freizügigkeiten dankbar genieße. Und doch sind für mich und andere noch viel mehr Beunruhigungen und Bedrohungen entstanden, gegen die ich protestiere und mich wehre. Daß in einem so umfassenden Veränderungsprozeß unseres Lebens Ängste, Verunsicherungen und Krisen unvermeidbare Begleiterscheinungen sind, steht für mich außer Frage. Wir haben die Folgen jahrzehntelanger Mißwirtschaft und aufgenötigter wie erduldeter psychosozialer Fehlentwicklung auszubaden.

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Eine schnelle schmerzlose Heilung dieser unserer Verletzungen und schuldigen Mittäterschaft zu erwarten, entspräche nur einer magischen Erlösungsillusion unserer infantilen Seelenlage. Das berüchtigte »Tal der Tränen« ist eben nicht nur eine dahingesagte publizistische Metapher, sondern bittere Wirklichkeit, die wir bestenfalls verleugnen, aber nicht vermeiden können. Die Verleugnung wird im großen Stil versucht, sie hat ihre östliche und ihre westliche Ausprägung. Ich will dies mit dem Begriff eines »Verlust-Syndroms« beschreiben, daß ich hier im Osten in der geschäftig-hypomanischen, in der enttäuscht-resignierten und der gereizt-angstvollen Variante sehe.

In allen Fällen begleiten Angst, Verunsicherung und innere Unruhe die unaufhaltsamen Anfragen an die eigene Identität, und die einen reagieren sich bevorzugt nach außen ab, die neue Freizügigkeit nutzend, und andere behalten die unvermeidbare Beunruhigung in ihrem Inneren. Die äußeren Strukturen, die unser Leben bestimmt haben, sind zusammengebrochen, damit sind wesentlicher Halt und wichtige Orientierung verloren. Dies ist für Menschen, die ihre fühlende Innenorientierung, in einem erbitterten Kampf mit den repressiven Einflüssen weitestgehend aufgeben mußten, eine massive Bedrohung.

Jetzt sind auch die innerseelischen Kompromisse in Frage gestellt, was die Verwirrung nur verschärft. Prinzipielle Sinnfragen sind erneut aufgeworfen, wobei in der depressiv-zwanghaften Art viel gegrübelt wird: Was soll nur werden? Wer bin ich (noch)? Wie soll ich mich entscheiden? Was ist jetzt richtig? Und Antworten mit neuen überzeugenden Inhalten und klaren Orientierungen bleiben aus. Der DDR-Verlust provoziert grundsätzliche Anfragen an die eigene Identität, das entwertete Leben läßt Fragen nach dem Wert des Lebens überhaupt auftauchen. Daß abgewehrt, verleugnet und ausagiert wird, ist also kein Wunder. Dies alles aufzuarbeiten, damit hätten wir schon genug zu tun.

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Aber zusätzlich müssen wir uns auch noch mit der westlichen Lebensart auseinandersetzen, die als große Hoffnung ersehnt, nicht halten kann, was sie selbst durch ihre Exponenten versprach. Und wir hatten all unsere ungestillten Sehnsüchte da reingepackt. Dies ist vergleichbar mit der Illusion einer »großen Liebe«, wenn vom Partner oder der Partnerin endlich all das erfüllt werden soll, was die Eltern nicht geben konnten oder wollten. Wir haben aber nicht nur einen neuen jungfräulichen Partner gewählt, mit dem wir ein gemeinsames Leben allmählich aufbauen und ausgestalten könnten, sondern einen, der uns in einer Art und Weise überfällt, Maß nimmt und zurechtstutzt, was schon sehr eindrücklich auf das eigene wilde Leben hindeutet, so daß – wie so oft nach Scheidung und neuer Partnerwahl – »vom Regen in die Traufe« der treffende Zynismus ist.

Das gestürzte Volk trägt die Last. Eine doppelte Last: Zu unserer alten sehr problematischen Geschichte kommt die neue fragwürdige hinzu und verschärft die psychosoziale Problematik. Der Gefühlsstau als die Folge von Unterdrückung und Enge, von Kränkung und Demütigung, von Entfremdung hat sich im Zuge der Vereinigung nicht auflösen, ja nicht einmal vermindern können, sondern er wird durch die neuen Abhängigkeiten nur verschärft. Da aber die Kontrollmechanismen schwächer und durchlässiger geworden sind – die Stasi hatte eben auch dies voll im Griff –, toben sich jetzt die unbewältigten Gefühle als Gewalt, Kriminalität, Radikalität und Verkehrsdelikt aus. Auch unsere Hoffnungen und Sehnsüchte, die mit der »Wende« aufflammten, sind durch die nachfolgende erneute Unterwerfung doppelt enttäuscht. Der alte Schmerz wird durch den neuen bereits wieder zugedeckt. Wir hatten kurzzeitig Kontakt zu den tiefsten Wünschen nach unverstelltem Dasein, nach spontanem Ausdruck und solidarischer Verbundenheit und haben dies allzubald wieder verloren.

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Dies bedingt bittere Erfahrungen wie z.B.: Lieber nicht erst probieren von der Köstlichkeit und den Appetit reizen, wenn dann doch nicht gespeist werden darf. Oder: Lieber gar nicht erst auf eine herzliche Beziehung einlassen, denn wenn es wieder nichts wird, dann tut es noch mehr weh, dann bleib ich lieber allein oder in einer unglücklichen Beziehung.

Das die meisten erfassende Verlust-Syndrom ist durch eine allgemeine Labilisierung gekennzeichnet. Der »vormundschaftliche Staat« (Henrich) hatte uns alle infantilisiert oder eine Reise zur größeren Selbst­bestimm­ung, Eigenständigkeit und Verant­wortlichkeit stark behindert. Geistige Enge, kleinbürgerlicher Mief, politische Unmündigkeit und massenhafte psychosoziale Fehlentwicklungen waren der Preis für eine garantierte soziale Sicherheit, für allgemeine Fürsorge, für Schutz und Geborgenheit, für ein reichlich unbekümmertes Leben auf relativ niedrigem Wohlstandsniveau gegenüber der Bundesrepublik, aber auf beachtlichem Niveau gegenüber den sozialistischen Bruderstaaten und in einer nahezu peinlich-ungerechten Höhe gegenüber den Menschen in der sogenannten Dritten Welt. 

Wir lebten wie in einer kleinbürgerlichen Familie: hinreichend materiell versorgt, in engen geistigen Grenzen mit rigiden vorurteils­haften Anschauungen, prüde, verlogen, unter dem Reglement von Gehorsam, Disziplin und Ordnung — aber darauf war Verlaß. Die Regeln waren eindeutig. Der Spielraum war überschaubar. Selbst die Bösartigkeit war berechenbar. Wer sich beugte, konnte ganz gut leben, wer sich nicht beugte, hatte auch sein Auskommen, nur wer sich bockig und laut wehrte, wurde hart bestraft. Und dies wußte jeder. Wer zum Opfer wurde, hatte meistens auch seine Gründe. Damit entschuldige ich kein Unrecht.

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Wer gezielte Schüsse an der innerdeutsche Grenze abgefeuert, befohlen oder als politisch Verantwortlicher ermöglicht hat, hat nach meinem Empfinden schwere Schuld auf sich geladen, unabhängig von der juristischen Interpretation. Doch wer diese Grenze ohne Erlaubnis überqueren wollte, wußte davon, daß er getötet werden konnte, er hat zumindestens mit dieser Möglichkeit »gespielt« oder das Risiko in Kauf genommen. Er hat eine mögliche Tötung auch provoziert. Welche seelische Not ihn veranlaßt haben könnte, sich solche Gefahr zu organisieren oder seinen Verwandten und Freunden den eigenen Tod zuzumuten, gehört unbedingt in die gründliche Analyse der psychosozialen Verhältnisse in diesem Deutschland. Dies kann die Justiz nicht leisten und erst recht nicht eine Kampagne gegen die Täter.

Was ich also sagen will: In der DDR kannten wir uns aus, wirkliche Überraschungen waren praktisch ausgeschlossen. Jetzt aber sind wir hinausgestoßen in ein wesentlich ungeschütztes Leben, in dem jeder sein Verhalten mit allen Konsequenzen auch allein verantworten muß. Das »Kinderleben« hat aufgehört und damit die »berechtigte« Erwartung von Fürsorge und Schutz. Wir müssen plötzlich wie Erwachsene handeln, und viele sind dazu noch nicht bereit. Wer das Leben eines folgsamen und angepaßten Kindes führen mußte, der weiß sich nicht wirklich angenommen und bestätigt, dem bleiben die Freuden und Fähigkeiten des freien Kindes auch verwehrt und der wird als Erwachsener weiterhin muffig, gezwungen und verbittert leben, sich in der ewigen Anpassung und Anstrengung verbrauchen und das soziale Zusammenleben durch Strenge, Haß, Neid, Konkurrenz, Egoismus und Intrige vergiften.

Diese aufgebrochene Erfahrung existentieller Einsamkeit und Verantwortlichkeit gehört im Moment zu den wesentlichsten Ursachen tiefer Beunruhigung und Erschütterung.

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In den Gruppen, mit denen ich in letzter Zeit gearbeitet habe, nicht allein mit sogenannten Patienten, sondern auch mit Kollegen und politisch interessierten »Normalbürgern« (im Osten) war dies immer wieder ein zentrales Thema von bedrohlicher Wucht. Der Verlust an DDR hatte bei vielen Trennungs- und Verlust-Traumatisierungen der frühen Kindheit aktiviert, die aber in der Regel wegen der lebens­bedroh­lichen Tiefe emotional nicht wirklich verarbeitet worden waren. Bis dahin war ja auch das eingemauerte, streng kontrollierte und nicht voll entfaltete Leben, wie wir es in der DDR »genießen« durften, eine gewährte »Gnade«, um nicht durch die Möglichkeiten von freier Entfaltung an die sorgsam verborgenen Defizite unserer frühen Kindheit erinnert zu werden.

Jetzt aber häufen sich bei entsprechender Ermutigung die bitteren Erinnerungen an Kinderkrippen, Heim­aufenthalte, auch die Ahnungen, ein unerwünschtes Kind oder niemals wirklich geliebt worden zu sein, brechen jetzt öfters durch.

Alle Orientierungen und Werte sind in Frage gestellt oder ganz und gar verloren. Die Regeln und Normen unseres bisherigen Lebens sind aufgehoben, unsere Anpassungsleistung ist nur noch beschämend und peinlich, der Widerstand, die Schliche und Tricks, sich dem unerträglichen Einfluß des Systems zu entziehen, haben nur noch nostalgischen Erinnerungswert. Unsere Witze, der heimliche Code von Gestik und Mimik haben ihre entlastende Wirkung verloren. Unsere Erfahrungen im gesellschaftlichen Verkehr sind nicht nur wertlos geworden, sie sind nahezu hinderlich, weil nicht mehr »zeitgemäß«. Wir sind auf die Stufe von Schülern und Lehrlingen zurückgeworfen. Wir müssen umlernen, umschulen, Neues einpauken und alles vergessen, meist nicht freiwillig oder aus eigenem Antrieb, sondern notgedrungen, und häufig auch dann, wenn es überhaupt keinen Grund gibt, Bewährtes zu verändern. Eine Entmündigung und Demütigung ohnegleichen!

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Die Menschen werden jetzt auf westliches Know-how getrimmt. Das Rennen um neue Bescheinigungen und Zertifikate hat begonnen. Die Sucht des trügerischen Scheins greift um sich. Nicht das wirkliche Interesse bestimmt das Lernverhalten, sondern der Marktwert und die Marktlage. Die Umschulung vom »Idealismus« zum »Materialismus« ist voll Zugange. In der Psycho­therapie und Medizin überschaue ich das sehr gut, was aber in allen anderen Berufen in ähnlicher Weise beschrieben werden könnte. 

Jahrzehntelang haben wir gegen die bornierten Verbote und Tabus der staatlichen Obrigkeit, gegen die system­stabilisierende akademische Psychologie und Medizin und gegen die Ignoranz vieler Kollegen analytische und tiefen­psychologische Psychotherapie und auch Methoden der humanistischen Psychologie (Gestalttherapie, Transaktionsanalyse, Köpertherapien, Psychodrama) mehr oder weniger heimlich eingeführt, am Leben erhalten und entsprechende Selbsterfahrungen organisiert. Daraus ist eine Psychotherapie gewachsen, die sich sehen lassen kann, weil sie im Widerstand von Idealen getragen und keiner einseitigen Theorie verpflichtet und auch nicht von materiellen Interessen abhängig war. Davon lebt zu Recht die Psychotherapie in der Nach-Wende-Zeit.

Jetzt kommen Kollegen, die früher die Nase rümpften oder einfach zu bequem und angepaßt waren, und »kratzen« Beschein­igungen zusammen, jetzt kommen Krankenkassen, die nach westlichem Schema vorschreiben wollen, welche Patienten wir wie lange und nach welchen Methoden behandeln dürfen. Jetzt kommen westdeutsche Kollegen, die unsere Arbeit nach ihren Maßstäben beurteilen wollen, um uns in das harte Gerangel um Marktanteile einzufügen, besser noch herauszudrängen. 

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Jetzt muß eine Psychotherapie beantragt, genehmigt und wenn sie längere Zeit in Anspruch nehmen sollte, auch begutachtet werden. Meine Souveränität als Arzt muß ich an ein bürokratisches Verfahren abtreten. Der Gutachter kennt auf keinen Fall den Patienten, und er muß seine Entscheidung aufgrund eines schriftlichen Antrages fällen. Die Westkollegen gestehen, daß sie längst gelernt haben, das niederzuschreiben, was die Gutachter lesen müssen, um eine Befürwortung auszusprechen. Das letzte Wort bleibt aber dennoch bei den Krankenkassen, also den Geldverwaltern. Auf meine erstaunte Frage an die Kollegen im Westen, weshalb sie sich ein derartiges Verfahren überhaupt gefallen lassen, war zuerst nur Erstaunen (noch nie darüber nachgedacht, das ist so selbstverständlich), dann Rationalisierung (das nötigt uns zur gewissenhaften Arbeit und Überprüfung unserer Hypothesen — ja, arbeiten Sie denn ohne Gutachten nicht gewissenhaft?). Dann schließlich manchmal das Zugeständnis, ja wir verdienen ja auch sehr gut, also nehmen wir das einfach hin und lügen und betrügen auch schon mal, wenn es halt so sein soll.

Ich empfinde dieses Reglement für einen gestandenen Therapeuten als entehrend, für Lehr- und Ausbildungszwecke kann ich es akzeptieren, doch am besten wäre es durch ein Supervisionsgebot zu ersetzen, wenn eine Therapie nach vielen Stunden nicht vorankommt. Jeder Therapeut hat seine Grenzen und auch Patienten, die er nicht gut verstehen und annehmen kann, und er bleibt ein ewig Lernender im Beruf, deshalb ist kollegiale Beratung in der lebendigen Beziehung im Unterschied zum bürokratisch-formalen Akt der Begutachtung eine echte Hilfe und Schutz für Therapeut und Patient.

Wie sehr in den neuen Verhältnissen das Geld sich in alle Beziehungen schleicht und diese im Nu verändert, kann man besonders in der Medizin beobachten.

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Um in einer freien Niederlassung profitabel zu wirtschaften, bringen vor allem die technischen Untersuchungen der Apparatemedizin den Gewinn. So werden Menschen unnötigen Untersuchungen unterzogen und die Kosten unnötig erhöht, und das, was die meisten Menschen für ihre Gesundung wirklich brauchen, nämlich gehört und verstanden zu werden und in einer mitmenschlichen Beziehung heilende seelische und soziale neue Erfahrungen machen zu können, wird mehr denn je den ökonomischen Zwängen geopfert.

Ein anderes Beispiel der typischen Entwürdigung: Um sich auf die westlichen Verhältnisse gut vorzubereiten, werden »Bewerbungs­seminare« angeboten, die Auftreten, Körperhaltung, Kleidung, Wort- und Satzwahl trainieren — also nicht der Mensch soll sich vorstellen, sondern eine dressierte Puppe soll in das Lügengebäude des aufgemotzten Scheins sich einfügen lernen. Dies ist der neue Kniefall, den früher bei uns die Parteizugehörigkeit und das Phrasengesabbere erfüllten. Ich sah im Fernsehen ein »Training« wie künftige Angestellte auf Weststreß eingestellt wurden.

Die Aufgabe bestand darin, konzentriert und freundlich gegenüber einem schwierigen Kunden zu bleiben. Während dieser sich am Angestellten mit dämlichen Fragen abreagierte, sah sich der Ausbildungskandidat noch zusätzlich einem störenden Gequatsche ins linke und ins rechte Ohr ausgesetzt, vor seinen Augen wurde eine Hand irritierend hin und her bewegt, und im Hintergrund klingelte das Telefon. Wer diesen Test besteht, ist ein Monster. Schöne neue Welt!

 

Wir erfahren einen Akt der Unterwerfung und Kolonialisierung, und da frage ich mich schon, warum das so sein muß. Hier weigere ich mich, das Primat von Sachzwängen anzuerkennen, meiner Meinung nach sind vor allem irrational-unbewußte Mechanismen Zugange, die von beiden Seiten unterhalten werden.

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Abwicklung, Evaluierung, Sanierung liegen in der Regel in westdeutschen Händen. Daß moralisch Verdorbene und politisch Schuldige ihre Macht- und Führungsfunktion verlieren müssen, steht völlig außer Frage, aber warum erledigen wir das nicht unter uns? Und dann passiert es uns auch noch, daß wir unsere Unfähigkeit an den Westdeutschen, die unsere Drecksarbeit leisten, mit Vorwürfen und Verdächtigungen abreagieren. Freilich ist die westdeutsche Haltung an diesem Punkt häufig viel zu weich und zu schlapp, zur schnellen Verleugnung eher bereit, vor allem, wenn es um Profit und Effizienz in neuen Strukturen geht. Moral ist gegenüber von Funktionalität und Gewinn eher ein Stiefkind. 

Und wir haben nicht die Kraft und die Fähigkeit zur klärenden Auseinandersetzung, aber wir klagen und jammern, wenn die »roten Socken« und »alten Seilschaften« mit den neuen Bossen über unser Schicksal bestimmen. Was für eine »Revolution«! Alle bekannten Speichellecker und Nutznießer des alten Systems können mitunter ungeniert die »Vertrauensfrage« stellen und bleiben in »Amt und Würde«, weil die Belegschaft schon wieder (oder immer noch) Sanktionen und Entlassung fürchten muß, wenn einer offen und ehrlich seine Meinung äußert. Die alte zähne­knirschende Verbitterung wird durch eine neue resignierende Erfahrung noch tiefer in die Seelen gesenkt.

Man muß sich auch das Ausmaß der notwendigen Neuorientierung vorstellen, daß uns der einfachste Alltag abverlangt. Da ist die verwirrende Fülle der neuen Waren, die mit einer unerträglichen Aufdringlichkeit daherkommen und mit den Reklametricks und Sonderangeboten noch den letzten kühlen Rechner fertigmachen.

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Da sind wichtige Angelegenheiten des Lebens mit unüber­schau­baren Konsequenzen und Varianten neu zu regeln (z.B. Krankenkasse, Altersversorgung, Versicherungen, Geldgeschäfte, Rechtsangelegenheiten), eine Flut von Anträgen und Formularen, eine nie geahnte Bürokratie, ein Steuerdickicht und überhaupt eine unübersehbare Fülle neuer Möglichkeiten, aber auch neuer Verpflichtungen. Dadurch kommt es laufend zu Fehlentscheidungen, dem permanenten Gefühl mangelnden Wissens, von Unerfahrenheit, aber auch die bittere Erfahrung von Betrug und Übervorteilung sind ständige Begleiter der eh schon im Selbstwertgefühl ewig gestutzten Ostbürger.

Die Orientierungspunkte sind verloren, die Werte entehrt – nicht nur die sozialistischen Ideale oder Parteidogmen, nein ganz allgemeine Verhaltensnormen, die Ausbildungen, die beruflichen Erfahrungen, die Umgangsart, unsere beziehungsstiftende Notgemeinschaft und der Tauschhandel, ja selbst die Feindbilder sind verloren – die »abgesteckten« Reviere sind in einem heillosen Durcheinander, die erprobten Beziehungen sinnentleert, und zu allem kommt eine permanente existenzielle Verunsicherung und Ungewißheit vor der Zukunft. Kaum einer ist mehr seines Arbeitsplatzes sicher, und viele haben keine Vorstellung mehr, wie sie sich morgen oder gar im Alter befinden werden, wie sie ihre Existenz sichern können, von Geltung, Einfluß, Bedeutung und gesicherter sozialer Rolle ganz zu schweigen.

 

Die Bedeutung der Arbeit  

 

Wir wußten bisher nicht, was Arbeitslosigkeit bedeutet. Arbeit war in der DDR selbstverständliches Recht und auch Pflicht. Wer nicht arbeiten wollte, galt als asozial und wurde kriminalisiert, wenn er keine Einkünfte nachweisen konnte. Arbeit konnte angewiesen und verordnet werden — es gab Arbeitsplatz­bindungen.

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Kündigungen waren kaum, nur in extremen Fällen von Pflichtverletzungen möglich. Arbeit war ein Mittel der Erziehung. Es gab »Helden der Arbeit«, das »Kollektiv der sozialistischen Arbeit« — solche Kollektive und Brigaden waren mitunter Gemeinschaften freundschaftlicher Beziehungen. Betriebe übernahmen familiäre Funktionen: Sie boten Beratungen bei persönlichen und familiären Problemen an, sie sprachen Ermahnungen bei Konflikten aus, sie gaben Hilfen und Unterstützungen bei Umzügen, beim Wohnungsbau, bei familiären Feiern und Notlagen, sie förderten die Aus- und Weiterbildung, sie übernahmen Patenschaften für Kinder und Schulklassen, organisierten den Urlaub und die Erholung, sie unterhielten Kinderferienlager, Kinderkrippen und Kindergärten und hatten ein eigenständiges Betriebsgesundheitswesen. In der Organisation der Arbeit waren viele Ideen sozialer Gemeinschaft enthalten und auch verwirklicht.

Das Problem war auch hier vor allem der vormundschaftliche Charakter, so daß ein wirkliches Miteinander und auch eine streitbare Auseinander­setzung zwischen unten und oben nicht möglich waren. Die Gewerkschaften waren im wesentlichen Erfüllungs­gehilfen der Partei, sie hatten die Entscheidungen und Maßnahmen von oben nach unten »durchzustellen«. Sie waren niemals eine wirkliche Vertretung der Interessen der Arbeitnehmer. Unabhängig davon aber hatte die Arbeit in der DDR einen hohen Stellenwert. Sie war ein entscheidender Lebensbereich, selten nur ein Job. Arbeit hat Sinn und Geltung verliehen, Beziehungen gestiftet, Arbeit war Stolz und Würde, sie hat Identität verliehen.

Arbeit in der DDR wurde auch heroisiert. Sie war Inhalt des »sozialistischen Realismus« in der Kunst. Jahr für Jahr führten Bäuerinnen und Bauern »Ernteschlachten«, und die Kumpel in den Braunkohle-Tagebauen kämpften erbittert gegen den Frost, um den Ofen des Volkes auch in harten Winterzeiten nicht kalt werden zu lassen.

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Erfolgsmeldungen aus der Produktion und Planübererfüllungen waren das tägliche Futter, mit dem uns die Medien vollstopften. »Aktivisten« waren die Vorbilder der Nation, in den Betrieben hingen Fotos von Bestarbeitern (»die Straße der Besten«), und die meisten Berufsgruppen hatten jährliche Ehrentage mit Dankesreden, Auszeichnungen, Prämien und Orden.

Arbeit war die selbstverständlichste Lebensgrundlage. Selbst während der »Wende« war Streik noch ein Tabu, die »Revolution« fand infolgedessen erst nach Feierabend statt. Selbst die schmutzigste, primitivste und entfremdetste Arbeit hatte noch ihren Glanz. Wir brauchten dafür keine Türken.

Arbeit war ein Instrument der Macht und ein Mittel gegen die Macht. In jedem Betrieb gab es eine Parteigruppe, die das gesellschaftliche Leben organisierte und kontrollierte. Über die Arbeitsverteilung, beruflichen Aufstieg, Löhne und Gehälter und Privilegien, wie Dienst- und Urlaubsreisen, war die Arbeit ein Vehikel, um Machtinteressen durchzusetzen. Auf der anderen Seite konnte über die Arbeit aber auch passiver Widerstand geleistet werden, Arbeit war oft gewollter Schludrian und Schlendrian, war Hohn und Spott, war Diebstahl und Gelegenheit zum Schimpfen und Fluchen. Auf diese Weise konnte auch dem ideologischen Terror, der über die Arbeit auf die Menschen ausgeübt wurde, gegen die Qual der Verpflichtungen und Wettbewerbs­programme heimlich oder indirekt opponiert werden.

Arbeit in der DDR war in jeder Hinsicht affektiv besetzt. Arbeit hatte eine zentrale Bedeutung zur Kompensation von Mangel­syndrom und Gefühlsstauung und sie war die allgemeingültigste und selbstver­ständlichste Beschwichtigungsweise für das eingemauerte Leben.

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In diesem Käfig war Arbeit die wichtigste Beschäftigung und Ablenkung, ob als »Aktivist« oder als »Saboteur«. Die Arbeit schenkte den Ersatzrhythmus für das erstarrte Leben. So wurden auch Entfremdung, Ausbeutung, Verblödung und Terror durch Arbeit immer schmerzloser geduldet und Leistung, Erfolg, Stolz, Identität und Würde mittels Arbeit zur rettenden Überlebensstrategie in einem verachteten Gesellschaftssystem.

Das alles fegt die Marktwirtschaft gnadenlos hinweg. Den Ostdeutschen wird ihr wichtigstes Kompensations­mittel genommen. Jeder Politiker und Wirtschaftler wußte von der nicht vermeidbaren Arbeitslosigkeit, aber was dies hier bedeutet, konnten und können sie vermutlich nicht erfassen. Nehmt uns die Freiheit, aber gebt uns Arbeit! Das ist für viele erträglicher als: Gebt uns die Freiheit und nehmt uns die Arbeit! Arbeitslosigkeit konfrontiert uns mit allen verdeckten und unbewältigten seelischen Problemen, das ist der Grund für die Verzweiflung, Verbitterung, Empörung und die anwachsenden Suizidgedanken. Dies läßt sich auch durch ein Netz sozialer Maßnahmen nicht hinreichend beschwichtigen. Die psychischen Reaktionen auf Arbeitslosigkeit werden noch verstärkt durch die enttäuschte Hoffnung auf ein endlich besseres Leben im versprochenen und ausphantasierten Wohlstand. Endlich sollte die Schmach des Lebens als Mensch zweiter Klasse getilgt werden. Soeben noch die Westmark verzückt in den Händen, zerrinnt das trügerische Glück mit der unerträglichen Kränkung, nicht mehr gebraucht zu werden. Am Ende eines harten Arbeitslebens keinen Reichtum vorweisen zu können, weder Ehre erfahren noch in Erfahrung geehrt zu werden, läßt Lebensgebäude zusammenstürzen.

Wer hier allein auf die Altlasten sozialistischer Mißwirtschaft, auf die notwendigen marktwirtschaftlichen Gesetze mit dem zynischen Vermerk verweist, lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende, verrät für mein Empfinden eine mangelnde Sensibilität für menschliche Belange, die ich nur noch als Ausdruck eigener seelischer Verkümmerung verstehen kann.

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Wenn die menschlichen Bedürfnisse in diesem politischen und wirtschaftlichen Veränderungs­prozeß nicht mehr hinreichend berücksichtigt werden, ist diese Politik und Ökonomie nicht mehr in Ordnung. Dann stehen sie nicht mehr im Dienste der Menschen, sondern sind Ausfluß einer gesellschaftlichen Fehlentwicklung und ökonomischer Selbstzweck.

Arbeit im Osten steht durch die emotional vielfache und auch ambivalente Besetzung in einer ganz anderen Bedeutung als im Westen. In der DDR hat Arbeit den Menschen Sinn verliehen, Beziehungen gestiftet und Affekte gebunden. Im Westen sehe ich die Arbeit viel häufiger als einen Job, geldorientiert, damit nach der Arbeit das »eigentliche Leben« erst richtig (vergnügungs­orientiert) losgehen kann. So ist Arbeitslosigkeit bei uns zusätzlich zur existentiellen Bedrohung ein entscheidender Verlust an seelischem und sozialem Halt. Die dunkle Gefahr, die sich da zusammenbraut, wird noch zusätzlich angeheizt durch die Tatsache, daß viele Westdeutsche meinen, uns jetzt das »richtige Arbeiten« beibringen zu müssen und daß für viele die äußere Freiheit (z. B. Reisen) zwar möglich und lang ersehnte Waren erreichbar, aber dennoch nicht zu erwerben sind.

Auf Arbeitslosigkeit reagieren manche auch mit scheinbarem Gleichmut oder einer lässigen Geste der Erleichterung: Endlich von einer Last befreit, mal ausschlafen, im Garten arbeiten und den kleinen Vergnügungen nachgehen, zu denen man lange keine Zeit mehr hatte! Ich sprach mit Kurzarbeitern bei Null, also im Grunde genommen Arbeitslosen, die nur etwas mehr Geld bekommen, die angebotene Umschulungen nicht in Anspruch nehmen wollten, solange sie noch »ausgehalten« werden.

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Das man endlich mal für Nichtstun, für keine besondere Leistung etwas bekommt, das ist ein erfüllter Kinderwunsch bei vielen. Leider wird der Ernst der Lage, die rauhe Wirklichkeit mit einer solchen Haltung nur allzu leicht verdrängt und die Illusion genährt, daß sich doch weiterhin jemand um einen kümmern werde. Es ist das krampfhafte Festhalten an der Versorgungs-Illusion, die infolge der infantilen Defizite auch noch das Erwachsenenalter entscheidend prägt und von der ehemaligen Obrigkeit auch geschickt genutzt wurde, um die Infantilisierung des Volkes machterhaltend zu sichern.

So verstärkt die Konfrontation mit Arbeitslosigkeit bei manchen die neurotische Abhängigkeit und Fürsorgesehnsucht und bedeutet andererseits für viele eine extreme Verunsicherung ihres Lebens, da Arbeit nicht nur zum notwendigen Broterwerb diente, sondern eine wichtige Kompensationsaufgabe im eingemauerten und entfremdeten Leben bedeutete.

Arbeitslosigkeit als Chance, Neues zu entdecken, sei es als Nachdenken über das ganz individuelle Leben, die bisherige Berufswahl, die persönliche Bedeutung der Arbeit oder sei es, sie im Zusammenhang mit den gesellschaftlichen Verhältnissen als einen möglichen Anlaß für eine politische Neuorientierung zu nehmen und den Kampf für bessere Lebensverhältnisse als eine breite Grundlage für eine neue Solidarität der Betroffenen zu organisieren – dies ist noch kaum erkennbar, höchstens im Einzelfall, jedoch nicht als eine sich neu formierende Kraft. Hier haben für meine Begriffe bis jetzt auch die westlichen Gewerkschaften versagt, die den Tarifkampf – wie im Westen üblich – in den Vordergrund ihrer Tätigkeit stellen und sich nicht vorrangig für neue Konzepte der Arbeitsverteilung und -organisation einsetzen.

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Daß der Umstieg von der Planwirtschaft auf die Marktwirtschaft so unerwartet große Schwierigkeiten bereitet, wird immer wieder mit Verwunderung vermerkt und das ungeahnte Ausmaß sozialistischer Mißwirtschaft, die schwierigen Rechts- und Eigentumsfragen als Erklärung angeführt, doch ein Hauptfaktor dieser Probleme wird regelmäßig übersehen: die Menschen! Wir sind auf Kommandowirtschaft sozialisiert und nicht auf Marktwirtschaft, das sind fast polare Gegensätze. Planwirtschaft ist die ökonomische Form der autoritär-repressiven Verhältnisse, also Anpassung durch Unterwerfung, Ängstigung, Hemmung und Zwang – Marktwirtschaft nötigt zum expansiven Wettbewerb, zur Entfaltung und Ausdehnung. Mit Gehemmtheit geht man auf dem Markt sang- und klanglos unter. Mit eigenständiger Aktivität war man dem Planbürokraten eine Gefährdung. Was in dem einen System zum höchsten Erfolg führte, bedeutete im anderen Abstieg oder Ausgrenzung.

In der DDR war die Haltung des angepaßten Untertanen die günstigste Variante, in diesem System leben zu können: also relativ passiv und abhängig, sich rat- und hilflos gebend, sich versorgen und führen lassen – auf keinen Fall selbständig, kritisch, innovativ und kreativ sein: das hätte nur Ärger bedeutet. Man durfte zwar fleißig und tüchtig sein, höchste Leistungen zu erbringen, gehörte auch in der DDR zu den gebotenen Pflichten, doch stets (das ist das Entscheidende) im Auftrag von oben, nach der jeweiligen Linie der Partei. Wer folgsam in diesen engen Bahnen sich abhetzte, kam zu höchsten Ehren (siehe Leistungs­sportler!), wer aus eigenem Antrieb für persönliche Interessen gleiche Energien aufbrachte, war gefährdet durch Erkrankung, Haft oder Ausbürgerung.

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So bleiben grundsätzliche Schwierigkeiten, in der Marktwirtschaft bestehen zu können. 

Da ist:

 

1.) Die Unfähigkeit selbständig zu sein, auch die Unfähigkeit, ohne Autoritäten auszukommen: Diese Menschen fühlen sich hilflos, ausgeliefert, ratlos, überfordert, sie klagen und jammern: Ich kann das nicht, das ist mir zu viel, ich weiß nicht, was soll ich nur tun. Minderwertigkeits- und Insuffizienzgefühle dominieren mit der Tendenz zu Schuldgefühlen und zur Depressivität. Sie suchen Anlehnung, sie nehmen jeden Herren, sie brauchen die Unterwerfung, und sie sind meist unzufrieden, unglücklich, nörglerisch und fallen anderen zur Last.
Das Verhalten und Erleben dieser Menschen ist das traurige Ergebnis einer permanent-repressiven Erziehung, die Lebendigkeit, spontane Aktivität und individuelle Einmaligkeit im kollektiven Zwang erstickt. So werden Mitläufer und Untertanen erzeugt, um die eigene tönerne Macht und fragwürdige Größe zu sichern, die aber letztlich auf Dauer keine Überlebenschance hat. Die erzeugte angstvolle Lahmheit höhlt die Grundlagen für notwendige Entwicklungen und Veränderungen aus und bringen so das System allmählich selbst zur Erlahmung.

2.) Die Unfähigkeit zu entscheiden und kritisch gegen Autoritäten zu sein: Diese Menschen sind ängstlich, schüchtern, feige, höflich-devot, meist auch freundlich und hilfsbereit, sie können schlecht ablehnen, nicht nein sagen und sich auch nicht durchsetzen. Sie sind willige Diener und »Arbeitstiere« und leiden infolgedessen häufig an funktionellen und psychosomatischen Beschwerden. Sie sind in ihre Loyalität unsicher, leicht verführbar, sehr suggestibel – die typischen Opfer aller Sonderangebote, Trends und Moden. Sie schwatzen und tratschen und hetzen gern, sind indirekt und heimlich feindselig sowie intrigant, schadenfroh und neidisch.

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Solche Menschen waren in der Planwirtschaft brauchbar, ohne sie hätte das System der Kommandos auch nicht funktioniert. Sie sind auch in der Marktwirtschaft hervorragend auszubeuten, wunderbar geeignet für einen 12-14-stündigen Arbeitstag. Sie haben sich mit ihrem Schicksal (scheinbar) abgefunden, weil ihre vordergründige Willigkeit ihnen hilft, den hintergründigen Haß zu verbergen. Das Problem im Wechsel der Systeme ist ihre Unsicherheit und Bescheidenheit. Da sie sich schlecht behaupten können, verlieren sie leichter ihren Arbeitsplatz und haben es schwerer, neue Arbeit zu finden, es sei denn, sie wird ihnen gebracht, dann funktionieren sie wieder. Sie verbergen in sich alte Zurücksetzungen, Ablehnungen und suggerierte Minderwertigkeiten.

3.) Die Unfähigkeit zur beständigen Anstrengung und Leistung, auch die Unfähigkeit, Autoritäten zu akzeptieren: Diese Menschen sind in einer chronischen Protest- und Abwehrhaltung, meist gereizt, mürrisch, innerlich gespannt, querulatorisch, halt- und bindungslos mit geringer moralischer Verbindlichkeit. Sie neigen zur Arbeitsbummelei, Unzuverlässigkeit, zu kriminellen Delikten, Alkoholismus, Streitsucht und Drogenmißbrauch.
       Sie sind die ersten Opfer der Marktwirtschaft, weil sie sofort entlassen werden. Sie verlieren im Wechsel der Systeme die »familiäre« Anbindung an die Arbeitskollektive und die Kontrolle durch die Betriebe, was häufig auch gleichbedeutend mit Stasi war. Solche Menschen tragen selbst tiefe seelische Verletzungen und Erfahrungen von Gewalt in sich, ihnen wurden schon sehr früh zuverlässige Bindungen verweigert. Da sie jetzt sofort im gnadenlosen Kampf um Effizienz Ausgestoßene sind, werden sie das wachsende Heer der Sozialhilfeempfänger, der Radikalen und Kriminellen, der Obdachlosen und »Penner« abgeben.

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Wer die Zahl der davon Betroffenen unterschätzt, der versteht nichts von den Mechanismen und Folgen repressiver Verhältnisse in einem totalitären System.

 

In diesen drei Gruppen finden sich viele ehemalige DDR-Bürger als Opfer einer schädigenden Sozialisation wieder, die mit der Entmachtung der Verursacher noch längst nicht überwunden ist. Marktwirtschaft verschärft das Leiden nur noch. Nun schlagen die Gesetze des Marktes mit der unerbittlichen egoistischen Leistungshaltung aus den Behinderungen offene Wunden.

Nur die kleine Gruppe derjenigen, die sich in der Identifikation mit dem Aggressor selbst den Weg der autoritären Macht gewählt haben, ist auch für die Marktwirtschaft relativ gut vorbereitet. Es ist wiederum nur die halbe Wahrheit, wenn zur Entschuldigung für die Blitzwende mancher Bonzen zum Manager auf ihre fachliche Leistung und Kompetenz verwiesen wird, vielmehr ist es wohl die charakterliche Ausformung von Macht- und Leistungswille als ein aggressives Ausagieren der eigenen erlittenen inneren Ohnmacht und als Abwehr der ungestillten Sehnsucht nach Annahme und Bestätigung, die diese Menschen für die oberen Etagen in diesem wie in jenem System geeignet macht. Entscheidend dabei ist die emotionale Abpanzerung und kühle Funktionalität.

Die Massenarbeitslosigkeit ist eine soziale und nationale Katastrophe. Die Marktwirtschaft verschärft die psycho-sozialen Defizite und Behinderungen. Die riesigen Summen der Arbeitslosen- und Kurzarbeitergelder, der Löhne und Gehälter, die gepumpt, aber nicht erwirtschaftet wurden, sind das Trostpflaster des Stillhalte- und Schweigegelds für alte wie neue Not.

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Das soziale Netz unter dem Wendesalto im Vereinigungszirkus hat eine tragische Doppelfunktion: Es schützt uns vor dem schmerzlichen bis tödlichen Aufprall und dem Erwachen aus der sozialistischen Luftnummer» und es wiegt uns weiterhin in einer illusionären Sicherheit, als wären unsere Flüge und Sprünge auf ewig abgefedert. Was auf der einen Seite nicht so weh tun soll, fördert auf der anderen Seite die neurotische Abhängigkeit und Versorgungsmentalität. Das Netz zu nehmen, wäre ebenso zerstörerisch, wie es weiter auszuspannen. Nur wenn der ganze Zirkus die Nummer ändert und seine Kunst auf den sicheren Boden verlagert, finden wir aus! diesem Dilemma heraus.

Wir im Osten sind ganz offensichtlich zur Luftakrobatik nicht gut geeignet, und ihr im Westen solltet euch fragen, wie wohl und sicher ihr euch da oben im Trapez noch fühlt. Um die circensische Metapher aber nicht überstrapazieren zu wollen, muß ich klar und deutlich aussprechen: Wir brauchen tatsächlich einen dritten Weg, der die Fehlentwicklungen und Unfähigkeiten des Ostens und Westens ausgleicht und eine neue, gemeinsame Identität allmählich finden läßt.

Soeben gab Egon Bahr ein Interview, und ich hörte ihn mit Blick auf die großen wirtschaftlichen Probleme der Sowjetunion sinngemäß sagen, kommen die Waren nicht zu ihnen, kommen die Menschen zu den Waren. Das ist bestimmt richtig und ist eine Abwandlung des Wendeslogans: Kommt die DM nicht nach hier, gehen wir zu ihr! Daß sich unsere Sehnsüchte so materialisiert hatten, dafür gab es damals noch ein bestimmtes Verständnis, doch inzwischen sehen das hier zumindestens viele anders. Es ist vielleicht ein großes Verhängnis, daß der Westen gar nicht mehr anders denken kann und sich nun auch ein riesiges Wirtschafts­wunder »Ost« vorstellen möchte und dabei zum Opfer einer grandiosen Überschätzung der angeblich segensreichen Kräfte und Wirkungen des Marktes wird.

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Was sich jetzt in Deutschland bereits als Schwierigkeit ankündigt, wird die Zukunft in Europa und auf der Welt stärker bestimmen, als uns allen recht sein wird. Diese »soziale Marktwirtschaft« hat ihre Grenzen längst erreicht. Das Geld hat zwar über eine Politbürokratie gesiegt, aber zur Befriedung der ganzen Welt wird es nicht reichen, vor allem qualitativ nicht. Wenn die Macht des Geldes nicht durch die überzeugende Kraft mitmenschlicher Beziehungen relativiert wird, folgt dem Zusammenbruch der sozialistischen Utopien das Chaos eines unbarmherzigen Verteilungskampfes und der endgültige Ruin des bereits gekippten ökologischen Gleichgewichtes.

So wenig die deutsche Vereinigung das Ergebnis einer erfolgreich-vernünftigen Deutschlandpolitik ist, sondern die Notadoption und mühevolle Aufpäppelung eines verkommenen Bastards deutscher Nation, so wenig ist auch die Beilegung des Ost-West-Konfliktes menschlicher Einsicht und Reife zu verdanken, sondern es ist die äußerst gefährliche Folge eines gnaden­losen Wettrüstens als Ausdruck einer Politik der Irrationalität. Wir können offensichtlich Verständigung und Frieden nicht ertragen. Im gleichen Augenblick, wo im »Ballsaal« der Weltgeschichte eine große Feier der Versöhnung abläuft, beginnt in den »Hinterzimmern« ein erbitterter Kampf um die Abfallreste des festlichen Diners. Am Golf, in den Republiken der zerfallenden Sowjetunion und auf dem Balkan entzündet sich die destruktive Energie dieses Jahrhunderts erneut zu einem Feuer, das schon längst mit seinen dunklen Wolken aus dem Süden auf uns zuweht.

Ich bin ein Utopist, und wer noch glaubt, die Marktwirtschaft und die westliche Demokratie könne unser Überleben in Frieden und Wohlstand sichern, ist ein Illusionist. Wir sind heute in Deutschland die Puppenbühne, auf der das große Welttheater eine kleine Probe hat.

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Die ungeeigneten Bewältigungsversuche  

 

Orientierungsverlust und existentielle Verunsicherung schaffen ein Klima von Spannung und Gereiztheit, von Enttäuschung und Verbitterung, von neuer Demütigung und Kränkung, was die alten Wunden vertieft, statt heilt, wobei das Auftreten vieler Westdeutscher die Verletzungen noch verschärft. Die positiven Erfahrungen aus der Wendezeit haben Hoffnungen geschürt, durch deren Nichterfüllung der Absturz in die alte Verzweiflung und Resignation noch nachhaltiger wird.

Auf diese allgemeine umfassende Labilisierung gibt es unter den Menschen zwei auffällige Reaktionen. Die Expansion und die Kontraktion – die Flucht nach vorn und den resignierten Rückzug. Beide Varianten halte ich für neue Fehlentwicklungen.

Um es gleich vorweg zu nehmen und den Nörglern, die bereits den Gefühlsstau wegen der »Pauschalisier­ungen« verrissen haben, den Wind aus den Segeln zu nehmen, sei noch einmal betont, daß ich sowohl in der damaligen wie auch in der jetzigen Analyse unserer Situation und Verhältnisse bewußt verallgemeinere. Darin sehe ich die große Chance, Politik und gesellschaft­liche Entwicklung auch als einen Ausdruck der psychosozialen Fehlentwicklung vieler Menschen zu begreifen. Die Gleichartigkeit der Ursachen verschiedener, speziell ausgeformter Störungen, läßt grundlegende Wirkmechanismen erkennen, die gehäuft vorkommend zum Massenphänomen werden, wodurch sowohl das umfassende Mitläufertum einer Diktatur wie auch das Wahlverhalten einer Demokratie entscheidend bestimmt und beeinflußt werden.

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Und natürlich gibt es so viele verschiedene Möglichkeiten, auf die deutsche Vereinigung zu reagieren und sie mitzugestalten, wie es Menschen gibt, die davon betroffen sind, und jede einzelne Variante hat ihre unverwechselbare Würde mit aller Ehre und Schuld.

 

1.) Die Expansiven: Ich sehe wenige, die schnell die neuen Zeichen der Zeit verstanden haben, die zu einer Blitzwende in der Lage waren und erfolgreich und stimmig die Saiten des neuen Instrumentes anschlagen und zum klingeln bringen können. Zu dieser Gruppe zähle ich vor allem neue Politiker, geschickte Wende-Bonzen, mutige und clevere Unternehmer. Auch diejenigen, die sich ihrer Betroffenheit mittels einer Flucht nach vorn zu entziehen verstehen, die im Reisen, Kaufen, Ausprobieren, Kennenlernen, im hysterisch-expansiven Ausagieren Trost und Ablenkung finden, gehören in diese Gruppe der Wenigen.

Ich zögere, zu sagen, daß es sich hierbei um eine konstruktive Form der Bewältigung handelt, eher möchte ich dies als sozial gebilligte und erwünschte Verhaltensweise verstehen im Unterschied zu der anderen, auch relativ kleinen Gruppe, der destruktiv-expansiven Abreaktionen. Da sind vor allem die radikalen Gruppen zu nennen, die wachsende Zahl der Kriminellen und der Täter im Straßenverkehr. Mir ist es dabei sehr wichtig, nicht mit dem Finger, der Sündenböcke bestimmt, auf die Szene der Radikalen zu zeigen. Ich habe nach meinen Kenntnissen keine Zweifel daran, daß diese Jugendlichen Symptomträger einer gewalttätigen Gesellschaft sind, durch die sie jetzt wie früher Mißhandelte, Verachtete, Nichtverstandene und Ausgegrenzte sind.

Wenn ich auch nur wenige Fälle konkret belegen kann, so bin ich doch sicher, daß in jedem Einzelfall eine bittere Lebens­geschichte von selbst erfahrener körperlicher Gewalt, seelischem Terror oder mangelnder liebevoller Annahme und Bestätigung zu diagnostizieren ist.

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Es sind die Jugendlichen, die auf ihre Art einem bedrohlichen inneren Chaos Ausdruck verleihen, weshalb auch ihr Ruf nach Disziplin und Ordnung, nach straffer Führung und Gehorsam so häufig ist. Sie setzen darin fort, was ihnen selbst in einem bitteren Kampf der Unterwerfung angetan und abverlangt worden war. Sie haben schließlich die erzwungene Norm verinnerlicht, es ist das brutale Korsett, das Mitgefühl und Empfindsamkeit abprallen läßt, um den eigenen Schrei der mißhandelten Seele nicht ständig hören zu müssen. Die Stasi ängstigte, um die eigene Angst zu bannen. Die Radikalen bedrohen und verletzen, um nicht die eigene Bedrohung und Verletzung zu empfinden. Der oft blutige Kampf gegen alles »Fremde« weist auf das unannehmbare Fremde in ihren Seelen hin, auf das Dunkle, den Schatten, den sie unbenennbar in sich tragen. Und in der Hoffnung, dieser Qual ein Ende bereiten zu können, verjagen und erschlagen sie alles Fremde außerhalb.

»Deutschland den Deutschen«, »die Ausländer nehmen uns die Frauen und die Arbeitsplätze weg«, sind Äußerungen, die ganz vordergründig auf den inneren Mangel an Raum, an Selbstsicherheit und Zukunftsgewißheit hinweisen. Der Kampf gegen die käufliche Liebe in der Maske der sauberen und anständigen Jungs weist auf eine Furcht vor Nähe und wirklicher Liebe hin, auf eine ungestillte, brennende innere Sehnsucht, die in der heftigen Ablehnung der Prostitution stellvertretend beschwichtigt werden soll. Was die Mütter ihnen nicht gaben, bekommen jetzt die Nutten ab, die selbst einen schweren Packen an Beziehungsstörung und Bindungslosigkeit zu tragen haben. Und indem sie dies tun, verschonen sie immer noch die eigentlichen Verursacher ihres Elends und dürfen sich sogar noch der fragwürdigen moralischen Unterstützung ihrer ehemaligen Peiniger sicher sein.

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Im Kampf gegen die Prostitution soll verzweifelt die eigene Liebessehnsucht, die Lustunfähigkeit und Beziehungsstörung vergessen werden. Wenn der sexuelle Druck zur körperlichen und emotionalen Nähe nötigt, durch die fehlende Liebeserfahrung aber Mißtrauen, Angst und Unsicherheit bestehen, sind brutale und sadistische Akte eine unglückliche Form der Konfliktdämpfung. So wird Gewalt zur Möglichkeit, um Nähe zu vermeiden, um garantiert auf Distanz zu kommen und gleichzeitig am anderen das abzureagieren, was man selbst erfahren hat. Das martialische Auftreten, die Gefühle von Größe und Stärke in der Gemeinschaft sollen die eigene Ohnmacht und Minderwertigkeit dämpfen, die ihnen durch Strenge, Härte und Unterwerfung bereitet wurden und die jetzt durch soziale Bedrohungen verschärft werden.

Dies alles mit Verteufelung, Ausgrenzung und polizeilicher Gewalt bekämpfen zu wollen, ist wie Öl aufs Feuer zu gießen. Hier sind Verstehen und eine mühevolle Sozialarbeit viel eher angezeigt, doch noch entscheidender ist die notwendige Prophylaxe, die nur in einer sozialen Gemeinschaft möglich wird, die Lieblosigkeit, Repression und Gewalt drastisch vermindern kann. So lange autoritäre Strukturen eine Gesellschaft beherrschen, so lange soziale Ungerechtigkeiten zum Wirtschaftsprinzip gehören und Krieg als Lösung politischer Konflikte akzeptiert wird, werden radikale Minderheiten uns einen Spiegel vorhalten.

 

2.) Die Kontrahierten (die Gehemmten): Das erneute Gefühlsverbot (»friedliche Revolution«), die enttäuschte Hoffnung (keinem soll es schlechter ergehen), die Aufschwunglüge, die reale Existenzbedrohung, der erlebte Orientierungsverlust und Werteverfall, der Identitätsbruch, die Unsicherheit und Unerfahrenheit gegenüber der westlichen Lebensart, die nun zur Leitlinie und bestimmenden Ordnung gemacht wurden, bedienen alle die vorhandenen tiefsitzenden Erfahrungen von Abhängigkeit, Ohnmacht und Minderwertigkeit.

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So wird zum Schutz auf die alten Widerstands- und Abwehrformen zurückgegriffen. Man wartet ab, läßt die Dinge schleifen, resigniert, schimpft, klagt, jammert und stöhnt, läßt sich (widerwillig meist) zu Umschulungen schicken, ist noch bereit zu lernen, aber nur im Sinne von Einpauken, man stellt Fragen und will Antworten, man lernt die neue »Sprache« auswendig und gibt sich brav, angepaßt, gelehrig oder bleibt insgesamt verhalten-passiv. Man zückt den Stift und schreibt gehorsam auf, aber man diskutiert nicht wirklich, vor allem nicht kritisch gegen die neuen Mächtigen. Zuerst wurden diese geradezu kritiklos überhöht, sie machten praktisch alles richtig und wußten alles besser, nachdem aber dieses fälschliche Zutrauen durch die wachsende soziale Misere erschüttert wurde, wächst der alte passive Widerstand, mit dem schon die SED-Bonzen zur Verzweiflung gebracht worden waren.

Eine eisige Mauer des Schweigens und Ausweichens, Blicke der Verachtung und Gesten des nichtaus­gesproch­enen Protestes und der Ablehnung bereiten den westlichen Beratern und »Kolonialherren« eine zunehmende Enttäuschung und Verunsicherung. Die unausgetragene Aggressivität auf beiden Seiten belastet die Beziehungen. Die westliche Art der arroganten Bekehrung scheitert an der östlichen Art der stillen Verweigerung. Die unterschiedlichen Erwartungen, gewachsen aus den sehr verschiedenen, mitunter polar entgegengesetzten Sozialisationen, prallen unversöhnlich aufeinander. So scheitert die Vereinigung! Es kommt nicht zum gegenseitigen Verstehen und sich Einfühlen, es kommt nicht zu einem allmählichen Annähern der Erfahrungen und Standpunkte. Sollte das passieren, dann müßten sich allerdings beide Seiten verändern und dazulernen.

Andernfalls geschieht eben nur eine neue Auslese: Für die neue Gesellschaft werden halt neue passende »Kader« gebraucht, und wer den Akt der neuen Anpassung nicht mitvollziehen will oder kann, der ist draußen. Er wird vermutlich nicht verfolgt, bedroht und bespitzelt, aber durch Armut in vergleichbarer Weise ausgegrenzt, bestraft und gezeichnet.

Die Verzweiflung der Menschen ist groß und wächst immer mehr, die Verbitterung ist unüberhörbar, sozialer Neid und gereizte Aggressivität wachsen – die Gefahr sozialer Unruhen oder rechtsradikaler Tendenzen mit dem Ruf nach einem »starken Mann«, der für alle Kränkungen und Demütigungen die Schuldigen nennt und den Ausweg verheißt, ist ziemlich groß – jedenfalls wird durch die bisherige Vereinigungspolitik genau diese Tendenz gefördert und nicht der konstruktive Protest und die notwendige Auseinandersetzung und Abgrenzung gegen die Übermacht der westlichen Kultur. 

Die ehemalige Nötigung zur gehemmt-kontrahierten Anpassung, die stets mit gestauter Aggressivität verbunden ist, ist mit der Vereinigung nicht geringer, sondern noch größer geworden. Die Altlast psychosozialer Fehlentwicklung durch permanente Repression erfährt eine Zuspitzung und Verschärfung durch die neue Last einer verfehlten Vereinigungspolitik und einer brutalen Wirtschaftsstrategie, die ihrerseits Ausdruck von der charakteristischen psychosozialen Fehlentwicklung westlicher Prägung ist.

Was wir jetzt dringend brauchen, ist unsere eigene Identität zu bestimmen und zu entwickeln (keine DDR-Identität bewahren zu wollen) und uns kritisch mit de» West-Identität auseinanderzusetzen. Wir brauchen die Fremdheit, Unterschiedlichkeit und Verschiedenheit in der Einheit.

Es geht um einen längeren Prozeß, der mindestens eine Generation brauchen wird, um eine neue gemeinsame gesellschaftliche Identität zu finden. Die DDR ist verloren, Gott sei Dank — die alte Bundes­republik kann nur sehr schwer akzeptieren, daß auch ihre Stunde längst geschlagen hat, und wir zu einem gemeinsamen Neuen aufgerufen sind.

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