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2.  Die »Sieger« 

 

 

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Ich war im letzten Jahre sehr bemüht bei zahlreichen Seminaren und Workshops, bei Vorträgen und Diskussionen, in persön­lichen Kontakten und durch Studium der veröffentlichten Meinungen mir ein Bild zu machen, wie Westdeutsche auf die deutsche Vereinigung reagieren und was dabei in ihnen ausgelöst wird. Dabei fielen mir sehr bald erhebliche Unterschiede auf, die vor allem durch die Geographie, durch den Beruf bzw. die soziale Schicht und die schon bestehenden Beziehungen zur ehemaligen DDR bestimmt waren. 

So ist in den grenznahen Gebieten und vor allem in Westberlin die affektiv besetzte Aus­einander­setzung wesentlich größer als in den entfernter liegenden Gegenden. Die Ostdeutschen bringen Leben, Unruhe, Störung, Belästigung in das ehemalige Zonenrandgebiet, und sie beleben vor allem das Geschäft. Im tieferen Süden und Westen ist eher ein Desinteresse bemerkenswert, etwa im Sinne: Wir wollen nicht gestört werden, was geht uns das alles an!

Die familiären, freundschaftlichen und kollegialen Vor-Wende-Beziehungen sind jetzt grundsätzlicher angefragt und ändern sich zumeist viel stärker als je gedacht.  

Ich will einige Aussagen als Beispiele anführen, die von diesem Geschehen einiges deutlich machen: 

»Es war ein schönes Gefühl, Pakete packen oder einen vollen Koffer ausbreiten zu können, aber wenn wir jetzt im Wohnzimmer zusammensitzen, dann ist manches sehr viel schwieriger!« — 

»Ich ärgere mich, daß meine Verwandten jetzt nach Italien fahren und mich nicht mal besuchen kommen; früher waren sie sehr froh, wenn sie hier sein konnten und von mir versorgt wurden, jetzt schmeißen die ihr Geld hinaus, das kann ich mir nicht leisten!« — »Was die sich denken, jetzt genügt schon der VW nicht mehr, so anspruchsvoll sind die geworden, was haben wir dafür hart arbeiten müssen!« — »Gott sei Dank sind wir in der Mehrzahl im Westen, ich habe Angst vor den Ostdeutschen, vor ihrem Neid, ihrer Gier und Mißgunst!« — »Die sind so lahm, so zögerlich — mich bringen das Abwarten und Fragen, die Verweigerung und der stille Protest ganz auf; ich bin so enttäuscht und sauer, daß es dort im Osten nicht so flutscht!« — »Am Anfang war ich wütend, weil die Ostdeutschen alles unkritisch hingenommen haben, jetzt verzweifle ich an der Eiseskälte, an den Blicken und Gesten, aus denen ich spüre, daß etwas ganz anderes gedacht als gesagt wird!« — »Jetzt bringen wir euch schon so viel Geld, und ihr seid immer noch nicht zufrieden und dankbar!«

Am verbreitetsten und deutlichsten ist eine Haltung vorzufinden, die der eigenen Selbstgerechtigkeit und Selbstbestätigung dient: Der Osten verstärkt das Gefühl der Überlegenheitnoch nie erschien die BRD so schön wie im Vergleich mit der DDR« — Till Schneider am 27.4.90 in der Zeit).

Der »real existierende Sozialismus« ist zusammengebrochen, wir haben es ja schon immer gewußt, das konnte ja auch nicht gut gehen, wir sind eindeutig überlegen, wir haben gewonnen, wir sind einfach tüchtiger. Ich bin doch ganz dankbar, daß ich im Westen leben konnte. Bei uns ist auch nicht alles in Ordnung, aber im Vergleich zur ehemaligen DDR geht es uns hier wirklich hervorragend. Wir haben uns das natürlich hart erarbeiten müssen, das dürfen die im Osten nicht vergessen. Das müssen die erstmal noch lernen. Wir sind auch moralisch überlegen, wenn man bedenkt, wieviel sich von den Ostdeutschen in der SED und bei der Stasi die Hände schmutzig gemacht haben.

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Da kann man unsere Skandale getrost beiseite legen, das wird bei uns eh alles irgendwie aufgedeckt und geklärt, das verkraftet unsere Demokratie schon. Wir werden mit den wirtschaftlichen und ökologischen Problemen auf der Welt schon fertig im Gegensatz zu den Staaten des Ostens.

Diese Haltung benutzt den Osten wie eine dunkle Wand, vor deren Hintergrund der Westen richtig hell erstrahlen kann. Alle Bedenken und Selbstzweifel sind überflüssig geworden. Ja, Zweifel werden sogar als bedrohlich erklärt, weil die Überlegenheit und Stabilität des Westens die einzige Hoffnung für den Osten sei. Darin liegt natürlich auch die große Gefahr, daß unterschwellig überhaupt kein wirkliches Interesse daran besteht, daß sich die Kluft zwischen Ost und West schließen könnte, weil damit das herrliche Überlegenheitsgefühl verloren ginge. Die Existenz minderwertiger Brüder und Schwestern führt zur eigenen psychischen Stabilisierung. Die Not und Schwäche der Ostdeutschen, ihr Neid und ihre Begehrlichkeit helfen, daß sich die Westler großartig bestätigt fühlen. Mit dem Zusammenbruch der DDR wird der häufigste Kompensationsmechanismus des Westens (Größenselbst zur Abwehr innerer Not) richtungsweisend und nachhaltig verstärkt.

Dazu paßt auch eine Haltung, die vor allem von den Medien aufgebaut wird und ihnen zugleich hohe Auflagen und Einschalt­quoten sichern: Der Osten, das interessante Objekt!

Der Osten als Medienspektakel, als dankbares Objekt, um die eigenen westlichen Probleme nicht mehr sehen und darstellen zu müssen, sondern sie nur noch im Osten zu denunzieren: die Arbeitslosigkeit, die Ausländerfeindlichkeit, die rechtsradikalen Tendenzen, die Gewalt und Kriminalität, das Verkehrschaos, die Umweltkatastrophe, die Armut und die mangelnde Vergangenheitsbewältigung, die seelischen Probleme der Menschen finden jetzt nur noch im Osten statt.

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Man kann sich jetzt beruhigt im Fernsehsessel zurücklehnen, die eigenen Probleme vor der Türe, die das Bild des Erfolges trüben könnten, muß man nicht mehr fürchten, denn sie gibt es jetzt nur noch im Osten. Dies ist nicht nur ein Vorgang abgelenkter und projizierter Aufmerksamkeit, sondern das geschieht auch ganz real: Die unseriösen Händler und Makler, die Ganoven und die Radikalen finden im Osten zur Zeit ein sehr fruchtbares Feld für ihre dunklen und dumpfen Interessen.

Diese Chance teilen sie aber durchaus auch mit den offiziellen und herbeigewählten Helfern und Heilsbringern, den Politikern, Bankern und Managern, den Unternehmern, den Beamten und Wissenschaftlern, die für ihre Gewinne und Profilierung, ihre Helfer­bedürfnisse und Abenteuer­gelüste neue Märkte suchen, um aus der Selbstverständlichkeit des Funktionierens, der Übersättigung des gleichbleibenden Wohlstands, des ermüdenden Konkurrierens und des seligen Gleichschritts wieder Dynamik, also Aufgaben, Risiko, Bewährungschancen suchen, um der suchtartigen Spirale des Erfolges weiter Nahrung und damit Ablenkung zu verschaffen.

Es gibt auch nicht wenige, die jetzt zunehmend auf die Vereinigung mit Angst reagieren und dabei vor allem eine aufgenötigte Veränderung befürchten. Da wird zunächst das vorhandene Wohlstandsniveau als bedroht empfunden. Diese Menschen sind beunruhigt, sie zeigen immer unverhohlener Haßgefühle, weil der mühsam erarbeitete Lebensstandard für sie in Frage steht. Die wachsenden Steuern und Preise sind eine Verunsicherung der materiellen Zukunft, die bis dahin als ziemlich sicher gewähnt wurde. Bei diesen Reaktionen wächst in mir ein Verständnis für den Instinkt der Politiker, eine Steuerlüge aufzutischen.

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Die Herren Kohl, Waigel und Lambsdorff kennen halt ihre Wähler. Als sich ihre Steuerpolitik mit dem Golfkrieg änderte, war jedenfalls eine regelrechte Erleichterung spürbar, daß es wenigstens diesen Krieg gab, an dem Deutschland zwar nicht richtig teilnehmen konnte, aber wenigstens jetzt dem deutschen Steuerzahler das Geld abverlangen durfte, das man ihm für die deutsche Einheit nicht zumuten wollte.

Eben weil die Vereinigung so viel Geld kostet, und die Ossis so viel Geld verschlingen, mit dem sie offensichtlich nicht so sorgsam und gewinnbringend umgehen können und dann auch noch Verständnis und emotionale Zuwendung wollen, werden sie im Westen zunehmend verachtet (Was ist der Unterschied zwischen einem Terroristen und einem Ossi? Terroristen haben Sympathisanten!).

Es gibt auch Westdeutsche, die ohne jede Zuneigung zum Osten, bereit sind, viel Geld und Aufwand zu opfern, um das westliche Wirtschaften und Leben im Osten zu sichern, weil sie erkannt haben, daß es für das Ganze sonst keine Chance mehr gibt, den eigenen Wohlstand zu sichern.

Der Zusammenbruch des West-Ost-Konfliktes läßt eine Veränderung der Weltlage unübersehbar aufscheinen, und es gibt ein deutliches Bestreben in Westdeutschland, sich mit viel Geld vor der Springflut der Geschichte zu schützen, unterstützt von dem ostdeutschen Bestreben, schnell noch vom sinkenden Wrack in den Luxusliner hinüber zu wechseln.

In der linken, nach-68-Szene, die ich häufig unter Therapiekollegen, in Sozialdiensten, bei arrivierten Soziologen und Politologen fand, gibt es auch Haltungen, die die »DDR als interessantes Objekt« mitunter begleiten oder ergänzen:

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— Der Osten hat unsere Hoffnung auf ein besseres Leben endgültig enttäuscht.
— Der Osten bedroht jetzt unsere liberale Entwicklung und die mühsam erkämpfte Emanzipation.

 

Viele der Enttäuschten sind verärgert über uns und unsere mißglückte und steckengebliebene »Revolution«, über die kollektive Flucht in den Westen, über unser konservatives Wahlverhalten und den endgültigen Verrat an den sozialistischen Idealen. Sie beschwören »Bewahrenswertes« aus der DDR, sie loben unsere Wärme, Herzlichkeit, Menschlichkeit und Gemütlichkeit, und sie werden nicht müde in der Aufforderung, daß wir darauf achten sollen, nicht die gleichen Fehler wie im Westen zu machen. Und natürlich weiß jeder, der so etwas sagt, wie hilflos letztlich eine solche Ermahnung ist, und dann kommt auch schon die resignierte Nachgiebigkeit: Na ja, jeder muß halt seine eigenen Fehler machen. Ein Wille zur erneuten politischen Auseinander­setzung ist jedenfalls zumeist nicht erkennbar.

So schrieb ein Kritiker des Gefühlsstaus:

»Er (Maaz) vernachlässigt vollkommen produktive seelische und zwischenmenschliche Leistungen und Bewältigungs­formen, wie sie in der Bevölkerung der DDR gewachsen sind: gesunde Disziplin, Einfallsreichtum und Improvisationsgabe, Nüchternheit und Kritikfähigkeit, Solidarität und Hilfsbereitschaft, vor allem aber die Kraft, trotz 45-jähriger Willkür und Unterdrückung das Menschsein bewahrt zu haben.«

Da reagiere ich doch empfindlich, denn über mein »Menschsein« möchte ich selbst befinden, da kränkt mich nur ein gönnerhafter Zuspruch, denn was weiß der schon von meinen inneren Kämpfen, von meinen Siegen und von meinem Versagen. Hier werden mir, so fürchte ich, meine Fehler, meine Schuld weggenommen, wie mir andererseits jetzt auch laufend meine Fähigkeiten und Erfahrungen streitig gemacht werden.

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Die Meßlatte des Kapitals entwertet alle unsere Leistungen, dagegen wehre ich mich ebenso, wie es mir unangenehm ist, wenn jemand meine Ehre retten möchte. Solche Art »Hilfe« empfinde ich als einen neuen Versuch der Unterwerfung, wenn dabei nicht deutlich wird, aus welcher Motivation heraus so geurteilt wird.

Wenn zum Beispiel von westdeutscher Seite unsere »Herzlichkeit und Gemütlichkeit« gewürdigt wird, so wirft diese Einschätzung ja vor allem ein Licht auf die herzlosen und ungemütlichen Verhältnisse in Westdeutschland. Aber davon erfahre ich bei solchem »Lob« nichts. Wenn ein solches ehrliches Angebot käme, das Mut und Offenheit voraussetzte, auf die eigene Misere zu blicken, dann wäre eine andere Grundlage für die Verständigung gegeben. Ich bin sehr wohl froh und stolz auf die herzlichen Beziehungen, die ich in der DDR erlebt habe, zu denen ich selber fähig war und auch beigetragen habe, und ich kenne auch die leidvolle Erfahrung in mir von so vielen oberflächlichen, fassadären, verlogenen und durch Verrat geschändeten Beziehungen. Also weder die Abwertung noch die Aufwertung helfen mir für eine Annäherung. Diese kann ich mir nur durch internale Mitteilungen von beiden Seiten vorstellen.

Die Enttäuschung über den Zusammenbruch des »real existierenden Sozialismus«, die Verärgerung über unser Versagen, das hilflose Bemühen, uns »aufbauen« zu wollen, empfinde ich vor allem als eine projektive Abwehr der eigenen Unzufriedenheit und der faulen Kompromisse mit dem eigenen Leben. Ich fürchte, daß wir etwas von der enttäuschten Hoffnung von 1968 und der Scham über die nachfolgenden fragwürdigen Arrangements (links denken und rechts leben!) abbekommen. Wir haben nun auch ausgedient als mögliches Alibi für die eigene nicht vollendete Emanzipation.

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Ich will an dieser Stelle aber nicht unerwähnt lassen, daß ich auch eine Menge offener Auseinander­setz­ungen über beidseitiges Versagen und unerfülltes Sehnen erleben durfte, aus der dann auch ganz herzliche und konstruktive Beziehungen gewachsen sind, neue Freundschaften, die mir Hoffnung geben für eine doch noch mögliche Integration statt der beschämenden Kolonialisierung.

Wie sehr wir emanzipatorische und liberale, mühsam abgetrotzte Entwicklungen in unserer Kultur gefährden und durch einen kleinbürgerlich-konservativen Entwicklungshorizont das Ringen um wichtige Schritte in der Emanzipation der Geschlechter, der multikulturellen Toleranz, der ökologischen Vernunft und der Fähigkeit zum Verzicht in der Solidarität mit der Dritten Welt, für repressionsarme und partnerschaftliche Beziehungsfähigkeit, für eine Kultur der Konfliktfähigkeit, des Streites und der Friedens­verpflichtung verhindern, bleibt aber in der Tat eine ernste Anfrage an uns alle. Wenn ich davon höre, daß im Moment eher autoritäre Tendenzen in der Kindererziehung, die Hausfrauen­mentalität, das materielle Wohlstands­denken und die Ausländer­feindlichkeit in Deutschland wieder zunehmen – ja, daß es erkennbare Gruppierungen im Westen gibt, die in dieser Richtung mit uns Raum gewinnen wollen, dann bekommt die unglückliche Vereinigung noch eine ganz andere Dimension berechtigter Skepsis.

Noch eine Haltung erscheint mir erwähnenswert, die sich nun ganz im Gegensatz zu dem Rummel um den Osten, durch Gleichgültigkeit ausweist.

Es ist eine Tendenz dabei spürbar, nicht gestört, aufgescheucht, in Frage gestellt zu werden. Um Gottes Willen keine Veränderungen! »Ich habe die Vereinigung überhaupt nicht gewollt — ich bin doch gar nicht gefragt worden.« —

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»Die DDR ist mir fremder als Italien oder Frankreich!« Bei genauerem Hinsehen liegt dieser Gleichgültig­keit gegenüber der Vereinigung eine tiefe Beunruhigung zugrunde, eine befürchtete Nötigung zur Veränderung oder gar zur tieferen Einsicht, aus dem Schicki-Micki-Leben in eine neue harte Realität gestürzt zu werden. Die Ignoranz und das Desinteresse verraten eine Kurzsichtigkeit, die den Blick auf die eigene Armut, das Gefangensein, die Schwäche und Hilflosigkeit, die Entfremdung nicht mehr wagt und zustande bringt. Bei diesen Menschen wird auch eine Einstellung deutlich, die etwa ausdrückt: Wenn ihr euch uns schon an den Hals werft, dann habt ihr auch unsere Spielregeln zu respektieren. »Werdet schnell so wie wir, dann wird es für uns alle gut sein!« Das Einfühlen in die ostdeutsche Mentalität, das Verständnis für notwendige Veränderungen und Entwicklungen auf beiden Seiten würde die mit Anstrengung aufrechterhaltene Fassade des »zufriedenen und glücklichen Lebens« nachhaltig erschüttern.

Der Osten ist im Moment ein weites Feld für Geschäftemacher und Karrieristen, für Helfer und Abenteurer. Wir bieten viel Anreiz, das schal gewordene westliche Leben mit neuer Energie zu beleben. Dabei geschehen neue Verleugnungen, Abspaltungen und Projektionen im großen Stil, die auch dem Westbürger helfen sollen, sein Gleichgewicht zu erhalten. Dies geschieht auf sehr verschiedene Weisen, wobei im Moment das Bemühen dominiert, uns so schnell wie möglich zu verwestlichen. Damit soll schnell wieder Beruhigung und Ruhe einsetzen. Unsere eigenen emanzipatorischen, politischen, sozialen und persönlichen Bemühungen und Interessen werden systematisch auf die Überwindung des Wohlstandsgefälles reduziert.

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Da haben sogar die Gewerkschaften kräftig mitgemischt und in der Orientierung auf schnellen Lohn- und Gehaltszuwachs selbst die Montagsdemonstrationen »besetzt« und damit den letzten Rest an Idealismus und Protest für das westliche »Machtspiel« verwenden wollen, was dann auch folgerichtig mit der Ermordung des Treuhandchefs Rohwedder erbärmlich zusammenbrach. 

Was hat dieser sinnlose und häßliche Mord mit unserem Kampf für ein besseres und würdigeres Leben zu tun? Die Treuhand ist nicht unser Feind, auch wenn sie nachweislich (siehe Monitor vom 9.7.91) nicht zu unserem Besten entscheidet und handelt und wenn manch einer auch den »Sündenbock« braucht. Am Tag der verdammungswürdigen Ermordung kam sofort die Retourkutsche mit dem Hinweis (in Kommentaren und Artikeln) auf den »schweren Rückschlag für den Wirtschaftsaufschwung im Osten«, von einem »Angriff gegen die Vereinigungspolitik und die Marktwirtschaft« wurde da gesprochen — um die ostdeutsche Protestbewegung endgültig in die Ecke des undankbaren, ehrlosen Pöbels zu stellen. Der »Bruderkrieg« als Folge der deutschen Spaltung mit der jetzt folgenden unglücklichschnellen Vereinigung schwelt längst vor sich hin und kündet von unbewußten Motiven und Einstellungen, die unerkannt und unbewältigt noch sehr viel mehr Schaden anrichten können.

Von manchen wurde die Spaltung Deutschlands auch als eine beschämende Strafe empfunden und die Wiedervereinigung dann folgerichtig als eine »Erlösung« vom bösen Fluch. Doch hatte die Trennung in zwei deutsche Staaten das »Böse« nur notdürftig gebannt, aber nicht wirklich bewältigt. Es wird jetzt nur wieder deutlicher erkennbar.

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Ich habe in mehreren Seminaren mit Westdeutschen immer wieder gehört, daß sie ein schlechtes Gewissen hätten, daß sie es unverdient besser gehabt hätten, aber auch froh und dankbar dafür seien und daß sie Ängste haben, daß das Elend jetzt auf sie zugekrochen käme und sie es nicht mehr in sicherer Entfernung (hinter der Mauer wie bei einer Fahrt im klimatisierten Touristenbus durch Länder der Dritten Welt) halten können und daß sie Mitleid und Ungeduld empfinden mit dem Wunsch, daß es uns im Osten doch sehr bald auch besser ergehen solle. 

Intensive Arbeit an diesen Gefühlen brachte sehr persönliche Schwierigkeiten und Nöte ans Tageslicht: Ich habe Kontaktängste, mir geht es gar nicht wirklich gut, ich fühle mich schon lange innerlich bedroht und leide an seelischen Defiziten. Der Blick auf das äußere Elend hat mir geholfen, das innere Elend zu relativieren und zu vergessen, mit der Vereinigung ist dieser Mechanismus in Frage gestellt. In dem Moment, wo die Brüder und Schwestern im Osten nicht mehr als die ärmeren und schwächeren erscheinen, bin ich wieder mit meinen eigenen Schwächen konfrontiert, und das erlebe ich als eine tiefe Beunruhigung und Kränkung.

Häufig waren auch bittere Berichte von unbarmherzigem Leistungsdruck zu hören, der bereits die Kindheit belastete und die Beziehungen zu den Eltern beeinträchtigte, all dies verbunden mit der unglücklichen Illusion, daß man durch großartige Anstrengungen und Leistungen sich »Liebe« verdienen könne: »Ich fühle mich immer unter Druck, fit zu sein. Ich kann nichts >halblang< machen. Das muß alles schnell gehen und perfekt sein! Ich habe geschuftet und dabei Familie und Gesundheit ruiniert und meine Freizeit geopfert. Ich bin so sehr in Verpflichtungen drin (Familie, Haus, Besitz, Schulden), ich kann gar nicht aussteigen. Wir sprechen von Demokratie und meinen damit eine Höchstform vom Ökonomisierung der Beziehung. Ich habe meine Freiheit geopfert für ökonomische Sicherheit.« Die unerfüllten Sehnsüchte nach Nähe und Herzlichkeit, die Mangel­erfahrung an wirklicher Liebe, sind in den Beispielen, die ich erfahren konnte, in keiner Weise geringer als bei uns. 

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Die Angst zu versagen, der tragische Anpassungsdruck an Höchstleistungen, das Gefühl der Nötigung, mit der Mode gehen zu müssen, im Trend zu liegen, der Prestigezwang, die innere Vereinsamung und die Scheu zu zeigen, wie es einem wirklich geht, empfand ich zumeist als so gravierend und umfassend, wie ich es im Osten so nie kennengelernt hatte.

Die zusammengetragenen Reaktionen zeigen vor allem Angst vor Veränderung — ausgelöst durch eine mögliche Bedrohung des Wohlstandes, der politischen Kultur und des gewohnten Gleichmaßes — Angst vor Kontakt und Enttäuschung über uns, begleitet von aggressiver Schadenfreude (ihr habt es ja so gewollt, nun seht zu, wie ihr klar kommt) bis zur kränkenden Diffamierung (bei solchen Arbeitsleistungen können die im Osten nie richtige Deutsche werden). 

Es gibt gar nicht selten eine auffällige Scheu und Unsicherheit mit uns im Osten in Kontakt zu kommen, da spielt sehr viel Unkenntnis eine wichtige Rolle, aber noch vielmehr die mögliche Begegnung mit eigenen abgewehrten seelischen Inhalten, die auf uns projiziert waren und jetzt wieder zurückfluten. Wir haben wie getrennte und verfeindete Geschwister gelebt, und ich hatte öfters die Assoziation von der »Heimkehr des verlorenen Sohnes«: Der eine Bruder, stets tüchtig und fleißig, ist tief gekränkt, wenn der andere, der sein »Gut« vertan hat, am Ende doch angenommen und reichlich belohnt wird. Letztlich geht es also um eine unterdrückte Anfrage an den eigenen Lebensstil, die jetzt erneut gestellt ist.

Die Schuldgefühle machen es dabei noch am stärksten. deutlich, daß das eigene Leben nicht als selbstverständlich angenommen, sondern als etwas »Unverdientes« empfunden wird, als ein Hinweis auf eine seelische Verunsicherung ganz anderer Art, die im äußeren Wohlstand eben nicht getilgt werden kann.

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Und diejenigen, die ihren äußeren Erfolg herauskehren, zeigen erst recht, wie nötig sie es haben, auf etwas zu verweisen, um anderes zu verbergen. Geld als Ersatzmittel für wirkliche Potenz, womit ich nicht alleine sexuelle Fähigkeiten, sondern vor allem die lebendige Kraft zum authentischen Dasein meine. Mit der Vereinigung wird offensichtlich eine Beunruhigung ausgelöst, die auch nicht durch eine Flucht nach vorn beizulegen ist, die die »Bedrohung«, die von uns ausgeht, schnell durch das Bemühen beschwichtigen will, uns rasch so zu machen, wie man im Westen zu sein hat. Dazu rechne ich alle vordergründige Hilfe, die vor allem abhängig macht, die aufdringlich, belehrend, besserwissend und beherrschend herüberkommt. Dagegen verstehe ich unter echter Hilfe das Aushalten und Durchstehen der Beziehungskonflikte mit der Bereitschaft, sich selber mitzuverändern.

Wenn ich gefragt werde, worin denn jetzt die beste Hilfe für uns bestehen würde, dann ist allein diese Frage schon verdächtig, weil sie voraussetzt, daß wir allein die Hilfsbedürftigen seien. So antworte ich jetzt meist: Laßt uns am besten in Frieden und seid höchstens da, wenn wir den Kontakt wollen und brauchen, aber wenn ihr schon kommt, dann bleibt und haltet die Beziehung aus. Oder kommt, wenn ihr es braucht und sprecht von euch, zeigt etwas von dem, was in euch wirklich vorgeht, und wer ihr wirklich seid. Laßt uns unsere Unterschiede wahrnehmen und akzeptieren, wir können beide voneinander lernen.

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Die dritten Deutschen  

 

Ich will noch ein Wort zu den Flüchtlingen und Übersiedlern aus der ehemaligen DDR sagen, denen ich im Westen bei allen Anlässen häufiger begegnet bin. Ich habe den Eindruck dabei gewonnen, daß es suchende Menschen sind, die weder richtig abgefahren noch richtig angekommen sind. Es war immer wieder eine Menge Zorn und Traurigkeit spürbar und eine dreifache Last: die Bewältigung der Vergangenheit DDR, die Bewältigung der Flucht und schließlich auch die Klärung der neuen Westidentität. Die Vereinigung vereitelt endgültig den Abwehrversuch »Flucht«. Alles was damit zurückgelassen und vergessen werden sollte, ist wieder da. Die unbewältigte Vergangenheit fordert ihren Tribut.

Mag sein, daß nur bestimmte »Republikflüchtige« den Kontakt zu mir oder den einschlägigen Veranstaltungen suchten, doch hatte ich mir schon länger die Frage gestellt, wo sind eigentlich diese »dritten Deutschen«, diese 4 bis 5 Millionen, die beide Systeme kennen, am eigenen Leibe erfahren haben? Weshalb sind sie doch relativ still? Weshalb formieren sie sich nicht als Vermittler zwischen Ost und West, als Dolmetscher für die unterschiedlichen Codes, mit der sich Ossis und Wessis riechen und verstehen können? 

Eine mögliche Antwort scheint darin zu liegen, daß sie für diese dringend erforderliche, doch auch sehr schwierige Aufgabe keinen inneren Freiraum haben, sondern mit dem Wechsel ihrer Identität noch immer in Not sind. Genau das halte ich nicht für eine Schmach, sondern für einen unabweisbaren Konflikt, als einen Hinweis auf die Unversöhnlichkeit der beiden Sozialisationen, was man als Flüchtling weder bereit noch in der Lage gewesen wäre zuzugeben oder zur öffentlichen Diskussion zu bringen. Aber jetzt besteht eine große Chance zum besseren eigenen Verständnis und auch für einen sinnvollen »Dienst« für die deutsche Verständigung.

Vielleicht gibt es auch einen gravierenden Unterschied zwischen den Flüchtlingen, die die DDR in einer aktiven Entscheidung mit sehr viel Schwierigkeiten verlassen haben und den anderen, denen ihre »Westflucht« mehr passiv als ein abstrakter Verwaltungsakt geschieht, und anscheinend verkörpern diese sehr verschiedenen Haltungen auch Positionen, die als unbewältigte Konflikte zwischen den »Ausreisenden« und den »Revolutionären« liegen. Gehört habe ich jedenfalls mehrfach davon, daß die mühevoll und unter Lebensgefahr oder mit Haft bestraften Geflohenen sich gegenüber der »Wende« und Vereinigung ablehnend, kritisch und sehr verunsichert geäußert haben. 

Daß vielen die Vereinigung überhaupt nicht recht war und Neid und Empörung darüber hochgekommen ist, wie wir jetzt zum Westen gekommen sind. Nun dienen wir auch nicht mehr als die »zurückgebliebenen Tölpel«, mit deren Existenz so manches Dilemma im Westen noch entschuldigt werden konnte. Es mag auch noch sehr viel nie ausgedrückte Enttäuschung und Empörung in den »Dagebliebenen« über das Verlassen­werden durch ihre Angehörigen und Freunde schmoren, was Berührungsängste erklären könnte.

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