Bevölkerungsbuch       Start     Weiter

2  Übervölkerung 

Lorenz-1973

 

19-22

Im Einzelorganismus findet man normalerweise kaum je einen Kreis positiver Rückkoppelung. Nur das Leben als Ganzes darf dieser Maßlosigkeit, bisher scheinbar ungestraft, frönen. 

Das organische Leben hat sich, als ein Stauwerk seltsamer Art, selbst in den Strom der dissipierenden Weltenergie hinein­gebaut, es »frißt« negative Entropie, es reißt Energie an sich und wächst damit, und wird durch sein Wachstum instand gesetzt, mehr und mehr Energie an sich zu reißen und dies um so schneller zu tun, je mehr es schon errafft hat. 

Daß dies noch nicht zum Überwuchern und zur Katastrophe geführt hat, liegt daran, daß die mitleidslosen Mächte des Anorganischen, die Gesetze der Wahrschein­lichkeit, die Vermehrung der Lebewesen in Grenzen halten; zweitens aber daran, daß sich innerhalb der verschiedenen Arten der Lebewesen Regelkreise ausgebildet haben. Wie diese wirken, wird im nächsten Kapitel, das von der Zerstörung des irdischen Lebensraumes handelt, kurz erörtert werden.

Die maßlose Vermehrung der Menschen als erstes zu besprechen, empfiehlt sich schon deshalb, weil so manche der später zu behandelnden Erscheinungen ihre Folge sind.

Alle Gaben, die dem Menschen aus seinen tiefen Einsichten in die umgebende Natur erwachsen, die Fortschritte seiner Technologie, seiner chemischen und medizinischen Wissenschaften, alles, was dazu angetan scheint, menschliche Leiden zu mindern, wirkt sich in entsetzlicher und paradoxer Weise zum Verderben der Menschheit aus. Sie droht genau das zu tun, was sonst lebenden Systemen fast nie geschieht, nämlich in sich selbst zu ersticken. Das Entsetzlichste aber ist, daß bei diesem apokalyptischen Vorgange die höchsten und edelsten Eigenschaften und Fähigkeiten des Menschen, gerade jene, die wir mit Recht als spezifisch menschlich empfinden und werten, allem Anscheine nach die ersten sind, die untergehen.

Wir alle, die wir in dichtbesiedelten Kulturländern oder gar in Großstädten leben, wissen gar nicht mehr, wie sehr es uns an allgemeiner, herzlicher und warmer Menschenliebe gebricht. Man muß einmal in einem wirklich dünnbesiedelten Land, wo mehrere Kilometer schlechter Straßen die Nachbarn voneinander trennen, als ungebetener Gast in ein Haus gekommen sein, um zu ermessen, wie gastfreundlich und menschenliebend der Mensch dann ist, wenn seine Fähigkeit zu sozialem Kontakt nicht dauernd überfordert wird.

Ein unvergeßliches Erlebnis brachte mir das einst zum Bewußtsein.

Ich hatte ein amerikanisches Ehepaar aus Wisconsin zu Gaste, berufsmäßige Naturschützer, deren Haus in völliger Einsamkeit im Walde liegt. Als wir uns eben zum Abendessen niedersetzen wollten, läutete die Türglocke, und ich rief ärgerlich aus: »Wer ist denn das jetzt schon wieder!« Ich hätte meine Gäste nicht mehr schockieren können, wenn ich mir die größte Unflätigkeit zuschulden hätte kommen lassen. Daß man auf das unerwartete Läuten der Türglocke anders als mit Freude antworten kann, war für sie ein Skandalon.

Sicherlich trägt das Zusammengepferchtsein von Menschenmassen in den modernen Großstädten einen großen Teil der Schuld daran, wenn wir in der Phantasmagorie der ewig wechselnden, einander überlagernden und verwischenden Menschenbilder das Antlitz des Nächsten nicht mehr zu erblicken vermögen. Unsere Nächstenliebe wird durch die Massen der Nächsten, der Allzunahen, so verdünnt, daß sie schließlich nicht einmal mehr in Spuren nachweisbar ist.  

Wer überhaupt noch herzliche und warme Gefühle für Mitmenschen aufbringen will, muß sie auf eine geringe Zahl von Freunden konzentrieren, denn wir sind nicht so beschaffen, daß wir alle Menschen lieben können, so richtig und ethisch die Forderung ist, dies zu tun. Wir müssen also eine Auswahl treffen, das heißt, wir müssen uns so manche andere Menschen, die unserer Freundschaft gewiß ebenso würdig wären, gefühlsmäßig »vom Leibe halten«.

»Not to get emotionally involved« ist eine der Hauptsorgen mancher Großstadtmenschen. Diesem, für keinen von uns ganz vermeidbaren Verfahren haftet aber bereits ein böser Hauch von Unmensch­lichkeit an; es erinnert an das der alten amerikanischen Plantagenbesitzer, die ihre »Hausneger« durchaus menschlich behandelten, die Arbeitssklaven auf ihren Plantagen aber bestenfalls wie ziemlich wertvolle Haustiere. 

Geht diese absichtliche Abschirmung gegen menschliche Kontakte weiter, so führt sie im Verein mit den später zu besprechenden Erscheinungen der Gefühls­verflachung zu jenen entsetzlichen Erscheinungen der Teilnahms­losigkeit, von denen die Zeitungen uns alltäglich berichten. Je weiter die Vermassung der Menschen geht, desto dringender wird für den einzelnen die Notwendigkeit »not to get involved«, und so können heute gerade in den größten Großstädten Raub, Mord und Vergewaltigung bei hellem Tage und auf dicht belebten Straßen vor sich gehen, ohne daß ein »Passant« einschreitet.

Das Zusammengepferchtsein vieler Menschen auf engstem Raum führt nicht nur mittelbar durch Erschöpfung und Versandung zwischenmenschlicher Beziehungen zu Erscheinungen der Entmenschlichung, es löst auch ganz unmittelbar aggressives Verhalten aus. Man weiß aus sehr vielen Tierversuchen, daß innerartliche Aggression durch Zusammenpferchung gesteigert werden kann. 

Wer es nicht in Kriegs­gefangen­schaft oder in einer ähnlichen gewaltsamen Aggregation vieler Menschen selbst erlebt hat, kann gar nicht ermessen, welche Grade die kleinliche Reizbarkeit erreichen kann, die einen unter solchen Umständen befällt.

Gerade wenn man sich im Zaume zu halten trachtet und sich befleißigt, im täglichen und stündlichen Kontakt mit nicht befreundeten Artgenossen ein höfliches, das heißt freundschaftliches Verhalten zu zeigen, steigert sich der Zustand bis zur Qual. Die allgemeine Unfreundlichkeit, die man in allen Großstädten beobachten kann, ist deutlich proportional zu der Dichte der an bestimmten Orten angehäuften Menschenmengen. In großen Bahnhöfen oder im Bus-Terminal in New York zum Beispiel erreicht sie Grade, die erschreckend sind.

Mittelbar trägt die Übervölkerung zu sämtlichen Übelständen und Verfallserscheinungen bei, die in den folgenden sieben Kapiteln besprochen werden sollen.

Den Glauben, daß man durch entsprechende »Konditionierung« eine neue Sorte von Menschen erzeugen könne, die gegen die üblen Folgen engster Zusammen­pferchung gefeit sind, halte ich für einen gefährlichen Wahn.

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