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6  Der europäische Schlurfschritt

 

Mittlerweile wendet man auf der anderen Seite des Planeten die neuen Prinzipien der Offenheit und Umgestaltung zuerst in der Politik an und dann in der Wirtschaft. Im Nachfeld der spektakulären Implosion der Sowjetunion wird die meiste Energie darauf verwandt, die Demokratie zu fördern und die Überreste des Kalten Krieges abzubauen. Mit der Zeit verwendet man ein gleiches Maß an Energie darauf, die Wirtschaft umzugestalten und umzurüsten – auf offensichtliche und nicht so offensichtliche Weise.

Zuerst muss sich Europa wirtschaftlich und politisch neu vereinen. Einen Großteil der 1990er verbringt man damit, Ost- und Westeuropa zusammen­zuschließen. Alle Augen konzentrieren sich zuerst auf das neue Deutschland, das den Prozess auf der Basis purer finanzieller Macht durchdrückt. Als nächstes werden die forgeschritteneren der osteuropäischen Länder – Polen, Ungarn, Tschechische Republik – integriert, zuerst in die NATO mit formaler Aufnahme im Jahr 2000 und dann 2002 in die Europäische Union.

Die problematischeren Länder Osteuropas werden für weitere zwei Jahre nicht in die Union aufgenommen. Parallel zu dieser Ost-West-Integration kommt es unter den westeuropäischen Ländern zu einer eher subtilen Integration. Ruckweise bewegt sich Europa auf die Etablierung einer wirklich vereinten Ganzheit zu. Die europäische Währung – der Euro – wird 1999 angenommen, wobei einige Nachzügler wie z. B. Großbritannien sich einige Jahre länger behaupten.

Obwohl England vielleicht mit dem Fuß auf der europäischen Währung steht und sie verzögert, ist es insgesamt der Meute weit voraus. Der ökonomische Imperativ der Ära ist nicht einfach äußere Integration sondern innere Umgestaltung. Um 1980 beginnen Margaret Thatcher und Ronald Reagan die Formel zusammenzusetzen, die schließlich zur neuen Ökonomie führt. Zu der Zeit sieht es brutal aus: zerbrechende Gewerkschaften, der Ausverkauf staatseigener Industrien und Demontage des Wohlfahrts-Staates. Im Nachhinein betrachtet zahlt sich der Schmerz aus. In der Mitte der 1990er Jahre liegt die Arbeitslosenquote der USA bei 5 Prozent, und die britische Quote ist auf beinahe 6 Prozent gefallen. Im Gegensatz dazu bewegt sich die Arbeitslosigkeit auf dem europäischen Kontinent bei 11 Prozent, wobei einzelne Länder sogar höher liegen.

 

Tatsächlich bleibt der Rest Europas im Vermächtnis seiner Wohlfahrts-Staaten gefangen, die ihre politische Attraktivität noch lange behalten, nachdem sie ihren ökonomischen Wert überdauert haben. Um 2000 zwingen chronische Arbeitslosigkeit und steigende Regierungsdefizite die Führer auf dem Kontinent zum Handeln. Trotz weitverbreiteter Volksproteste – besonders in Frankreich – macht Europa ähnlich wie die Vereinigten Staaten ein Jahrzehnt zuvor eine schmerzvolle wirtschaftliche Umstrukturierung durch. Als Teil dieser Perestroika rüstet es seine Wirtschaft um, indem es die neuen Informationstechnologien benutzt. Diese Umgestaltung von Firmen und Regierungen hat so ziemlich die gleiche Wirkung, die sie auf die US-Wirtschaft hatte. Die europäische Wirtschaft ist im Aufstieg und schafft viele neue Jobs. Etwa um 2005 verzeichnet Europa besonders in den nördlichen Ländern wie Deutschland den Beginn eines ernsten Arbeitskräfte-Mangels, da die alternde Bevölkerung nach und nach in den Ruhestand tritt.

Dann legt die russische Wirtschaft los. 15 Jahre lang stolperte Russland auf seinem Übergang zu einer kapitalistischen Wirtschaft durch die Gegend, wobei es den Westen regelmäßig mit Ouvertüren verschreckte, dass es zu seiner alten militaristischen Art zurückkehren könnte. Aber nach beinahe zwei Jahrzehnten weit offenen Kapitalismuses im Mafiastil erscheint Russland etwa um 2005 mit dem Fundament einer soliden Wirtschaft. Man investiert genug Leute in das neue System und ein genügend großer Teil der Bevölkerung hat die neue Arbeitsmoral absorbiert, sodass die Wirtschaft ziemlich gut funktionieren kann – mit wenig Grund, eine Einschränkung zu befürchten. Diese Normalisierung spornt schließlich massive ausländische Investitionen an, die den Russen helfen, ihre immensen natürlichen Ressourcen und die Fertigkeiten eines hochgebildeten Volkes auszubeuten. Diese Leute stellen auch einen großen Markt für Europa und den Rest der Welt.

 

7  Der globale Ansturm

 

Gegen Ende des 20. Jahrhunderts kämpfen sich die weiter entwickelten westlichen Nationen auf dem Pfad technologiegelenkten Wachstums voran, und das aufstrebende Asien zeigt zeigt die unzweideutigen Vorteile der sich entwickelnden Marktwirtschaft und des freien Handels. Der Weg für den Rest der Welt scheint klar. Offenheit und Neugestaltung. Neugestaltung und Offenheit. Einzeln betrachtet beginnen die Nationen, die Formel der Deregulation, Privatisierung, der Öffnung für ausländische Investitionen und des Abbaus der Regierungsdefizite zu übernehmen. Als Gemeinschaft unterzeichnen sie internationale Vereinbarungen, die den Prozess der globalen Integration beschleunigen – und den langen Aufschwung antreiben.

Zwei Meilensteine kommen 1997: die Informationstechnologie-Vereinbarung, in der nahezu alle Länder, die mit IT handeln, sich einigen, im Jahr 2000 die Zollgebühren abzuschaffen, und das Globale Telekommunikations-Übereinkommen, in dem sich beinahe 70 führende Nationen einigen, ihre heimischen Telekom-Märkte schnell zu deregulieren. Diese zwei Entwicklungen bewirken die schnelle Verbreitung der zwei Schlüsseltechnologien des Zeitalters: Computer und Telekommunikation.

 

Jeder profitiert, besonders die unterentwickelten Länder, die den Hüpffrosch-Effekt ausnutzen, indem sie die neuesten, billigsten, besten Technologien ausnutzen, anstatt sich mit veraltetem Zeug zu begnügen. IT erzeugt eine bemerkenswerte Dynamik, die jeder neuen Technologie-Generation wachsende Kraft, Leistung und Qualität bringt – plus großen Preissenkungen. Die drahtlose Telekommunikation ermöglicht den Ländern auch, den riesigen Aufwand und die enormen Ausgaben zu vermeiden, die der Bau verdrahteter Infrastrukturen durch dicht bevölkerte Städte und verstreute Landgegenden mit sich bringt.

Das alles verspricht Gutes für die Weltwirtschaft. Den größten Teil der 1970er, die gesamten 1980er un die frühen 1990er Jahre hindurch beläuft sich die reale Wachstumsrate der Bruttoinlandsprodukte auf der Welt durchschnittlich auf 3 Prozent. 1996 übersteigt die Rate robuste 4 Prozent. 2005 erreicht sie erstaunliche 6 Prozent. Fortgesetztes Wachstum zu dieser Rate wird die Größe der Weltwirtschaft in gerade mal 12 Jahren verdoppeln und in 25 Jahren zweifach verdoppeln. Das Wachstumsniveau übersteigt die Raten des letzten globalen Wirtschaftsbooms in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg, die von 1950 bis 1973 im Durchschnitt 4,9 Prozent erreichten. Und dieses Wachstum geht von einer viel breiteren ökonomischen Basis aus, was es noch bemerkenswerter macht. Anders als das letzte Mal hat nahezu jede Region auf dem Planeten, sogar in der unterentwickelten Welt, Anteil an dem Reichtum.

 

Lateinamerika startet zum Höhenflug. Diese Länder tun in den 1990ern viel, um ihre Wirtschaft tatkräftig umzustrukturieren, nachdem sie in den 1980ern den Alptraum der Verschuldung erfahren hatten. Chile und Argentinien sind besonders innovativ, und Brasilien baut auf einen extensiven einheimischen Hightech-Sektor. Aber der wirkliche Auftrieb von 2000 an aufwärts kommt daher, dass man von der strategischen Lage Lateinamerikas am boomenden Pacific Rim und seiner Nähe zu den Vereinigten Staaten profitiert. Die Region wird zunehmend in die florierende US-Wirtschaft hineingezogen. 1994 verbindet das Nordamerikanische Freihandelsabkommen die Vereinigten Staaten formal mit Mexiko und Kanada. Etwa um 2002 wird ein Gesamtamerikanisches Freihandelsabkommen unterzeichnet – das die ganze Hemisphäre in einem vereinten Markt integriert.

Unterdessen gerät der Mittlere Osten in die Krise. Zwei Hauptfaktoren sind für die Probleme der Region verantwortlich. Zum einen ist die fundamentalistische Geisteshaltung der Moslems besonders ungeeignet für die veränderlichen Anforderungen des digitalen Zeitalters. Die neue Wirtschaft belohnt Experimentierfreudigkeit, ständige Innovation und Herausforderung des Status Quo – von diesen Attributen hält man sich jedoch in vielen Ländern im gesamtem Mittleren Osten fern. Viele werden als Reaktion auf das furiose Tempo der Veränderung noch traditioneller. Der andere Faktor, der die Krise antreibt, ist außer ihrer Kontrolle. Das Erscheinen der Wasserstoff-Kraft untergräbt zweifellos die zentrale Bedeutung des Öls in der Weltwirtschaft. 2008, wenn die Autoindustrie einen großen Anlauf unternimmt sich umzustellen, hat der Ölmarkt einen Tiefststand erreicht. Die Krise des Mittleren Ostens spitzt sich zu. Einige der Monarchien und religiösen Regimes beginnen zu wackeln.

 

Eine noch beunruhigendere Krise trifft Afrika. Während es bestimmten Teilen des Kontinents wie dem größeren Südafrika gut geht, versinkt Zentralafrika in einem Strudel brutaler ethnischer Konflikte, hoffnungsloser Armut, weitverbreiteter Hungersnot und Krankheit. 2015 bringt die Einführung biologischer Waffen in einem ethnischen Konflikt in Verbindung mit dem Ausbruch einer schrecklichen neuen Naturkrankheit die Todeszahl auf unvorstellbare Höhen: schätzungsweise 5 Millionen Menschen sterben im Zeitraum von sechs Monaten – an der Spitze eines kumulativen Todeszolls von grob geschätzt 100 Millionen Opfern, die in den vergangenen zwei Jahrzehnten umkamen.

Der Gegensatz zwischen solchem Elend und dem wachsenden Wohlstand anderswo spornt den Planeten schließlich zu gemeinsamem Handeln an. Die Welt kommt zu der Einsicht, dass jede Nation letztlich nur von einem gedeihenden Afrika profitieren kann, das die ökonomischen Nischen besetzt, die andere Nationen ablegen. Das macht sowohl einen praktischen als auch menschlichen Sinn. Die Regeneration Afrikas wird für das nächste Vierteljahrhundert zu einem globalen Hauptpunkt der Tagesordnung.

 

8  Zukünftige Nachbeben

 

Der Wellenritt auf der florierenden Wirtschaft bringt weitere bedeutende soziale und politische Auswirkungen mit sich. Grundlegender Wandel in Technologie und Produktionsmitteln ändert unvermeidlich die Art, wie die Wirtschaft funktioniert. Und wenn die Wirtschaft sich ändert, braucht der Rest der Gesellschaft nicht lange, um sich den neuen Realitäten anzupassen. Das klassische Beispiel ist die Umwandlung der Agrargesellschaft in die Industriegesellschaft. Ein neues Werkzeug – der Motor – führte zu einem neuen ökonomischen Modell – Kapitalismus - das große soziale Umwälzung brachte – Urbanisierung und die Schaffung einer wohlhabenden Klasse – und letztlich tiefgreifende politische Veränderung – liberale Demokratie. Obgleich das eine grobe Zusammenfassung eines komplexen historischen Übergangs ist, trifft dieselbe Dynamik zu auf unseren Wandel zu einer vernetzten, auf digitalen Technologien basierenden Wirtschaft.

Es gibt auch eine Erklärung des gesunden Menschenverstands. Wenn eine Wirtschaft boomt, läuft Geld durch die Gesellschaft, Leute werden schnell reich, und nahezu jeder sieht eine Gelegenheit, seinen Stand im Leben zu verbessern. Es gibt Optimismus im Überfluss. Denken Sie an diese Periode zurück, die auf den Zweiten Weltkrieg folgte. Eine boomende Wirtschaft gab einer wagemutigen, optimistischen Weltanschauung Auftrieb: Wir können einen Mann auf den Mond setzen, wir können eine Großgesellschaft errichten, eine Welt der vereinten Rassen. In unserem Zeitalter können wir dasselbe erwarten.

 

So um 2000 geht es der Wirtschaft der Vereinigten Staaten so gut, dass die Steuergelder anzusteigen beginnen. Das löst nicht nur das Defizit-Problem, sondern gibt der Regierung geräumige Ressourcen, um neue Initiativen zu ergreifen. Da sie nicht mehr gezwungen sind, kleinlich darüber zu grübeln, welche Regierungsprogramme zu kürzen sind, legen politische Führer neue Initiativen vor, die helfen sollen, scheinbar unlösbare soziale Probleme wie Drogenabhängigkeit zu lösen. Niemand redet davon, zu einer großen Regierung zurückzukehren, aber es gibt viel Platz für innovative Ansätze, um die zusammengelegten Ressourcen der ganzen Gesellschaft zum Nutzen der Öffentlichkeit allgemein anzuwenden. Und die Regierung kann sich guten Gewissens endlich Steuerkürzungen leisten.

Der Geist der Großzügigkeit kehrt zurück. Die große Mehrheit der Amerikaner, die sehen, dass ihre Aussichten mit der expandierenden Wirtschaft wachsen, empfinden aufrichtiges Mitgefühl für die Notlage der Zurückgelassenen. Dieser freundlichere, sanftere humanitäre Drang wird durch eine kalte, harte Tatsache gestützt. Je größer das Netzwerk umso besser. Je mehr Leute im Netzwerk sind, umso besser ist es für jeden. Eine halbe Stadt zu verdrahten, ist nur von geringfügigem Nutzen. Wenn die ganze Stadt Telefone hat, dann summt das System wirklich. Jede Person, jedes Geschäft, jede Organisation profitiert direkt von einem System, in dem man sich ein Telefon greifen kann und jedes Individuum erreichen kann anstatt nur einige verstreute. Dasselbe Prinzip gilt für die neuen vernetzten Computer-Technologien. Es zahlt sich aus, dass jeder in das neue Informationsgitter eingebunden wird. Um 2000 prägt sich diese Mentalität ein. Nahezu jeder versteht, dass wir im Übergang zu einer vernetzten Wirtschaft, einer vernetzten Gesellschaft begriffen sind. Es macht Sinn, alle mit an Bord zu nehmen.

 

Die Wohlfahrtsreform-Initiative von 1996 setzt den Prozess in Gang, durch den die Armen in die Wirtschaft im Allgemeinen hineingezogen werden. Zu der Zeit reden politische Führer nicht so viel davon, dass der Netzwerk-Effekt ein kostspieliges Regierungsprogramm ausschalten kann. Nichtsdestotrotz fällt die Umkrempelung des Wohlfahrtssystems damit zusammen, dass die Wirtschaft auf Touren kommt. Eine große Zahl von Sozialhilfe-Empfängern bekommen Jobs, und die große Mehrheit schreitet zu qualifizierteren Berufen fort. 2002, am Ende der anfänglichen Fünf-Jahres-Übergangsperiode verkürzen sich die Sozialhilfe-Ausgaben um mehr als die Hälfte. Ehemalige Wohlfahrtsempfänger sind nicht die einzigen, die von der neuen Ökonomie profitieren. Die geringverdienenden Beschäftigten, die gerade mal über der Armutsgrenze schweben, stemmen sich auch zu einem stabileren Leben hoch.

 

Sogar die Leute aus der abgehärteten kriminellen Unterwelt bewegen sich auf das expandierende Angebot gesetzlicher Arbeit zu. Mit der Zeit, das erste Jahrzehnt des Jahrhunderts hindurch, hat das subtile Nebenwirkungen. Die Unterklasse, die man einst für ein permanentes Inventar der amerikanischen Gesellschaft hielt, beginnt auseinander zu brechen. Die soziale Mobilität geht nach oben, die Verbrechensquoten gehen nach unten. Obwohl es schwer ist, direkte Verbindungen zu ziehen, schreiben viele den Rückgang der Kriminalität dem Anstieg der verfügbaren Arbeit zu. Andere weisen auf einen Wandel in der Drogenpolitik hin. Mit dem Passus der California Medical Marijuana Initiative von 1996 beginnen verschiedene Staaten erstmals, mit der Entkriminalisierung des Drogengebrauchs zu experimentieren. Zugleich wird der gescheiterte Krieg gegen die Drogen demontiert. Beide Initiativen sind Teil eines generellen Wechsels weg von starrer Gesetzesverschärfung und hin zu komplexeren Methoden, sich mit den Wurzeln des Verbrechens zu befassen. Eine Wirkung ist, dass man die Bedingungen zerstört, die zum Aufstieg der innerstädtischen Drogenwirtschaft führten. In der zweiten Dekade des Jahrhunderts ist der glorifizierte „Gangsta" ebenso ein Teil der Geschichte wie die Original-Gangster in den Tagen der Prohibition.

Auch Einwanderer profitieren von der boomenden Wirtschaft. Anstrengungen wie in den mageren Zeiten der frühen 1990ern, die Einwanderung einzudämmen, werden weitgehend aufgegeben. In den späten 1990ern werden Einwanderer als wertvolle Kräfte gesehen, die dazu beitragen, dass die Wirtschaft anhaltend floriert – mehr fähige Hände und Köpfe. Im ersten Jahrzehnt des Jahrhunderts fördert die Regierungspolitik aktiv die Einwanderung von hochqualifizierten Fachleute – besonders in der Software-Industrie, die unter schwerem Arbeitskräftemangel leidet.

Dieser Zustrom von Immigranten bringt in Verbindung mit Amerikas geänderter Einstellung zu ihnen eine erfreuliche Überraschung: das Wiederaufleben der Familie. Die Zentralität der Familie in asiatischen und lateinamerikanischen Kulturen, die den Hauptteil dieser Immigranten bilden, steht außer Frage. Da diese Subkulturen zunehmend in den amerikanischen Mainstream einfließen, findet ein subtiler Wandel statt in der allgemeinen Überzeugung von der Bedeutung der Familie. Es ist keine Familie im Kernfamilien-Sinn, sondern in einem weiter ausladendem, amorphen, vernetzten Familiensinn, der zu den neuen Zeiten passt.

 

9   Die Gehirnwelle

 

Erziehung ist die nächste Einrichtung des Industrie-Zeitalters, die eine Generalüberholung durchmacht – mit ernsthaftem Beginn im Jahr 2000. Die treibende Kraft ist hier nicht so sehr das Interesse, junge Köpfe zu aufgeklärten Ökonomen zu machen. In einem Informationszeitalter, im Zeitalter der Kopfarbeiter ist nichts bedeutender als das Gehirn dieser Arbeiter. Zum Ende der 1990er wird klar, dass das existierende K-12-Schulsystem der Aufgabe einfach nicht gerecht wird, diese Gehirne entsprechend vorzubereiten. Jahrzehntelang verknöcherte das alte System. Verschiedene Reformanstrengungen machen Dampf, der sich nur allzu schnell verliert. Zuerst George Bush und dann Bill Clinton versuchen, sich den Mantel des „Bildungs-Präsidenten" überzuziehen – beide scheitern. Das ändert sich in der Jahr-2000-Wahl, bei der die Neuerfindung der Bildung zu einem zentralen Wahlkampfthema wird. Man versteht, dass ein starkes Schulsystem so lebenswichtig für das Nationalinteresse ist wie das Militär es einst war. Das daraus resultierende öffentliche Mandat verlagert einige Milliarden, die einst für die Verteidigung vorgesehen waren, in Richtung Neubelebung der Bildung.

 

Die Renaissance der Bildung im frühen Teil des Jahrhunderts kommt nicht von einer Task Force aus ‚Leuchten’, die die nationalen Standards in Washington DC festsetzen – die Lösungen entströmen den Tausenden von Leuten, die sich quer über das Land auf die Probleme schmeißen. Die 1980er und 1990er sehen die Enstehung kleiner innovativer Privatschulen, die sich in urbanen Gegenden vermehren, wo die öffentlichen Schulen meistens bodenlos sind. Viele konzentrieren sich auf besondere Lernphilosophien und experimentieren mit neuen Unterrichtstechniken – einschließlich dem Gebrauch neuer Computer-Technologien. Ab 2001 löst der weitverbreitete Gebrauch von Gutscheinen eine schnelle Expansion bei diesem Schultyp aus und fördert einen Unternehmermarkt für Erziehung, der an die Alles-ist-möglich-Moral des Silicon Valley erinnert. Viele der hellsten jungen Köpfe, die vom College kommen, werden von den weit offenen Möglichkeiten auf dem Gebiet angezogen – gründen neue Schulen, schaffen neue Lehrpläne, ersinnen neue Lehrmethoden. Sie werden von der Idee inspiriert, dass sie dabei sind, das Lernparadigma des 21sten Jahrhunderts aufzubauen.

 

Die Begeisterung breitet sich weit über die Privatschulen hinaus aus, die 2010 etwa ein Viertel aller Studenten unterrichten. Die öffentlichen Schulen sehen widerwillig der neuen Wettbewerbssituation ins Auge und beginnen, sich selbst neu zu erfinden. Tatsächlich halten private und öffentliche Schulen eine symbiotische Beziehung aufrecht, wobei die Privatschulen einen Großteil der Anfangserneuerung leisten und die öffentlichen Schulen sich darauf konzenrtieren, sicherzustellen, dass die neuen Bildungsmodelle alle Kinder in der Gesellschaft erreichen.

 

Obwohl die höhere Bildung eine Überholung etwas weniger nötig hat, erfasst sie der Geist der radikalen Reform – die wiederum weitgehend von Ökonomen angespornt wird. Die Kosten der Vier-Jahres-Colleges und Universitäten werden absurd hoch – zum Teil, weil veraltete, auf Vorlesungen basierende Lehrmethoden so arbeitsintensiv sind. Die energische Übernahme von Netzwerk-Technologien nützt Undergraduate- und Graduate-Studenten sogar mehr als den K-12-Kids. 2001 vollendet das Gutenberg-Projekt seine Aufgabe, 10.000 Bücher online zu stellen. Viele der führenden Iniversitäten in der Welt beginnen, Fachgebiete abzutrennen und Verantwortung für die Digitalisierung der gesamten Literatur in diesem Bereich zu übernehmen. 2010 kommen alle neuen Bücher in elektronischer Form heraus. Um 2015 sind relativ vollständige virtuelle Bibliotheken in Betrieb.

 

Trotz früherer Reden kommt der Schlüsselfaktor, der die Bildung funktionieren lässt, nicht von neuer Technologie sondern daher, dass der Wert des Lernens heilig gehalten wird. Ein dramatischer Rückgang der Zahl ‚ungelernter’ Jobs macht klar, dass gute Bildung eine Überlebenssache ist. In der Tat stellt nahezu jede Organisation in der Gesellschaft das Lernen in den Mittelpunkt ihrer Anpassungsstrategie an eine sich schnell ändernde Welt. So beginnt der virtuose Kreis der Lerngesellschaft. Die boomende Wirtschaft liefert die Ressourcen, um die Bildung zu überholen. Die Produkte dieses ‚aufpolierten’ Bildungssystems finden Eingang in die Wirtschaft und verbessern ihre Produktivität. Schließlich säht und erntet die Bildung den Nutzen des langen Aufschwungs.

 

In der ersten Dekade des Jahrhunderts fängt Washington an, die Regierung wirklich neu zu erfinden. Es ist ziemlich derselbe Prozess wie die Neugestaltung der Wirtschafts-Gesellschaften in den 1990ern. Die hierarchischen Bürokratien des 20sten Jahrhunderts werden durch die weitverbreitete Übernahme neuer Technologien abgeflacht und vernetzt. Einige, wie die IRS, erleben spektakuläre Fehlleistungen, schaffen aber schließlich den Übergang. In wichtigerem Sinne wird die gesamte Einstellung zur Regierung nochmals grundlegend überprüft. Die Wohlfahrts- und Erziehungssysteme sind die ersten auf diesem Weg. Angetrieben von der bevorstehenden Ankunft der ersten der in Rente gehenden Babyboomer im Jahr 2011 sind Medicare und Social Security die nächsten. Andere Regierungssektoren folgen bald.

 

Das zweite Jahrzehnt des Jahrhunderts markiert ein ehrgeizigeres aber formloseres Projekt: eine multikulturelle Gesellschaft wirklich zum Funktionieren zu bringen. Obwohl die Vereinigten Staaten die Mechanik einer integrierten Gesellschaft – wie z.B. das gesetzliche Gerüst – zur Verfügung hat, müssen die Amerikaner lernen, wie man die soziale Integration auf einer tieferen Ebene akzeptiert. Die Grundlage einer boomenden Wirtschaft macht Bemühungen, die Spannungen unter verschiedenen Völker- und Interessengruppen zu mildern, viel leichter als zuvor: Die Leute sind viel toleranter zu anderen, wenn ihr eigenes Auskommen nicht bedroht ist. Aber die Leute sehen Diversität schließlich auch als Möglichkeit, einen kreativen Vorteil in Gang zu bringen. Sie erkennen, dass ein Teil des Erfolgsschlüssels in der Zukunft darin besteht, für Unterschiede offen zu bleiben, sich weiterhin alternativen Denkweisen zu exponieren. Und sie erkennen die Vernünftigkeit, eine Gesellschaft aufzubauen, die von der Stärke und Kreativität aller Leute zehrt.

 

Frauen stehen an der Spitze vieler solcher Veränderungen, die dazu beitragen, dass die multikulturelle Gesellschaft funktioniert. Als die Hälfte der Bevölkerung sind sie eine außergewöhnliche „Minderheit," die den Weg zu ebnen hilft für die Rassen- und Völker- Minderheiten mit geringerer Zahl. Im letzten globalen Aufschwung der 1960er gewann die Frauenbewegung an Zugleistung und half, den Anstieg im Status der Frauen zu fördern. In den 1970ern und 1980ern rütteln Frauen an traditionellen Barrieren und erarbeiten sich ihren Weg ins Geschäftsleben und in die Regierung. In den 1990ern haben Frauen das gesamte Wirtschafts- und Gesellschafts-System durchdrungen. Die Bedürfnisse, Wünsche und Werte der Frauen beginnen zunehmend, die Politik- und Geschäftswelt zu lenken – im Allgemeinen zum Besseren. Im ersten Teil des Jahrhunderts wird klar, dass die Fertigkeiten, die man am meisten braucht, um die vernetzte Gesellschaft wirklich in Schwung zu bringen, diejenigen sind, die Frauen lange praktiziert haben. Lange bevor es modern wurde, entwickelten Frauen die subtilen Fähigkeiten, Netzwerke aufrecht zu erhalten, inklusiv zu bleiben und zu verhandeln. Diese Fertigkeiten erweisen sich als entscheidend, um die ganz verschiedenen Herausforderungen dieser neuen Welt zu lösen.

 

Die Bemühung, eine wirklich inklusive Gesellschaft aufzubauen, wirkt sich nicht nur auf Amerika aus. Um die Jahrhundertwende sind die Vereinigten Staaten das Konstrukt auf der Welt, das einer funktionierenden multikulturellen Gesellschaft am nächsten ist. Nahezu alle Kulturen der Welt haben eine gewisse Repräsentation, einige in bedeutendem Ausmaß. Im weiteren Verlauf des Jahrhunderts wird den meisten Leuten auf dem Planeten klar, dass alle Kulturen in globalem Umfang in gegenseitiger Harmonie koexistieren müssen. Auf einer Meta-Ebene scheint es, dass die Welt auf eine Zukunft zusteuert, die von den Ereignissen in den Vereinigten Staaten eingeleitet wird.

 

10  Eine Zivilisation der Zivilisationen

 

2020 landen Menschen auf dem Mars. Es ist in jeder Hinsicht ein außergewöhnliches Ereignis, ein halbes Jahrhundert, nachdem ein Mensch zum ersten Mal einen Fuß auf den Mond setzte. Die vier Astronauten setzen auf und strahlen ihre Bilder zu den 11 Milliarden Leuten zurück, die an dem Augenblick teilhaben. Die Expedition ist eine gemeinsame Anstrengung, die praktisch von allen Nationen auf dem Planeten unterstützt wird, der Höhepunkt von eineinhalb Jahrzehnten Konzentration auf ein gemeinsames Ziel. Die Marslandung ist einerseits eine ziemlich bemerkenswerte technische Leistung, ist aber noch wichtiger wegen dem, was sie symbolisiert.

 

Wenn das globale Fernsehpublikum auf das Bild einer fernen Erde blickt, von einem Nachbarplaneten aus gesehen, der 35 Millionen Meilen weg ist, wird eines so deutlich wie nie zuvor: Wir sind eine Welt. Alle auf dem Globus zusammengedrängten Organismen sind auf komplizierte Weise voneinander abhängig. Pflanzen, Tiere, Menschen müssen einen Weg finden, um an diesem winzig kleinen Ort zusammen zu leben. 2020 handeln die meisten Leute nach dieser Überzeugung. Die Bevölkerung hat sich weitgehend stabilisiert. Der wachsende Wohlstand ‚stupste’ eine ausreichend große Gruppe von Leuten in den Mittelklasse-Lebensstil, was zur Einschränkung hoher Geburtsraten führte. In einigen Nischen der Welt sind große Familien noch immer hoch geschätzt, aber die meisten Leute streben nur danach, sich selbst zu reproduzieren und nicht mehr. 

Genauso wichtig ist, dass die Weltwirtschaft an einem Punkt angelangt ist, an dem sie einigermaßen in der Balance mit der Natur ist. Sicher befindet sich das Ökosystem in keinem perfekten Gleichgewicht. Die Welt ist stärkerer Verschmutzung ausgesetzt als vielen lieb ist. Aber die Kontaminationsraten sind in großem Umfang reduziert worden, und die Kurve dieser Trends sieht vielversprechend aus. Die Regenerierung der globalen Umwelt ist in Sicht.

 

Die Bilder vom Mars bringen einen anderen Punkt nach Hause: Wir sind eine globale Gesellschaft, eine menschliche Rasse. Die Teilung, die wir uns selbst auferlegen, sieht aus der Ferne lächerlich aus. Die Auffassung eines Planeten streitender Nationen, ein Zustand, der das vorige Jahrhundert definierte, macht keinen Sinn. Es ist weit besser, die Bestrebungen der Menschen auf der Welt dahin zu lenken, dass sie gemeinsam zu den Sternen vorstoßen wollen. Es ist weitaus besser, unsere Technologien nicht gegeneinander zu richten sondern auf vereinte Anstrengungen, die allen nützen. Und die künstliche Teilung, die wir zwischen Rassen und Geschlechtern fortbestehen lassen, sehen ebenso sonderbar aus. Alle Menschen stehen auf der gleichen Basis. Sie sind nicht dieselben, aber sie werden als gleich behandelt und erhalten die gleiche Gelegenheit, sich auszuzeichnen. 2020 wird dieser Punkt, der noch vor kurzem eine Plattitüde war, von nahezu allen akzeptiert.

 

Wir bilden eine neue Zivilisation, eine globale Zivilisation, die sich von denen unterscheidet, welche zuvor auf dem Planeten entstanden. Es ist nicht einfach Westliche Zivilisation großgeschrieben – eine hegemonische Kultur, die sich anderen aufzwingt. Es ist keine wiedererwachende chinesische Zivilisation, die nach Jahren der Vereitelung um ihre Selbstbehauptung kämpft. Es ist eine eigenartige Mischung von beiden – und den anderen. Es ist etwas anderes, etwas, das noch immer geboren wird. 2020 haben sich die Informations-Technologien in jede Ecke des Planeten ausgebreitet. Die Echtzeit-Sprachübersetzung ist zuverlässig geworden. Die große Kreuzbefruchtung der Ideen, die fortlaufende nie endende Konversation hat begonnen. Daraus wird die neue Kreuzung aller Zivilisationen, die neue Zivilisation entstehen.

 

Auf vielfältige Art ist es eine Zivilisation der Zivilisationen, um einen von Samuel Huntington geprägten Ausdruck zu gebrauchen. Wir bauen ein System auf, in dem alle Zivilisationen der Welt Seite an Seite existieren und gedeihen können. In dem die besten Eigenschaften einer jeden deutlich hervortreten und ihren einzigartigen Beitrag leisten können. In dem die Besonderheiten bewahrt werden und weiterleben dürfen. Wir treten in ein Zeitalter ein, wo Verschiedenheit wirklich geschätzt wird – je mehr Optionen umso besser. Unser Ökosystem funktioniert so am besten. Unsere Marktwirtschaft funktioniert so am besten. Auch unsere Zivilisation, das Reich unserer Ideen, funktioniert so am besten.

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