Vorwort       Start    Weiter

Warum wir auf einen Crash zusteuern

Lauterburg-1998-Einleitung

15-23

Bitte prüfen Sie zunächst, ob folgender Steckbrief auf Sie persönlich zutrifft:

Sie sind...

 

  • Bürgerin oder Bürger eines freien, westlichen Landes

  • körperlich und geistig gesund

  • noch nie im Gefängnis gewesen.

Sie haben...

 

  • die Schule besucht

  • eine Berufsausbildung genossen

  • ein regelmäßiges Einkommen

  • keine erdrückenden Schulden, etwas Erspartes

  • eine normale Gesundheitsvorsorge

  • eine Altersvorsorge, die es Ihnen auch später erlauben wird, über dem Existenzminimum zu leben.

Die Tatsache, daß Sie dieses Buch vor sich haben, spricht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit dafür, daß diese Daten auf Sie zutreffen. Falls dem so sein sollte, kann man über Ihre Situation folgende Aussagen machen:

Alles in allem: Sie leben in einer geordneten Welt — in einer weitgehend geschützten Sphäre der Sicherheit und des Wohlstandes. Doch es gibt andere Welten. Sie können sich höchstwahrscheinlich gar nicht vorstellen, in welchem Zustand die Menschheit sich heute befindet, geschweige denn, wohin sie sich innerhalb der nächsten 25 Jahre - einer einzigen Generation - entwickeln wird. Nun, dies sind einige Fakten:

16/17


17/18

Allein schon die Fakten in Bezug auf die aktuelle Lage der Menschheit sind schockierend. Besonders beängstigend aber ist die zu erwartende Entwicklung. Was wir heute erleben, sind die Früh­symptome eines weltweiten Zusammen­bruchs menschlicher Zivilisation. Es hat in der Vergangenheit immer wieder Endzeit­szenarien und Welt­unter­gangs­prophe­zeiungen gegeben, die nicht eingetreten sind. Doch einiges ist grundlegend neu an unserer heutigen Situation:

#

Angesichts derartiger Bedrohungen stellt sich die Frage: Was kann dagegen unternommen werden?

Im Gegensatz zu den meisten anderen Autoren, die sich mit Zukunfts­entwicklungen befassen, werde ich Ihnen keine Rezepte anbieten, wie der Kollaps verhindert werden kann. Im Gegenteil, ich werde darlegen, warum es auf diesem Planeten nicht zu der nachhaltigen Entwicklung gekommen ist - und auch in der Zukunft nicht kommen wird -, die seit Beginn der Industrialisierung allenthalben beschworen wird. Dieses Buch befaßt sich eingehend mit den Gründen, weshalb ein Crash nicht zu verhindern sein wird: 

18/19


Die Zerstörung unserer biologischen Lebensgrundlagen und der abrupte Zerfall gewachsener gesellschaftlicher Strukturen hängen mit globalen Entwicklungen zusammen, die niemand aufhalten, geschweige denn umkehren kann.

Ein zunehmender Teil der Heranwachsenden ist nicht mehr gesellschaftsfähig.

Der Zerfall gesellschaftlicher Strukturen hat zur Folge, daß immer weniger Kinder in einem intakten sozialen Umfeld aufwachsen, in dem die Fähigkeiten für ein friedliches Zusammenleben mit anderen erworben und ein­geübt werden können. Der Prozentsatz sowohl labiler als auch gewaltbereiter Kinder und Jugendlicher nimmt deshalb laufend zu. Einmal erwachsen, sind diese Menschen nicht in der Lage, eigenen Kindern ein intaktes Zuhause zu bieten. Der Vorgang des gesellschaftlichen Zerfalls verstärkt sich selbst.

Wirtschaftliche Interessen verhindern den sozialen Ausgleich und den Schutz der Umwelt auch dort, wo er dem gesunden Menschenverstand dringend geboten und möglich erscheint.

Wo immer auf dieser Welt: Es sind wirtschaftliche Interessen, die den Raubbau an den natürlichen Ressourcen vorantreiben und es sind wirtschaft­liche Interessen, die auf politischer Ebene wirksame Gegenmaßnahmen verhindern. Hinter diesen Interessen stehen nicht lediglich ein paar Großkapitalisten, sondern ganze Industrie­zweige, mächtige Verbände und politische Parteien. Kleines, aber typisches Beispiel: Der Klimagipfel Ende 1997 in Kyoto. Mehrere Nationen - vorab die USA - sind nicht etwa mit dem Ziel angereist, möglichst wirk­same Maßnahmen zum Schutz des Weltklimas zu erreichen, sondern mit dem Ziel, verbindliche Normen zu verhindern oder zumindest möglichst tief zu halten.

19/20

Die amerikanische Delegation hatte darüber hinaus den klaren Auftrag, ein Schlupfloch freizuhalten, das es den USA - der reichsten Nation der Welt - ermöglicht, verbindliche Normen, wenn sie sich denn nicht ver­hindern lassen sollten, notfalls zu unterlaufen. Mit anderen Worten: Ziel war nicht der Schutz des Welt­klimas, sondern der Schutz der Interessen der amerikanischen Wirtschaft. Dieses Ziel ist auch erreicht worden: Der Berg in Kyoto hat eine Maus geboren.

Die legitime Steuerungsinstanz, auf nationaler Ebene, der Staat, dankt schrittweise ab.

Die parlamentarische Demokratie ist für das Tempo der Veränderungen in der Gesellschaft sowie im inter­nation­alen Umfeld zu langsam und zu schwerfällig geworden. Der Staat steuert nicht wirklich, sondern hinkt der Entwicklung nur noch mühsam nach. Die Politik des Parteienstaates ist zu sehr mit sich selbst beschäftigt, als daß sie sich mit den existentiellen Problemen unserer längerfristigen Zukunft befassen könnte. Nationale Folklore beherrscht die Szene. Parlamente und Regierungen sind maßlos überfordert. Die Aufgaben des Staates wachsen laufend an, die Sozial­ausgaben explodieren — und die Steuereinnahmen brechen ein. In zahl­reichen Ländern bahnt sich ein Desaster an.

Auf internationaler Ebene gibt es überhaupt keine funktionsfähige Steuerung.

Die einzige übergeordnete Institution von Bedeutung und Gewicht, die UNO, ist ein äußerst wertvolles und weltweit angesehenes Diskussionsforum ein hochkarätiger Debattierklub ohne unmittelbare Handlungs­befug­nisse. Und dabei wird es bleiben. Zum einen, weil die Nationen sich aufgrund unterschiedlicher Inter­essen und Kulturen nicht auf gemeinsame ideelle Grundlagen verständigen können. Zum zweiten, weil alle ob groß oder klein, ob Demokratie oder Diktatur — das oberste Ziel darin sehen, ihre nationale Selbständigkeit und Unabhängigkeit zu erhalten.

20


Die organisierte Kriminalität gerät zusehends außer Kontrolle.

Eine besonders gefährliche Konsequenz des Versagens globaler Steuerung und Kontrolle ist das weltweit zu einer ernsthaften Gefahr für die Wirtschaft, die Gesellschaft und den Staat gewordene organisierte Ver­brechen. Es besteht aus einem Netzwerk zunehmend global operierender Banden und Kartelle mit praktisch unbe­grenz­ten finanziellen Mitteln und mancherorts breiter Unterstützung durch korrupte Beamte und Politiker. Es hat sich weltweit zum mächtigsten Wirtschafts­faktor entwickelt und erfreut sich traumhafter Gewinne und Wachs­tumsraten. Die vorwiegend national operierenden und oft völlig ungenügend ausgestatteten Sicherheits­kräfte stehen dieser Entwicklung heute praktisch machtlos gegenüber.

Das Problemlösungsvermögen des Menschen ist mit der Komplexität der Lage in die er sich selbst gebracht hat vollständig überfordert. 

Hier liegt der tiefere Kern des Problems: Menschen denken grundsätzlich kleinräumig, kurzfristig und ego­zentrisch. Auch wir sind ein Produkt der Evolution — und diese hat uns nicht für das Leben in Massen­gesell­schaften, wie wir sie heute haben, ausgestattet. Die meisten Menschen sind weder langfristig noch vernetzt denkende Wesen. Sie interessieren sich nicht allzusehr für andere und schon gar nicht für die komplexen Zusamm­enhänge der Probleme auf dieser Welt. Sie wählen Politiker, die ihre Sprache sprechen und Rezepte für die Lösung ihrer unmittelbaren Probleme anzubieten haben — und zwar möglichst einfache. Wenn einer behaupten würde, daß uns Schlimmes bevorsteht, wenn wir nicht sofort schwere Verzichte leisten, wäre er in einer Demokratie ziemlich rasch weg vom Fenster. Und in einer Diktatur kümmert sich die herrsch­ende Clique von vornherein nicht um sozialen Ausgleich und Umweltschutz, sondern um ihren eigenen, unmittelbaren wirt­schaftlichen Vorteil.

Umbrüche in komplexen, dynamischen Systemen vollziehen sich nicht linear, sondern exponentiell. Sie haben eine längere, wenig spektakuläre Inkubationszeit — und irgendeinmal, scheinbar plötz­lich, kippt das System. Der Umbruch vollzieht sich nicht geordnet, sondern chaotisch — und in verhältnismäßig kurzer Zeit.

Die menschliche Zivilisation ist — wie alle lebendigen Organismen und Populationen — ein komplexes, dyn­am­isches System. Die Frühsymptome eines Zusammenbruchs sind bereits erkennbar. Aber wir selbst sind noch nicht von wirklich existentiellen Krisen betroffen. Andere schon, aber wir noch nicht. Wir erkennen deshalb noch keinen dringenden Handlungsbedarf. Die globale Bedrohung wird systematisch verleugnet oder verharm­lost. Hier liegt mit einer der wesentlichen Gründe, weshalb ein Crash nicht zu verhindern sein wird: Die Gefahr wird auf allen Ebenen glatt verdrängt — von den einzelnen Menschen, von den nationalen politischen Institutionen, von der Weltpolitik.

#

21/22

Die Zukunft läßt sich zwar nie präzise vorhersagen. Innerhalb einer bestimmten Bandbreite gibt es immer mehrere mögliche Szenarien. Aber wir müssen uns auf Jahrzehnte zunehmender Krisen, kriegerischer Auseinander­setzungen, krimineller Gewalt, des Hungers sowie sich ausbreitender Krankheiten einstellen. Die Weltbevölkerung wird dezimiert werden.

Ob und gegebenen­falls wie viele Menschen den Crash überleben werden; in welchen Regionen die höchsten Überlebenschancen bestehen; über wie viele Jahre sich der Zusammenbruch hinziehen wird — dies alles ist heute nicht prognostizierbar. 

Aber daß wir uns auf dem Weg in einen Crash befinden; daß er in den nächsten Jahrzehnten stattfinden wird; daß auch wir in den hochent­wickelten Industrie­nationen davon betroffen sein werden — daran gibt es heute kaum mehr einen Zweifel. In Tat und Wahrheit hat dieser Vorgang längst eingesetzt. Er hat nur noch nicht seine volle Dynamik erreicht und noch nicht alle Regionen erfaßt.

Viele Menschen spüren heute, daß das, was sich auf diesem Planeten abspielt, kein gutes Ende nehmen kann. Ich halte es für falsch, das Thema Crash zu tabuisieren. 

Auch wenn ein Zusammenbruch unserer Zivilisation längerfristig nicht zu verhindern sein wird — wir können uns zumindest offen mit dem, was auf uns zukommt, auseinandersetzen. Vorbereitet zu sein ist allemal besser, als eines Tages von völlig unerwarteten Ereignissen überrumpelt zu werden.

Dieses Buch befaßt sich mit folgenden Fragen:

Als erstes wird es darum gehen, zu betrachten, woher wir kommen. Nur wenn man weiß, wie der Mensch sich entwickelt hat, läßt sich abschätzen, was in Zukunft von ihm erwartet werden kann und was nicht.  Die kurze Reise in unsere Vergangenheit ist kein reiner Sonntags­spaziergang. Wir werden nämlich das Bild, das wir uns über uns selbst zurechtgelegt haben, in einigen wichtigen Punkten korrigieren müssen.

23

 

 www.detopia.de     ^^^^ 
 Lauterburg   1998   Einleitung