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4. Der große Terror: Wie es dazu kam

 

 

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Die »Säuberungen« der dreißiger Jahre, der Mord an Millionen von Menschen, unter ihnen praktisch die gesamte alte Garde der Bolschewiki, ist ein in der Weltgeschichte einmaliges Ereignis. 

Vermutlich kamen während der Kollektivierung und in der Hungersnot von 1933 mehr Menschen um als bei den Säuberungen, und Hitler betrieb seinen Massenmord mit mehr System, wie auch Pol Pot, der in jüngerer Zeit einen größeren Prozentsatz seines Volkes ausgelöscht hat. 

In der ganzen Mensch­heits­geschichte hat es Ausrottungskriege und verheerende Bürgerkriege gegeben, Katholiken kämpften gegen Protestanten, Moslems gegen Ungläubige und verschiedene Sektierer auf der ganzen Welt gegeneinander. 

Die Ereignisse in der Sowjetunion sind jedoch durch spezifische Merkmale von all dem zu unterscheiden, nämlich durch die fantastischen Vorwürfe und Selbstbezichtigungen in den Schauprozessen und ironischerweise durch das Fehlen erkennbarer Motive, die in anderen Ländern zum Massenmord geführt hatten.

<La terreur> in der Französischen Revolution hatte sich gegen die Vertreter des alten Regimes gerichtet und später gegen alle gemäßigten Politiker. Hitler wollte so viele Juden und andere »Rassenfeinde« wie möglich vernichten. Bei Stalin dagegen waren die Verhaftungen und Exekutionen viel willkürlicher und zufälliger. Es gab keine Verschwörungen gegen das Regime, höchstens eingebildete, ja es gab nicht einmal eine potentielle Opposition gegen Stalin. Viele seiner Opfer, wahrscheinlich sogar die meisten, hatten zu seinen Anhängern gehört.

Es gab praktisch keinen Widerstand gegen die Maschinerie des Terrors, keine Vendée (Royalistenaufstände in der Französischen Revolution; A.d.Ü.) und keine Verschwörung wie die von 1943-1944 durch ranghohe deutsche Offiziere gegen Hitler. 

Die absurden Vorwürfe in den Prozessen wurden häufig akzeptiert oder gar leidenschaftlich geglaubt, manchmal sogar außerhalb der Sowjetunion — all dies hat es extrem erschwert, die Säuberungen zu verstehen.

Im Lauf der Jahre sind viele Theorien über die Säuberungen aufgestellt worden, einige plausibler als andere, und es war nur natürlich, daß in der Glasnost-Ära — im Licht vieler Enthüllungen und öffentlicher Geständnisse — dieses dunkelste Kapitel der Sowjetgeschichte einer erneuten Überprüfung unterzogen wurde. Es gab auch Widerstände gegen dieses »ungesunde Herumwühlen in der Vergangenheit«. Aber das Streben nach Wahrheit erwies sich als stärker, was nicht überrascht, da der große Terror in diesem Land so viele Familien betroffen und den weiteren Lauf der sowjetischen Geschichte so nachhaltig beeinflußt hat.

Wir wollen die wichtigsten Stadien des großen Terrors kurz rekapitulieren, bevor wir uns den neuen Erkenntnissen zuwenden, die in letzter Zeit über die tragischen und anscheinend unerklärlichen Ereignisse der späten dreißiger Jahre ans Licht gekommen sind.

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Weder die Verhaftungen noch die Schauprozesse der dreißiger Jahre waren etwas völlig Neues. Gefangenen­lager und »Spezial­gefängnisse für linke politische Gefangene« hatten sogar schon in den zwanziger Jahren existiert, obwohl die Gesamtzahl der politischen Gefangenen damals viel kleiner war. Exekutionen waren noch selten. Erst mit den vier Schauprozessen gegen einige »Schädlinge und Saboteure« in den späten zwanziger und frühen dreißiger Jahren wurde eine neue Ära eingeläutet.

Obwohl diese Prozesse nur ein beschränktes Ausmaß erreichten, sind sie für unsere Fragestellung relevant: Was den Angeklagten vorgeworfen wurde, war zum größten Teil falsch, und es wurden neue Techniken angewandt, um Geständnisse zu erpressen. Die Regisseure und Leiter dieser Prozesse machten hier die Vorübungen für die großen Ereignisse, die ihrer von 1936 bis 1938 harrten.1 Die Zeit des eigentlichen großen Terrors begann mit dem Mord an Sergei Kirow, dem Parteichef von Leningrad. Er war eine der zentralen Figuren im Land nach Stalin.

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Obwohl viele Umstände darauf hindeuten, daß Stalin in den Mord verwickelt war, hat man dafür bis heute keine unwiderlegbaren Beweise gefunden und wird sie vielleicht auch nie finden.2 Auf den Mord folgten Massenverhaftungen unter den Mitgliedern der früheren Sinowjew-Kamenew-Opposition. Der Gruppe wurde im Januar 1935 ein (geheimer) Prozeß gemacht. Gefängnisstrafen zwischen fünf und zehn Jahren wurden verhängt. Auch Mitglieder des Leningrader NKWD und eine ziemlich große Anzahl von Personen aus allen Gesellschafts­schichten wurden verhaftet (man trieb »die üblichen Verdächtigen« zusammen). Wie auch in den nachfolgenden Prozessen waren Wyschinski der Chefankläger und Ulrich der Vorsitzende Richter. 

Das nächste Stadium wurde im August 1936 mit dem zweiten Prozeß gegen die Sinowjew-Kamenew-Gruppe eingeleitet. Diesmal war das Verfahren öffentlich; man behauptete, die Angeklagten hätten die Behörden beim ersten Prozeß getäuscht. Sie trügen nämlich nicht nur die moralische Verantwortung für den Mord an Kirow (wie sie im Jahr zuvor ausgesagt hatten), sondern sie hätten ihn tatsächlich getötet. Außerdem hätten sie versucht, Lenin, Stalin und viele andere zu töten, hätten als Agenten für ausländische Geheimdienste gearbeitet — europäische und japanische3) —, hätten Sabotage gegen die Landwirtschaft, die Industrie und die Bahnlinien verübt. Die gleichen Anklagen wurden mit kleineren Variationen auch in den nächsten Prozessen erhoben: dem Pjatakow-Radek-Prozeß im Februar 1937, dem Prozeß gegen die Führer der Roten Armee und dem Prozeß gegen Bucharin, Rykow und andere.

In den Schauprozessen gestanden alle Angeklagten, manche allerdings bereitwilliger als andere. Die meisten wurden zum Tod verurteilt, aber auch geringere Strafen bedeuteten den Tod. »Zehn Jahre ohne das Recht auf Korrespondenz« war synonym für die fast unmittelbar auf das Urteil folgende Exekution.

Inzwischen war Jagoda, der sich für die Frühstadien der »Säuberungen« hatte instrumentalisieren lassen, aus seiner Stellung als Volkskommissar des Inneren entfernt (im September 1936) und schließlich im Bucharin-Prozeß zum Tod verurteilt worden. Sein Nachfolger Nikolai Jeschow behielt den Posten nur ein gutes Jahr und wurde dann durch Lawrenti Berija ersetzt.

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Berija war bis kurz nach Stalins Tod Chef der Sicherheitsdienste, dann wurde auch er exekutiert, u.a. weil er seit 1918 ein britischer Spion gewesen war. Die Prozesse waren jedoch nur die Spitze des Eisbergs. Die verschiedenen Moskauer Gerichtsverfahren betrafen nicht mehr als 50 Personen, während die Gesamtzahl der Opfer in die Millionen ging. Die alte Garde der Bolschewiki wurde fast völlig ausgerottet, desgleichen auch die Führung der Roten Armee und des NKWD bis in abgelegene Gebiete, insgesamt etwa 50.000 Personen. Viele ausländische kommunistische Führer waren unter den Opfern, Stalin hat mehr deutsche und polnische Kommunisten töten lassen als Hitler.

In den Randbezirken der Sowjetunion waren die Menschen genauso von den Verhaftungen und Exekutionen betroffen wie in Moskau und Leningrad; sie trafen Bauern und Arbeiter genauso wie Manager, Schriftsteller und Wissenschaftler. Häufig wurden auch die Familien der »Volksfeinde« verhaftet und exekutiert.

Es ist leichter, die Gruppen von Personen aufzuzählen, die den »Repressionen«, wie das im Jargon der Post-Stalin-Ära genannt wurde, seltener ausgesetzt waren, weil der Terror fast alle Schichten und Berufe betraf. Es wurden nur relativ wenige Filmregisseure und Schauspieler liquidiert, nur wenige Maler, Komponisten und Musiker. Wie im Dritten Reich genossen auch in der Sowjetunion die Unterhaltungs­künstler im allgemeinen eine Art Immunität.

Das größte Blutvergießen fand in den Jahren 1936 bis 1938 statt, was nicht etwa heißt, daß der Terror in den darauf folgenden Jahren aufgehört hätte. Einige, die in den ersten Jahren verhört worden waren, wurden zwischen 1939 und 1941 exekutiert. Eine Reihe militärischer Führer, die 1937 den Exekutions­kommandos entgangen waren, wurden zwar 1940 tatsachlich aus den Arbeitslagern entlassen, andere wurden dagegen 1940 und 1941 erst verhaftet.

Während des Krieges nahm der institutionalisierte Terror notwendigerweise andere Formen an. Jetzt waren Offiziere und Soldaten betroffen, denen die Nichtbefolgung von Befehlen vorgeworfen wurde, und darüber hinaus Menschen, deren Nationalität verdächtig erschien: Krimtataren, Wolgadeutsche, Kalmücken, Angehörige verschiedener kaukasischer Völkerschaften und andere. Nach dem Krieg waren dann Offiziere und Soldaten an der Reihe, die in deutsche Kriegs­gefangen­schaft geraten waren.

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Zwischen 1945 und Stalins Tod gab es zwei große und eine Vielzahl kleinerer »Säuberungen«. Die eine große fand in Leningrad statt, wo ein Politbüro­mitglied (N. Wosnesenski) und viele andere lokale Parteiführer verhaftet und erschossen wurden. Die andere war die Kampagne gegen die »Kosmopoliten«, in deren Verlauf fast alle Schriftsteller getötet wurden, die in jiddischer Sprache geschrieben hatten. Als Stalin starb, war gerade eine weitere Terrorwelle im Anrollen, die gegen das »Ärztekomplott« gerichtet war, jedoch gestoppt wurde, nachdem der Diktator einen tödlichen Schlaganfall erlitten hatte.

Unsere Liste enthält nicht einmal alle wichtigen Kategorien der Opfer; so etwa wurde die Zerstörung der sowjetischen Genetik und die Ermordung führender Genetiker wie etwa N. Wawilows nicht erwähnt. Nach Stalins Tod wurden die Überlebenden allmählich aus den Lagern entlassen. Ihre gesetzliche Rehabilitierung nahm jedoch viel längere Zeit in Anspruch. Die Armee­kommandeure wurden als erste rehabilitiert, bei den politischen Führern, die Opfer der Säuberungen geworden waren, fand die Rehabilitierung erst 1988 statt, und bei einigen wenigen gab es aus einer Reihe von Gründen überhaupt keine. Es gab alle Arten von Variationen: Einige wurden unter Chruschtschow rehabilitiert, unter Breschnew jedoch wieder »dehabilitiert«, um dann unter Gorbatschow wieder rehabilitiert zu werden ...

Der stalinistische Terror unterschied sich in wesentlichen Aspekten von der terroristischen Praxis des Faschismus. Mussolinis Anhänger hatten sich natürlich vor dem Marsch auf Rom gewaltsamer Methoden bedient. Nachdem der Duce jedoch einmal an der Macht war, wurden im Laufe von zwanzig Jahren nur eine Handvoll Menschen aus politischen Gründen exekutiert, und die Zahl der Exilierten ging lediglich in die Hunderte.

 

Der Terror der Nazis war in erster Linie gegen Juden, Ausländer und aktive Oppositionelle gerichtet. Es gab schon von einem frühen Zeitpunkt an Konzen­trationslager auch in Deutschland, und während des Krieges kamen Millionen Menschen in den Todeslagern um. Die Maschinerie war jedoch auf die Vernichtung bestimmter Gruppen programmiert; sie arbeitete nicht wahllos.

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Unter den italienischen Faschisten gab es keine Säuberungen; in Deutschland gab es eine, die sogenannte »Nacht der langen Messer« am 30. Juni 1934. Im letzten Teil des Krieges wurden in Deutschland zahlreiche Verhaftungen und Exekutionen durchgeführt. Sie waren jedoch gegen wirkliche Gegner des Regimes gerichtet.

All dies soll nicht heißen, daß Hitler und Mussolini weniger grausam gewesen wären als Stalin. Es bedeutet lediglich, daß sie — zu Recht — von der Loyalität der Mehrheit der Bevölkerung ausgingen und die bloße Androhung von Terror für ausreichend hielten, um potentielle Feinde abzuschrecken. Wenn Hitler Zwangsarbeiter brauchte, konnte er auf eine Menge Ausländer zurückgreifen, und in Italien gab es nie einen akuten Arbeits­kräftemangel.

 

Wieviel war nun zu Stalins Lebzeiten über das Ausmaß des Terrors bekannt? Das Schicksal der Angeklagten in den Schau­prozessen war natürlich kein Geheimnis, und es wurde gleichfalls bekannt gemacht, daß bestimmte prominente Beamte verurteilt oder erschossen worden waren. In der großen Mehrzahl der Fälle waren jedoch die Opfer nicht sehr bekannt, und ihr Schicksal wurde nicht publik. In einigen Fällen, bei denen Ausländer betroffen waren (wie etwa bei der Liquidierung der polnischen Offiziere im Wald von Katyn), gab es sogar offizielle Dementis. Ordschonikidse, ein Politbüromitglied, wurde entweder getötet oder beging Selbstmord; nach der offiziellen Version starb er jedoch eines natürlichen Todes.

In der damaligen Zeit konnte niemand mit Sicherheit sagen, ob Zehntausende oder zehn Millionen Menschen getötet worden waren; die Schätzungen bewegten sich tatsächlich zwischen diesen Extremen. 

Angesichts der Tatsache, daß die Sowjetunion ab etwa 1936 hermetisch abgeriegelt war (viel stärker als Nazi-Deutschland), ist es jedoch erstaunlich, wieviel sogar schon vor der ersten Tauwetterperiode im Ausland bekannt wurde.

Welche Informationsquellen gab es, wie wurden die Informationen an die Außenwelt übermittelt und wie wurden sie dort aufgenommen? Überläufer, besonders aus den sowjetischen Sicherheitsdiensten, gehörten zu den wichtigsten frühen Informanten.

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Obwohl selbst relativ ranghohe Agenten des NKWD nur einen begrenzten Überblick hatten — besonders, wenn sie außerhalb Rußlands stationiert waren —, und obwohl es nicht viele Überläufer gab, ist es im historischen Rückblick doch erstaunlich, wieviel aufgrund ihrer Enthüllungen bekannt wurde — und wie viele ihrer Berichte 40 oder 50 Jahre später bestätigt wurden.4

Die zweite wichtige Quelle waren Männer und Frauen, die verhaftet worden waren, jedoch später wieder freigelassen und in die sowjetische Gesellschaft integriert oder, wenn deutscher Nationalität, nach Nazi-Deutschland deportiert wurden. Auch kollaborierten einige russische Opfer der Kollektivierung und der Säuberungen während der Okkupation mit den Deutschen.

Obwohl frühere Inhaftierte aus dem Gulag notwendigerweise nur einen geringen Überblick hatten, waren ihre Berichte zusammen­genommen eine wertvolle und weitreichende Informations­quelle. In der ersten Tauwetterperiode kamen noch mehr Zeugen frei; einige von ihnen gelangten in den Westen, und dies schuf, zusammen mit den nach Stalins Tod in Moskau publizierten Enthüllungen, die Basis für die ersten großen Berichte über den Terror, die Exekutionen und die Lager.5

 

Kurz nach Stalins Tod wurde eine große Amnestie erlassen, die fast ausschließlich gewöhnliche Kriminelle betraf. Zwar wurden auch einige wenige politische Gefangene freigelassen, wie etwa die Ärzte, deren Prozeß in den letzten Lebensmonaten Stalins vorbereitet worden war. Die Verfahren gegen sie wurden eingestellt.

Die meisten Überlebenden wurden jedoch erst 1954 und 1955 freigelassen, und die Rehabilitierung der Lebenden und der Toten begann erst nach Chruschtschows berühmter Geheimrede auf dem 20. Parteikongreß. Die Rehabilitierung nahm verschiedene Formen an. In einigen Fällen fand sie öffentlich statt; häufiger wurde sie jedoch selbst vor den engsten Verwandten der Betroffenen geheimgehalten. Es gab Rehabilitierungen erster und zweiter Klasse, manchmal sogar dritter und vierter. Einige Opfer wurden wieder in die Partei aufgenommen, aber dies war keinesfalls immer der Fall. Einige wurden voll und ohne jeden Vorbehalt rehabilitiert, einige nicht; manchmal wurde das Verfahren vom Zentralkomitee durchgeführt, häufiger jedoch auf lokaler Parteiebene.

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Chruschtschow stieß auf starken Widerstand von seiten alter Stalinisten. Die Tatsache, daß enge Mitarbeiter des verstorbenen Diktators wie etwa Molotow, Andrejew und Pospelow in den mit der Entstalinisierung betrauten Komitees Schlüsselfiguren waren, erweckte nicht gerade Vertrauen und machte die Grenzen deutlich, die man der Entstalinisierung gezogen hatte. Die Rehabilitierung war ausgesprochen selektiv. Von den bekannteren Angeklagten der Moskauer Schauprozesse wurden nur sehr wenige wie etwa Krestinski, Ikramow und Chodsaew rehabilitiert.

Wem vor der Liquidierung nicht die Gunst eines Prozesses gewährt worden war, was vor allem für die Armee­kommandeure der Regelfall gewesen war, hatte eine viel bessere Rehabilitierungschance. In seiner Geheimrede nahm Chruschtschow auf seine eigenen Freunde und Zeitgenossen Bezug (Tschubar, Eiche, Postyschew, Kosior und Rudsutak). Sie waren während der dreißiger Jahre Politbüromitglieder gewesen und der großen Säuberung gegen Ende des Jahrzehnts zum Opfer gefallen. Chruschtschow scheint auch den Versuch gemacht zu haben, Bucharin zu rehabilitieren, gab jedoch auf, als er auf Widerstand stieß. Bucharins Witwe und sein Sohn appellierten zwischen 1961 und 1976 immer wieder an die Parteiführung, aber alle ihre Anträge wurden abgewiesen.

Die erste Welle der Entstalinisierung endete 1959, aber Chruschtschow brachte das Thema überraschender­weise auf dem 22. Parteikongreß (im Oktober 1961) noch einmal zur Sprache. Es spielte eine Rolle in seiner Kampagne gegen die stalinistische alte Garde (die »Anti-Partei-Gruppe«), die gegen seine politischen Initiativen zunehmend Widerstand leistete. Daher wurde in den Reden auf dem Kongreß Malenkow der Komplizenschaft bei den in Weißrußland begangenen Verbrechen beschuldigt, Kaganowitsch für seine Rolle in der Ukraine getadelt, Woroschilow seine Rolle bei der Ermordung der »Blüte der Roten Armee« vorgeworfen und Molotow ob seines permanenten Doppelspiels getadelt. Es gab relativ wenig spezifische Rehabilitierungen nach dem 22. Kongreß. Jetzt wurde lediglich zugegeben, daß der Terror schon einige Zeit vor 1937 begonnen hatte.

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Nach Chruschtschows Sturz fand wiederum eine Neubewertung der sowjetischen Geschichte statt. Obwohl man den »Personenkult« nicht wieder einführte, wurden Stalins Handlungen erneut in einem viel positiveren Licht gesehen. Es wurden keine Opfer mehr rehabilitiert; im Gegenteil wurden einige bereits rehabilitierte wieder zu Unpersonen oder blieben »Volksfeinde«. Die einzigen weiteren Enthüllungen wurden in der Samisdat-Literatur veröffentlicht.

Diese Linie galt auch unter Andropow und Tschernenko, ja sogar in den ersten zwei Gorbatschow-Jahren. Dann, Anfang 1987, wurde die zweite Welle inoffizieller Rehabilitierungen durch eine Reihe von Dokumentar­filmen im Fernsehen eingeleitet, die Lenin und seine Parteigenossen zeigten, sowie durch Dramen von Michail Schatrow (Bretskij Mir) und durch den Nachdruck von Lenins berühmtem »Testament« von 1922. Nach dieser Entwicklung folgte Gorbatschows Rede zum 70. Jahrestag der Oktoberrevolution.

Man hatte weithin angenommen, es werde bei dieser Gelegenheit eine allgemeine Rehabilitierung aller Stalin-Opfer geben. Statt dessen wurde nur allgemein auf Stalins Missetaten und Verdienste Bezug genommen. Allerdings forderte Gorbatschow, es dürfe keine »weißen Flecken« in der sowjetischen Geschichte mehr geben. Damit war weiteren Publikationen der Weg bereitet, was schließlich doch zur Rehabilitierung jener Opfer Stalins führte, die in der ersten Tauwetter­periode noch nicht berücksichtigt worden waren.

Gorbatschow hatte 1985 und 1986 noch einer Wiederaufnahme von Debatten ablehnend gegenübergestanden, die »Uneinigkeit stifteten«. Später gab er jedoch zu, daß die Ursachen der gegenwärtigen Lage der UdSSR weit in die Vergangenheit zurück­reichten. Im Juli 1987 sagte er in einem Gespräch mit führenden Intellektuellen, daß »wir nie in der Lage sein werden, zu vergeben oder zu rechtfertigen, was zwischen 1937 und 1938 passiert ist«.

Zunächst wurde vom Obersten Sowjet im Juli 1987 eine Gruppe von 15 Ökonomen rehabilitiert, darunter viele Agrarexperten (die Partei der werktätigen Bauern), die in den späten zwanziger Jahren der Sabotage angeklagt worden und nach einem geheimen Prozeß verschwunden waren. An ihrer Rehabilitierung war nichts Sensationelles. Sie waren keine Parteimitglieder gewesen, und ihr Fall war nicht umstritten. Sogar unter Breschnew waren sie schon de facto dadurch teilweise rehabilitiert worden, daß einige Bücher von Tschajanow, ihrem »Führer«, veröffentlicht wurden.

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Zwischen 1987 und 1988 gab es Andeutungen, daß auch die beiden anderen Schauprozesse, die etwa zur gleichen Zeit stattgefunden hatten, neu überprüft werden müßten: der gegen Professor Ramsins »Prompartia« (Industriepartei) und der gegen das »Unionsbüro der Menschewiki«. Doch wegen des Mannes, der die Prozesse geführt hatte, kam es zu Komplikationen: Krylenko war der Vorgänger des berüchtigten Wyschinski gewesen, ein alter Bolschewik, der 1938 nach einem Prozeß von wenigen Minuten selbst der »Repression« zum Opfer gefallen war. Krylenko hatte also geholfen, das mörderische System zu etablieren, das ihn am Ende selbst verschlang. Es überrascht nicht, daß er in den Medien zu einer »widersprüchlichen, zutiefst tragischen Figur« avancierte, und es ist ebensowenig ein Wunder, daß seine Tochter ihn auch weiterhin als einen Mann verteidigte, der gegenüber Feinden, die angeblich eine militärische Invasion der Sowjetunion vorbereiteten, seine revolutionäre Pflicht getan hatte.6)

Danach folgte die gesetzliche Rehabilitierung der Angeklagten im Prozeß gegen Bucharin und Rykow, der genau 50 Jahre zuvor stattgefunden hatte. Es gab eine bemerkenswerte Ausnahme: Genrich Jagoda. Er war als Chef des NKWD für einen Großteil des Blutvergießens in der Frühphase des Terrors verantwortlich gewesen. Das korrekte Verfahren hätte darin bestanden, ihn von den Verbrechen, deren er 1938 angeklagt wurde, nachträglich freizusprechen (Spionage für das Ausland, die geplante Ermordung der stalinistischen Führung) und ihn dann seiner wirklichen Verbrechen anzuklagen. Dies wurde jedoch für zu kompliziert erachtet, und so ließ man seinen Fall einfach in der Schwebe.

Schließlich, am 13. Juni 1988, wurden auch die Urteile im ersten (gegen Sinowjew und Kamenew) und im zweiten Moskauer Prozeß (gegen Pjatakow und Radek) kassiert. Der Oberste Gerichtshof untersuchte jedoch nicht, wie sich ein Kommentator ausdrückte, das »Partei-Image« der Kriminellen von 1936 und 1937. Tatsächlich machten die offiziellen Kommentare in den Medien deutlich, daß die Angeklagten damals in verschiedenen Stadien ihrer Karriere politische Fehler gemacht hätten und daß dies auch für Bucharin gelte. Nichtsdestoweniger wurde klar zum Ausdruck gebracht, daß sie vor dem Gesetz, vor dem Staat und vor dem Volk unschuldig seien.7)

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Von den wichtigsten Persönlichkeiten der Partei war damit nur noch Trotzki übrig. Viele Jahre lang war er als eine Inkarnation des Bösen dargestellt worden, als der schlimmste Feind des Sozialismus und des sowjetischen Volkes. Weil jedoch Trotzki nie offiziell eines Verbrechens angeklagt worden war (sondern nur im Exil in Mexiko ermordet), war keine gesetzliche Rehabilit­ierung erforderlich. Statt dessen erschien eine Reihe von Artikeln über ihn in den Medien: Einige bewerteten ihn extrem negativ, andere kamen zu einer milderen Beurteilung und wiesen auf die Verdienste (aber auch auf die Fehler) dieses Mannes hin, der früher einmal in der Parteihierarchie gleich hinter Lenin gestanden, die Rote Armee gegründet hatte und der erste Außen­minister der Sowjetunion gewesen war.

Die neuen Enthüllungen bewirkten vor allem, daß Tatsachen, die bisher nur über die Samisdat-Literatur verbreitet worden waren, jetzt allgemein bekannt wurden. Häufig waren die wesentlichen Fakten über die Repression schon lange bekannt gewesen, aber die Dokumente und detaillierten Berichte, die 1987 und 1988 veröffentlicht wurden, hatten eine weit größere Wirkung als die bloße Feststellung, daß ein bestimmtes Individuum verschwunden sei.

Dies trifft z.B. auf das Schicksal Michail Koltsows zu. Er war in den dreißiger Jahren ein sehr populärer Journalist mit makellos stalinistischem Leumund gewesen, bis er 1938 verhaftet und kurz darauf erschossen wurde. Seine Geschichte, niedergeschrieben von seinem Bruder Boris Jefimow, einem prominenten Karikaturisten, war zuerst in den sechziger Jahren veröffentlicht worden. Im Jahr 1988 erschien jedoch ein detaillierterer Bericht in einer populären Wochenzeitschrift. Er erreichte ein viel größeres Publikum und hatte eine gewaltige Wirkung. Dasselbe gilt auch, um einige weitere Beispiele zu nennen, für Isaac Babel und Ossip Mandelstam, für Alexander Kosarew, den Chef der Komsomol (der kommunistischen Jugendliga), und für Fjodor Raskolnikow, einen der frühen Helden der Revolution, der 1938 in Spanien desertiert war.

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Babel und Mandelstam galten schon seit den fünfziger Jahren nicht mehr als »Volksfeinde«. Einige ihrer Werke waren unter Chruschtschow und sogar unter Breschnew publiziert worden, allerdings in begrenzten Auflagen. Auch waren sie in den offiziellen Literatur­geschichten wieder aufgetaucht, wenn auch nur als literarische Randfiguren. Dasselbe galt mutatis mutandis auch für Kosarew und Raskolnikow. Der volle Text von Raskolnikows »offenem Brief« an Stalin war jedoch nie veröffentlicht worden, noch hatte man die Tatsache zur Kenntnis genommen, daß nicht nur Kosarew der »Repression« zum Opfer gefallen war, sondern praktisch die gesamte Führung des Komsomol der ganzen Sowjetunion.

 

Die Intensität der Debatte über den stalinistischen Terror war nur ein Aspekt dieser zweiten Tauwetterperiode, es gab auch noch andere. Im Jahr 1956, nach Chruschtschows Rede, hatte sich lediglich die Parteilinie geändert, zu einer öffentlichen Debatte war es jedoch nicht gekommen. Im Jahr 1987 wurden dagegen offene Kontroversen ausgetragen: Während die Enthüllungen über den Stalinschen Massenmord von vielen Leuten entschieden begrüßt wurden, vertraten andere die Meinung, daß es zwar zu bedauerns­werten Exzessen gekommen sei, man diese negativen Züge des Stalinismus jedoch in einer breiteren, historischen Perspektive betrachten müsse, d.h. »auf eine distanzierte Art und ohne Übertreibungen«.

Angesichts des enormen innen- und außenpolitischen Drucks, dem die Sowjetunion zu jener Zeit ausgesetzt gewesen sei, so ihr Argument, sei es unvermeidlich gewesen, daß einige Leute hätten leiden müssen. Außerdem hätten die Säuberungen von 1937 und 1938 nur eine relativ kleine Anzahl der Bevölkerung, und zwar vorwiegend Altkommunisten, getroffen. Während der Kollektivierung seien jedoch wesentlich mehr Leute umgekommen. Manche betrachteten den Terror zwischen 1937 und 1938 als eine gerechte Strafe für Kommunisten, die sich früher an der Unterdrückung von Nicht-Kommunisten beteiligt hatten. Dies war natürlich richtig, was die Organe der Staats­sicherheit und einige Politbüromitglieder betraf, galt jedoch keinesfalls für die große Mehrheit der Opfer.

Doch weitere neue Aspekte kamen in der zweiten Tauwetterperiode ans Licht der Öffentlichkeit. Unter Chruschtschow war die ganze Schuld auf Stalin und einige seiner engsten Mitarbeiter geschoben worden. Trotzdem hatte die Tatsache, daß Molotow ein solcher Mitarbeiter gewesen war, nicht verhindert, daß er in der Folge wieder in die Partei aufgenommen wurde.

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Berija und einige seiner schlimmsten Helfershelfer wurden 1953 erschossen, und einige der aktivsten »Ermittler« wurden in geheimen Prozessen abgeurteilt. Auf diese Weise hatte man den Eindruck erweckt, daß die Ermordung von Millionen Menschen von Stalin und Berija sozusagen »eigenhändig« durchgeführt worden wäre, und das war natürlich absurd. Zehntausende von Menschen müssen sich an einem Verbrechen dieser Größe beteiligt haben.

Während der zweiten Tauwetterperiode wurden einige neue Namen enthüllt, und es wurde eine Reihe weiterer Dokumente zugänglich gemacht. Dennoch gab es nach wie vor beträchtlichen Widerstand dagegen, an alte Wunden zu rühren. Die meisten Henker, Informanten und Verhörspezialisten waren nicht mehr am Leben. Außerdem war es sehr schwierig, die Verbrechen der dreißiger und vierziger Jahre zu untersuchen, weil das meiste belastende Quellenmaterial gut versteckt oder vernichtet worden war.8)

Dies gilt für die Archive der Ministerien für Justiz und Verteidigung; die Archive der Staatssicherheits­organe waren ohnehin nie zugänglich. Allerdings wurde einigen wenigen Auserwählten erlaubt, Teile der Materialien des Justizministeriums einzusehen; was sie berichteten, war zugleich erschütternd und von großem historischem Interesse. Das neue Material war jedoch bei weitem nicht ausreichend, um sich einer systematischen und erschöpfenden Erforschung jener tragischen Periode zu widmen. Sehr oft mußten sich die Forscher auf die Erinnerungen von Überlebenden oder deren Familien verlassen; die oral history blühte in der Sowjetunion auf wie nie zuvor.

 

Am 5. Dezember 1988 wurde in Moskau der Dokumentarfilm Wlast Solowetskaja zum ersten Mal gezeigt. Der Film befaßte sich, mit dem ersten sowjetischen Arbeitslager, das in einem großen Kloster aus dem 16. Jahrhundert auf der größten Insel einer Inselgruppe im Weißen Meer gelegen war. Weit entfernt von allen Ballungszentren, hatte es während seiner ganzen Geschichte als Gefängnis gedient. Außerdem war es im 17. Jahrhundert auch ein Zufluchtsort für religiöse Schismatiker gewesen. Im Jahr 1923 wurde dort ein Lager sowohl für politische Gefangene als auch für gewöhnliche Kriminelle eingerichtet. Es stellte 1939 den Betrieb ein, als die überlebenden Insassen in andere, weiter im Osten gelegene Lager gebracht wurden.

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Die Existenz dieses Lagers war im Westen nicht unbekannt. In den späten zwanziger Jahren gelang es einigen Insassen, über das Eis nach Finnland zu entkommen; einer von ihnen schrieb ein Buch, das in mehrere Sprachen übersetzt wurde.9) Außerdem wurden nicht wenige Häftlinge nach drei oder vier Jahren entlassen, und auch ihre Berichte sickerten in die Außenwelt durch. Solowki war das sowjetische Lager mit den meisten Intellektuellen; viele berühmte Historiker, Philosophen und Wissenschaftler waren dort eingesperrt, und Pimen, der Patriarch der russisch-orthodoxen Kirche, war dort gestorben.

Als der Film gezeigt wurde, war der prominenteste noch lebende Häftling das Akademiemitglied Dmitri Lichatschew. Er war als junger Historiker in Leningrad verhaftet worden. Die Autoren des Films hatten ursprünglich geglaubt, daß keine anderen Lagerinsassen mehr am Leben seien. Sie fanden jedoch bei den Recherchen für ihren Film noch einige. Alle waren über 80 Jahre alt: Adamowa-Sluisberg, die man des Mordversuchs an Kaganowitsch beschuldigt hatte (obwohl sie ihn noch nie im Leben gesehen hatte); Alexander Prochorow, ein bekannter Ingenieur der frühen dreißiger Jahre; Samuel Epstein, damals ein junger Journalist und Rechtsanwalt; und Andrei Roschin. Er hatte das Lager zuerst als stellvertretender Kommandant und dann als Insasse kennengelernt. Eine weitere wichtige Informationsquelle war ein riesiger Stapel von Briefen der Lagerinsassen, die die Lagerbehörden nie abgeschickt hatten.

Die Geschichte Solowkis liegt in einer Zeit, die selbst heute noch als die »humanistische Ära« der Sowjetmacht bezeichnet wird. Die NKWD-Kommandeure waren so stolz auf ihre Arbeit (und so verärgert über deren schlechte Publizität im Ausland), daß sie beschlossen, einen Film über die Bedingungen im Lager drehen zu lassen. In dem trat Maxim Gorki als Star auf. Der Streifen sollte zeigen, wie die irregeleiteten Söhne und Töchter der Sowjetunion durch Arbeit wieder auf den rechten Weg zurückgeführt wurden.

Man hatte eine Kopie dieses alten Films gefunden, was dem Dokumentarfilm zu noch größerer Authentizität verhalf. Die Autoren des Films hatten bald herausgefunden, daß sich der so häufig beschworene »sozialistische Humanismus« nicht auf Solowki erstreckte. Neu eingelieferten Häftlingen wurde erklärt, daß es auf der Insel keine andere Macht gebe als die lokale, daher der Titel des Films.

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Der Prozentsatz der Überlebenden war höher als in den Lagern der Stalin-Ära. Aber es traf auch zu, daß mit den Worten von Frau Dr. Goldowskaja, der Produzentin des Films, 1929 in einer einzigen Nacht 300 Lagerinsassen getötet wurden. Das sind fast so viele Häftlinge, wie insgesamt im Laufe von vier Jahrhunderten in dem Kloster umgekommen sind.10) Trotzdem war Solowki, verglichen mit den Lagern späterer Jahre, fast ein Erholungsheim. Es gab dort ein Theater (»das Paris des Nordens«), eine Zeitung, und gelegentlich wurden Besuche naher Verwandter erlaubt.

Die Anzahl der politischen Gefangenen ging damals noch in die Zehntausende und nicht in die Millionen. Nach amtlichen Berichten waren 1934 rund 800.000 Menschen in den Lagern der gesamten Sowjetunion inhaftiert, wobei möglicherweise auch Kriminelle mitgezählt wurden. Es waren nur wenige Kommunisten unter den Lagerinsassen; bei den meisten Häftlingen handelte es sich vielmehr um Leute, die als »Klassenfeinde« galten, d.h. grob vereinfachend gesagt, sie waren »bourgeoisen« Ursprungs.

 

Die systematische Verfolgung kommunistischer Oppositioneller begann mit dem 15. Parteikongreß und war gegen Trotzkisten gerichtet; später waren dann auch alle anderen Gruppen betroffen. In den ersten Jahren wurden die Oppositionellen im allgemeinen verbannt; wenn sie widerriefen, wurde ihnen üblicherweise erlaubt, ins europäische Rußland zurückzukehren.

Wie bereits erwähnt, wurden 1987 die Agrarexperten rehabilitiert. Dabei bestand ein gewisser Zusammenhang mit der von Gorbatschow und seinen Kollegen befürworteten neuen Landwirtschaftspolitik. In den zwanziger Jahren hatte Tschajanow vorgeschlagen, statt einer allgemeinen Kollektivierung ländliche Kooperativen einzurichten, und dieses Vorschlags wegen wurde er in der Perestroika sehr populär. Seine wissenschaftlichen Bücher (er hatte auch Kinderbücher geschrieben) wurden wieder aufgelegt. Fast jedes Heft der führenden Agrarzeitschrift der Sowjetunion enthielt einen Artikel über sein Werk und seine Ansichten unter der Generalüberschrift: »Schriften von (oder über) Tschajanow«.

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Ähnlich verblüffend war die Rehabilitierung von Nikolai Kondratjew. Sein Werk war im Westen Pflichtlektüre; sogar ökonomische Laien und Wirtschafts­studenten der ersten Semester hatten schon von »Kondratjews Zyklen« und von seinen »langfristigen Konjunkturwellen« gehört — auch wenn seine Theorie durchaus umstritten war. In der Enzyklopädie der Sowjetunion wurden jedoch bis 1988 unter dem Namen Kondratjew nur ein Neuerer in der Textilindustrie, ein Ballettänzer und ein Sportler aufgeführt. Der Ökonom war eine Unperson geblieben. Lediglich in der hochspezialisierten Fachliteratur war er gelegentlich als konterrevolutionärer Schädling erwähnt worden, der sowohl falsche als auch, verderbliche Ideen propagiert habe. Selbst in der Bücherei der sowjetischen Akademie der Wissenschaften waren drei seiner Hauptwerke verlorengegangen.12)

Nach seiner gesetzlichen Rehabilitierung wurde Kondratjew stolz wieder in das Erbe des sowjetischen ökonomischen Denkens aufgenommen. Zufällig entdeckte man, daß er zwischen 1930 und 1934, während seiner Haft im »politischen Isolator« von Susdal, zwei Bücher über makroökonomische Modellrechnungen geschrieben hatte (nur eines war erhalten, jedoch nie publiziert worden). Sie zeigten laut ihren sowjetischen Entdeckern, daß er seinen US-Kollegen auf diesem Gebiet um 10 bis 15 Jahre voraus gewesen war. Auch andere Wirtschaftswissenschaftler, die im gleichen Prozeß angeklagt worden waren, wurden wieder öffentlich diskutiert.13)

Wenn die Ansichten Tschajanows und seiner Kollegen über die Landwirtschaft richtig waren, dann verursachte das ernstzunehmende ideologische Probleme, und zwar nicht nur bezüglich der von der Partei zwischen 1928 und 1931 gefaßten Beschlüsse, sondern auch bezüglich solcher Klassiker der Sowjetliteratur wie Scholochows Neuland unterm Pflug, einem sehr schmeichelhaften Bericht über den Verlauf der Kollektivierung an der Basis. Im Jahr 1937 hatten Freunde Scholochows gerade noch rechtzeitig mitbekommen, daß er verhaftet und möglicherweise erschossen werden sollte. Er verließ sein Kosaken-Dorf und eilte nach Moskau, hielt sich dort inkognito auf und erschien dann auf einer Sitzung des Politbüros, wo ihm dank Stalins persönlicher Intervention ein ideologischer Persilschein ausgestellt wurde.14)

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Der Fall der »Rjutin-Plattform« war außerhalb der Sowjetunion in Umrissen seit der Verhaftung Martimian Rjutins 1932 bekannt. Erst in der Glasnost-Ära kamen jedoch 1988 zahlreiche Details ans Licht.

Der Fall Rjutin war der erste und einzige gewesen, in dem eine Verschwörung gegen Stalin tatsächlich existiert hatte — auch wenn sie über das Stadium vager Andeutungen nie hinauskam. Es war auch das erste Mal, daß Angeklagte nach Paragraph 58, d.h. wegen antisowjetischer Agitation und Propaganda, verurteilt wurden. Und es war das erste Mal, daß Stalin die Todesstrafe für andere Parteimitglieder forderte.

Rjutin war ein alter Bolschewik. Er entstammte der Arbeiterklasse und hatte im Bürgerkrieg eine relativ wichtige Rolle gespielt. Zum Zeitpunkt seiner Verhaftung war er der Parteisekretär eines führenden Moskauer Bezirks (Krasnaja Presnija). Er war zu dem Schluß gekommen, daß Stalins Wirtschafts- und Sozialpolitik katastrophal sei und das Land ruinieren werde, wenn er sie ungehindert fortsetzen könne. Rjutin verglich Stalin mit Asew, dem berühmten Agenten der russischen Polizei in der revolutionären Bewegung des ersten Jahrzehnts dieses Jahrhunderts; kein Feind habe je soviel Schaden angerichtet wie Stalin und seine Clique. Es herrsche ein Klima des Terrors und der Angst im Land, schrieb er, und forderte alle wahren und mutigen Leninisten dazu auf, sich einer neuen Union der Marxisten-Leninisten anzuschließen und Stalin abzusetzen.15)

Da unter den Oppositionellen häufig Polizeiagenten waren, erfuhr Stalin bald von Rjutins Initiative. Der Fall wurde zunächst der Parteikontrollkommission übergeben, und diese leitete ihn ans Politbüro weiter, wo Stalin Rjutins Kopf forderte. Aber er wurde von der Mehrheit überstimmt.16)

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Stalin vergaß seine Niederlage nie und erinnerte in späteren Jahren seine Anhänger daran, daß er zu Recht die schwerste Strafe für Rjutin gefordert habe. Als er Jagoda wegen mangelnden Engagements abgesetzt hatte, schickte er ein Telegramm an die anderen Politbüromitglieder, in dem stand: »... die OGPU ist vier Jahre zurück ...« Robert Conquest hat darauf hingewiesen, daß dieses Telegramm fast genau vier Jahre nach jenem Tag im September 1932 abgeschickt wurde, an dem sich das Politbüro Stalin widersetzt hatte.

Rjutin und seine Kollegen wurden aus der Partei ausgeschlossen und zu Gefängnisstrafen verurteilt. Die meisten wurden zwischen 1936 und 1937 erschossen, einige Randfiguren überlebten in den Lagern. Einem verzieh Stalin: Sergei Kawtaradse wurde stellvertretender Außenminister.17)

Der Fall Rjutin wirft eine Frage auf, die in diesem Buch noch eingehender diskutiert werden soll: Warum gab es so wenig Widerstand gegen Stalin? Wie Lew Rasgon und andere nach Rjutins Rehabilitierung festgestellt haben, wäre der Sowjetunion viel Unglück erspart geblieben, wenn es mehr mutige Leute wie Rjutin gegeben hätte und Stalin zu Beginn der dreißiger Jahre tatsächlich abgesetzt worden wäre. Es überrascht, daß 1988 ausgerechnet Rjutins Mut und nüchterne Einschätzung der Lage in Krasnaja Swesda, dem Organ der Armee, gepriesen wurde. Die Tatsache, daß Rjutin einer der ersten Kommandeure der Roten Armee war und daß er einst stellvertretender Chefredakteur des Blattes gewesen war, hat zweifellos zum Erscheinen dieses Artikels beigetragen.

  wikipedia  Lew_Emmanuilowitsch_Rasgon  1908-1999

 

Der Mord an Kirow

Der Fall Sergei Mironowitsch Kirow ist vermutlich der interessanteste in einer Zeit voller rätselhafter Ereignisse. Schon bevor die ersten Schauprozesse inszeniert wurden, war anscheinend der Verdacht weit verbreitet, daß Stalin die Ermordung eines seiner treuesten Statthalter selbst geplant haben könnte. Vielleicht war Kirow für Stalins Geschmack zu populär. Jedenfalls aber bot seine Ermordung eine einmalige Gelegenheit, eine große Säuberung zu veranstalten, die zu einem Massaker an der ganzen alten Parteiführung und an vielen anderen Menschen ausartete.

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Wenn dieser angeblich von trotzkistischen Terroristen und anderen Feinden der sowjetischen Gesellschaft begangene Mord an einem der wichtigsten Parteiführer nicht gewesen wäre, dann hätte die Partei und die Öffentlichkeit sich kaum davon überzeugen lassen, daß angesichts überall lauernder Feinde, die jeden Moment und gegen jedes Ziel zuschlagen könnten, Maßnahmen von außer­ordentlicher Härte notwendig seien.

In seiner Geheimrede im Februar 1956 erklärte Chruschtschow, daß »an den Umständen von Kirows Ermordung bis heute vieles geheimnisvoll und unerklärlich ist und sie einer äußerst sorgfältigen Untersuchung bedürfen«. Fünf Jahre später, auf dem 22. Parteikongreß, nahm er wieder auf dieses Problem Bezug:

Es müssen noch große Anstrengungen gemacht werden, um herauszufinden, wer wirklich für seinen Tod verantwortlich ist. Je intensiver wir uns mit den Materialien über Kirows Tod auseinandersetzen, um so mehr Fragen drängen sich auf... Zur Zeit findet eine sorgfältige Untersuchung über die Umstände dieses komplizierten Falles statt.

Was ist aus dieser Untersuchung geworden? Drei Jahrzehnte lang herrschte absolutes Schweigen. Auf einer Round-table-Konferenz im Jahr 1988 verkündete ein an der Akademie der Wissenschaften angestellter Historiker, daß »sich mehr als eine Kommission mit dieser finsteren Affäre befaßt hat«. Die von den Kommissionen untersuchten Materialien und ihre Berichte wurden jedoch nie veröffentlicht.18)

Anatoli Rybakow veröffentlichte 1987 seinen berühmten Schlüsselroman Die Kinder des Arbat, in dem der Verdacht suggeriert wird, daß Stalin an der Vorbereitung des Mordes beteiligt gewesen sei. Der Autor lieferte allerdings keine Beweise und ging nicht ins Detail; aber es gehört ja auch nicht zu den Aufgaben des Verfassers eines Romans, gegen Stalin Anklage zu erheben.

Natürlich versuchte Wolkogonow, Stalins sowjetischer Biograph, soviel wie möglich über dieses Ereignis herauszufinden. Er hatte jedoch keinen Erfolg. Das relevante Quellenmaterial existierte anscheinend nicht mehr, oder es enthielt keine triftigen Beweise: In den Archiven, zu denen ich Zutritt hatte, existieren keine Materialien, die den »Fall Kirow« klären könnten. Klar ist auf jeden Fall, daß Trotzki, Sinowjew und Kamenew nichts damit zu tun hatten ... 

Wolkogonow lehnte zwar die im Ausland publizierten Versionen der Geschichte als »tendenziös« ab, räumte jedoch ein: »Wir kennen Stalins Härte, seine Hinterhältigkeit, seine Treulosigkeit und können deshalb durchaus annehmen, daß dies ein Werk seiner Hände war.«19)

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Bis heute sind allerdings keine stichhaltigen Beweise oder Dokumente ans Licht gekommen. Die sowjetischen Sicherheits­behörden waren gelinde gesagt abgeneigt, selbst ihren vertrauenswürdigsten Bürgern Zugang zu den Dokumenten zu gewähren. Es ist auch gut möglich, daß die schriftlichen Beweise zum Teil vernichtet wurden — oder daß es solche Beweise gar nie gab. Wenn letzteres der Fall wäre, ist es allerdings verwunderlich, daß sich die Arbeit der verschiedenen sowjetischen Untersuchungs­ausschüsse als so langwierig und kompliziert erwiesen hat. Sie hätten dann zu dem Schluß kommen können, daß es unmöglich sei, den Fall weiter zu untersuchen, weil alle wichtigen Zeugen verschwunden wären und auch das relevante dokumentarische Material fehlte.

Unter diesen Umständen, so hätte ihr Urteil lauten können, müsse für Stalin der Grundsatz »Im Zweifel für den Angeklagten« gelten. Das gesamte verfügbare Beweismaterial spreche nur für einen Einzeltäter (Nikolajew), genau wie der Reichstagsbrand, allem Anschein zum Trotz, tatsächlich von einem Täter, dem Holländer Marinus van der Lubbe, gelegt worden sei, ohne daß ihm dabei jemand geholfen habe.20) Der Fall wurde jedoch ohne Ergebnis in der Schwebe gelassen; deshalb besteht weiterhin die Möglichkeit, daß über den Hintergrund des Mordes eines Tages doch noch mehr ans Licht kommt.

Es gibt noch eine weitere Version, nach der eine halb-analphabetische Frau namens Maria Wolkowa, die für den Leningrader NKWD arbeitete, eine zentrale Rolle in der Affäre gespielt haben soll. Sie behauptete, es habe ein großes konterrevolutionäres Komplott mit dem Decknamen »grüne Lampe« gegeben. An die 700 Personen seien daran beteiligt gewesen. Sie hätten hinter dem Mord an Kirow gesteckt. Stalin wurde von dieser Informantin berichtet, und er verlangte, sie bei einem Aufenthalt in Leningrad zu sehen.

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Er merkte jedoch schnell, daß ihre Geschichte voll und ganz dem Reich der Fantasie entstammte. Wolkowa starb 1960 in einer Anstalt für Geisteskranke, aber als der Fall in der Glasnost-Zeit neu untersucht wurde, lebten noch einige Leute, die sie gekannt hatten. Es gibt jedoch keinen Grund zu der Annahme, daß Stalin der Aussage der Wolkowa irgendwelchen Glauben schenkte, und deshalb ist diese seltsame Geschichte sowohl für die Erklärung der Umstände des Kirow-Mordes als auch der darauf folgenden Terrorkampagne völlig irrelevant.21)

 

Der erste Schauprozeß 

Der Mord an Kirow führte im August 1936 zum Prozeß gegen das »trotzkistisch-sinowjewistische Zentrum«. Die Vorbereitungen hatten schon ein Jahr zuvor begonnen: Kamenew und Sinowjew, die beiden Hauptangeklagten, wurden schon bald nach dem Mord in Leningrad verhaftet. Sie waren im ersten Prozeß zu langen Gefängnisstrafen verurteilt worden. Als sie das zweite Mal verhört wurden, zwang man sie zu dem Geständnis, daß sie das volle Ausmaß ihrer Schuld vor dem Gericht verborgen hätten. Neutralen Beobachtern erschien dies absolut unglaubwürdig, aber es sollten noch viel unwahrscheinlichere Anschuldigungen folgen.

Iwan Smirnow, ein weiterer Hauptangeklagter in dem Prozeß, war schon seit 1932 inhaftiert gewesen. Es war für den unbelehrbaren alten Oppositionellen, der nicht widerrufen hatte, ganz offensichtlich unmöglich gewesen, den Mord an Kirow von seiner weit außerhalb Moskaus liegenden Gefängniszelle aus zu planen und auszuführen. Solche Widersprüche konnten die mit der Vorbereitung der Prozesse betrauten Ermittler jedoch nicht erschüttern.22) Wer immer es vielleicht gewagt hätte, die Anklagen in Frage zu stellen, erkrankte oder starb in jener Zeit — u.a. Maxim Gorki, Lenins Witwe Krupskaja, Ordschonikidse, Kuibyschew, andere Politbüromitglieder und verschiedene andere Personen. 

Am 15. August 1936 wurde in der sowjetischen Presse verkündet, Sinowjew und Kamenew seien dem Gericht übergeben worden. Sofort kam es zu einem wütenden Sturm der Entrüstung. Von Minsk und Brest Litowsk bis in den Fernen Osten wurde überall die Todesstrafe für die abscheulichen Verräter gefordert.

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Der Prozeß hatte noch nicht begonnen, und die Angeklagten waren noch nicht schuldig gesprochen. Dennoch schien der öffentliche Aufschrei nicht deplaziert, denn das Urteil stand schon fest, noch bevor der Prozeß überhaupt begonnen hatte. Er war eine bloße Formalität, denn verschiedene bürokratische Regelungen, die dem NKWD (der früheren GPU) bisher die Hände gebunden hatten, waren noch am Tag der Ermordung Kirows durch einen Sondererlaß aufgehoben worden. Von da an hatten die Organe der Staatssicherheit freie Hand, wenn sie »Terroristen« verhörten oder ihnen den Prozeß machten. Gnadengesuche waren verboten und die Exekution hatte unmittelbar auf das Urteil zu erfolgen.

Im Ausland schlug der erste Schauprozeß ein wie eine Bombe, und die fantastischen Geständnisse der Angeklagten wirkten sogar noch stärker. Wie sollte man erklären, daß alte Leninisten derart heimtückische Verbrechen begangen hatten? Und noch mysteriöser: Wie sollte man erklären, daß sie all diese Verbrechen auch noch gestanden?

Nicht wenige ausländische Beobachter, darunter auch einige Rußlandexperten, kamen zu dem Schluß, daß es für die Geständnisse nur eine logische Erklärung gebe: Die Angeklagten waren tatsächlich schuldig im Sinne der Anklage und hatten angesichts der erdrückenden Beweislast keine andere Möglichkeit gehabt, als zu gestehen. So schrieb etwa Bernard Pares, der führende britische Experte, der die Ereignisse in Rußland seit der Jahrhundertwende genau verfolgt hatte:

Fast alle gaben es zu [gegen Stalin konspiriert zu haben], und wir brauchen in diesem Punkt keine Zweifel an ihren Aussagen zu hegen, wie auch immer sie ursprünglich zustandegekommen sind. Die umfangreichen Protokolle der Aussagen waren auf jeden Fall eindrucksvoll... Einige dieser Männer ... waren, als sie bei dem Prozeß ihr Schlußwort sprachen, auf dem Höhepunkt ihrer geistigen Leistungsfähigkeit. Sinowjew war seinem Schicksal in den früheren Prozessen noch um Haaresbreite entronnen, aber jetzt wurde er hieb- und stichfest überführt, und er starb, kriecherisch bis zuletzt, der Feigling, der er immer gewesen war (24. August 1936).23

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Ein Buch, das solche Perlen der Weisheit enthielt, erlebte im Laufe von 17 Jahren vierzehn Neuauflagen. Wem es schwerfällt, zu verstehen, wie in der Sowjetunion die Prozesse der Stalinzeit kommentiert wurden, der sollte solche westlichen Kommentatoren wie Bernard Pares nicht vergessen.

 en.wikipedia  Bernard_Pares  1867-1949

Viele Jahre später schrieb ein sowjetischer Kommentator: Arme irregeleitete Westler, »sie konnten einfach nicht verstehen, was da vorging«.24) Für Pares war es ein leichtes, so verachtungsvoll über Sinowjew zu schreiben, einen kranken Mann, der selbst in seinen besten Zeiten nicht viel physischen Mut gezeigt hatte. Aber selbst harte Revolutionäre, die viele Jahre in zaristischen Gefängnissen zugebracht und am Bürgerkrieg teilgenommen hatten, oder Berufssoldaten, die wohl kaum feige waren, verhielten sich wie Sinowjew. Es gibt allen Grund zu der Annahme, daß Experten wie Pares, wenn sie eine oder zwei Wochen in den Kellern der Ljubljanka hätten verbringen müssen, mindestens gestanden hätten, die königliche Familie im Buckingham Palace vergiftet zu haben.

Tatsächlich haben die Angeklagten, wie später ans Licht kam, dem Druck beträchtlichen Widerstand geleistet. Das gilt auch für Angeklagte wie Kamenew und Radek, die im zweiten Schauprozeß verurteilt wurden. Kamenews Widerstand war erst nach einem Treffen mit Stalin und anderen Politbüromitgliedern zusammengebrochen. Bei diesem Treffen wurde den Angeklagten entweder versprochen, daß ihr Leben geschont würde, oder zumindest, daß ihre nächsten Angehörigen nicht getötet werden würden.

Etwa um dieselbe Zeit gab Stalin freie Hand für die Anwendung physischer und geistiger Foltermethoden: Als auch dies nicht sofort Resultate brachte, drohte er dem NKWD wegen dessen Ineffektivität. Am 29. Juli 1936 gab Stalin einen weiteren Befehl, alle Mittel anzuwenden, um die der Spionage, des Trotzkismus und anderer Dinge Beschuldigten zu Geständnissen zu bringen.

Die schamlose Heuchelei des ersten und der folgenden Moskauer Prozesse war von Anfang an leicht zu durchschauen. Trotzdem brauchten die sowjetischen Behörden 50 Jahre lang, bis sie wenigstens diese Tatsache eingestanden.

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Zwar wurden zwischen 1960 und 1961 unter Chruschtschow die Anklagen wegen Hochverrats und der Ermordung Kirows zurückgezogen. Aber dies wurde nicht öffentlich bekanntgegeben, und die Angeklagten der Jahre 1936 bis 1938 wurden nicht posthum wieder in die Partei aufgenommen. In den Geschichts­büchern galten sie noch immer als »Feinde der Partei«, die der Sache des Kommunismus 1917 und danach beträchtlichen Schaden zugefügt hatten. Erst im Februar 1988 faßte das Präsidium des Obersten Sowjets endlich den Beschluß, daß gegen sämtliche Angeklagte im ersten Moskauer Prozeß »unzulässige Methoden« angewandt worden seien. Ihre volle Rehabilitierung kam dann im Juli 1988.

Auch diese war allerdings nach dem Urteil von Rechtsexperten noch immer nicht ganz vollständig und bedingungslos. Denn die dabei verwendete Formel »implizierte, daß es tatsächlich ein Verbrechen (Hochverrat, Terrorismus etc.) gegeben hätte und die Angeklagten lediglich nicht daran teilgenommen hatten. In Wirklichkeit gab es die Verbrechen jedoch gar nicht.« Die verwendete Formel bedeutete zwar eine gesetzliche Rehabilitierung, schloß jedoch eine zivile administrative (oder politische) Verantwortung der Angeklagten nicht notwendigerweise aus. Sie unterstellte, »daß es tatsächlich eine Tat gegeben hatte, die zwar nicht kriminell gewesen sei, aber doch noch analysiert werden müsse, um ihren eigentlichen Charakter zu definieren«.25

Solche Eingeständnisse fielen den sowjetischen Behörden nicht leicht. Zu lange waren die Opfer ganz oben auf der Liste der Feinde gestanden. Generationen von Sowjetbürgern war beigebracht worden, Sinowjew, Kamenew und Bucharin für mindestens ebenso schlimm zu halten wie Hitler. Jetzt mußte ihnen plötzlich erklärt werden, daß Sinowjew im Exil Lenin am nächsten gestanden und Kamenew nach der Revolution in verschiedenen Schlüsselpositionen gedient hatte.

Es ist schon richtig, daß Sinowjew trotz all seiner unbestrittenen Begabungen, vor allem seiner rhetorischen, immer einen hysterischen Zug an sich hatte und zu Übertreibungen neigte. Es ist deshalb nicht verwunderlich, daß einige sowjetische Historiker auch nach seiner vollen Rehabilitierung noch Aufsätze veröffentlichten, die großes Gewicht auf seine politischen Irrtümer legten. Sie gaben zu, daß Sinowjew Lenin viele Jahre lang treu gedient hatte. Aber sein Schwanken in der Zeit unmittelbar vor dem bewaffneten Aufstand im November 1917, seine übertrieben blutrünstigen Reden, sein Arbeitsstil als Leningrader Parteichef, und daß er Lenins Testament nicht hatte publizieren wollen, schlugen negativ zu Buche.26

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Ihre Haltung zu Kamenew war geringfügig positiver. Er hatte weniger Feinde gehabt als Sinowjew und sich, nachdem er als Politiker ausgeschaltet worden war, vor allem seinen kulturellen Interessen gewidmet; so hatte er Herzen herausgegeben und eine Biographie über Nikolai Tschernischewski geschrieben, einen radikalen russischen Schriftsteller aus dem 19. Jahrhundert. Sein tragisches Schicksal wurde allgemein bedauert, aber anders als bei Bucharin wurden seine Schriften nicht wieder publiziert. Kurz gesagt, seiner Person wurde nur noch historisches Interesse entgegengebracht.

 

Hier soll nicht unerwähnt bleiben, daß Stalin bei Kamenew und anderen nicht nur den Befehl gab, die »Volksfeinde« zu liquidieren, sondern auch all ihre nahen und fernen Verwandten auszurotten. (In Leningrad waren nach dem Mord an Kirow alle Personen namens Nikolajew — der Name des Täters — aus der Stadt verbannt worden. Der Name ist in Rußland ziemlich häufig.)

Im Fall Kamenew wurde seine ganze Familie — Brüder, Kinder, Schwägerin und Enkel — verhaftet; einige wurden sofort erschossen, andere starben in der Verbannung. Das letzte Opfer dieser Maßnahmen war Witali, Kamenews Enkel. Er wurde 1951, kurz nach seinem 19. Geburtstag, verhaftet.

Die einzigen Überlebenden waren Kamenews Schwiegertochter, der Schauspieler und Filmstar G.S. Krawtschenko und sein jüngster Sohn Witali. Dieser war bei der Verhaftung seines Vaters sechs Jahre alt gewesen. Er wurde zum ersten Mal eingesperrt, als er zehn war, verbrachte seine Kindheit und Jugend in verschiedenen Lagern, kam nach dem 20. Parteikongreß frei und wurde Dozent für Philosophie an der Technischen Hochschule von Nowosibirsk.27

Die Rehabilitierung der Angeklagten des zweiten Moskauer Prozesses fand genau zur gleichen Zeit statt. Nur wenige Monate bevor sie selbst verhaftet wurden, stimmten Pjatakow und Radek in den Chor mit ein, der die Exekution Sinowjews, Kamenews und der anderen Angeklagten des ersten Prozesses verlangte — ein Muster, das sich von da ab wiederholen sollte.

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Karl Radek wurde 1885 in Lemberg geboren und hatte zur alten Garde der Bolschewiki gehört. Er war vielleicht der begabteste Journalist seiner Generation. Im Alter von 14 Jahren hatte er sich der revolutionären Bewegung angeschlossen, war seitdem immer ein treuer Leninist geblieben und hatte der Partei in Rußland und im Ausland gedient. Seine Tochter Sonja Radek wurde mit 18 verhaftet und mußte den Großteil ihres Lebens im Lager verbringen, hatte jedoch wunderbarerweise überlebt. Als sie 1988 über die Haltung ihres Vaters zu Stalin interviewt wurde, antwortete sie: »Was für eine Frage, er haßte und verachtete ihn ...«28)

Wenn ja, wie verhält es sich dann mit dem Buch ihres Vaters <Portraits und Pamphlete>, das in Zehntausenden von Exemplaren in der Sowjetunion zirkulierte, und in dem er Stalin als den größten, weisesten und gütigsten aller Herrscher bezeichnet hatte und die Sowjetunion als eine Fabrik zur Massenproduktion von Helden? Sonja Radek sagte, es sei bitter und schmerzhaft, diese Seiten heute zu lesen und zu sehen, wie ein hochbegabter und hochintelligenter Publizist sein Talent eingesetzt habe, um Stalins Lob zu singen.

 

Radeks prostalinistische Essays sind in jüngerer Zeit von den Historikern besonders aufs Korn genommen worden,29) zu Unrecht, wie ich glaube, denn von Bucharin bis Pjatakow haben sich praktisch alle alten Bolschewiki gleich verhalten und die Todesstrafe für Sinowjew und Kamenew gefordert. In der Prawda vom 1. Januar 1934 hatte Radek einen Artikel über Stalin geschrieben, in dem er ihn als den besten Schüler Lenins, als das Vorbild der leninistischen Partei und als die Personifikation der gesamten historischen Erfahrung der Partei bezeichnete, und ihm denselben Weitblick wie Lenin zuschrieb. Dieser Artikel hatte damals eine neue Ära der Schmeicheleien eingeleitet, mit denen Stalin nun von früheren Oppositionellen überhäuft wurde.

Der zweite Moskauer Prozeß war in mancher Beziehung besser vorbereitet als der erste. Die Ermittler und die Richter hatten aus der Erfahrung gelernt. Es gab immer noch einige Mißgeschicke: Das Treffen zwischen den Angeklagten und Trotzkis Sohn in einem Kopenhagener Hotel, obwohl das Hotel schon Jahre zuvor abgerissen worden war, oder Pjatakows Flug nach Oslo, um Trotzki zu treffen. Er konnte nämlich gar nicht stattgefunden haben, weil es, wie die norwegische Regierung erklärte, damals in Norwegen keine Landeerlaubnis für sowjetische Maschinen gab. Solche kleinen Ungereimtheiten können jedoch in einem totalitären Regime leicht vertuscht werden.

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Die Angeklagten von 1937 (des »parallelen trotzkistischen, antisowjetischen Zentrums«) wurden 51 Jahre nach ihrem Prozeß und ihrer Exekution rehabilitiert. Zwei, Radek und Sokolnikow, waren zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt worden, wurden jedoch 1939 im Lager getötet.30) Im Jahr 1988 wurde zugegeben, daß sich alle Angeklagten gewisse Verdienste um die Revolution und den sozialistischen Wiederaufbau erworben hatten. Schließlich war Pjatakow in Lenins Testament erwähnt worden. Zum Zeitpunkt seiner Verhaftung war er stellvertretender Minister für Schwerindustrie, und er wäre Minister geblieben, wenn er nicht in den zwanziger Jahren eine unabhängige Linie verfolgt hätte.

Sokolnikow war der erste Volkskommissar für Finanzen, der Architekt der Währungsreform von 1922-1924, und wurde später stellvertretender Außenminister. Muralow war ein Generalinspekteur der Roten Armee gewesen. Dieser Riese von einem Mann war der einzige aus der Gruppe von Angeklagten, der schon unter Chruschtschow rehabilitiert wurde,31) wahrscheinlich wegen seiner militärischen Vergangenheit: Es war einfach unsinnig, wenn er weiterhin eine Unperson blieb, nachdem alle anderen hohen Militärs rehabilitiert worden waren.

Nach den Rehabilitierungen von 1988 herrschte unter den Parteihistorikern Ratlosigkeit darüber, wie sie die Menschen behandeln sollten, die »unserer Geschichte wiedergegeben worden sind«.32) Anders als Bucharin und die anderen Angeklagten im Moskauer Schauprozeß von 1938 wurden sie keine Kultfiguren, und von einigen Ausnahmen abgesehen wurden ihre Schriften nicht wieder aufgelegt. Es gab gelegentliche Hinweise auf ihre Verdienste und Leistungen, insgesamt hatte man jedoch den Eindruck, daß dies eher aus Pflichtgefühl als aus echter Begeisterung geschah.33) Die meisten engen Verwandten der Angeklagten waren verhaftet worden, aber von den Nachkommen der im zweiten und dritten Prozeß Verurteilten überlebten mehr als ursprünglich angenommen.

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Die berühmteste Überlebende war Galina Serebrjakowa, eine bekannte Kinderbuchautorin, die zuerst mit Serebrjakow und dann mit Sokolnikow verheiratet gewesen und unter Chruschtschow nach Moskau zurückgekehrt war. Sie gehörte zu einer Reihe prominenter Persönlichkeiten, die, wie etwa auch Molotows Ehefrau, ungebrochenes Vertrauen in die Partei bewahrten. Sie blieb konservativ und stand dem antistalinistischen Tauwetter ablehnend gegenüber.

Den Angeklagten im dritten Moskauer Prozeß von 1938 gegen den »rechten Flügel der Trotzkisten« erging es 1988 am besten, was natürlich auf die spezifische politische Situation dieses Jahres zurückzuführen ist. Einige weniger wichtige Personen, wie etwa die Zentralasiaten Ikramow und Chodsaew Person (Krestinski), waren bereits in der ersten Tauwetterperiode entlastet worden, die anderen wurden unter Gorbatschow wieder in die Partei aufgenommen.

Die Zusammensetzung der Angeklagten im Prozeß von 1938 war seltsam: Unter den Angeklagten waren Mitglieder der rechten Opposition der späten zwanziger Jahre, die schon lange widerrufen hatten und wieder in die Partei aufgenommen worden waren. Aber es waren auch Diplomaten angeklagt, die mit Bucharin und Rykow nichts zu tun gehabt hatten, Parteiführer aus der Peripherie, Ärzte, denen vorgeworfen wurde, sie hätten einige führende Persönlichkeiten des sowjetischen Staates und der Gesellschaft getötet und andere zu vergiften versucht.

Bucharins politische Vorstellungen sind bereits gebührend diskutiert worden. Chruschtschow hatte versucht, ihn schon 1956 zu rehabilitieren, war jedoch im Parteipräsidium auf entschlossenen Widerstand gestoßen. Bestimmte Anschuldigungen wie Hochverrat und Terrorismus wurden stillschweigend fallengelassen, aber in den Lehrbüchern wurde Bucharin nach wie vor negativ dargestellt. Neue Anstrengungen seiner Witwe und seines Sohnes, in den siebziger Jahren seine Wiederaufnahme in die Partei zu erwirken, hatten ebenfalls keinen Erfolg. Als dann schließlich doch die Rehabilitierung beschlossen wurde, herrschte keine Einmütigkeit. Die Neostalinisten behaupteten, Bucharin habe Lenin nie nahegestanden und er habe viele politische Fehler begangen. Die extreme Rechte griff ihn auch weiterhin an, weil er die russische patriotische Tradition der Zeit vor 1917 verachtet habe.34) Er hatte diese Haltung mit Lenin gemeinsam, aber Lenin durfte nicht angegriffen werden. Bucharin mußte wie Trotzki und die anderen alten Bolschewiki als Sündenbock herhalten.

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Trotz dieser Widerstände entwickelte sich jedoch ein wahrer Bucharin-Kult. Seine Schriften wurden wieder veröffentlicht, und es erschien die ausführliche Biographie eines amerikanischen Gelehrten.35) Es entstanden »Bucharin-Klubs«, und es wurden Konferenzen veranstaltet, um ihn anläßlich seines 100. Geburtstags zu ehren. Hervorragend aufgenommen wurden auch die Memoiren von Bucharins Witwe Anna Larina.36) Außerdem gab es noch viele andere Berichte über ihn, und es wurde häufig auf ihn Bezug genommen. »Der Liebling der Partei« (wie ihn einst Lenin genannt hatte) war wieder zum Liebling geworden.

Allerdings warfen nicht alle Enthüllungen ein günstiges Licht auf, ihn. Wolkogonow veröffentlichte einen Brief, den Bucharin kurz vor seiner Verhaftung an Woroschilow geschickt hatte. Er war in einem kriecherischen Ton geschrieben. Bucharin rechtfertigte die Tötung der »Hunde«, bat jedoch um Gerechtigkeit für sich selbst. Der Autor dieses Briefes war durch die Angriffe gegen seine Person halb verrückt vor Angst, und Menschenkenntnis war ohnehin nicht seine Stärke. Wie hätte ihm sonst entgehen können, mit welchen moralischen Krüppeln sich Stalin umgeben hatte? Woroschilow schickte den Brief zurück und verlangte, künftig nicht mehr durch derart lästige Gesuche behelligt zu werden.37)

Als Bucharin vor dem Zentralkomitee erschienen war, hatte er sich alles andere als würdig verhalten. Er hätte eigentlich wissen müssen, daß er verloren war; Selbstachtung und eine nüchterne Analyse seiner Lage hätten ihn dazu veranlassen sollen, sich mutiger zu verhalten und mit fliegenden Fahnen unterzugehen. Wenn er damals wirklich darum besorgt war, welches Ansehen er bei künftigen kommunistischen Generationen genießen würde — und der letzte Brief, den er seiner Frau diktierte, erweckt diesen Eindruck —, dann hätte er als Ankläger auftreten sollen und nicht als bemitleidenswerter Angeklagter.

Trotzki war bei weitem kein so liebenswürdiger Mensch wie Bucharin, aber es ist unwahrscheinlich, daß er auf so kriecherische Weise kapituliert hätte. Es wurde bereits erwähnt, daß die Begeisterung für die Angeklagten im dritten Moskauer Prozeß in der Glasnost-Ära viel größer war als für die der ersten beiden Prozesse. Auch der Hauptgrund für diese Tatsache wurde genannt: Ihre Ideen hatten viel stärker mit der Parteilinie der späten achtziger Jahre übereingestimmt.(38)

Über die Rehabilitierung der Opfer des Großen Terrors herrschte jedoch keineswegs Einigkeit. Selbst auf dem Höhepunkt der Glasnost-Ära wurde noch von Neo-Stalinisten eine Kampagne gestartet, die beweisen sollte, daß die Opposition »parasitär« gewesen sei und die ganze Zeit versucht habe, die Linie der Partei zu sabotieren.

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