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6. Der mündige Mensch

 Oskar Lafontaine 1988

Wir vereinigen in uns die Sorge um unser Haus und zugleich um unsere Stadt, und der verschiedenen Tätigkeiten zugewandt, ist doch auch in staatlichen Dingen keiner ohne Urteil. Denn einzig bei uns heißt einer, der daran gar keinen Teil nimmt, nicht ein stiller Bürger, sondern ein schlechter, und nur wir entscheiden in den Staatsgeschäften selbst oder denken sie doch richtig durch. Denn wir sehen nicht im Wort eine Gefahr fürs Tun, wohl aber darin, sich nicht durchs Reden zuerst zu belehren, ehe man zur nötigen Tat schreitet.  (-Thukydides-)

 

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Die europäische Aufklärung ist an den Frauen vorbeigegangen. Der rationale Mensch, den sie meinte, war der Mann. Schuld daran aber sind nicht die Prinzipien der Aufklärung selber — schuld daran sind die Vorurteile der Gesellschaft, die stark genug waren, zu verhindern, daß die Prinzipien der Aufklärung für alle Menschen galten. Sie nur auf den Mann anzuwenden, war Verrat an diesen Prinzipien. 

Mithin kommt es heute nicht so sehr darauf an, den Wert der aufklärerischen Prinzipien anzuzweifeln, als vielmehr darauf, sie endlich zu verwirklichen, sie endlich auf alle Menschen anzuwenden, gleichermaßen auf die Frauen wie auf die Männer. Die menschliche Zukunft wird nur dann eine freie sein, wenn wir sie in allen Bereichen rational und vernünftig, das heißt »aufgeklärt« gestalten.

Nicht nur in der Frauenbewegung, auch in der Ökologiebewegung — selbst in der sozialistischen — ist die Aufklärung in Verruf gekommen. Und nicht nur die Vertreter des neokonservativen Liberalismus verkünden lauthals das Ende des sozialdemokratischen Jahrhunderts, auch sozialistische Theoretiker sprechen von einer Krise des »aufgeklärten« linken Fortschrittsmodells. Doch sprechen sie nicht von einer Endkrise, sondern von einer heilsamen Anpassungskrise, aus der eine nach wie vor unentbehrliche Linke gestärkt und runderneuert hervorgehen soll.

Einer der unkonventionellsten, provokativsten und anregendsten dieser Theoretiker ist der Österreicher Günter Nenning. Er stellt fest, daß sich Sozial­demokratie und Kapitalismus in einem »welthistorischen Gelegenheits­verhältnis wechselseitiger Unentbehrlichkeit« befanden. Der Kapitalismus brauchte die Sozialdemokratie als ausgleichende Ordnungsmacht. Hätte es die Sozialdemokratie nicht gegeben, der Kapitalismus hätte sie erfinden müssen. Genauso aber brauchte die Sozialdemokratie den Kapitalismus als Existenzgrundlage, denn hätte es den Kapitalismus nicht gegeben, die Lohn- und Gehaltsabhängigen hätten auch der sozialdemokratischen Interessenvertretung nicht bedurft.  [Nenning auf detopia]

Doch mit der dritten industriellen Revolution, so Günter Nenning, sei diese wechselseitige Unentbehrlich­keit in Frage gestellt worden. Jetzt, da nur noch wenig Wachstumsüberschüsse zu verteilen sind, frage sich der Kapitalismus: »Wenn ich die Fabriken und Büros menschenleerer machen kann — wozu brauche ich die Sozialdemokratie als Ordnungsmacht in der Arbeitswelt? ... In der neuen Phase des kapitalistischen Industriestaates wird die Sozialdemokratie als bisher unentbehrliche Ordnungsmacht ersetzt durch den Computer als die billigere Ordnungsmacht. Werden die Arbeiter und Angestellten wegrationalisiert, wird auch die Sozialdemokratie wegrationalisiert. Das ist der historische Grund für die Existenzkrise der Sozial­demokratie.«

 

   Natur als Gegenstand der Politik  

Der technische Fortschritt, dem die Sozialdemokratie bisher als fanfarenblasender Herold voranlief, droht sie einzuholen und zu überrollen. Mit dem Wandel der Produktionstechniken ändern sich die Lebens­verhältnisse, auch die soziokulturellen und politischen Einstellungen der Menschen. Die Sozialdemokratie würde in der Tat entbehrlich werden, wenn sie sich jetzt damit abfände, dem technologischen Fortschritt fluchend und nörgelnd hinterherzuhinken. Vielmehr muß sie sich an seiner Spitze behaupten, um die Richtung angeben zu können.

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Günter Nenning sieht in der »Existenzkrise« der Sozialdemokratie eine historische Chance für einen neuen Sozialismus, der für ihn allerdings »nicht bürgerlich-revolutionärprogressiv-aufklärerisch« sein soll, »sondern konservativ-religiös-antikapitalistisch. Er ist ein Kampf um den Wiederanschluß des Menschen an die Natur, auf deutsch: an die Schöpfung«. Nennings »neuer Sozialismus« macht die Natur zum Gegenstand der Politik. Dagegen ist nichts einzuwenden, denn »Natur ist eine gesellschaftliche Kategorie« — so bestätigt es auch Georg Lukäcs in »Geschichte und Klassenbewußtsein«: »Was auf einer bestimmten Stufe der gesellschaftlichen Entwicklung als Natur gilt, wie die Beziehungen dieser Natur zum Menschen beschaffen sind und in welcher Form seine Auseinandersetzung mit ihr stattfindet, also was die Natur der Form und dem Inhalt, dem Umfang und der Gegenständlichkeit nach zu bedenken hat, ist stets gesellschaftlich bedingt.«

Es spricht auch nichts dagegen, den neuen Ökosozialismus als religiös zu bezeichnen, wenn man — wie Nenning — »religio« als Bindung übersetzt: Gesucht wird eine neue Bindung des Menschen an die Natur. Klaus Meier-Abich ist ebenfalls der Ansicht, daß wir nur durch eine neue Naturfrömmigkeit Frieden mit der Natur schließen können. Ist dieser »neue Sozialismus« — wie Nenning meint — aber wirklich in dem Sinn antikapitalistisch, daß er mit dem Kapitalismus nicht mehr in einem Verhältnis der wechselseitigen Unentbehrlichkeit steht? Einmal abgesehen davon, daß auch die »alte« Sozialdemokratie niemals nur eine Interessenvertretung gewesen ist, scheint Nenning auch zu verkennen, daß der Kapitalismus nicht überdauern kann, wenn er sich weiter durch eine exzessive Vergeudung der Ressourcen und unkontrollierte Zerstörung der Umwelt seiner natürlichen Grundlagen beraubt. Gäbe es die Ökologiebewegung nicht, der Kapitalismus müßte sie erfinden!

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Auch die Träger des »neuen« Sozialismus stünden also zum Kapitalismus in einem Verhältnis wechsel­seitiger Unentbehrlichkeit. Denn gäbe es die Produktionsweise nicht, die den Menschen dem natürlichen Gegenstand seiner Arbeit entfremdet, müßten wir eine neue Bindung des Menschen an die Natur gar nicht erst suchen. Warum also sollte der »neue Sozialismus« weniger »bürgerlich« als der alte sein? Und warum vor allem sollte er weniger »progressiv-aufklärerisch« sein? Günter Nenning versteht die Ökologie-Bewegung als »neue Romantik«, als eine Art »Kampf für die Wiedergewinnung der Schönheit«.

Angesichts jener häßlichen Künstlichkeit der von Menschen gestalteten Umwelt wird das Bedürfnis nach natürlicher Schönheit verständlich. Asphalt und Beton haben die gewachsenen Strukturen der Städte zerstört, einfallslose Wohnsilos und Einfamilienhaus-Siedlungen haben die Landschaft zerfressen. In der Hektik der Expansion ist die Ästhetik zu kurz gekommen. Dahin ist die Zeit, in der Häuser und Straßen der Landschaft angepaßt wurden, in der sich die Ortschaften mit ihrer Umgebung zu einem harmonischen Landschaftsbild zusammenfügten. Kunst ist zum Beiwerk zurückgestuft worden, zum Schnörkel, mit dem man die öffentliche Häßlichkeit hie und da verziert. Der bildende Künstler gestaltet die Städte nicht mehr, er wirkt nur noch am Rande mit. Nichts also gegen die Wiedergewinnung der Schönheit durch die gefühlsbetonte Hinwendung zur Natur.

 

   Rückbesinnung auf die Werte der Aufklärung  

Aber muß sie sich, verbunden wohl mit der Absage an den aufklärerischen Rationalismus, unbedingt als »neue Romantik« geben? Wie leicht kann dieser Begriff mißverstanden werden. Wie schnell können die Flucht in die Ästhetik und der Rückzug auf die Innerlichkeit das politische Handeln und den Einsatz für eine Veränderung des öffentlichen Bewußtseins ersetzen. Diese postmoderne Haltung ist derzeit in Mode.

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Ihr gegenüber ist der Vergleich mit der historischen Romantik, die sich einst theoretisch und politisch gegen die Aufklärung formierte, gar nicht so verkehrt. Ökologisches Denken aber kann sich darauf nicht einlassen, es wäre ein theoretischer Rückfall hinter die Aufklärung, ein Rückfall hinter die Moderne.

Mit jener »Antiquiertheit des Menschen«, die Günther Anders meint, hätte ein solcher Rückfall nichts zu tun. Im Gegenteil. Für Günther Anders ist das »aufgeklärte« Menschenbild, an dem er selber festhält, ja nur deshalb antiquiert, weil die moderne Gesellschaft die Werte der Aufklärung verraten hat. Den Menschen als antiquiert zu bezeichnen kommt mithin der Aufforderung gleich, sich auf die Werte der Aufklärung zurückzubesinnen, um die Moderne aus ihren geistigen Ursprüngen erneuern zu können. In diesem Sinn muß sich ein »neuer Sozialismus« genauso progressiv-aufklärerisch geben wie der »alte«, oder es ist kein Sozialismus mehr.

Jedem Fortschritt wohnt untrennbar ein Moment des Bewahrens inne: Der jeweilige Fortschrittsgewinn, sofern es ein Gewinn an Menschlichkeit ist, muß festgehalten werden. So gesehen hat Günter Nenning recht, wenn er sagt, daß der »neue Sozialismus« auch konservativ sein muß, daß er auch bewahren muß. Denn wir können nicht mehr übersehen, daß es zum Wesen der modernen Gesellschaft gehört, sich im Verlauf des eigenen Fortschreitens, sich im Zuge der Entfaltung der eigenen Möglichkeiten selber zu gefährden. Das Schlimme am Fortschritt ist, daß er nicht scheitert, sagt Nestroy.

 

   Eine politische Debattenkultur ist notwendig  

Kein Zweifel also, daß es an der Zeit ist, eine neue aufklärerische Verantwortungsethik aus den veränderten gesellschaftlichen Bedingungen zu entwickeln. Eine solche Verantwortungsethik muß universalistisch sein — ein System von Normen sozusagen, das von allen akzeptiert wird. Das setzt voraus, daß sich die Gesellschaft auf ein Wertesystem einigt. In den früheren, religiös legitimierten feudalen Gesellschafts­ordnungen war die »geistliche Macht«, die Kirche, zugleich die von allen anerkannte normsetzende Instanz der Gesellschaft.

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In einer demokratischen Gesellschaft aber kann sich ein normativer Konsens nur im breiten gesellschaft­lichen Diskurs einstellen. Wir brauchen in stärkerem Maße eine politische Debattenkultur, die dem Geist der antiken Polis, jener Wiege der Demokratie, entspricht.

Nicht von ungefähr ist ja die Sozialdemokratie bestrebt, ihr neues Grundsatzprogramm aus einem öffentlichen Diskurs heraus zu entwickeln, anstatt es wie früher von einigen wenigen Parteitheoretikern formulieren zu lassen. Eine auf breite Zustimmung angewiesene normative Politik kann es nicht geben, wenn nicht auch die konkurrierenden Wertsysteme im gesellschaftlichen Diskurs allgemein konsensfähig werden. Wer den gesellschaftlichen Konsens nicht sucht, kann die eigene Gruppenidentität nur noch negativ über den Widerstand gegen die Mehrheit definieren. Erst mit der Einwilligung in einen gesellschaftlichen Konsens, der den Normen die individuelle Willkür nimmt und ihnen dafür einen verpflichtenden Charakter gibt, kann die individuelle Identität positiv definiert werden und konstruktiv in der Gesellschaft wirken.

Der gesellschaftliche Diskurs will organisiert sein, wenn er allgemeinverbindliche Normen stiften soll. Dazu will er politisch institutionalisiert sein, weil sich in jedem gesellschaftlichen Diskurs über kurz oder lang auch eine politische Machtfrage stellt. Der gesellschaftliche Diskurs ist praktisch angelegt, da er sich meistens an gesellschaftlichen Mängeln oder Risiken, an der Erfahrung sozialer Ungerechtigkeit oder der Untüchtigkeit von Institutionen entzünden wird. Mithin kann er neue ethische Standards hervorbringen, von denen sich das politische Handeln leiten lassen muß. Die Technikdebatte, die zur Zeit in vollem Gange ist, zeigt, daß dies möglich ist. Auch der öffentliche Diskurs über die Rolle der Geschlechter wird neue Verhaltensstandards zur Folge haben. Erinnern wir uns nur, mit wieviel Unverständnis und Mißtrauen vor gerade einem Jahrzehnt die Mehrheit denjenigen begegnet ist, die die Debatte über die Zerstörung der Natur anzettelten. Was haben diejenigen nicht alles zu hören gekriegt, die damals zu behaupten wagten, durch den Umweltschutz entstünden neue Arbeitsplätze. Niemand würde heute mehr wagen, dies zu bestreiten.

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Weit in alle gesellschaftlichen Schichten und Gruppierungen hinein, weit über alle Partei- und Verbands­grenzen hinweg hat die Umweltdebatte zu dem Konsens geführt, daß wir nicht mehr alles machen dürfen, was technisch machbar ist, daß wir die Energie und die Ressourcen der Natur unbedingt schonen müssen. Die einzelnen Elemente für eine neue Verantwortungsethik im Umgang mit der Natur hat der gesellschaftliche Diskurs schon geboren.

Natürlich läßt sich nicht leugnen, daß in jeder gesellschaftlichen Debatte die Argumente von Interessen getragen werden. Was aber spricht dagegen, daß ethische Normen Interessen berücksichtigen? Ist nicht auch das wirtschaftliche Interesse in einem marktwirtschaftlichen System von ethischem Wert? Und warum sollte es ethisch verwerflich sein, wenn Winzer und Bauern ein Interesse daran haben, nicht in der Nähe eines Atomkraftwerks zu leben und zu arbeiten? Eine Verantwortungsethik, die nicht auch von der Wirtschaft anerkannt werden könnte, wäre keine taugliche Handlungsanleitung für die Politik.

 

   Aufklärung über die Risiken der Technik   

Der gesellschaftliche Diskurs wirkt aufklärerisch nicht nur im philosophisch-historischen Sinne des Wortes, sondern vor allem im Sinne seiner allgemeinen Bedeutung: Er ist dazu angetan, das Problem­bewußtsein in der Gesellschaft zu schärfen und das gesellschaftliche Wissen über die drückenden Probleme zu erweitern und zu vertiefen. Karl-Friedrich von Weizsäcker schreibt in seinem Buch »Deutlichkeit«: 

»Verzicht auf die fortschreitende Technik ist, auch wo er heilsam wäre, in einer unerleuchteten Menschheit wie der heutigen politisch und ökonomisch nicht durchsetzbar; in einer ihrer Situation bewußteren Menschheit aber wäre er vermutlich überflüssig. Bewußtseinsentwicklung ist die Aufgabe, welche die technische Entwicklung uns stellt.«

Technologische Aufklärung kann sich nicht damit begnügen, das technische Wissen der Menschen zu verbessern, um sie mit der Technik vertraut zu machen, vielmehr muß sie stets auch die Risiken der jeweiligen Technik darstellen und so die Menschen anhalten, mit dieser Technik verantwortlich umzugehen.

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Es darf allerdings nicht dazu kommen, daß Politiker in die Rolle der Kassandra schlüpfen, nur um eine Stimmung der kollektiven Angst zu erzeugen, in der sie leichter ihr machtpolitisches Süppchen kochen können. Die Risikoaufklärung durch die Politik muß darauf zielen, einen gesellschaftlichen Konsens herzustellen. Sie muß jenes Problembewußtsein wecken helfen, aus dem die ethischen Wertkriterien des verantwortlichen Handelns erwachsen.

In einer Kritik der Thesen von Ulrich Beck zur »Risikogesellschaft« hat der Frankfurter Soziologe Karl-Otto Hondrich in dem Magazin »Der Spiegel« die Gegenthese verfochten, daß die Risikogesellschaft der Gegenwart »eine Gesellschaft abnehmender Risiken bei wachsendem Risikobewußtsein« sei. »Die neuen, wissenschaftlich produzierten Großrisiken«, sagt Hondrich, »drohen zwar mit schwersten Folgen, produzieren aber zugleich über ein geschärftes Gefährdungsbewußtsein ihre soziale Selbstkontrolle mit. Sie entsorgen sich selbst.«

Mit diesem liberalistisch anmutenden Glauben an die selbstheilenden Kräfte der Gesellschaft — eine Art List der Geschichte — ist der Durchsetzung der Vernunft wenig gedient. Eine spezifische Eigenschaft mancher der neuen Großrisiken ist doch gerade die, daß sie sich nicht selber entsorgen können, weil sie überhaupt nicht mehr zu entsorgen sind. Denken wir bloß an die Atomkraft, das größte der modernen Risiken. Selbst wenn wir jetzt alle vorhandenen Kernreaktoren abschalteten, hätten wir das Strahlenrisiko nicht entsorgt. Es bliebe erhalten — auf eine an der Dauer eines Menschenlebens gemessen unendlich lange Zeit. Wir können den atomaren Müll noch so gut verpackt in Salzstöcken lagern, wer kann schon garantieren, daß nicht in tausend Jahren infolge einer Erdverwerfung die tödlichen Strahlen wieder freigesetzt werden.

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Gesteigertes Risikobewußtsein macht den Eintritt des Risikofalls unwahrscheinlicher, gewiß, schließt ihn jedoch nicht aus. Hölderlins Ausspruch: »Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch« ist sicherlich nicht falsch. Doch bleibt die Frage, ob das Rettende aus sich heraus stark genug wächst, um die Gefahr zu bannen. Die Geschichte lehrt uns zweifeln. Wie oft verkümmerte das Rettende gerade in den Momenten der Gefahr! Was nützt uns ein noch so geschärftes Bewußtsein für unsere Gefährdung, wenn wir heute Risiken produzieren, deren Folgen wir uns nicht ausmalen können. Wir dürfen uns nicht auf die gesellschaftliche Selbstentsorgung der Risiken verlassen, wir müssen durch ein rechtzeitiges verantwortliches Eingreifen dafür sorgen, daß unabsehbare Risiken gar nicht erst entstehen.

Der vor kurzem aufgedeckte Hanauer Atommüll-Skandal hat uns drastisch vor Augen geführt, daß der Glaube an die gesellschaftliche Selbstentsorgung der Risiken ein verhängnisvoller Irrglaube ist. Noch ist das ganze Ausmaß des Skandals nicht abzusehen. Fest steht, daß hochradioaktives Material in großem Umfang illegal in der Bundesrepublik gelagert worden ist. Entgegen den Beteuerungen der Atomwirtschaft gibt es kein technisches Verfahren zur Endlagerung des gefährlichen Atommülls. Bis heute, Ende Januar 1988, ist es nicht auszuschließen, daß waffenfähiges Plutonium an Drittländer geliefert worden ist. Wieder einmal erweist sich der Versuch, die zivile von der militärischen Nutzung der Kernenergie zu trennen, als ein unmögliches Unterfangen. Hochradioaktives Material, das fünfhunderttausend Jahre die Umwelt belastet, überfordert die Verantwortungsfähigkeit des Menschen.

Wie kann man also heute noch auf die List der Geschichte bauen, wenn doch die Geschichte uns vor allem eines gelehrt hat: daß sie nicht listig ist? Da der technische Fortschritt nicht von selber Vernunft annimmt, müssen wir ihn dazu bringen. Zur Wiederherstellung eines aufklärerischen Fortschrittskonsensus in der Gesellschaft muß die Technik konsensfähig werden. Sie muß konsensfähig werden, weil sie für die arbeitsteilige Gesellschaft konstitutiv ist und weil Gesellschaft nicht ohne Konsens sein kann. Eine vernünftigere, freiere Zukunft miteinander ist nur über den Weg einer verantwortungspolitisch begründeten, normativen Technopolitik zu erreichen.

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   Unkritischer Fortschrittsoptimismus   

In den liberalistischen und neokonservativen Modernisierungsstrategien wird den neuen Technologien die mythologische Fähigkeit zugesprochen, den mit der Umweltzerstörung verlorengegangenen gesellschaftlichen Technik-Konsens schon aus sich heraus wiederherstellen zu können. Indem die neuen Technologien die Umweltzerstörung, die Ressourcenknappheit und die Arbeitsplatzvernichtung — allesamt Strukturprobleme ihrer Vorgängerinnen — überwinden helfen, werden sie aus der Sicht Lothar Späths zum Katalysator des neuen gesellschaftlichen Fortschrittskonsensus. Auch Hans-Dietrich Genscher teilt diese Ansicht, wenn er in einem Aufsatz über die »Technologische Herausforderung« die Meinung vertritt:

»Die neuen Technologien sind umweltschonend, ja umweltfördernd. Dies gilt bereits für die Mikroelektronik und Optoelektronik, die in großem Umfang Rohstoffe und Energie sparen helfen. Und dies wird vor allem für die Biotechnologie gelten, die alte umweltbelastende Produktionsverfahren durch <natürliche>, um weltverträgliche Verfahren ablösen wird. Wer die neuen Technologien vorantreibt, kann also auch den Umweltschutz vorantreiben ... Rationalisierung hat die Wettbewerbsfähigkeit der Industrie erhöht und eine arbeitsplatzschaffende Steigerung der Produktion mit sich gebracht. Neue Arbeitsplätze entstehen aber vor allem in großer Zahl in den Industrien, die die neuen Produkte: die Roboter, die Computer usw., herstellen.«

Aus dieser Einschätzung klingt ungebrochen jener alte Fortschrittsoptimismus, der unsere Zukunft mit solch großen Risiken belastet hat. Über die wahrscheinlichen und möglichen negativen gesellschaftlichen Folgen der neuen Technologien schweigen sich die wirtschaftsliberalen und neokonservativen Modernisierungs­strategen allerdings aus. Der unkritische Fortschrittsoptimismus weiß nicht viel anzufangen mit jenen Menschen, die, von der Modernisierungswelle überrollt, auf der Strecke bleiben. Welch trügerische Hoffnung, zu glauben, man könne jemals in der Gesellschaft einen Fortschrittskonsens jenseits der Sozialstaatlichkeit erzielen, einen Fortschrittskonsens, der nicht sozialstaatlich vermittelt wäre.

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Wie sollte sich denn bei den Menschen so etwas wie Fortschrittsoptimismus einstellen, wenn sie am Fortschrittsgewinn nicht beteiligt sind, wenn sie statt dessen infolge des Fortschritts aus dem Erwerbsleben ausgeschieden und innerhalb der Gesellschaft herabgestuft werden?

Wie sollten diejenigen zu Optimisten werden, die sich vom technischen Fortschritt bedroht fühlen?

Die neoliberalen und neokonservativen Modernisierungsstrategien sind wenig geeignet, unsere Zukunft menschlicher zu gestalten, weil sie von einem individualistischen Freiheitsbegriff ausgehen, dem die Dimension der Solidarität fehlt. Die großen Risiken für ein Leben in Freiheit, die auch den neuen Technologien innewohnen, werden in diesen Strategien viel zu beiläufig behandelt: Die technopolitische Verantwortung des Staates zielt in erster Linie darauf ab, ein möglichst effizientes und möglichst profitables Wirtschaften zu sichern, nicht aber darauf, dessen Risiken für die Gesellschaft möglichst klein zu halten. An frommen Warnungen vor einer Verselbständigung der Technik mangelt es diesen Strategien genausowenig wie an Lippenbekenntnissen, den technologischen Wandel gesellschaftlich zu kontrollieren und zu gestalten.

 

  Die Linke muß das »Projekt Moderne« retten  

Doch es fehlt — was allein entscheidend ist — der Wille, auf jener Entscheidungsebene gestaltend einzugreifen, auf der die technologischen Weichen gestellt werden. So erleben wir derzeit ein merkwürdiges Paradox: Während die Linke die Konsequenzen aus den technologischen Fehlentwicklungen der jüngeren Zeit gezogen hat und bereit ist, den naiven, technikgläubigen Fortschrittsoptimismus der Vergangenheit gegen eine neue technopolitische Verantwortungsethik einzutauschen, feiert die ursprünglich links motivierte — selbst der Gedanke des wirtschaftlichen Wachstums entstammt ja dem Arsenal marxistischer Theorien — technologische Fortschrittsgläubigkeit in neuem, konservativem Gewand fröhliche Urständ.

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Mit einem solchen Sieg des auch von ihr lange Zeit gehegten Denkens kann die Linke nicht einmal zufrieden sein, findet er doch ausgerechnet zu einem Zeitpunkt statt, zu dem sie selber merkt, daß dieses Denken die Gesellschaft in eine gefährliche Sackgasse führt. Jetzt muß die Linke das »Projekt Moderne«, ihr ureigenes Projekt, auch gegen strukturkonservative Modernisierungsstrategien retten. Letzteren wird nur so lange die Aura des Progressiven anhaften, wie sie durch ein strukturkonservatives, statisches Verständnis von Sozialverträglichkeit bestätigt und nicht durch eine Politik der verantwortungsethischen Gestaltung des Fortschritts herausgefordert werden.

Was aber bedeutet es konkret, eine Politik zu betreiben, die sich ihrer gesellschaftlichen Verantwortung bewußt ist? Seit Lassalle gehört es zum Selbstverständnis sozialdemokratischer Politik, daß der Staat gezielt eingreifen muß, um den gesellschaftlichen Mangel an Vernunft auszugleichen. Eine verantwortungs­volle Politik ist, wie bereits dargelegt, eine vorsorgende Politik; eine vorsorgende Politik ist eine eingreifende, regelnde Politik. Das häufig beklagte politische Versagen des Staates resultiert aus der Nachträglichkeit staatlicher Maßnahmen. Die Politik ist ständig im Verzug, reagiert auf Probleme; sie bekämpft Symptome statt Ursachen. Das politische Staatsversagen, schreibt Martin Jänicke in »Staatsversagen«, »ist Folge eines Verzichts auf politische Gestaltung und vorsorgliche Intervention«. Dieser Interventionsverzicht, sagt Jänicke weiter, wirke auch noch selbstverstärkend: »Je weniger der Staat präventiv eingreift und je mehr er nachträglich und teuer repariert, desto stärker wächst — mit dem Finanzbedarf — seine Abhängigkeit von der Steuerdividende der Wachstumswirtschaft. Und die verstärkt das Interventionstabu.«

In der politischen Philosophie des Liberalismus ist der staatliche Verzicht auf verantwortliche, vorsorgliche Intervention im wirtschaftlichen Bereich ideologisch begründet:

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Gesellschaftliche Vernunft und gesellschaftliche Freiheit sollen zwar den staatlichen, nicht aber den wirtschaftlichen Teil der Gesellschaft bestimmen. Eine demokratische Gesellschaft aber muß frei sein, ihren Wohlstand gerecht zu verteilen. Doch wie soll dies funktionieren, wenn der Staat die wirtschaftlichen Prozesse nicht entsprechend beeinflussen kann? Aufgrund ihrer unvermeidlichen Mängel bedarf die Marktwirtschaft ständiger politischer Korrekturen, um annähernd auf dem Kurs der Menschenwürde und der Gerechtigkeit zu bleiben.

In Anbetracht des Risikopotentials einer hochtechnisierten Produktion können wir uns weniger denn je den liberalistischen Irrglauben leisten, daß die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Kräfte, wenn man sie nur sich selber überläßt, irgendwann zu einem vernünftigen Gleichgewicht finden. Die mathematische Logik, daß man eine positive Summe erhält, wenn man zwei Zahlen mit negativen Vorzeichen multipliziert, gilt nicht für das menschliche Handeln. Das unvernünftige Handeln der einen wird nicht durch das unvernünftige Handeln der anderen zu einem vernünftigen Ganzen ausgeglichen. Die Summe der Unvernunft führt in die Katastrophe. Als Ergebnis vernunftgeleiteten Denkens zielt der Interventionismus darauf ab, die gesellschaftliche Freiheit auch in den marktwirtschaftlichen Prozessen sicherzustellen.

In seinem Aufsatz »Zukunftsentwurf und Arbeiterbewegung« stellt Karl Georg Zinn fest:

»Die Unvollkommenheit und Komplexität der sozialökonomischen Realität verlangt gesellschaft­liche Korrekturen, also den regelnden Interventionismus. Es gibt keinen von der Natur oder von Gott vorgegebenen optimalen Zustand der Wirtschaft; sondern was als richtig und gerecht anzusehen ist, wird von Menschen bestimmt, und die Menschen müssen versuchen, den von ihnen erwünschten Zustand herzustellen. Dies bedeutet, die Freiheit auch im wirtschaftlichen Bereich ernst zu nehmen: nämlich die Freiheit, jene Politik zu realisieren, die den Vorstellungen über eine gerechte und richtige Wirtschaft dient.«

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  Der Markt leistet oft nicht das dringend Notwendige  

Ohne den lenkenden Eingriff des Staates ist eine vernünftige wirtschaftliche Strukturpolitik derzeit nicht möglich. In der Idealvorstellung eines demokratischen Gemeinwesens sollten die Entscheidungen von denen, die sie treffen, gesellschaftlich verantwortet werden. Demnach wären Unternehmer und Manager für die Durchsetzung einer vernünftigen sektoralen und regionalen Strukturpolitik zumindest mitverantwortlich. Die Unternehmenspolitik richtet sich jedoch in erster Linie nach den Gewinn- und Rentabilitätsgesetzen des Marktes. Der Markt leistet oft das dringend Notwendige nicht: die Lenkung der Investitionen auf unbefriedigte Bedarfsfelder, die aus vernunftgemäßen, verantwortungsethischen Erwägungen entstanden sind. Der Staat ist gefordert, dieses Defizit der Marktwirtschaft auszugleichen.

Eine qualitative staatliche Nachfrageförderung kann die ökologische Umstrukturierung der Wirtschaft beschleunigen. Ihre Methoden sind bekannt: Strukturpolitisch vorrangiges Konsum- oder Investitions­verhalten wird steuerlich begünstigt, unerwünschte Aktivitäten werden steuerlich diskriminiert oder gar verboten. Umweltschutzauflagen zwingen die Unternehmen zu Neuinvestitionen, verstärken also die umweltschutzbezogene Nachfrage. Sektorale und regionale Strukturschwächen, die in den »altindustriellen« Ballungsräumen meistens deckungsgleich sind, können allein auf der Grundlage eines ausgewogenen gesamtwirtschaftlichen Konzeptes vernünftig behoben werden.

Es wäre besser, den so kostspieligen wie ineffektiven Ansiedlungswettkampf zwischen Bundesländern und Gemeinden durch eine gesellschaftspolitisch und gesamtwirtschaftlich ausgleichende, standortgerechte und investitionslenkende Ansiedlungspolitik des Bundes zu ersetzen. Die Steuerhoheit des Bundes sollte konsequent genutzt werden, den Wirtschaftsprozeß verantwortlich zu lenken. Warum denn nicht die Arbeitslosigkeit einer Region noch stärker und verpflichtender zum ausschlaggebenden Kriterium für staatliche Fördermaßnahmen machen?

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Gewiß käme eine solche Bevorzugung strukturschwacher Regionen einer Benachteiligung der Regionen mit niedriger Arbeitslosigkeit und gesunder Industriestruktur gleich. Aber verlangt nicht unser Grundgesetz, indem es allen Bundesbürgern gleiche Lebensbedingungen garantiert, gerade eine solche Politik des Ausgleichs?

Selbstverständlich wird auch eine vernünftige gesamtwirtschaftliche Strukturpolitik nicht umhin kommen, diejenigen strukturschwachen Bereiche nach und nach aufzugeben, die endgültig nicht mehr wettbewerbs­fähig sind und aus versorgungs- oder sicherheitspolitischen Gründen nicht dauerhaft subventioniert werden können. Doch dürfte der Schrumpfungsprozeß, wäre er das Ergebnis einer vernünftigen Politik und nicht eines unkontrollierten marktwirtschaftlichen Prozesses, nur im Gleichschritt mit der Erstellung neuer Arbeitsplätze voranschreiten. Mit anderen Worten: Eine verantwortliche Strukturpolitik des Staates dürfte sich im Falle struktureller Bereinigung nicht auf das bloße soziale Abfedern beschränken, sondern hätte den Aufbau neuer Arbeitsplätze zu fördern, ehe sie den alten die finanzielle Hilfe streicht. Die aktuelle Krise in den Montanrevieren verlangt geradezu eine neue regionale Strukturpolitik.

 

   Prinzip Verantwortung in der Marktwirtschaft  

Auf eine solche vernunftgeleitete Wirtschafts- und Strukturpolitik werden wir allerdings warten müssen, bis anstelle der marktwirtschaftlichen Permissivität das Prinzip Verantwortung getreten ist. Nicht der Mensch hat sich den Belangen der Wirtschaft unterzuordnen, sondern die Wirtschaft den menschlichen Bedürfnissen. Dies ist durchaus kein Plädoyer für eine bürokratische Planwirtschaft. Es gibt kein System, das die menschlichen Bedürfnisse besser befriedigt hätte als die Marktwirtschaft. Das Prinzip Verantwortung soll also den Marktmechanismus keineswegs aushebeln, es soll ihn vernünftigen Regeln aussetzen. Statt die Angebote des Marktes daraufhin zu prüfen, ob sie menschlichen Zwecken entsprechen, wäre es sinnvoller, zunächst die menschlichen Zwecke zu bestimmen und dann erst entsprechende Angebote über den Markt zu machen.

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Im Grunde genommen würde dies nichts anderes bedeuten, als die auf Gewinnmaximierung ausgerichteten Marketingmethoden, die in den Entwicklungs­abteilungen großer Unternehmen gang und gäbe sind, auf gesellschaftliche und politische Zielsetzungen hin zu verallgemeinern. Das Prinzip Verantwortung in die Marktwirtschaft einzuführen, müßte nicht unbedingt »mehr Staat« bedeuten. Es wäre zu wünschen, die Wirtschaft selber träfe ihre Entscheidungen nicht nur in betriebswirtschaftlicher, sondern sehr viel stärker auch in gesamtgesellschaftlicher Verantwortung. Noch aber ist es nicht soweit, noch bedarf der Markt des regelnden Ausgleichs durch den Staat, noch brauchen wir den Sozialstaat und mehr denn je auch eine staatliche Korrektur des Marktes zum Schutze der Umwelt. Aufgrund ihrer sozialstaatlichen Kompetenz scheint die Sozialdemokratie wie keine andere Partei geeignet, die ökologisch orientierte Wirtschaftspolitik der Zukunft in die Tat umzusetzen.

Die bundesdeutsche Gesellschaft ist heute viel zu wohlhabend, als daß der Modernisierungsprozeß, wie noch vor einem Jahrhundert, allein schon deshalb gerechtfertigt wäre, weil er den Wohlstand weiter hebt. Die Modernisierungspolitik der Zukunft kann nicht mehr nur wirtschaftlich motiviert sein: Ihr Ziel muß es nicht so sehr sein, den Mangel zu beheben, als vielmehr die Produktionsrisiken zu beseitigen und die menschliche Freiheit zu erweitern. Doch ohne Verantwortung keine Freiheit. Die neoliberalen und neokonservativen Modernisierungsstrategien scheuen den verantwortlichen politischen Eingriff auf der Basis einer gesellschaftlichen Ethik, weil sie auf den »freien« Marktmechanismus fixiert sind. Wo aber die Freiheit des Marktes zum Selbstzweck wird, schränkt sie die Freiheit der Menschen ein.

Der Modernisierungsprozeß kann erst dann in der Gesellschaft wieder konsensfähig werden, wenn er sichtbar »aufgeklärt« und vernünftig verläuft. Nach den herkömmlichen liberalen oder konservativen Rezepten wird es wohl kaum gelingen, den gesetzlichen und institutionellen Rahmen für eine an normativen Kriterien orientierte Modernisierung der Industriegesellschaft zu schaffen. Die Zukunft der Moderne werden diejenigen gestalten, die ihren Strategien einen überwirtschaftlichen, allgemein-reformerischen Sinn geben.

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  Was wird eigentlich produziert?  

Auch in der bisherigen Praxis der Arbeiterbewegung standen notgedrungen die wirtschaftlichen Erwägungen so sehr im Vordergrund, waren die Menschen so sehr bestrebt, eine bezahlte Arbeit zu erhalten, daß darüber hinausgehende, in der Theorie immer vorhandene Überlegungen in den Hintergrund traten. Erst durch die Umweltdebatte des letzten Jahrzehnts wurde vielen bewußt, daß die Frage, was da eigentlich produziert wird und was da als Nebenwirkung mitproduziert wird, nicht weiter vernachlässigt werden darf.

Hauptsache Arbeitsplätze, hieß die Parole. Auf die Idee, die Herstellung bestimmter Produkte wie Waffen, Atombomben oder Atomkraftwerke zu verweigern, kam man erst gar nicht, zumal die große Mehrheit mit der Produktion von Teilen beschäftigt war, die so vielseitig verwendbar waren, daß sie nicht nur zur Herstellung der genannten Produkte benötigt wurden. Zwar gab es im Ersten Weltkrieg noch Arbeiter, die sich weigerten, Munition zu produzieren, weil damit ihre proletarischen Brüder umgebracht würden, aber solche Entscheidungen blieben die Ausnahme. Im allgemeinen verhielten sich auch im sozialdemokratischen Umfeld die Arbeiter so, wie es Karl Retzlaw — damals achtzehn Jahre alt, Sozialdemokrat, einer von neunzig Arbeitern einer Schuhfabrik — in seinen Erinnerungen an den August 1914 schildert:

»Man sprach über den Krieg wie etwa über ein Erdbeben, man nahm ihn hin wie ein Naturereignis ... Auch in der Zeit, in der es täglich um Tod und Leben von Tausenden Einzelpersonen und ganzen Völkern geht, gehen die kleinen täglichen Sorgen der eigenen Existenz vor. So diskutierten die Kollegen um diese Zeit mehr über Betriebsfragen als über den Krieg. Die Fabrikleitung hatte neuartige Zwickmaschinen gekauft.

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Monteure der Maschinenfabrik und andere ausgebildete Maschinenarbeiter waren mit dem Einbau beschäftigt; mehr als ein Drittel der Belegschaft befürchtete Arbeitslosigkeit. Da die Fabrikleitung es nicht für nötig hielt, die Belegschaft über ihre Pläne zu informieren, ob die Produktion erweitert werden würde oder ob Entlassungen geplant waren, lastete eine quälende Ungewißheit über den Arbeitern. Alle atmeten auf, als Heeresaufträge hereinkamen.«

 

Die Auseinandersetzungen in der Arbeitswelt gingen um die Höhe der Löhne, um die Arbeitszeit oder um die Arbeitsbedingungen; um die Frage, was da eigentlich produziert wird, so gut wie nie. Das entscheiden ja die Konsumenten, werden die Verfechter der reinen Marktlehre einwerfen. Aber entscheiden sich die Konsumenten wirklich für Atomwaffen oder Atomkraftwerke? Wenn sie könnten, würden viele Konsumenten gern auf diese Ware verzichten.

In dem Bewußtsein dieser Problematik haben vor einiger Zeit die amerikanischen Bischöfe einen Appell an die Christen in den Vereinigten Staaten gerichtet, insbesondere an die Männer und Frauen in der Rüstungsindustrie: »Auch ihr steht vor besonderen Fragen, weil die Rüstungsindustrie unmittelbar an der Entwicklung und Produktion von Massenvernichtungswaffen beteiligt ist, die uns in diesem Brief beschäftigen. Wir meinen keineswegs, daß es eindeutige Antworten zu vielen eurer persönlichen, beruflichen und finanziellen Entscheidungen gibt, die ihr je nach eurer besonderen Verantwortlichkeit zu treffen habt ... Alle Katholiken in allen Bereichen der Rüstungsindustrie können und sollen die in diesem Brief genannten moralischen Grundsätze benutzen, um ihr Gewissen zu schärfen ... Wer sich in seinem Gewissen entscheidet, daß er nicht länger mit Rüstungsaktivitäten zu tun haben sollte, sollte in der katholischen Glaubensgemeinschaft Hilfe finden.«

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   Weltraumforschung stößt auf Kritik  

Solche Appelle werden wenig fruchten, solange die Aufgabe eines sicheren Arbeitsplatzes in der Rüstungs­industrie nicht durch den Wechsel auf einen gleichwertigen anderen Arbeitsplatz kompensiert werden kann, sondern mit deklassierender Arbeitslosigkeit bezahlt werden muß. Gleiches gilt für die Beschäftigten in den Atomkraftwerken. In ernsthaften Szenarien zum Ausstieg aus der Kernenergie müssen Konzepte der Arbeitsplatzverlagerung enthalten sein. Ähnlich wie der kollektive Streik sollte auch das individuelle ethische Handeln gesetzlich geschützt werden. Erst kürzlich wurden drei Wissenschaftler des Pharmakonzerns Beacham-Wülfing in Neuß gekündigt, die sich weigerten, sich an einem Forschungsprojekt zu beteiligen, in dem ein »Antikotzmittel« entwickelt werden sollte, das Soldaten bei der Verstrahlung länger einsatzfähig macht. Das Arbeitsgericht bestätigte die Kündigung dieser Wissenschaftler mit der Begründung, das Verhindern des Erbrechens stelle keinen Verstoß gegen Paragraph 138, Absatz 1 des BGB dar.

In den letzten Jahren hat sich der Schwerpunkt der Diskussion von der Produktionsweise und von den Produktions­verhältnissen auf die Produkte verlagert. Im Mittelpunkt der gesellschaftlichen Auseinander­setzungen standen Produkte wie Pershings, Cruise-Missiles, Atomkraftwerke, schnelle Brüter, Hochtemperaturreaktoren, Wiederaufbereitungsanlagen, Atomwaffen. Zur Zeit wird darüber gestritten, ob wir uns an dem Bau der Raumfähren Hermes und Kolumbus beteiligen, ob wir die neue europäische Rakete Ariane V entwickeln, ob wir einen europäischen Nachrichtensatelliten bauen sollen usw. Diese Vorhaben stoßen auch im Bereich der Wirtschaft auf Kritik.

Der Geschäftsführer der Heraeus GmbH, Jürgen Heraeus, warnt davor, nach der Atomforschung die Weltraumforschung zum Schwerpunkt der Forschungspolitik zu machen: Eine solche Politik wäre eine eklatante Fehlentscheidung, schreibt der Chef des in vielen neuen Technologien wie Quarzglas und Optoelektronik führenden deutschen Unternehmens. Die deutsche Industrie müßte sich künftig mehr auf den Wettbewerb mit Japan einstellen. Eine Konzentration der Förderungsmittel auf ein Prestigeobjekt mit geringem volkswirtschaftlichem und zweifelhaftem wissenschaftlichem Wert wäre eine Tragödie.

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Die Innovationskraft der Weltraumforschung hat nach Meinung dieses Unternehmers den Zenit bereits überschritten. Die Förderung der Weltraumforschung käme ohnehin nur wenigen, von Großkonzernen kontrollierten Unternehmen zugute, die meist außerhalb marktwirtschaftlicher Konkurrenz von Staatsaufträgen lebten. Eine solche Schwerpunktbildung würde auf Jahre hinaus den hochqualifizierten technischen Nachwuchs aufsaugen.

Heute diskutieren wir darüber, ob wir das biotechnische Verfahren der In-vitro-Fertilisation anwenden dürfen, und suchen nach Kriterien dafür. Wir sind besorgt, daß die Menschen konstruiert, geklont werden könnten. Günther Anders, der sich wie kein anderer seit langem über die Produkte der menschlichen Arbeit Gedanken macht und dessen Kritik sich zusammenfassen läßt in dem Satz, daß wir heute keine Vorstellung von dem mehr haben, was wir herstellen, schrieb, daß spätestens da die Grenze des Verantwortbaren erreicht werde, wo in der Biotechnologie der Mensch sich selber zum Rohstoff wird.

 

   Die Würde des Menschen ist unantastbar  

Die Aufklärung hat es als den höchsten sittlichen Grundsatz bezeichnet, den Menschen stets als Zweck und nicht als bloßes Mittel zu betrachten. Zweifelsohne ist es Aufgabe des Staates, abzuschätzen, welche Gefährdung der Freiheit und der Identität des Menschen bei der Anwendung von Gen- und Reproduktions­technologien droht. Nach den Erfahrungen mit dem menschenverachtenden National­sozialismus wurde die Unantastbarkeit der Menschenwürde im Grundgesetz garantiert. Das Bundes­verfassungs­gericht hat festgestellt, daß es ihr widerspräche, »den Menschen einer Behandlung auszusetzen, die seine Subjektqualität prinzipiell in Frage stellt«. Es besteht auch kein Zweifel darüber, daß die Würde des Menschen Vorrang hat vor der Freiheit der Forschung.

Der Versuch, den Menschen zum Objekt züchterischer Ambitionen zu machen, ist grundgesetzlich verboten. Die Bekämpfung einer solch elementaren Gefahr kann nicht der Entscheidung eines Berufsstandes oder allein dem Gewissen der Forscher überantwortet werden.

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Verantwortung ist, das wissen wir seit langem, eine Funktion der Macht, ist dieser proportional. Die gesellschaftliche Wirkungskraft der Technik hingegen war zu lange undurchschaut. Erst die Gefährlichkeit der Produkte hat sie sichtbar werden lassen. Seit sich die gesellschaftliche Debatte auf die Produkte konzentriert, sind wir uns der Tatsache bewußter geworden, daß die technologische Entwicklung sehr wohl von staatlicher oder gesellschaftlicher Entscheidungsmacht abhängt, daß die Megamaschine noch nicht so gewaltig geworden ist, daß niemand sie mehr kontrollieren kann. Resignation ist also fehl am Platze. Die Notwendigkeit eines verantwortlichen Umgangs mit der Technik wirft vielmehr die Frage auf, wie die gesellschaftliche und politische Macht, die über die technologische Entwicklung entscheidet, selber gesellschaftlich und politisch, das heißt demokratisch kontrolliert werden kann.

Alle müssen wir produktbewußter leben, damit solche Produkte nicht mehr hergestellt werden, die nicht verantwortbar sind. Doch wie sollen wir lernen, das zu verantworten, was wir herstellen, wenn die Herstellung uns nicht Verantwortlichkeit lehrt? Der vergesellschaftete Mensch ist ein lernbedürftiges, lernfähiges, sich selber schöpfendes Wesen, und deshalb ist auch Verantwortung ein gesellschaftlicher Lernprozeß. Solange aber viele Menschen in einer entfremdeten Weise arbeiten, solange sie unter fremder Anweisung Teilarbeiten in einem undurchschauten Produktionsvorgang verrichten, dessen Zweck sie nicht mitbestimmen und über dessen Endergebnis sie nicht mitverfügen können, so lange werden sich diese vielen wohl kaum für das verantwortlich fühlen, was sie herstellen helfen. Vor einiger Zeit besichtigte ich einen Betrieb, in dem überwiegend Frauen arbeiten. Die Frauen waren damit beschäftigt, winzige Elektroteilchen zusammenzulöten. Freilich wußte keine genau zu sagen, für welche Apparaturen diese Teilchen anschließend gebraucht würden. Es handelte sich um elektronische Zünder für Minen. Wer wie diese Frauen arbeiten muß, wird kaum das Bewußtsein entwickeln, seine eigene Geschichte machen zu können. Eher wird ihn das ohnmächtige Gefühl befallen, selber gemacht zu werden. Verantwortung kann unter solchen Bedingungen immer nur als die Verantwortung der anderen empfunden werden.

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  Zurück zu ganzheitlichen Formen der Arbeit   

Heute hat man selbst in der kapitalistischen Wirtschaft begriffen, daß der Arbeitseffizienz nicht gedient ist, wenn der Arbeitsprozeß jegliches Verantwortungsbewußtsein in den Menschen abtötet. Mehr und mehr geht man von der tayloristischen Zerstückelung der Arbeitsvorgänge zurück zu ganzheitlichen Formen der Arbeit. Neue, intelligente Techniken könnten diese Umkehr beschleunigen.

Das in den »intelligenten« Systemen gespeicherte Expertenwissen ist durchaus dazu angetan, einmal komplexe Verwaltungsapparate zu ersetzen und somit zur Dezentralisierung der Produktion beizutragen. Kleinere Produktionseinheiten wiederum werden ganzheitliche Arbeitsvorgänge begünstigen. Und ganzheitliche Arbeitsvorgänge schärfen zweifelsohne das Produkt- und das Verantwortungsbewußtsein der arbeitenden Menschen.

Mit der Renaissance kleiner, genossenschaftlich organisierter Betriebe ist in den letzten Jahren der Zusammenhang zwischen selbstbestimmter, selbstverantworteter, möglichst ganzheitlicher Arbeit und einem in gesellschaftlicher Hinsicht verantwortlichen Produktbewußtsein deutlich geworden. Das Genossenschaftsethos verwirft die Herstellung von Produkten, die nicht umwelt- und sozialverträglich sind. Allein schon deswegen verdient die Genossenschaftsbewegung staatliche Unterstützung.

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Jede Gesellschaft beruht auf Arbeitsteilung. »Der hochdifferenzierten Arbeitsteilung« — sagt Ulrich Beck in »Risikogesellschaft« — »entspricht eine allgemeine Verantwortungslosigkeit. Jeder ist Ursache und Wirkung und damit Nichtursache. Die Ursachen verkrümeln sich in einer allgemeinen Wechselhaftigkeit von Akteuren und Bedingungen, Reaktionen und Gegenreaktionen. Dies verschafft dem Systemgedanken soziale Evidenz und Popularität. Darin wird exemplarisch deutlich, worin die biographische Bedeutung des Systemgedankens liegt: Man kann etwas tun und weitertun, ohne es persönlich verantworten zu müssen. Man handelt sozusagen in eigener Abwesenheit. Man handelt physisch, ohne moralisch und politisch zu handeln. Der generalisierte andere — das System — handelt in einem und durch einen selbst hindurch: Dies ist die zivilisatorische Sklavenmoral, in der gesellschaftlich und persönlich so gehandelt wird, als stünde man unter einem Naturschicksal, dem <Fallgesetz> des Systems. Auf diese Weise wird angesichts des drohenden ökologischen Desasters <Schwarzer Peter> gespielt.«

 

Zu ganzheitlichen Arbeitsformen zurückzufinden, heißt also nicht, die gesellschaftskonstitutive Arbeitsteilung zu überwinden, sondern heißt, den gesellschaftlichen Arbeitsprozeß verantwortlicher zu gestalten. Die gesellschaftliche Arbeitsteilung setzt das Vertrauen des einen in die Arbeit des anderen voraus. Wie aber sollten wir vertrauen, wenn wir nicht sicher sein können, daß auch andere ihre Arbeit an den Kriterien einer gesellschaftlichen Verantwortungsethik ausrichten?

Natürlich gibt es nicht nur den Fall jener »unwissenden« Frauen, die arglos Zünder für Minen zusammenlöten, es gibt auch den umgekehrten Fall des Wissenschaftlers, der über die Auswirkungen seiner Arbeit bestens im Bilde ist, sich aber dennoch die Hände in Unschuld wäscht: Soll doch die Regierung entscheiden, was hergestellt wird und was nicht, soll doch sie entscheiden, welche Erfindung wo und wie angewendet wird. Die doppelte Sozialmoral des Pilatus ist heute nicht mehr annehmbar. Gerade die Wissenschaftler, die Ingenieure und Erfinder, die über die Auswirkungen technologischer Neuerungen am meisten wissen, dürfen ihre gesellschaftliche Verantwortung am wenigsten verleugnen. Der Staat muß den institutionellen Rahmen schaffen, in dem sie dieser Verantwortung nachkommen können.

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    Beteiligte und Betroffene zugleich   

Das gilt für Wissenschaftler und Ingenieure und gilt gleichermaßen für alle anderen, für Arbeitnehmer wie für Arbeitgeber, für Staatsbürger wie für ihre gewählten Repräsentanten. Die Gewerkschafter sind für das Wohl und Wehe der Wirtschaft nicht weniger verantwortlich wie die Arbeitgeber, die Grünen für das Industriesystem nicht weniger wie die »Altparteien«. Wir alle sind Beteiligte und Betroffene zugleich. Wir müssen die Beteiligung stärken, damit die Betroffenheit schwächer wird.

In einem Aufsatz über die »Zukunftsfragen der Sozialdemokratie« hat der Berliner Politikwissenschaftler Josef Huber dieses Problem zutreffend analysiert: »Systemumbau und ökologische Modernisierung sind nur möglich, wenn man am System und seinem Kapital partizipiert. Es geht darum, die unfreiwillige und nicht verantwortete Kollaboration, der man als Arbeitnehmer und Konsument immer wieder unterliegt, in eine willentliche, ziel- und verantwortungsbewußte Kooperation umzuwandeln ... Das bedeutet heute, daß man nicht nur im Staat mitregiert und mitverwaltet, sondern daß man auch mitunternehmerische Verantwortung übernimmt und daß man insbesondere auch die Entwicklung von Wissenschaft und Technik initiativ und innovativ mitgestaltet.«

Mit der stärkeren Beteiligung der einzelnen an der Gestaltung der Gesellschaft hat der Prozeß des gesellschaftlichen Fortschritts eine neue Stufe der Emanzipation erreicht. Diese fordert nicht den unselbständigen Lohnempfänger, dem Staat, Unternehmerschaft oder Gewerkschaft alle Entscheidungen abnehmen, sondern den kompetenten, selbstbewußten mündigen Mitarbeiter als Mitunternehmer, der zwar eines verbindlichen Rahmens gesellschaftlich organisierter Solidarität niemals wird entraten können, der nichtsdestoweniger jedoch in diesem Rahmen seine Arbeit sowie seinen Berufs- und Lebensweg weitgehend selber verantwortet.

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Eine Partei, die zur bestimmenden politischen Kraft der Zukunft werden will, wird, für jedermann deutlich sichtbar, ihre Politik an diesem Leitbild ausrichten. Im Zentrum ihrer Bemühungen, die Arbeit zu humanisieren, wird die Idee der Selbstverwirklichung des Individuums stehen. Bruno Trentin, Generalsekretär der größten italienischen Gewerkschaft, sieht die Notwendigkeit einer solchen Politik sehr klar. Die Krise der Arbeit, so sagt er, enthalte mehr denn je »auch in ihren paradoxesten Ausdrucksformen die Suche nach einer neuen Art zu arbeiten, nach einer neuen Auffassung von Arbeit, in der die Verwirklichung des Individuums, seine Freiheit und Kreativität ein zunehmend größeres Gewicht erlangen als das Problem der größtmöglichen Entlohnung«.

Die Sozialdemokratie hatte in früheren Jahren großen Zulauf, weil sie der Arbeiterschaft den kollektiven Aufstieg in Aussicht stellte, indem sie für die Verbesserung ihrer Arbeits- und Lebensbedingungen eintrat. Die arbeitenden Menschen wird sie im Prinzip auch heute nicht anders gewinnen können. Allerdings haben sich mit dem inzwischen erreichten allgemeinen Wohlstandsniveau sowohl die Struktur der Arbeitnehmer­schaft als auch deren Aufstiegsvorstellungen erheblich verändert. Für viele, vor allem für die jüngeren, ist der Wohlstand selbstverständlich geworden, und was man als selbstverständlich empfindet, bringt einen nicht weiter. Neuere Studien über die Lebenseinstellung von Jugendlichen belegen dies. Bei den allerwenigsten findet sich eine »Null-Bock-auf-nix-Mentalität«.

Dann wollen manche nur arbeiten, um zu verdienen. Die meisten allerdings trachten nach einer Tätigkeit, die ihnen nicht bloß den Lebensunterhalt sichert, sondern die darüber hinaus gesellschaftlich sinnvoll und möglichst selbst verantwortet ist. Die Demokratie wird attraktiv bleiben, wenn sie Lebens-, Entwicklungs- und Arbeitsperspektiven erschließen hilft, die die individuelle Emanzipation über das Materielle hinaustreiben. Das »Abenteuer Moderne« war — noch einmal mit den Worten Kants — ein Aufbruch »aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit«. Demnach wäre ein Mehr an individueller Autonomie ein Fortschrittsgewinn im Sinne der Aufklärung, den die Linke verteidigen und ausbauen muß. Nur die Utopie eines sich in der Arbeit selbstverwirklichenden, selbstbestimmenden, selbstverantwortenden Menschen weist den richtigen Weg in eine menschliche Zukunft.

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Aufgeklärte Technologiepolitik trägt zur Humanisierung des Arbeitslebens bei. Da die technische Entwicklung zu gesellschaftlichem Fortschritt führen soll, muß sie von allen auf allen Ebenen mitgestaltet werden, auf der betrieblichen, auf der gesellschaftlichen wie auf der staatlichen Ebene. Eine Erweiterung der Mitbestimmung vom Arbeitsplatz über den Betrieb bis hin zum Konzern ist unumgänglich, wenn die Arbeitnehmer gestaltende unternehmerische Verantwortung mittragen sollen. Insbesondere die Einführung neuer Techniken und Verfahren, neuer Organisationsstrukturen und Überwachungssysteme sollte von den Betroffenen mitbestimmt werden können.

Auf regionaler, überregionaler und sektoraler Ebene wären die institutionellen Voraussetzungen für einen breiten technopolitischen Diskurs zu schaffen. Die wichtigen gesellschaftlichen Gruppen müssen an der Ausarbeitung staatlicher Förderungsprogramme beteiligt werden.

 

   Ohne Hoffnung wäre das Leben unerträglich   

Die bloße Beschwörung des freien Marktes ersetzt keine vernünftige, normative Politik. Ähnlich sagt es auch Hans Jonas in einem Gespräch, das er mit der Zeitung »Die Welt« führte, nachdem ihm der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen worden war: »Ein ungehemmter Kapitalismus des freien Marktes ..., der darauf angelegt ist, immer nur die menschliche Begehrlichkeit anzustacheln und den Konsum immer mehr zu erhöhen, der nur auf Profit aus ist, ist ganz gewiß kein geeignetes System, der Probleme Herr zu werden. Kapitalismus und freiheitliche Gesellschaftsordnung sind ... nicht identisch.« 

Ihm schwebe statt dessen ein Sozialismus vor, »der verzichtet hat auf die Vorstellung, daß die klassenlose Gesellschaft im Bunde mit der Technik zum Summum bonum führt in einer unerschöpflichen Natur«.

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Hans Jonas will das »Prinzip Hoffnung« — die Utopie — durch das »Prinzip Verantwortung« ersetzen. Was aber wäre eine Welt ohne das Prinzip Hoffnung? 

Eine Antwort darauf wußten schon die alten Griechen. Als Strafe für den Frevel des Prometheus, der den Sterblichen das Feuer brachte, schuf Zeus ein neues Übel in der Gestalt der wunderschönen Pandora, die er zu den Menschen schickte. Dort angekommen, öffnete Pandora ihre Büchse, die sie als Geschenk in den Händen trug, und »alsbald entflog dem Gefäß eine Schar von Übeln und verbreitete sich mit Blitzesschnelle über die Erde. Ein einziges Gut war zuunterst in dem Fasse verborgen, die Hoffnung; aber auf den Rat des Göttervaters warf Pandora den Deckel wieder zu, ehe sie herausflattern konnte, und verschloß sie für immer in dem Gefäß. Das Elend füllte inzwischen in allen Gestalten Erde, Luft und Meer.« Ohne Hoffnung wäre das Leben unerträglich. Was nämlich sagt uns, was es zu verantworten lohnt, wenn nicht das »Prinzip Hoffnung«? Die Linke kann das Prinzip Hoffnung nicht aufgeben, ohne das »Projekt Moderne« seines progressiven Kerns zu berauben. Hüten wir uns also davor, die beiden Prinzipien gegeneinander auszuspielen — versuchen wir lieber, sie einander ergänzen zu lassen.

Der Ausbruch aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit sollte auf allen gesellschaftlichen Ebenen stattfinden, nicht zuletzt auf der staatlichen. Das Anwachsen individueller Autonomie in der Gesellschaft hat die Rückführung staatlicher Weisungsmacht zur Voraussetzung. Wer also die größtmögliche Selbstverwirklichung und Selbstbestimmung des Menschen zum Ziel allen Fortschritts erklärt, muß auch wollen, daß die staatliche Macht zugunsten der Erweiterung von individuellen Entscheidungsräumen abnimmt, muß, wie es Marx formuliert hat, die Rücknahme des Staates in den Staatsbürger betreiben. In seinen »Kritischen Randglossen« zum Gothaer Programm der Sozialdemokratie von 1875, das einen »freien Staat« fordert, sagt Marx, daß es keineswegs Zweck der Arbeiter sei, »die den beschränkten Untertanenverstand losgeworden, den Staat frei zu machen ... Die Freiheit besteht darin, den Staat aus einem der Gesellschaft übergeordneten in ein ihr durchaus untergeordnetes Organ zu verwandeln, und auch heute sind die Staatsformen freier oder unfreier im Maße, worin sie die >Freiheit des Staates< beschränken.«

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In den nachkapitalistischen Gesellschaften des Ostens ist zwar die Trennung von Staat und Gesellschaft aufgehoben worden, aber in der umgekehrten Richtung, als Marx gedacht hat: Nicht der Staatsbürger hat den Staat in sich zurückgenommen, hat sich den Staat Untertan gemacht, sondern der Staat hat sich den Staatsbürger unterworfen. Die »Perestroika« des Michail Gorbatschow ist ein erster, zaghafter Versuch, das Ruder in die richtige Richtung herumzuwerfen.

Den Staat in den Staatsbürger zurücknehmen heißt zwar, die staatliche Verantwortung zu demokratisieren, heißt aber nicht, den Staat von der spezifischen Verantwortung freizusprechen, für die er eingerichtet wurde. Im Gegenteil — ein Staat, der nicht allverantwortlich ist, kann die ihm geliehene Verantwortung mit um so größerem Nachdruck wahrnehmen, je stärker sich die ihn unterstützenden Staatsbürger mitverantwort­lich fühlen.

Wer einmal den Fehler begeht, auf einer Schweizer Straße die Geschwindigkeitsbegrenzung nicht zu beachten, wird schnell bemerken, daß ihn andere Verkehrsteilnehmer durch Lichtzeichen auf sein Vergehen aufmerksam machen. In Deutschland, Frankreich, Italien oder wo auch immer, ist dies ganz und gar unüblich. Nichts aber spricht dafür, daß unter Schweizern die Neigung, Mitmenschen zu belehren oder zurechtzuweisen, stärker verbreitet ist als anderswo. Freilich sind es nach der schweizerischen Kantonalverfassung die Bürger selber, die per Abstimmung die Geschwindigkeitsgrenzen auf ihren Straßen festlegen.

Auf dem direkten Wege staatsbürgerlicher Mitbestimmung in die Verantwortung genommen, ist die Identifikation der Bürger mit den staatlichen Bestimmungen offensichtlich sehr viel größer, als wenn solche Regelungen in einer Repräsentativverfassung quasi von oben auferlegt werden. Die Geschwindigkeits­übertretung des einen kann dann mitunter vom anderen als Mißachtung des eigenen in der Abstimmung allgemein gewordenen Willens empfunden werden. Partizipation, so scheint es, hebt das Verantwortungsbewußtsein.

203/204

   Mehr Demokratie wagen   

Wenn sich heute so viele Menschen angesichts der großen Risiken der modernen Produktion dennoch gleichsam frei von Verantwortung fühlen, dann wohl deshalb, weil auch diese Risiken ihnen von oben, von sachlichen und fachlichen Autoritäten, von Politikern vorgesetzt werden. Damit in den repräsentativen Demokratien nicht auch die gesellschaftliche Verantwortung nur noch repräsentiert wird, werden wir nicht umhinkönnen, die partizipativen Elemente in diesen Systemen zu stärken. 

Der Tschernobyl-Prozeß in der Sowjetunion hat gezeigt, wie ein autoritär geführter Staat sich davor drücken kann, die eigene Verantwortung einzugestehen, indem er einige unzulängliche Funktionäre und Ingenieure zu alleinigen Sündenböcken abstempelt und hart bestraft, ansonsten jedoch weiter Atomstrom produziert, als sei gar nichts passiert. Ähnliches könnte sich im Falle eines Falles auch hierzulande abspielen.

Die Freiheit in der Gesellschaft zu bewahren fordert vom Menschen ein Ethos der ökologischen Selbstbeschränkung. Die Fähigkeit zur Selbstbeschränkung wiederum fordert ein verantwortungsbewußtes Individuum. Das zur Verantwortlichkeit nötige Selbstwertgefühl des Menschen aber bildet sich erst in der Auseinandersetzung mit anderen. Wir werden nicht mehr Demokratie erlangen, indem wir ein Reich der Harmonie, der Konflikt- und Herrschaftsfreiheit erträumen. Worauf es ankommt, ist zu lernen, die Konflikte, die es immer geben wird, ja geben muß, möglichst gewaltfrei auszutragen und möglichst schöpferisch zu gestalten. Worauf es ankommt, ist Herrschaft, die es wohl auch immer geben wird, zu beschränken und demokratisch zu kontrollieren.

Mit der Erkenntnis, daß unsere Produkte uns außer Kontrolle geraten, ist auch der linke Traum von der bewußten Machbarkeit der Geschichte in die Krise gekommen: Die Menschen haben die Produkte ihrer Arbeit, das von ihnen »Gemachte« aus den Augen verloren, sie haben das Maß für das Machbare verloren, sie sind zu blinden, Sachzwängen gehorchenden »Machern« geworden. »Machern« mangelt es an Visionen.

Auch die Politik hat sich — visionslos — den Sachzwängen gebeugt. Daher die Politikverdrossenheit vieler, daher die Enttäuschung über das Versagen des Staates, das eigentümlicherweise weniger als das Versagen der Verwaltung, sondern mehr als das Versagen der Parteien empfunden wird.

Parteien sind aber nur ein kleiner Ausschnitt der Gesellschaft. Sie können nicht mehr und nicht weniger »machen« als in der Gesellschaft machbar ist. Der Linken ist seit langem bekannt, daß es nicht Aufgabe allein der Politik sein kann, die Gesellschaft zu verändern. Politik hat lediglich den sozialen Wandel abzusichern, sofern der Wandel positiv ist. Positiv ist im Sinne der Aufklärung, was dem Fortschreiten der Gesellschaft in Richtung Freiheit dient. Eine gute Politik muß demnach die in der Gesellschaft aufkommenden Emanzipationsbestrebungen und -tendenzen aufgreifen und verstärken, wenn nötig kanalisieren oder präzisieren, schließlich institutionalisieren und legalisieren.

»In der gegenwärtigen Krise« — sagt Lewis Mumford — »müßten wir, um das Wesen des Menschen zu bewahren und wieder zu erneuern, die Demokratie erfinden, wenn wir sie nicht schon hätten.«

Ja, wir müssen mehr Demokratie wagen!

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Ende

 

 

www.detopia.de     Zitatnachweis     ^^^^ 

Die Gesellschaft der Zukunft - Von Oskar Lafontaine