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Nachwort    von Oskar Lafontaine 1989  

 

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Zur Ratio der kapitalistischen Marktwirtschaft gehört, daß die gesellschaftlich notwendige Zeit »produktiver« Erwerbsarbeit ständig abnimmt. Dadurch verändert sich die Gesellschaft. Nicht wenige Theoretiker glauben inzwischen, daß hinsichtlich der Verkürzung der »Arbeitszeit« die Quantität einmal in Qualität umschlagen könnte: Daß sich also in einer Gesellschaft, die für die Erwerbsarbeit nur noch wenig Zeit aufbringen müßte, andere Ordnungs­strukturen als die in der bürgerlich-kapitalistischen vorherrschenden herausbilden würden.

Ist denn der Wunsch der Menschen nach mehr Freizeit etwas anderes als das Verlangen, stärker durch Tätigkeiten, Werte und Beziehungen definiert zu werden, die nicht an die Erwerbsarbeit geknüpft sind? 

In dem Maße, wie die »freie« Zeit zunimmt, rückt der Betrieb — und die betrieblichen Gewerkschafts­organisationen — aus dem Zentrum des Kraftfeldes, das die gesellschaftliche Existenz eines jeden bestimmt. Daß damit zugleich die gesellschaftliche Bannkraft der ökonomischen Rationalität abgeschwächt wird — die Bannkraft jener Rationalität der marktgerechten Verwertung und bürokratisch-hierarchischen Organisations­strukturen — stellt zutreffend André Gorz in seinem neuen Buch mit dem Titel <Metamorphosen der Arbeit und Sinnsuche>, eine <Kritik der ökonomischen Vernunft>, fest. 

Gorz bei detopia

Die traditionelle, an Marx geschulte Linke ging mehr oder weniger davon aus, daß vor allem die Qualität, nicht die Quantität der Erwerbsarbeit für die Veränderung der kapitalistischen Wirtschaftsordnung ausschlaggebend sei: Insofern gesellschaftliche Macht und gesellschaftliche Freiheit in den Produktions­verhältnissen ihre Wurzeln hätten, käme es in erster Linie darauf an, diese Verhältnisse zu »demokratisieren«, die Menschen in der Erwerbs­arbeit zu »befreien«. Demzufolge müsse der Schwerpunkt des gesellschaftlichen Emanzipations­kampfes um die Erwerbsarbeit herum organisiert werden.

Diese Folgerung bleibt richtig, solange sie nicht zum alleinseligmachenden Dogma erhoben wird. Wo freie gewerkschaftliche Betätigung nicht möglich ist, verkümmert die politische und gesellschaftliche Demokratie, für die eine demokratische Gestaltung des Wirtschaftslebens unverzichtbar ist. 

Selbst aus ökonomischer Sicht wäre es unsinnig, die Gewerkschaften schwächen zu wollen. Die Bundes­republik hat ihren sozialen Frieden und ihre wirtschaftliche Prosperität nicht zuletzt starken Einheits­gewerk­schaften zu verdanken. Schwache Gewerkschaften stehen unter dem Druck, ihre Kampffähigkeit stets aufs neue beweisen zu müssen — wer würde ihnen schon geben, was sie nicht erst erstreikt hätten? Die »englische Krankheit« ist eine Folge der Schwäche, nicht der Stärke einer Gewerkschaftsbewegung.

Meine Thesen (dies wurde mir vorgeworfen) hätten einer neokonservativen Politik des Sozialabbaus den ideologischen Boden bereitet und die Position der Gewerkschaften objektiv geschwächt.

Das ist absurd. Es ging mir immer nur um die eine Frage: Wie können mehr Arbeitsplätze geschaffen, wie die Arbeitslosigkeit verringert werden? — eine Frage, die sich auch Jürgen Habermas in einem Gespräch mit Hans-Ulrich Beck über »Konservative Politik, Arbeit, Sozialismus und Utopie heute« stellt: 

»Die entscheidende politische Frage der nächsten Jahre wird es sein, ob dieses Thema — [»eine <gespaltene Gesellschaft> mit einem produktiven Kern von Beschäftigten und einem breiter werdenden, nur noch notdürftig alimentierten, vernachlässigten Rand der in Subkulturen und Ghettos Abgedrängten«] — aus der Öffentlichkeit herausgehalten oder zum Gegenstand politischer Auseinander­setzungen gemacht wird — und welche Seite, wenn das Problem thematisiert wird, sich durchsetzt: der Interessen­egoismus einer Mehrheit, die ihren Besitzstand mit Klauen und Zähnen verteidigt [...], oder aber die Solidarität derer, die noch drin sind, mit denen draußen. 

Das wird auch, und vielleicht in erster Linie davon abhängen, ob sich die Gewerkschaften nach amerikanischem Muster auf eine closed-shop-policy verlegen, oder ob sie an die Solidartradition der Arbeiter­bewegung anknüpfen.«

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    Die Gewerkschaften haben ihre Position gestärkt    

 

Überlegungen, wie die Zweidrittelgesellschaft überwunden, wie die Ausgrenzung eines Teils der Gesellschaft verhindert werden kann, sind alles andere denn neokonservativ. Sich mit gewerkschaftlichen Forderungen kritisch auseinanderzusetzen heißt nicht, die Gewerkschaften zu schwächen. Das Gegenteil hat sich ja inzwischen herausgestellt. Aus der breiten Debatte, die in den vergangenen Jahren um die Verkürzung der Arbeitszeit geführt wurde, ist die deutsche Gewerkschaftsbewegung eher gestärkt hervorgegangen. 

Hans-Jochen Vogel, der SPD-Vorsitzende, hat darauf hingewiesen, daß durch diese Debatte »die Aufmerksamkeit auf den gesellschaftlichen Skandal der steigenden Massenarbeitslosigkeit gelenkt« wurde. Auch die Zukunftskongresse der Gewerkschaften fanden ein beachtliches öffentliches Interesse.

Da sich jede Gesellschaft über die Arbeitsteilung konstituiert, bestimmen die Veränderungen im Bereich der gesellschaftlichen Arbeit ganz wesentlich den sozialen Wandel. Zur klassischen Lehre des Sozialismus gehört die Vorstellung, daß sich gesellschaftliche Macht oder Ohnmacht, gesellschaftliche Freiheit oder Unfreiheit des einzelnen aus seiner Stellung im Arbeitsprozeß ergeben: Macht und Freiheit hat, wer über die Produktionsmittel verfügen und gegen Entgelt fremde Arbeitskraft für die eigenen Zwecke einsetzen kann; ohnmächtig und zu einem guten Teil unfrei ist, wer seine Arbeitskraft auf dem Markte feilbieten, wer gegen Bezahlung im Dienste anderer arbeiten muß. 

Dementsprechend gilt seit Marx die Aufhebung des Grundwiderspruchs zwischen dem gesellschaftlichen Charakter der Arbeit und ihrer privaten Aneignung als Schlüssel zur Freiheit. Die Erfahrung mit dem »real existierenden« Sozialismus lehrt indes, daß sich die Menschen nicht freier und glücklicher fühlen, wenn anstelle der privaten die gesellschaftliche, genauer gesagt, die staatliche Aneignung tritt.

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Das Individuum empfindet sich genauso fremdbestimmt, gleich, ob es seine Arbeitskraft im Dienste eines Gemeinwesens oder eines Privaten entäußert, kann es sich doch das Ergebnis der eigenen Arbeit so oder so nicht unmittelbar selber aneignen. Wiewohl Teil seiner Gattung und seiner Gesellschaft, erhebt der einzelne Mensch dennoch Anspruch auf Autonomie, gegenüber der Gattung oder der Gesellschaft als Ganzem.

Will man, und dies gehört ebenfalls zur klassischen Lehre des Sozialismus, daß der Mensch mit seiner Arbeit ein wie auch immer geartetes Bewußtsein von Selbstverwirklichung verbindet, dann wird man die Eigenarbeit von den privaten Rändern mehr ins öffentliche Zentrum der Gesellschaft rücken müssen — was nicht heißen muß, daß die Erwerbsarbeit aus dem Zentrum verdrängt wird. Eine Aufwertung der informellen Arbeit könnte sehr wohl eine Aufwertung auch der formellen Arbeit bewirken. 

Die Überlegungen Hannah Arendts und anderer, den Begriff der Arbeit unter dem Gesichtspunkt sinnvoller und gesellschaftlich nützlicher Tätigkeit neu zu bestimmen beziehungsweise zu erweitern, an die meine Position im Prinzip anknüpft, hat ja nun wahrlich nicht zur Konsequenz, daß die Menschen im Rahmen ihrer notwendigen Erwerbsarbeit unfreier werden sollen — im Gegenteil. Gerade deshalb war es mir wichtig, im Sommer 1988, als die Diskussions­wellen um die Verkürzung der Arbeitszeit und die Neubestimmung der Arbeit am höchsten schlugen, für größere Wirtschafts­demokratie und für den Ausbau der Mitbestimmung zu plädieren.

 

   Die formelle Arbeit humanisieren und demokratisieren, die informelle Arbeit aufwerten  

 

Es paßt zur »neuen Heftigkeit« dieser Debatte, daß falsche Alternativen gleichsam als Popanze aufgestellt wurden. So wurde von der traditionellen Linken die Forderung erhoben, man sollte, statt die informelle Arbeit aufzuwerten, lieber die ganze Kraft auf die Humanisierung und Demokratisierung der formellen Arbeit richten.

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Warum nur dieses »statt«? Warum nicht beides zugleich mit ganzer Kraft anstreben? Schließt denn die »Befreiung von der Arbeit« eine »Befreiung in der Arbeit« aus? Könnte es nicht eher sein, daß sich beide Tendenzen gegenseitig stärken? Gewiß, es gibt Gegenargumente. Würde eine zeitlich geschrumpfte Erwerbsarbeit aus dem Zentrum der individuellen Lebensplanung und demnach, in der Summierung, auch aus dem Zentrum der kollektiven Lebensplanung rücken — so lautet eines davon —, die Menschen verlören das Interesse daran, ihre Erwerbsarbeit freier zu gestalten, verlören also letztlich das Interesse an der eigenen Emanzipation aus demokratisch nicht legitimierten Machtverhältnissen.

Dieses Argument überzeugt mich nicht. Daß mit der Erwerbsarbeit zugleich das Emanzipationsinteresse der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer abnimmt, halte ich keineswegs für ausgemacht. Im Gegenteil, oft genug findet sich der Wunsch nach individueller und gesellschaftlicher Emanzipation am ausgeprägtesten gerade bei denjenigen, die wenig durch fremdbestimmte Arbeit belastet sind. Ist das verwunderlich? Gibt es eine bessere Schule der Freiheit, als sich an selbstbestimmte, selbst­verantwortliche Tätigkeit zu gewöhnen — vorausgesetzt natürlich, diese Tätigkeit hat einen menschlichen oder gesellschaft­lichen Sinn, ist nicht unnütz oder gar schädlich?

In der Debatte um die Neubestimmung des Arbeitsbegriffs sind einige merkwürdige Plädoyers gehalten worden — merkwürdig vor allem dann, wenn die Erwerbsarbeit mit pseudosozialistischer Verve verteidigt wurde. Bisweilen bekam ich sogar zu hören, daß eine Erweiterung des Arbeitsbegriffes über die formelle Arbeit hinaus nicht sinnvoll sei, weil sich ja die Menschen in ihrer Erwerbsarbeit verwirklichten. Welch eigentümliches Verständnis des Sozialismus offenbart sich in einer solchen Argumentation: Es wird schlichtweg unterschlagen, daß die abhängige Erwerbsarbeit einer kapitalistischen Logik folgt.

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Welch erbärmliche Arbeitsverhältnisse gibt es noch in der Bundesrepublik, was wird nicht alles unter dem Etikett der Erwerbsarbeit pauschal mitverteidigt! Und wer oder was sollte sich in derartigen Arbeitsver­hältnissen verwirklichen können?

Seit Marx ist doch das Credo der Linken ein völlig anderes: Gewiß — so läßt es sich zusammenfassen — sollten sich die Menschen in ihrer Arbeit verwirklichen können, in der Realität aber ist ihnen dies nicht möglich, solange die notwendige Erwerbsarbeit durch eine kapitalistische Wirtschaftsordnung zur Ware »entfremdet« wird; gerade um der Selbstverwirklichung des Menschen in seiner Arbeit willen sei es deshalb erforderlich, die kapitalistischen Produktions­verhältnisse »aufzuheben«.

Dieser Logik gemäß also müßten die Erwerbsarbeitsverhältnisse in der Bundesrepublik, die ja zweifelsohne kapitalistischer Natur sind, nicht verteidigt, sondern abgeschafft werden. Die Frage ist nur: durch wen? Auch wenn es den Anschein hat, als verspürten Teile der Linken bisweilen noch die alte Lust dazu, so fehlt ihnen doch der Wille oder das Vermögen. Das sollten auch diejenigen bedenken, welche immerfort die theoretische »Machtfrage« stellen. Wer mit einer bestimmten Gesellschaftsordnung leben will oder muß, der kann seine Politik der Reformen nur nach den geltenden Spielregeln machen. Ohne ihr Selbstverständnis als politisch neutrale Einheitsgewerkschaften aufzugeben, können genausowenig die deutschen Gewerkschaften die bürgerliche Gesellschaftsordnung abschaffen wollen. Durch die »Humanisierung« der Arbeitsplätze allein wird sich am Warencharakter der kapitalistischen Arbeit nichts Wesentliches ändern.

 

   Die informelle, nicht entfremdete Eigenarbeit hat emanzipative Qualität  

 

Jene ganzheitliche Art der menschlichen Selbstverwirklichung, wie sie in Marxens berühmten Beispiel vom freien Individuum anklingt, welches morgens jagen und mittags fischen geht, abends Schafzucht betreibt und nach dem Essen »kritisiert«, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden, findet nicht innerhalb der formellen Erwerbsarbeit, sondern bestenfalls innerhalb der informellen Eigenarbeit statt, die (noch) nicht als Ware über den Arbeitsmarkt vermittelt wird.

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Natürlich ließe sich — wie manche es vorschlagen — das Verteilungsvolumen der Erwerbsarbeit durch die Umwandlung informeller zu formeller Arbeit vergrößern, ließen sich dementsprechend die Chancen verbessern, für alle einen bezahlten Arbeitsplatz zu finden. 

Freilich könnte dieses Ziel genauso effektiv auf dem Weg einer radikalen Verkürzung der Erwerbsarbeit erreicht werden, ein Weg, der weniger verlustreich wäre, denn mit jeder informellen Eigenarbeit, die in Erwerbsarbeit umgewandelt wird, verliert die Gesellschaft an menschlicher Wärme.

Es ist eben doch von der zwischenmenschlichen, von der emotionalen Qualität her etwas anderes, ob es die Kinder selber sind, die ihre gebrechlich gewordenen Eltern pflegen oder ob sie sie von einem noch so fürsorglichen, noch so gut ausgebildeten Altenpfleger pflegen lassen; ob es die Eltern selber sind, die ihr Kind erziehen oder ob sie es von einer noch so liebenswürdigen, pädagogisch noch so geschickten Erzieherin erziehen lassen; ob es die Staatsbürgerinnen und Staatsbürger selber sind, die sich ihrer öffentlichen Belange gemeinsam annehmen oder ob sie ihre Interessen durch einen noch so wohlmeinenden, noch so klugen, professionellen Volksvertreter vertreten lassen.

Wenn Marx richtig gesehen hat, daß der Warencharakter der Erwerbsarbeit einer Selbstverwirklichung der Menschen in ihrer Arbeit entgegensteht, dann sollte sich eine auf die Selbstverwirklichung ihrer einzelnen Mitglieder bedachte Gesellschaft davor hüten, den vorhandenen Bestanden informeller, nicht entfremdeter Eigenarbeit auf dem Weg der Professionalisierung zu einer austauschbaren Ware zu machen. Vielmehr sollte sie versuchen, die emanzipative Qualität der Eigenarbeit als Wertparadigma für die gesamte, gesellschaftlich notwendige Tätigkeit der Menschen zu nutzen, als Paradigma also auch der Erwerbsarbeit.

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Ohnehin ist es fraglich, ob sich der jahrhundertelange Prozeß der Umwandlung von naturwüchsigen menschlichen Tätigkeiten in bezahlte, organisierte Beschäftigungsverhältnisse immer weiter fortsetzen läßt, ohne daß der emotionale Haushalt der Gesellschaft so gründlich zerrüttet wird, wie es mit dem ökologischen bereits geschehen ist. »Der Bedarf an gesellschaftlich notwendiger Arbeit«, sagt Jürgen Habermas, »scheint sich zum einen in Bereiche zu verlagern, die Tätigkeiten nach dem Muster der Industriearbeit gar nicht kennen, sondern eher einen kommunikativen Umgang mit Personen erfordern; zum anderen verlagert sich der Bedarf in Tätigkeitsbereiche, die in die Organisationsform von Industrie- und Verwaltungsbetrieben nicht passen.

Dabei denke ich an soziale und erzieherische, auch an politische Aufgaben, die gar nicht erst in formelle Beschäftigungsverhältnisse überführt werden, weil sie keinen Gewinn abwerfen; die aber auch nicht als Dienstleistungen organisiert werden sollten, weil das die Lebenswelt dem Zugriff von Experten nur noch weiter ausliefern würde [...]. Ich bezweifle, daß der Mechanismus des Marktes noch geeignet ist, den tatsächlichen Bedarf an Arbeit zu identifizieren und innerhalb von Formen gesellschaftlich anerkannter Arbeit zu befriedigen.

Die im kapitalistischen Sinne bis jetzt produktive Arbeit steht demnach im Gegensatz nicht nur zu einer sozialen Anerkennung, sondern auch zum Wert gesellschaftlicher Tätigkeiten, die nicht mehr in die vorhandenen Formen der Anerkennung und Wertschätzung passen.«

Dies genau ist der Punkt, an dem sich die Diskussionen um die Bestimmung des Arbeitsbegriffs im neuen Grundsatzprogramm der SPD entzündet haben. Ein Vergleich zwischen den Formulierungen des ersten und des zweiten Programmentwurfs macht deutlich, daß sich auch die sozialdemokratische Programmdebatte in der von Habermas angesprochenen Richtung entwickelt hat. 

War noch in dem Entwurf vom Juni 1986 lediglich davon die Rede, daß »die gesellschaftlich notwendige Arbeit anders zu bewerten und anders zu verteilen« sei, so wird in dem neuen Entwurf vom Januar 1989 gefordert,

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daß die Ungleichbewertung der verschiedenen Formen der gesellschaftlich notwendigen Arbeiten überwunden werden muß und die verschiedenen Arbeiten zwischen Männern und Frauen gleich verteilt werden sollen. Die Ungleichbewertung überwinden zu wollen aber kann nichts anderes heißen, als die Gleichbewertung anzustreben. Damit ist die Neubewertung der Arbeit Grundsatz sozialdemokratischer Politik geworden.

 

   »Dem auf Abwege geratenen Sozialismus seine ursprüngliche Idee« wiedergeben  

 

Auch die Strategie des Sozialismus, die bisher an der organisierten, bezahlten, produktiven, weil betriebswirtschaftlich gewinnbringenden und abstrakt zerlegbaren Arbeit angesetzt hat, wird mit einer Umwertung der Arbeit gleichsam neu bestimmt: Sie wird in Zukunft darauf abzielen, neue Formen des solidarischen und selbstbestimmten Zusammenlebens zu schaffen, also Lebensformen zu entwickeln, die die Herausbildung unbeschädigter individueller Identitäten in einer solidarischen Gesellschaft erlauben.

In Anlehnung an den Theologen Paul Tillich könnte man sagen, daß dieser Sozialismus dem Prinzip »Liebe« in der Gesellschaft zur Geltung verhilft. Es kommt darauf an, die alten Werte der Solidarität zu bewahren und unter veränderten gesellschaftlichen Vorzeichen mit neuem Leben zu füllen. Wer das will, muß zunächst einmal die weitere Zerstörung solidarischer Lebensformen aufzuhalten versuchen, muß zunächst einmal verhindern, daß weiter lebenswichtige Bereiche nach dem Muster gewinn- und herrschaftsorientierter, abstrakter, bürokratischer oder industrieller Arbeit organisiert werden. Ich plädiere also vor allem deshalb für eine Umwertung des Arbeitsbegriffs, weil ich in dem Paradigma der informellen Arbeit eine mögliche Strategie des zukünftigen Sozialismus angelegt sehe. Keiner hat das so deutlich zum Ausdruck gebracht wie die Jacques Julliard:

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»Die derzeitige Krise hat mit den Wirtschaftskrisen der Vergangenheit wenig gemein. Sie nimmt weder die Form der Überproduktion noch die der Unterkonsumtion an; sie ist weniger eine ökonomische oder finanzielle, sondern im wesentlichen eine soziale Krise, die die Verteilung der Arbeit in unserer Gesellschaft in Frage stellt. Die Vollbeschäftigung kann nicht durch die Flucht nach vom in eine sinn- und maßlose Produktivität wiedererlangt werden, sondern nur durch eine Neudefinition der Arbeit, in die auch andere Kriterien als die des kapitalistischen Systems aufgenommen werden müssen. Neugestaltung der konkreten Arbeit, Aufwertung der nicht produktiven Arbeit, Wiedereinführung der schöpferischen Dimension der Arbeitstätigkeit — das ist heute nicht nur eine moralische Forderung, sondern eine wirtschaftliche Notwendigkeit und für den auf Abwege geratenen Sozialismus ein Mittel, seine ursprüngliche Idee wiederzufinden und damit eine neue Bedeutung für die heutige Zeit zu gewinnen.«

 

Wir sind es gewohnt, in merkantilen Kategorien zu denken: Alles, was einen Wert hat, hat auch seinen Preis. Was Wunder also, daß der Vorschlag, die informelle Arbeit aufzuwerten, als Forderung nach einem Hausfrauenlohn mißverstanden wurde — ein Mißverständnis, das noch in der Konsequenz der Formulierung des Godesberger Programms der SPD liegt: »Hausfrauenarbeit muß als Berufsarbeit anerkannt werden.«

Um es klar zu sagen:  

Unter Aufwertung soll hier nicht so sehr die Bezahlung, als vielmehr die höhere Einstufung auf jener gesellschaftlichen Werteskala verstanden werden, jener unausgesprochenen Übereinkunft, von der die Normen abgeleitet werden. Solch eine Aufwertung ist in erster Linie eine Frage des gesellschaftlichen Bewußtseins. Auch wenn ein »postmaterialistischer« Bewußtseinswandel unverkennbar ist, so wird doch noch immer der Status eines Menschen viel zu sehr an der Erwerbsarbeit festgemacht. Der Mann gilt in der Gesellschaft häufig nur so viel, wie er verdient, und seine erwerbslose Ehefrau gilt meistens noch etwas weniger.

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Solange sich in den Köpfen der Menschen nicht die Einstellung zur Familienarbeit, zur »Reproduktions­arbeit« ändert, solange die Gesellschaft keine normativen Anreize gibt, auf daß sich diese Einstellung ändert, so lange wird die reale Gleichstellung von Frau und Mann ein frommer Wunsch bleiben. Da würde auch ein Hausfrauenlohn kaum weiterhelfen.

Den arbeitenden Menschen, so André Gorz in seinem neuen Buch, geht erst dann die Beschränktheit der vorherrschenden ökonomischen Rationalität auf, wenn ihr Leben nicht mehr allein von einer über den Markt vermittelten Erwerbsarbeit ausgefüllt und ihr Kopf davon nicht mehr völlig zugestellt ist — mit anderen Worten, wenn sie über genügend freie Zeit verfügen, die Welt der nicht quantifizierbaren Werte zu entdecken. Werte der existentiellen Souveränität, Werte der »Zeit zum Leben«; je stärker Intensität und Dauer der Erwerbsarbeit die Menschen belasten, desto weniger sind sie in der Lage, ihr Leben als Selbstzweck zu begreifen, als Quelle aller Werte, desto mehr neigen sie dazu, es zu vermarkten, also darin nur ein Mittel zu sehen, etwas zu erwerben, das diesen Wert an sich in verdinglichter Form zu besitzen scheint: das Geld.

 

   Die Aufwertung der Eigenarbeit muß auf strukturelle Art erfolgen  

 

Ist die Aufwertung der informellen Arbeit eine Frage des gesellschaftlichen Bewußtseins, so ist sie nicht minder eine politische Aufgabe — und dies nicht nur, weil auch politische Agitation darauf abzielt, Bewußtsein zu verändern. Viele Sozialisten haben geglaubt — und einige glauben das noch immer —, den »neuen« Menschen heranziehen zu können. Aber die »Erziehungs­diktaturen« kommunistischer Prägung erwiesen sich als genau solch ein untauglicher Versuch wie die antiautoritären Erziehungs­experimente der späten sechziger und frühen siebziger Jahre. 

Der pädagogische Weg zum Sozialismus mündete lediglich in die Ernüchterung der Pädagogen. Für die Veränderung des gesell­schaftlichen Bewußtseins kann Erziehung nur ein in ihren Möglichkeiten begrenztes Hilfsmittel sein.

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Wer die informelle Arbeit durch politisches Handeln aufwerten will, sollte nicht die Menschen zu erziehen suchen, sondern zuerst einmal die Strukturen der Arbeitswelt verändern. Noch ist die »produktive« Arbeit so organisiert, daß Berufs- und Familienleben schlecht zu vereinbaren sind, sind die Strukturen der Arbeitswelt daraufhin angelegt, daß berufliches Fortkommen meistens zu Lasten der Familie geht, daß hinter jedem berufstätigen Menschen ein anderer steht, der sich um Haushalt und Familie kümmert und selber nicht »arbeitet«. 

In Anbetracht der Tatsache, daß der soziale Status eines Menschen immer noch weitgehend von der Erwerbsarbeit bestimmt wird, läuft diese Ordnung auf eine strukturelle Abwertung der Familienarbeit hinaus. Demnach müßte die Aufwertung der Eigenarbeit zuallererst auf strukturelle Art erfolgen: durch die Einrichtung einer gesellschaftlichen Produktions- und Arbeitsordnung, die jedem Menschen, ob Mann oder Frau, die gleichen Möglichkeiten böte, Berufs- und Familienleben, Erwerbs- und Eigenarbeit ohne große Nachteile miteinander zu verbinden. Mit anderen Worten: Auch die Verkürzung der täglichen Erwerbsarbeitszeit ist bereits eine strukturelle Aufwertung der informellen Arbeit.

Daß ich die Aufwertung der informellen Arbeit in erster Linie nicht unter dem Aspekt der Bezahlung sehen will, soll wiederum nicht heißen, daß sie nicht auch ihren Preis haben müßte. Selbstverständlich muß auch darüber nachgedacht werden, ob und in welchem Ausmaß es sinnvoll ist, gesellschaftlich nützliche Familien-, Kultur- oder Eigenarbeit materiell abzusichern, ob und in welchem Ausmaß finanzielle Ressourcen dafür zur Verfügung stehen. Der Staat hat durchaus die Möglichkeit, auch für die sogenannte Reproduktionsarbeit eine Art preislicher Rahmenbedingungen festzulegen. Mit der erklärten Bereitschaft, Weiter­bildung zu finanzieren oder Eltern für die Dauer eines bis zweier »Erziehungsjahre« den vorübergehenden Ausstieg aus dem Beruf zu ermöglichen, hat er ja im Prinzip längst anerkannt, daß auch die »nicht-produktive«, informelle Arbeit ihren Preis hat.

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Die Anerkennung dieses Prinzips schwingt mit in den Überlegungen der sozialdemokratischen Bundestags­fraktion, die zeitweilige, informelle Pflege von kranken oder alten Menschen als eine Leistung mit Anspruch auf Rente zu werten.

Auch die Forderung nach einer sozialen Grundsicherung, wie sie von der SPD erhoben wird, wäre nicht so leicht zu legitimieren, würde dabei nicht zumindest unterschwellig vorausgesetzt, daß auch die »Reproduktionsarbeit« vom Staat anerkannt werden muß. Es versteht sich von selbst, daß eine solche Grundsicherung solide finanziert werden muß — was angesichts der Ebbe in den öffentlichen Kassen kein leichtes ist, in der Tat. Dennoch bin ich der Meinung, daß in einer mit dem Produktivitätszuwachs reicher werdenden Gesellschaft auch der Finanzierungsspielraum für eine Grundsicherung erheblich größer werden könnte, würden die finanziellen Ressourcen sinnvoll und intelligent verwendet.

Aus prinzipiellen Erwägungen heraus wäre es ohnehin vernünftig, das Netz der sozialen Sicherung nicht so eng und nicht so ausschließlich in der Erwerbsarbeit festzumachen. In einer Ordnung der freien Marktwirtschaft wird die Erwerbsarbeit niemals frei von Krisen sein — Krisen, die natürlich auch auf die gesellschaftlichen Subsysteme durchschlagen, die an die Erwerbsarbeit gebunden sind. Gerade ein Netz der sozialen Sicherung, das in Krisenzeiten den schwersten Belastungen ausgesetzt wird, sollte selber möglichst krisenfest sein, also nicht auf krisenanfälligen Pfeilern ruhen. Ein staatlich finanziertes Sicherungssystem scheint mir auf die Dauer allemal solider als ein an die Erwerbsarbeit gekoppeltes Versicherungssystem. Aus ähnlichen Gründen wurde die Wertschöpfungsabgabe ins Gespräch gebracht.

 

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   Die Bedeutung des Arbeitsplatzes für die Politisierung der Menschen nimmt ab   

 

Ich kann mir vorstellen, daß mit einer Neubestimmung und Neubewertung dessen, was Arbeit ist, ein Wandel des gesell­schaftlichen Bewußtseins in Gang gesetzt wird, der vor der Erwerbsarbeit nicht haltmacht. Es ist durchaus plausibel, daß Menschen, die gewohnt sind, ihr Leben in eigener Regie zu führen, ihr Tun und Lassen selber zu verantworten, ihr Handeln nach eigenem Antrieb zu regeln, um so eher in wichtigen Lebensbereichen die gewohnte Selbständigkeit vermissen und um so weniger geneigt sind, unselbständige und entfremdete Arbeit zu verrichten. So gesehen wird den Menschen aus der einschneidenden Verkürzung der Erwerbsarbeitszeit nicht ein Desinteresse an ihrer »Befreiung in der Arbeit« erwachsen; zudem wird sich der Antrieb verstärken, auch die Erwerbsarbeit möglichst human und frei zu gestalten.

Impulse, die die Erwerbsarbeit verändert haben, sind immer schon aus anderen Bereichen der Gesellschaft gekommen. In dem Maße, wie diese Tendenz wächst, nimmt die Bedeutung des Arbeitsplatzes für die Politisierung der Menschen ab. »Die sogenannte arbeitsfreie Zeit wächst, nicht nur wöchentlich, sondern auch über die Spanne der Lebensgeschichte, und trotzdem werden die außerhalb der formellen Beschäftigung liegenden Lebensbereiche immer nur negativ, wie das Wort arbeitsfreie Zeit schon sagt, immer nur privativ mit Bezugnahme auf eine mehr und mehr obsolet werdende Sphäre der Arbeit definiert. Wie kann die Gesellschaft in ihren Grundlagen so umgebaut werden, daß nicht nur aus gesamtwirtschaftlicher Perspektive, sondern auch aus der Sicht der individuellen Lebensgeschichte eine Gewichtsverlagerung zustande kommt?« — so fragt Jürgen Habermas. Unter welchen Bedingungen könnte aus der »Befreiung von der Arbeit« eine Dynamik der gesellschaftlichen Emanzipation entstehen, die letztlich dem einzelnen mehr Freiheit in der Arbeit bringt?

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Politiker müssen solche Fragen stellen, weil es Aufgabe der Politik ist, solche Bedingungen zu fördern. Auch die Politik braucht ein Bild der zukünftigen Gesellschaft.

»Sozialismus oder Barbarei«, so lautete der Titel einer Zeitschrift der undogmatischen französischen Linken, die längst ihr Erscheinen eingestellt hat. Doch die Alternative, die der Titel aufwarf, liegt nach wie vor in den Möglichkeiten der Zukunft. Denkbar — und von Schriftstellern häufig überspitzt ausgemalt — ist eine Freizeitgesellschaft, in der eine gewinn- und herrschafts­orientierte Unterhaltungsindustrie die Menschen zu passiven Konsumenten einer leicht verdaulichen Einlullungs- und Betäubungskultur regelrecht verblödet — durch die elektronischen Medien zur Denkfaulheit erzogen, darauf abgerichtet, auf fertige und frei Haus gelieferte Bildsignale zu reagieren, unfähig zur Kreativität. 

Anstelle dieser negativen Utopie läßt sich, gleichsam als Gegenentwurf, eine bessere Möglichkeit der Zukunft vorstellen: Ich will sie die »beteiligende Gesellschaft« nennen und darunter eine Ordnung verstehen, in der Menschen nicht vereinzelt, beherrscht, verwaltet und verplant werden; eine Ordnung, in der sie weder zu passiven Konsumenten eines seelenlosen Kulturbetriebs, noch zur willfährigen Verfügungsmasse der industriellen Produktion, noch zum manipulierten Stimmvieh der Politik degradiert werden; eine Ordnung, in der der einzelne, solidarisch mit allen anderen, seine Arbeits-, Kultur- und Lebensformen in einem schöpferischen Prozeß, soweit es geht, selber bestimmt; mit einem Wort, eine Ordnung, in der die Menschen an dem, was sie betrifft, auch wirklich beteiligt sind.

 

   Die »beteiligende Gesellschaft« ist eine konkrete Utopie  

 

Utopien haben den Vorteil, daß sie qua Definition nie verwirklicht werden — im Positiven wie im Negativen. Utopien haben die Funktion, der Reformpolitik die Orientierung zu erleichtem. Sie sind der Pfeil, der die Richtung anzeigt, und nicht das Ziel, das erreicht werden kann.

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Mag auch die »beteiligende Gesellschaft« letzten Endes Utopie bleiben, so ist sie doch als solche konkret genug, der heutigen Politik als Leitbild zu dienen; sie ist eine Aufforderung, soviel wie möglich so schnell wie möglich zu realisieren — auch wenn das Mögliche von Schritt zu Schritt nicht viel sein wird.

 

Die Utopie der »beteiligenden Gesellschaft« ist beileibe nicht neu. Der Ruf nach mehr gesellschaftlicher und politischer Partizipation ist so alt wie der Sozialismus selber und hat immer wieder innerhalb der Linken breite Debatten ausgelöst. Auch die deutsche Arbeiterbewegung hat ihren Traum vom idealen Staat nicht nur als parlamentarische Repräsentativverfassung geträumt. Erst mit der »Befreiung von der Arbeit« jedoch, mit der Zunahme der erwerbsarbeitsfreien Zeit hat sich die Perspektive für eine direktere Beteiligung aller an ihren gesellschaftlichen und politischen Belangen konkretisiert. 

Nur wenige verspürten nach 12stündiger täglicher Arbeitsfron noch den Wunsch oder die Kraft, sich an irgendeiner gemeinnützigen Sache zu beteiligen. Als noch die 60-Stunden-Woche die Regel war, mußte die Forderung nach stärkerer gesellschaftlicher und politischer Beteiligung in den meisten Ohren wie Hohn klingen. Mit der 30-Stunden-Woche aber wird sie nicht nur möglich, sie wird sogar notwendig.

Nur durch aktive Betätigung im kulturellen Leben kann die Freizeitgesellschaft davor bewahrt werden, in den Stumpfsinn der Passivität abzugleiten; nur durch Engagement in den Organisationen und Systemen der gesellschaftlichen Solidarität, durch die direkte Anteilnahme an den Freuden, den Nöten und den Sorgen der Mitmenschen kann das von Erwerbsarbeit weitgehend befreite Individuum daran gehindert werden, sich in privaten Nischen von anderen zu entsolidarisieren; nur durch Beteiligung der Arbeitnehmer an den wirtschaftlichen und betrieblichen Entscheidungen kann die Erwerbsarbeit freier werden; nur durch die intensive Beteiligung der Menschen an der politischen Willensbildung und ihrer Umgestaltung kann mehr Demokratie gewagt werden.

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Diese Sätze enthalten auch eine Antwort an diejenigen, die jeden ungewohnten Reformvorschlag mit dem Verweis auf die ungelöste grundsätzliche »Machtfrage« kontern. Denn eine Strategie der zunehmenden Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger wäre meines Erachtens zugleich eine Strategie der »schleichenden Entmachtung«: In dem Maße nämlich, wie mehr und mehr Lebens- und Entscheidungsbereiche im wahrsten Sinne des Wortes demokratischer organisiert wären, schrumpften die sozialen Räume, in denen sich demokratisch nicht legitimierte Macht entfalten und herrschen kann. Der traditionellen Linken fällt es schwer, an eine solche Strategie zu glauben; zu fest sitzt in abgemilderter Form noch der alte sozialistische Trugschluß in den Köpfen, daß die politische Macht ein bloßer Ausfluß der wirtschaftlichen Macht sei, daß, wer die unlegitimierte Macht in der Gesellschaft aushebeln will, den Hebel an den Produktionsverhältnissen — und dort allein — ansetzen muß.

 

In der modernen Wohlstandsgesellschaft — Ulrich Beck hat sie »Risikogesellschaft« genannt — strahlt die traditionelle, abstrakte Zielsetzung des Klassenkampfes, die Aufhebung des Grundwiderspruchs zwischen Kapital und Arbeit, kaum noch politisch motivierende Kraft aus. Mit den wachsenden Risiken haben die Gattungsfragen die Klassenfragen überlagert. So muß in der heutigen Zeit der Sozialismus, um letztlich eine freiere und solidarische Gesellschaft durchzusetzen, eine andere Strategie verfolgen, muß sich andere, allgemein verständlichere und konkretere Ziele setzen, Ziele, die die Menschen motivieren und mobilisieren, Ziele, die nicht durch die alte Floskel von der Überwindung des gesellschaftlichen Antagonismus definiert sein sollten, sondern durch die Forderung nach Herstellung solidarischer Lebensformen. 

Solidarität muß umfassender sein: war sie bislang nur Leitidee des Widerstands gegen die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, so muß sie jetzt zum Prinzip auch des Widerstands gegen die Ausbeutung der Natur durch den Menschen werden; war der Sozialstaat die Organisationsform der gesellschaftlichen Solidarität gegen die Ausbeutung der Menschen, so muß jetzt dieser gleichsam auf einem sozialen Fuß stehende Staat auf einen zweiten ökologischen gestellt werden, quasi als Organisationsform der Solidarität gegen die Ausbeutung der Natur.

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   Die Anonymität der gesellschaftlichen Solidarität muß abgebaut werden  

 

In dieser Strategie bedingen und ergänzen sich gegenseitig die zunehmende Beteiligung, die Umwertung der Arbeit und die durchschnittliche Verkürzung der Erwerbsarbeitszeit. Weit über das hinaus, was vordergründig mit der Verkürzung der Erwerbsarbeitszeit assoziiert wird, ist eine solche Strategie nicht nur ein Mittel gegen die Arbeitslosigkeit. 

Sie hat eine solidarische und eine demokratische Komponente zugleich: Die Erwerbsarbeit soll solidarisch unter allen aufgeteilt werden, also auch unter denjenigen, die heute noch arbeits­los sind und — um der Gleichheit der Frauen willen — die Erwerbs- und Familienarbeit auch solidar­isch zwischen Frau und Mann; darüber hinaus aber kann das Element der Beteiligung, das mit der Verkürzung der Erwerbsarbeitszeit bekräftigt wird, ein Ferment des gesellschaftlichen Demokrat­isierungs­prozesses schlechthin sein.

Wer für die Verkürzung der Erwerbsarbeitszeit eintritt, schuldet eine Antwort auf die Frage, was die Menschen mit der neugewonnenen Freizeit anfangen sollen. Es macht ja nur dann einen fortschrittlichen Sinn, die Zeit der Erwerbsarbeit zu verkürzen, wenn dies nicht zur passiven Unterwerfung der Menschen unter die Zwänge der Freizeitgesellschaft führt, sondern zu ihrer kulturellen Emanzipation in einer Gesellschaft, in der sie wieder weitgehend über die Zeit verfugen. Demnach wäre es erforderlich, im gleichen Maße, wie die Erwerbsarbeitszeit verkürzt wird, die Beteiligung aller als Prozeß der gesellschaftlichen Demokratisierung voranzutreiben und so zu organisieren, daß die Gesellschaftsordnung ohne ihre demokratische Beteiligung keinen Bestand hat. Dies als Gewähr dafür, daß die Menschen auch wirklich beteiligt werden.

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Dagegen wird man einwenden können, daß sie womöglich gar nicht so sehr beteiligt sein wollen, daß sie Belastungen lieber von sich auf die Institutionen abwälzen. Darum geht es gar nicht. Natürlich sollen gesellschaftliche Einrichtungen auch weiterhin den einzelnen entlasten, sollen ihm Sorgen abnehmen und Hilfestellungen anbieten. Jeder soll nun nicht plötzlich alles selber machen, aber er kann an den wichtigen Entscheidungen, die sein Leben betreffen, selber mitwirken. Dadurch kommt auch die gesellschaftliche Solidarität weniger anonym als bisher zum Ausdruck.

Nicht nur die vielen Bürgerinitiativen sind ein Indiz dafür, daß ein Großteil der Menschen diese Beteiligung sucht. Solange es zum Beispiel die gesetzliche Möglichkeit der kommunalen Selbstverwaltung nicht gegeben hat, gab es keine Kommunalpolitiker; seit diese Möglichkeit vorhanden ist, mangelt es auch nicht an Personen, die bereit sind, sich in der freizeitraubenden Kommunalpolitik zu engagieren.

Ein weiteres Beispiel: Wissenschaftler der Universität von Michigan (USA) haben im Auftrag von General Motors untersucht, ob die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer der Automobilindustrie in Detroit damit einverstanden wären, im Jahr nur noch sechs Monate in ihren angestammten Betrieben zu arbeiten und die restlichen sechs Monate bei Fortzahlung des Lohnes einer freigewählten anderen Tätigkeit nachzugehen. Die Arbeitnehmer reagierten sehr zurückhaltend, solange sie den Eindruck hatten, für ein halbes Jahr in bezahlten Urlaub geschickt zu werden. Erst nachdem ihnen verdeutlicht worden war, daß es sich nicht um Urlaub, sondern um eine gesellschaftlich nützliche und sinnvolle Betätigung handeln soll, für die sie sich »berufen« fühlten, stieß das Projekt auf große Zustimmung. Die Menschen fürchteten schlichtweg, so interpretiert Frichjof Bergmann, der Leiter des Projektes »New York«, die anfängliche Zurückhaltung, ein halbes Jahr sozusagen passiv und unnütz zu Hause »herumlungern« zu müssen, wollten doch die meisten etwas gesellschaftlich Sinnvolles tun.

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Was also spricht dagegen, statt der Freizeitgesellschaft die »beteiligende Gesellschaft« anzustreben — oder doch zumindest die Freizeit als eine Zeit der kulturellen, politischen und sozialen Beteiligung zu verstehen? Und wenn eine solche »Beteiligungsarbeit« der Schlüssel zur Demokratisierung der Gesellschaft ist, der Weg zur Entmachtung unlegitimer Machtverhältnisse, was spricht dann dagegen, ihr den gebührenden Wert beizumessen? Was spricht dagegen, jene beträchtlichen und für die demokratische Gestaltung des gesellschaftlichen Lebens unerläßlichen Energien, wie sie etwa von einer Frauengruppe oder einem sozialdemokratischen Ortsverein zum allgemeinen Nutzen aufgebracht werden, richtig zu würdigen? Ist es denn nicht absurd, daß auf der derzeitigen, an der »produktiven« Arbeit orientierten Werteskala der Gesellschaft die Herstellung von Massenvernichtungswaffen höher eingestuft wird als die zur Sicherung eines demokratischen und menschlichen Miteinanders erforderlichen informellen Tätigkeiten?

 

   Von der Arbeitsgesellschaft zur Kulturgesellschaft  

 

Bedingung der Utopie der »beteiligenden Gesellschaft« sind eine weitere Verkürzung der Erwerbsarbeits­zeit und eine Umwertung des Arbeitsbegriffs. Sie haben nur dann einen fortschrittlichen Sinn, wenn sie über die stärkere Beteiligung der Menschen an den kulturellen und gesellschaftlichen Entwicklungen zu einem Mehr an Demokratie führen. Erst aus der Verbindung von Arbeitszeit­verkürzung, Umwertung der Arbeit und Partizipation ergibt sich eine sozialistische Strategie, die auf die Herstellung solidarischer Lebensformen zielt.

In dieser Strategie wird die Aufwertung der informellen Arbeit das Paradigma der Beteiligung. Die gesellschaftliche Position des einzelnen würde nicht mehr in erster Linie bestimmt durch die Erwerbsarbeit, die Stellung im Produktionsprozeß, also durch das, was er auf fremdes Geheiß gemäß bürokratischen oder betriebshierarchischen Organisations­prinzipien sowie den Verwertungs­kriterien des Marktes täglich tun muß. Sie würde stärker bestimmt durch die insgesamt verrichtete gesellschaftlich sinnvolle und nützliche Tätigkeit, zu der er sich berufen fühlt.

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Ist ein besserer Weg denkbar, um dahin zu kommen, daß alles menschliche Tun und Lassen, daß auch die Arbeit wieder unter das Kriterium der Verantwort­lichkeit gestellt wird? Daß es ein Ende nimmt mit der umweltzerstörerischen und menschen­aufreibenden organisierten Verantwortungslosigkeit, die in der Wirtschaft oder der Politik vorherrschen? Die Utopie der »beteiligenden Gesellschaft« ist nichts anderes als die Utopie einer Kulturgesellschaft, in der das menschliche Dasein weniger in der Herstellung von Gutem oder im Erbringen von Dienstleistungen seinen Ausdruck fände, als vielmehr in einer kommunikativen, demokratischen und solidarischen Kultur der Tätigkeit. (Die Aufgabe der Kulturpolitik liefe dann darauf hinaus, Solidarität in der Gesellschaft zu mobilisieren.)

Und das Schöne an dieser Utopie ist: Es bedarf nicht erst der Überwindung des Kapitalismus, in sie einzusteigen. Sie zeigt ja gerade den Weg auf, wie die bestehende Gesellschaftsordnung mit den ihr eigenen politischen und wirtschaftlichen Mitteln, nach den ihr eigenen politischen und wirtschaftlichen Spielregeln reformiert werden kann — und ich schreibe sehr bewußt: reformiert werden kann. Denn in der Debatte um die Verkürzung der Erwerbsarbeitszeit haben ja seltsamerweise die Verfechter des vollen Lohnausgleichs für sich beansprucht, die entschiedeneren Reformer zu sein. 

André Gorz aber weist mit Recht darauf hin, daß von allen Forderungen die Lohnforderungen — so unerläßlich sie sind — am wenigsten geeignet sind, die Rationalität des herrschenden Wirtschaftssystems zu verändern, gehen doch gerade sie mit der Quantifizierung der Werte, mit dem nicht nur aus ökologischer Sicht fatalen Prinzip des »mehr ist mehr wert«, auf dem es beruht, am meisten konform. 

Alle Forderungen hingegen, die sich auf Intensität und Dauer, Organisation und Wesen der Arbeit beziehen — so Gorz —, sind von subversivem Radikalismus: mit Geld nicht zu erfüllen, unterliefen sie grundsätzlich die ökonomische Rationalität und durch sie hindurch die Macht des Kapitals. Die merkantile Ordnung würde in Frage gestellt, wenn Menschen entdeckten, daß nicht alle Werte quantifizierbar sind, daß nicht alles mit Geld gekauft werden kann und daß das, was nicht käuflich ist, das Wesentliche ist.

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Nachwort 1989 (zum Taschenbuch)