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3 - Leben in der Risikogesellschaft

 

Natürlich ist die Lage auf unserem Planeten äußerst alarmierend. Jedesmal, wenn ich darüber nachdenke und versuche, logisch zu sein, werde ich sehr pessimistisch. Ich sehe keine Möglichkeit, die Menschen und vor allem die Entscheider so weitreichend und schnell zu verändern, daß gerettet werden kann, was gerettet werden müßte. Aber wenn ich dann mein Herz benütze, mein ehernes Vertrauen in die Menschheit, dann werde ich wieder optimistisch. Dann denke ich, daß sich die Dinge halt nicht immer logisch entwickeln. Daß irgend etwas geschehen wird. Was, weiß ich nicht. Aber es wird eine Situation kommen, die die Menschen aufwecken wird. Und wir werden plötzlich verstehen, daß wir unsere Anstrengungen vereinen müssen. Aber rational kann ich das nicht erklären.  (-Jacques Cousteau-)

 

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Wer den verlorengegangenen Fortschrittskonsens wiederherstellen will, muß die Ursachen beheben, die zu seinem Verlust führten. Da ist zum einen die unmittelbare Gefahr für das Leben, die mit den atomaren Waffensystemen und den Reaktorunfällen oder chemischen Katastrophen in den letzten Jahren auf unheimliche Weise manifest geworden ist. Da ist zum anderen das Gefühl der indirekten Bedrohung, das infolge der schleichenden Zerstörung der natürlichen Umwelt von den Menschen Besitz ergriffen hat. 

Da sind außerdem die Befürchtung, die Freiheit zu verlieren, ausgeliefert zu sein an die Megatechnik, und das Empfinden der ohnmächtigen Abhängigkeit von einer undurchschaubar gewordenen gesellschaftlichen Organisation der Technik, das mit der Technisierung aller Lebensbereiche gewachsen ist. Und da ist nicht zuletzt die Angst, von der Technik aus dem Arbeitsprozeß verdrängt zu werden, überflüssig zu werden und den erreichten Lebensstandard einzubüßen.

An diesen Ursachen muß die Politik der Zukunft ansetzen. Sie wird mehr denn je eine Politik der Sicherheit sein, darauf bedacht, die Risiken eines technisierten Produktionsprozesses für das menschliche Leben so gering wie möglich zu halten und das friedliche Miteinander der Völker jenseits der atomaren Abschreckung zu ermöglichen. Sie wird eine Politik des ökologischen Umdenkens sein, die allerdings nicht mit dem Rückfall in vorindustrielle Zeiten liebäugelt.

Indem die Menschen ihre Geschichte machen, indem sie ihre Zukunft herbeidenken und durch ihr bewußtes Tätigwerden hervorbringen, stoßen sie auch immer eine Bewegung an, die sie nicht gedacht, nicht gewollt, nicht berücksichtigt haben. Gefährliche Dinge kommen so ins Rollen, entwickeln ihre eigene Dynamik, drohen, sich der menschlichen Kontrolle zu entziehen. Gelingt es nicht, sie einzufangen und in ungefährliche Bahnen umzulenken, wird es nichts werden mit einer menschlicheren Zukunft in größerer Freiheit.

 

   Angst wird produziert   

Mit dem exponentiellen Wachstum der Produktion wuchsen bisher auch die gesellschaftlichen Risiken und Selbstbedrohungspotentiale. Nicht nur die Quantität, sogar die Qualität der Risiken verändert sich in bedrohlicher Weise — was mit dem Schrumpfungsprozeß des sekundären Sektors zusammen­hängt: In gleichem Maße, wie die Produktionstechniken effizienter werden und die industrielle Produktion rationalisiert wird, gewinnt auch die mitproduzierte Gefährdung an Effizienz. Für den Kernschmelzunfall eines 1300-Megawatt-Reaktors rechnet die deutsche Risikostudie-Kernkraftwerke mit 15.000 Toten durch akutes Strahlensyndrom und mit circa 100.000 Toten zu einem späteren Zeitpunkt durch Leukämie und Krebs. Außerdem könne eine Fläche von doppelter Größe des Saarlandes verseucht und dadurch eine Umsiedlung von 2,9 Millionen Menschen notwendig werden.

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Die Freisetzung einer Grundsubstanz für Pflanzenschutzmittel hat im Dezember 1984 in Bhopal circa 5000 Todesopfer und circa 80.000 Verletzte gefordert. Nach einer Untersuchung des TÜV Rheinland würde eine Explosion eines 30.000-Liter-Phosgen-Tanks 2000 Tote und 20.000 Verletzte fordern. Der Zusammenstoß eines Schiffes mit einem Flüssiggastanker würde nach seriösen Schätzungen wahrscheinlich Tausende Todesopfer und Verletzte fordern — eine Prognose, die Ende 1987 vor den Philippinen traurige Wirklichkeit wurde.

Mit der Entwicklung der Produktivkräfte und der daraus resultierenden Komplexität des gesellschaftlichen Organismus sind nicht nur die Zerstörungskräfte gewachsen, mit der Produktion des Reichtums ist auch die Produktion von Ängsten gewachsen. Das ungezügelte Streben nach wirtschaftlichem Wachstum hat uns in das Dilemma gebracht, daß wir die Steigerung unseres Sozialprodukts mit Risiken und Ängsten bezahlen und daß wir einen großen Teil des Zugewinns dann wieder verschwenden müssen, um sie einzudämmen oder zu behandeln. 

In einer solchen Situation ist jedes »Weiter so« zynisch. Denn es bedeutet nicht nur weiter so mit dem gesellschaftlichen Wohlstand, es bedeutet auch weiter so mit den Produktions­mechanismen und -techniken, die diesen Wohlstand erzeugen, also weiter so mit allen darin enthaltenen Risiken. Der nächste Supergau ist programmiert. Dieses »Weiter so« ist eine uneingestandene Kapitulation vor den Problemen der modernen Industriegesellschaft. Es zeugt von einem erschreckenden Mangel an Vorstellungskraft, daß es auch anders gehen könnte, besser gehen könnte, gefahrloser gehen könnte.

Natürlich soll es weitergehen, muß es weitergehen. Die Geschichte kommt nicht zum Stillstand. Sie läßt sich auch nicht zurückdrehen. Ein Rückfall in vorindustrielle Produktionsverhältnisse ist ganz und gar undenkbar. Die technische Entwicklung muß und wird weitergehen, aber sie darf nicht »so« weitergehen. Wir dürfen das Sozialprodukt nicht weiter auf Kosten der Gesundheit und um den Preis der Lebensangst steigern.

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Wäre besseres Wissen allein imstande, Fehlentwicklungen zu verhindern, dann dürfte es die Risikogesell­schaft, so wie sie heute ist, gar nicht geben, denn die Einsicht, daß maßloses wirtschaftliches Wachstum und gesellschaftlicher Überfluß mit Gefahren für die Menschen verbunden sind, ist wahrscheinlich schon genauso alt wie die denkende Menschheit. 

In der »Politeia« beschreibt Platon die gerechte Stadt. Das wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben ihrer Bürger richtet sich nach dem, was der Vorstand als sinnvoll und erforderlich erscheinen läßt.

»Die so ausgerüsteten ... werden Getreide und Wein ziehen, Kleider und Schuhe machen und Häuser bauen, dabei im Sommer zwar oft unbeschuht und ziemlich entblößt arbeiten, im Winter aber hinlänglich bekleidet und beschuht. Und nähren werden sie sich, indem sie aus der Gerste Graupen bereiten und aus dem Weizen Mehl und dies kneten und backen und so die schönsten Kuchen und Brot auf Rohr und reinen Baumblättern vorlegen und selbst mit ihren Kindern schmausen, auf Streu von Taxus und Myrten gelagert, Wein dazu trinken und begrenzt den Göttern lobsingen, und werden sehr vergnüglich einander beiwohnen, ohne über ihr Vermögen hinaus Kinder zu erzeugen aus Furcht vor Armut oder Krieg ... 
Ich vergaß, daß sie auch Zukost haben werden, Salz ja gewiß und Oliven und Käse und Zwiebeln und Kohl, und was vom Felde eingekocht werden kann, werden sie sich einkochen. Auch Nachtisch wollen wir ihnen aufsetzen von Feigen, Erbsen und Bohnen, und Myrtenbeeren und Kastanien werden sie sich in der Asche rösten und mäßig dazu trinken. So werden sie ihr Leben friedlich und gesund hinbringen und aller Wahrscheinlichkeit nach wohlbetagt sterben, ihren Nachkommen ein ebensolches Leben hinterlassen.«

Wohlwissend, daß sich die Menschen mit dieser maßvollen und genügsamen Lebensart nicht zufrieden­geben, warnt Platon dann vor den Gefahren einer üppigen, einer aufgeschwemmten Stadt, in der Polster da sein sollen 

»und Tische und anderes Hausgerät und Zukost und Salben und Räucherwerk und Freudenmädchen und Backwerk, dies alles aufs mannigfaltigste. Ja auch, was wir vorher aufstellen, gilt nun nicht mehr, nämlich das Notwendige einzurichten, Häuser, Kleider und Schuhe; sondern man muß die Malerei in Bewegung setzen und die bunte Weberei, und Gold und Elfenbein und alles dergleichen muß angeschafft werden ...

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Also müssen wir die Stadt wiederum größer machen? Denn jene gesunde ist nicht mehr hinreichend, sondern sie muß sich nun anfüllen mit einem Haufen Volks, das nicht mehr des Notwendigen wegen in der Stadt ist, wie zum Beispiel alle Jäger und Schaukünstler, viele, die es mit Gestalten und Farben zu tun haben, viele auch mit der Tonkunst, Dichter und deren Diener, Rhapsoden und Schauspieler, Tänzer, Unternehmer und Handwerker zu allerlei Geschäften, unter anderem auch für den weiblichen Putz. Ja, auch mehr Diener werden wir bedürfen. Oder meinst du nicht, daß wir auch Kinderwärter nötig haben werden und Wärterinnen, Kammermädchen und Putzmacherinnen, Bartscherer und dann wieder Bäcker und Köche? Auch Schweinehirten werden wir noch brauchen.«

 

  Der Überfluß birgt die Gefahr  

 

Dies ist, verblüffend einfach, die erste Analyse der Dienstleistungsgesellschaft: Die von Piaton beschriebene Tendenz, daß mit der Güterproduktion in einer komplexeren Gesellschaft auch das Bedürfnis nach Dienstleistungen wächst, hätte die Entwicklung der modernen Gesellschaft nicht augenfälliger bestätigen können.

Freilich sieht Platon nicht weniger klar, daß mit der Komplexität und dem Reichtum der Gesellschaft auch die Risiken für die Menschen zunehmen:

»Und auch Ärzte werden wir gewiß nun weit häufiger nötig haben bei dieser Lebensweise als bei der vorigen? ..... und auch der Grund und Boden, welcher damals hinreichte, die Damaligen zu ernähren, wird nun zu klein sein und nicht mehr groß genug ... Also werden wir von dem Nachbarn Land abschneiden müssen, wenn wir genug haben wollen zur Viehweide und zum Ackerbau, und sie auch wieder von unserem, wenn sie sich gehenlassen und die Grenzen des Notwendigen überschreitend nach ungemessenem Besitz streben ... 
Von nun an werden wir also Krieg zu führen haben«

— Krieg nicht nur gegen andere Völker, sondern auch Krieg gegen die Natur, so müßten wir heute hinzufügen.

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Was Platons Vergleich zwischen der gerechten und der üppigen, aufgeschwemmten Stadt aktuell macht, ist nicht, daß der griechische Philosoph gesell­schaft­liche Risiken feststellt, sondern die Art, wie er sie erklärt: Die Ursache der Gefahren liegt in der Üppigkeit, in der Aufgeschwemmtheit. Gemessen an der Utopie der gerechten, maßvollen Stadt, ist es der Überfluß, der Gefahr bringt. 

Platons Allegorie läßt sich durchaus übertragen auf die gegenwärtige Risikogesellschaft, deren Prinzip das Anhäufen, nicht das Teilen ist. Wesentlich für sie ist nicht die Tatsache, daß viele Risiken vorhanden sind, sondern vielmehr die, daß solche Risiken wissentlich und wissenschaftlich, mehr noch, daß manche von ihnen aus dem Überfluß produziert werden.

Wahrscheinlich müßte man, wie Platon, zum Vergleich noch die Utopie der gerechten Polis haben, um sich dieser Situation völlig bewußt zu sein. Viele Risiken der heutigen Großtechnologie sind nicht zuletzt dadurch bedingt, daß eine quantitativ auf Wirtschaftswachstum fixierte Gesellschaft das richtige Maß für die sinnvolle Güterproduktion aus den Augen verloren hat. Ein Teil dieser Risiken ist überflüssig, weil er dem Überfluß entspricht. Qualitatives Wachstum heißt, die Risiken zu vermindern.

Das Gefahrenpotential einer Gesellschaft im Überfluß ist nicht mit den Lebensrisiken vergleichbar, die in früheren Zeiten in Europa — oder gegenwärtig noch immer in der Dritten Welt — aus dem Mangel entstanden waren. Das Risiko der großtechnischen Nutzung der Kernenergie zum Beispiel ließe sich ohne nennenswerte Einbußen des Wohlstands vermeiden, wenn wir nur einen anderen Weg der Energie­versorgung einschlagen wollten. Auch die Vergiftung der Flüsse wäre nicht ein solches Problem, könnten wir uns bei der Herstellung vieler Produkte zu einer durchaus möglichen, sanfteren Chemie entschließen. Zu viele Produkt- und Produktionsalternativen, die weitaus weniger risikoträchtig sind, bleiben ungenutzt, weil der Markt die Produktion nicht genügend nach ökologischen Kriterien reguliert.

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Zweifelsohne war noch im 19. Jahrhundert das Armuts- oder Krankheitsrisiko der Europäer sehr viel höher als heute. Gewiß hätte auch damals eine andere Organisation der Gesellschaft, eine gerechtere Verteilung der Güter das Leben der Menschen erträglicher gemacht, doch gab es grundsätzlich weder gegen den Hunger noch gegen die Krankheit etwas, das eine Alternative bilden konnte zur schnellen Entwicklung der Produktivkräfte, zu denen ja auch die Wissenschaft zählt. Heute sind wir dagegen in der paradoxen Lage, daß uns der Verzicht in manchen Fällen besser bekommen würde als die Steigerung. Verständlich, daß gerade diejenigen, die ihren bescheidenen Wohlstand der kontinuierlichen, undifferenzierten Steigerung des Sozialprodukts verdanken, sich mit der Einsicht schwertun, daß der Verzicht in einigen Bereichen ein vieles mehr in anderen Bereichen bedeuten könnte.

Auch der Sozialdemokratie ist es nicht leichtgefallen, sich aus jener Wachstumseuphorie zu lösen, die im letzten halben Jahrhundert vom ökonomischen Denken Besitz ergriffen hat. Denn niemand hat bis jetzt ein klares Bild davon, wie der Sozialstaat bei sinkenden Wachstumsraten finanziert werden kann. Da sich aber die Linke immerhin die Utopie eines gerechteren Gemeinwesens bewahrt hat, kann sie sich besser als manch andere Partei vorstellen, daß die Lebensqualität der Menschen nicht unbedingt von der Quantität der verfügbaren Güter abhängt. Während daher die SPD schon vor geraumer Zeit von einem rein quantitativen Wachstumsbegriff Abschied genommen und die Verbesserung der Lebensqualität zu ihrem Ziel erklärt hat, sind die bürgerlichen Parteien noch immer dem alten, undifferenziert quantitativen Wachstumsdenken verhaftet. Es kommt nicht von ungefähr, daß einer wie Kurt Biedenkopf, der die alten Dogmen in Frage stellt, in seiner Partei einen schweren Stand hat.

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  »Schützen« heißt auch »bewahren«  

 

Sind Reichtum, Risiken und Ängste groß, ist auch das Sicherheitsbedürfnis groß. Entsprechend hoch ist dann der Anspruch an die Politik, diese Sicherheit zu gewährleisten. Sicherheit zu garantieren aber heißt, Schutz zu gewähren — Schutz nicht nur vor den äußeren Feinden, sondern Schutz auch vor den Risiken der Modernisierung im Inneren.

Das Sicherheitsbedürfnis der Menschen wird aus zwei Quellen gespeist: Zum einen ist da Trauer über den zivilisationsbedingten Verlust an traditioneller sozialer Geborgenheit, zum anderen Angst vor einer unbestimmten Zukunft. Je größer die Zukunftsangst, desto stärker die rückwärts gewandte Trauer. Je mehr die Zukunft mit Risiken belastet wird, desto notwendiger diese Trauer, die die menschlichen Werte unseres Daseins bewahren hilft. Weil »schützen« immer auch »bewahren« und »bewahren« lateinisch »conservare« heißt, ist der Wunsch nach menschlicher Geborgenheit und einem besseren Schutz des Lebens und seiner natürlichen Grundlagen als konservativ bezeichnet worden.

Ich selber habe oft provokativ von den Linken gesagt, sie seien in diesem Sinne heute die eigentlichen Konservativen. Es ging mir dabei nur darum, durch die irritierende Provokation dieser Formulierung Nachdenklichkeit zu erzeugen. Die Begriffe »fortschrittlich« und »konservativ« bilden eine logische Antinomie, das heißt, der eine Begriff gewinnt seine Bedeutung aus der Gegensätzlichkeit zum anderen. Stellt man den herkömmlichen Sinn des einen der beiden Begriffe in Frage, relativiert man damit zugleich den Sinn des anderen. Die Linke konservativ zu nennen ist gleichsam als Aufforderung an sie gedacht, ihren herkömmlichen Fortschrittsgestus zu überdenken.

Wer das »Projekt Moderne« so lange auf die Steigerung des Sozialprodukts gebaut hat, muß bisweilen zum Umdenken provoziert werden. Da eine Reformpartei, eine Partei der gesellschaftlichen Veränderung auf die argumentative Vermittlung ihrer Zielvorstellungen angewiesen ist, braucht sie Nachdenklichkeit, braucht sie Phantasie, sich gesellschaftliche Alternativen auszumalen.

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Natürlich darf nicht die Hoffnung auf ein besseres Leben — die Utopie — von der Zukunft in die Vergangen­heit verlagert werden. Vielmehr muß sie mit der Zukunft verbunden bleiben, indem der Begriff des Fortschritts gegen das Gefährdungspotential des Modernisierungsprozesses neu bestimmt wird. In einem fortschrittlichen Sinne konservativ sein heißt die Zukunft bewahren, heißt, gegen die Risiken eine Politik der Sicherheit zu betreiben.

Dies ist gewiß nicht der Konservatismusbegriff, der in der Politik gebräuchlich ist. Der politische Konservatismus, so wie er über Jahrhunderte von den sogenannten Konservativen selber verstanden wurde, hat wenig mit der Sicherheit der Menschen zu tun, um so mehr mit der Wahrung von gesellschaftlichen Strukturen, die wirtschaftliche, gesellschaftliche oder politische Macht verbürgen. »Konservativ« steht in der politischen Wortbedeutung für das »Haben« und nicht für das »Sein«.

In einem solchen Sinne konservativ ist das Festhalten an Privilegien, um wirtschaftliche, gesellschaftliche oder politische Emanzipationsbestrebungen abzuwehren. Wenn also die Linke mit dem Etikett »konservativ« spielt oder gar kokettiert, wird sie sich doch davor hüten, die Provokation bis zur Begriffsverwechslung zu treiben und dem politischen Konservatismus ungewollt das ideologische Rückgrat zu stärken. Wer unter konservativ nur den Schutz der Lebensgrundlagen und das Bewahren der menschlichen Werte versteht, wer mit konservativ nur das Bedürfnis nach Sicherheit und Geborgenheit meint, der muß darauf bedacht sein, die Unterschiede zur politischen Bedeutung des Wortes klarzumachen. Sicherheit entsteht letztlich nur durch die Vermeidung von Risiken.

Die größten Modernisierungsrisiken sind freilich nur zu vermeiden, wenn die überkommenen wirtschaft­lichen, gesellschaftlichen und politischen Machtstrukturen im Zuge einer fortschreitenden Demokratisierung auf der Basis einer neuen Verantwortungsethik umgestaltet werden. Der politische Konservatismus steht mithin der Sicherheit im Wege. Denn nicht der autoritäre, nur der demokratische Staat kann in Zukunft noch Sicherheit gewähren — eine Sicherheit, die aus dem verantwortlichen Handeln aller und nicht aus dem staatlichen Gewaltmonopol erwächst.

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  Verharmlosung der Risiken  

 

Seit Jahren erfahren wir aus den Umfragen der Meinungsforscher, daß das Sicherheitsbedürfnis der meisten Bundesbürger weit vor dem Wunsch nach einem Mehr an individuellen Entfaltungsmöglichkeiten rangiert.

In jeder menschlichen Gesellschaftsordnung, in jedem Gesellschaftsvertrag ist die Garantie der Sicherheit — in der dreifachen Form als äußerer Schutz, innerer Friede und materielle Absicherung — das Kernstück der Verpflichtungen des Staates oder Herrschers.

Die Magie der afrikanischen Regenkönige gehört dazu genauso wie die volkswirtschaftliche Verantwortung der Bundesregierung. Das Unvermögen des Staates, die erwünschte Sicherheit zu gewährleisten, führt zur Vertrauenskrise in die staatliche Leistungsfähigkeit, gar zur Legitimationskrise. Genau darauf spekuliert ja der Terrorismus. Jede Politik, die mehrheitsfähig werden will, muß also dem Sicherheitsbedürfnis der Menschen entgegenkommen. Gesellschaftliche Sicherheit und individuelle Entfaltung sind alles andere denn Gegensätze. Das eine kann künftig ohne das andere nicht mehr möglich sein.

Die Linke wird diesen Zusammenhang beherzigen müssen, wenn sie eine politische Chance haben will, die Zukunft vernünftig zu gestalten.

Gesellschaft wie Politik der nahen Zukunft werden mehr und mehr durch die Gefahr geprägt sein, in die wir alle gleichermaßen durch die ungewollten Nebenwirkungen einer unverantwortlichen Produktionsweise geraten. Entscheidungen, die bisher unbeanstandet den Wissenschaftlern, Ingenieuren oder Managern vorbehalten blieben, werden politisch brisant. Die Kernenergie ist nicht mehr nur Sache der Physiker. Die Schranken spezialisierter Zuständigkeit fallen, weil die Öffentlichkeit ein vitales Interesse daran hat, technische Details beurteilen zu können. Nichtpolitisches wird zunehmend politisch.

Diese Situation schreit geradezu nach einer Demokratisierung der Verantwortlichkeit, sie schreit nach Veränderung.

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Die drei Standardsätze des öffentlichen wie privaten Bürokratismus: Das haben wir noch nie so gemacht, das haben wir schon immer so gemacht, da könnte ja jeder kommen — werden in ihrer satten Blödheit durchschaubar! Die herrschende Politik dreht sich im Kreis. Und immer dann, wenn sie einen Zustand zu konservieren sucht, den sie unbedingt ändern müßte, nimmt sie Zuflucht zur Beschönigung. »Ästhetisierung« der Politik lautet hierfür das Fachwort, doch wäre es zu hoch gegriffen, wollte man die Politik der »Wende« ästhetisch nennen.

Die Ästhetik der »Wende« ist so trivial wie ihre Politik mittelmäßig. Nicht »Ästhetisierung«, sondern Verkitschung der Politik ist das richtige Wort. Wo das ernste Bemühen um die Veränderung einer ernst gewordenen Lage angebracht wäre, setzt die Regierung nur ihr verharmlosendes Lächeln auf. Während in Moskau ein neues Denken angesagt ist, propagiert man in Bonn ein »neues Grinsen«. Die Verkitschung der Politik treibt seltsame Blüten.

Die Verharmlosung der Risiken ist die eine Seite der Medaille, die Dialektik von Pflastersteinen und Polizei­knüppeln die andere. Denn wer die Risiken verharmlost, bewußt oder unbewußt, wird zuwenig tun, um sie zu beseitigen. Er wird dadurch bei denen, die von der Harmlosigkeit der Risiken nicht überzeugt sind, das Gefühl stärken, daß der eigene Aktionismus, um Gefahren abzuwehren, legitim sei. Demgegenüber kann eine Politik, die die Gefahr nicht in den Technologien sieht, die aber gleichwohl Sicherheit schuldet, sich nur noch dadurch legitimieren, daß sie die Gefahr in den Menschen sieht, die sich gegen die Risikotechnologien wehren. Nicht die Produkte der Technik sind das Sicherheitsrisiko, sondern diejenigen, die dagegen opponieren. Gegen sie muß dann der Machtanspruch des Staates, repressiv und autoritär, durchgesetzt und ausgebaut werden. Auf der Strecke bleiben nach und nach die demokratischen Freiheitsrechte. So entsteht in der Risikogesellschaft, wie dies Ulrich Beck richtig beobachtet hat, eine Tendenz zu einem »legitimen« Totalitarismus der Gefahrenabwehr — und zwar ein Totalitarismus von oben und von unten.

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  Technikmißbrauch und Freiheit  

 

Unter dem Gesichtspunkt der Freiheit erscheint also die Forderung, daß die Technik die Ausübung von Grundrechten nicht gefährden darf, besonders wichtig. Das erhebliche Schadenspotential einiger Großtechniken macht die Industriegesellschaft verletzlich und erpreßbar und daher sicherungsbedürftig. Sie fordert nicht nur Schutz gegen technisches Versagen, sondern auch Sicherung gegen technischen Mißbrauch, die nur auf Kosten der Freiheit gewährleistet werden kann. Vor einiger Zeit ist bekanntgeworden, daß deutsche »Computer-Hacker« die elektronischen Datenbanken der NASA und anderer großer Forschungseinrichtungen angezapft haben. Schon 1970 wurde in den Vereinigten Staaten aus einem Flugzeug eine Bombe auf eine Raffinerie geworfen. 1979 gelang es Mitgliedern der baskischen ETA auf dem Gelände einer spanischen Nuklearfabrik einen Fünfzig-Kilo-Sprengsatz zu zünden, und 1982 jagte die südafrikanische Befreiungsbewegung im AKW Köberg, zehn Kilometer von Kapstadt entfernt, vier Sprengsätze in die Luft.

In der Großtechnik, die eigentlich für den Menschen gedacht und gemacht wurde, wird so der Mensch zum Risikofaktor. Die Katastrophe von Tschernobyl ist durch menschliches Versagen verursacht worden. Diese und ähnliche Unfälle führen zu einer verschärften Überwachung und Kontrolle der Beschäftigten. Sie gelten als Sicherheitsrisiko. Ihr Privatleben muß durch Zuverlässigkeitsprüfungen überwacht werden, dabei werden auch Verwandte, Freunde und Nachbarn mit einbezogen.

Der Staat, der seine Bürger derart kontrolliert und schützt, bedarf einer neuen Rechtfertigung. Die Freiheit kann nur gewährleistet werden, wenn die Sachzwänge, die sie einschränken, vermieden werden. Es ist daher Aufgabe des Staates, technische Alternativen zu fördern und ihre Verträglichkeit mit dem Recht auf Freiheit zu überprüfen.

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Techniken, die eine ständige Arbeitsüberwachung, lückenlose, mehrfach gestaffelte Ein- und Ausgangs­kontrollen, obligatorische Personenüberprüfungen durch den Verfassungsschutz, weitgehende Einschränkungen der Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats oder gar bewaffneten Werkschutz erfordern, sind abzulehnen. Selbst wenn es für die eine oder andere solcher Technologien keine Alternative geben sollte, dann wird immerhin der Verzicht auf sie durch den Wiedergewinn demokratischer Lebens- und Arbeitsformen aufgewogen. Zum Schutze der Freiheit müßte zumindest die Opposition gegen gefährliche Produktions-, Informations- und Militärtechnologien durch verstärkte Kontroll-, Mitbestimmungs- und Planungsrechte berücksichtigt werden. Es kann ja in einer kapitalistischen Gesellschaft kein Systemfehler sein, die demokratischen und individuellen Spielräume zu erweitern, wenn die Entwicklung des Kapitalismus selber den Individualisierungsprozeß der Gesellschaft zur Folge hat.

 

  Die Individualisierung schreitet fort  

 

Auch wenn es nicht immer den Anschein hatte, so war doch, im nachhinein betrachtet, der Prozeß der Industrialisierung ein Prozeß der gesellschaftlichen Individualisierung — und wird es aller Voraussicht nach in zunehmendem Maße bleiben. Lange Zeit konnte ja die Linke mit Fug und Recht hoffen — und die Rechte befürchten —, daß sich in der Gesellschaft aufgrund der von der industriell-kapitalistischen Produktionsweise hervorgebrachten Klassenstrukturen ein bisher nie dagewesenes solidarisches Bewußtsein entwickeln würde; Beweis: die Arbeiterbewegung. 

Mit der Industrialisierung wurden die traditionellen Bindungen der Agrargesellschaft zerschlagen — was in Europa an der Auflösung der Großfamilie deutlich zu erkennen ist. In der frühen Industrialisierungsphase mußte sich das Familienleben der in den industriellen Ballungsräumen zusammengepferchten Proletariermassen auf die Reproduktion der Arbeitskraft beschränken. Zumindest unter rechtlich-institutionellem Aspekt scheint der Auflösungsprozeß einer bis auf den Kern bereits geschrumpften Familie noch immer nicht abgeschlossen. In vielen Ländern der Dritten Welt vollzieht sich derzeit ein ähnlicher Zerfallsprozeß in aller Heftigkeit: Die Industrialisierung zerstört die traditionellen Strukturen der Stammes- oder Familiensolidarität und läßt die Menschen ungesichert in den Slums ausufernder Metropolen verelenden.

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In den entwickelten Industriestaaten gelang es der Arbeiterbewegung, eine der industriellen Ordnung gemäße, klassenbewußte Solidarität zu organisieren und auf staatlicher Ebene institutionell durchzusetzen. Die gesellschaftliche Solidarität, die in der traditionellen Gesellschaft noch unmittelbar in zwischenmensch­lichen Hilfeleistungen zum Ausdruck kam, nahm jetzt die Gestalt großer sozialstaatlicher Versicherungssysteme an, wurde in der bürokratischen Vermittlung anonymisiert. Zweifelsohne war und ist die staatliche Garantie sozialer Sicherheit eine der größten Errungenschaften der Arbeiterbewegung und darf nicht grundsätzlich in Frage gestellt werden.

Der Umbruch der feudalen Agrargesellschaft zur bürgerlichen Industriegesellschaft stürzte die arbeitenden Massen in ein grenzenloses Elend. Die aus der Leibeigenschaft entlassenen Menschen waren in doppelter Weise freigesetzt worden: frei, ihre Arbeitskraft feilzubieten, wo und wem sie wollten; frei, zu verhungern, wenn sich kein Abnehmer fand. Die materielle Not wurde um so schärfer empfunden, als mit der Industrialisierung auch die traditionellen Formen der Zwischenmenschlichkeit und Solidarität zerbrochen waren und somit zur physischen noch die psychische Verelendung kam. Wie hätte der Prozeß der Individualisierung unter dem Vorzeichen eines derart verheerenden Mangels von den betroffenen Menschen als Gewinn empfunden werden können? Die einzig wirksame Möglichkeit, der Verelendung zu entrinnen, bestand in der Organisierung einer kollektiven, staatlich geschützten Solidarität.

Inzwischen aber hat sich die Lage qualitativ verändert: Durch die Entfaltung der industriellen Produktivkräfte ist aus einer Gesellschaft der materiellen Not eine »Gesellschaft des Überflusses« geworden — was nicht heißen soll, daß es in der ersten nicht reiche Minderheiten gab und in der zweiten nicht arme Minderheiten gibt. Mit der technologischen Entwicklung des Arbeits- und Gesellschaftslebens schreitet immer noch die Individualisierung fort.

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Die dritte industrielle Revolution, die Revolution durch Mikrochips und Telekommunikation, deren Anfänge wir derzeit erleben, wird das Tempo des Individualisierungsprozesses sogar beschleunigen. Doch heute, unter dem Vorzeichen des materiellen Überflusses, hat die Individualisierung eine völlig andere Qualität gewonnen als früher unter dem Vorzeichen des Mangels. Seit sie nicht mehr mit Verelendung verbunden ist, kann sie durchaus von vielen als positiv empfunden werden: Der Verlust an Sicherheit wird durch den Gewinn an persönlicher Autonomie und Selbstbestimmungsmöglichkeiten mehr als aufgewogen.

 

  Chronischer Mangel an Geborgenheit  

 

Die Freiheit bedarf einer materiellen Basis. Für einen Menschen, der Hunger leidet, bedeutet Selbstverwirklich­ung vor allem anderen, satt zu werden. Erst wenn er satt ist, wird er seine Entfaltungsräume zu erweitern suchen. Ebenso stellt eine satt gewordene Gesellschaft andere Sicherheitsansprüche als eine hungernde. Was also gegen Ende des 19. Jahrhunderts für die arbeitenden Menschen das Optimum zu sein schien, nämlich die sozialstaatliche Absicherung gegen die Willkür des Arbeitsmarktes und die Zeiten eigener Arbeitsunfähigkeit, ist gegenwärtig dem erweiterten Bedürfnis nach immaterieller Selbstverwirklichung nicht mehr so recht angemessen.

Der technische Fortschritt hat den Menschen zwar Wohlstand gebracht, er diktiert aber auch ihrem Zusammen­leben seine Bedingungen. Mehr und mehr werden zwischenmenschliche Beziehungen durch technische Medien vermittelt — die Telekommunikation ist vielfach zum Ersatz für die menschliche Kommunikation geworden. Was die Technik an menschlichem Miteinander verhindert, ließ sich zum Beispiel an dem Babyboom ermessen, der darauf folgte, als in einer Großstadt wie New York einmal abends der Strom ausfiel. In der hochtechnisierten Welt herrscht ein chronischer Mangel an Geborgenheit.

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Solange die Menschen sich um die Befriedigung ihrer materiellen Grundbedürfnisse sorgen mußten, überlagerte diese Sorge den Wunsch nach größerer Geborgenheit und breiterem individuellem Entfaltungsraum. Erst die Wohlstandsgesellschaft konnte sich des Mangels an Geborgenheit und Selbst­bestimmungs­möglichkeiten wieder so richtig bewußt werden und ihr neues »postmaterialistisches« Bewußtsein als Anspruch an die sozialen Sicherungssysteme formulieren.

Das Formulieren übernahmen als erste, mit unterschiedlichem Geschick, Grüne, Liberale und Christdemokraten. Geprägt durch die jahrhundertealte Erfahrung der Individualisierung als negativem Ergebnis des Kapitalismus und des Individualismus als seiner heimtückischen Waffe, geprägt auch durch eine ebenso alte Fixierung auf kollektive Solidarität und staatlichen Interventionismus, bemerkte die Sozialdemokratie zu spät, daß die Systeme der sozialen Sicherheit, die sie selber für die Menschen erkämpft hatte, der geänderten Zeit und dem geänderten Zeitgeist nicht mehr ganz gerecht wurden. In gewisser Weise hatte die Neuformulierung des sozialpolitischen Konzepts durch den Brain-Trust der CDU für die »Wende« einen ähnlichen Effekt wie dreizehn Jahre zuvor die Neuformulierung der Ostpolitik für das Zustandekommen der sozial-liberalen Koalition: Sie war Katalysator für die Zustimmung jener Wähler der Mitte, die von Willy Brandts »Mehr Demokratie wagen« zur Sozialdemokratie gezogen worden waren. Jetzt fielen sie aber wieder von ihr ab, nachdem die SPD selber die Dynamik der »Demokratisierung aller Lebensbereiche« abgebrochen und sich ihr Reformprojekt verstaatlicht hatte.

War es gegen Ende der sechziger Jahre die CDU, die von den Fesseln ihrer traditionellen Denkstrukturen daran gehindert wurde, die Notwendigkeit einer neuen Ostpolitik einzusehen und das Ausmaß ihrer Akzeptanz in der Bevölkerung richtig einzuschätzen, so war es gegen Ende der siebziger Jahre die SPD, die, in den Strickmustern ihres überkommenen sozialstaatlichen Wachstumsmodells verfangen, die gesellschaftliche und politische Sogwirkung des postmaterialistischen Individualismus verkannte.

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Claus Leggewie schreibt in seinem Buch »Der Geist steht rechts«: »Das Geheimnis des CDU-Erfolges dürfte wohl darin liegen, daß die Partei ihr traditionelles Image als staatserhaltende Institution, die die <Ansprüche> der Gesellschaft abwehrt und einpfercht, erweiterte; sie spürte sehr wohl die <libertären> Anklänge des Bewegungs-Protestes der siebziger Jahre und der Verschiebung der sozialen Konfliktlinien in der Krise der modernen Wohlfahrtsstaaten: Arbeitsplatzbesitzer versus Arbeitslose, Lebensqualität versus Wachstum, Alltag versus institutionelle Politik.«

 

  Die soziale Frage ist immer noch offen  

 

So gelang es den Christdemokraten sogar, vorübergehend auf dem klassischen Terrain der Sozialdemokratie die politischen Begriffe zu prägen und den Zeitgeist zu besetzen. »Entstaatlichung« hieß die neue Losung — und man muß anerkennen, sie war trefflich gewählt. Der Begriff erweckte nach links hin Sympathien, weil er nach »Rücknahme des Staates in den Staatsbürger« klingt, also linke Freiheitsassoziationen ermöglichte. Und er wirkte nach rechts hin sympathisch, weil er sich vorzüglich im Sinne des Wirtschaftsliberalismus als »Privatisierung« interpretieren läßt. So konnten sich die Unionsparteien mit jener berühmten semantischen »Statt/oder«-Alternative als die Parteien der individuellen Freiheit verkaufen und zugleich den demokratischen Sozialismus als eine Bewegung abstempeln, die das Individuum der Macht des Staates und der Verbände ausliefere.

Natürlich vermochte der Zauber der »Entstaatlichungsformel« die Menschen nicht lange in seinen Bann zu schlagen. Dafür war in ihrer christdemokratischen Ausführung die demokratische Substanz der Formel zu dünn. Zwar konnte sie mit dem Schlagwort der »Hilfe zur Selbsthilfe« nochmals auf einen weiteren einprägsamen Begriff gebracht werden, doch in der Bonner Praxis diente sie weitgehend nur dazu, ein fortschrittliches Mäntelchen um eine Politik des sozialen Kahlschlags zu hängen. Auch in den Ländern und Kommunen haben nur wenige Sozialpolitiker der Union, darunter in erster Linie der Berliner Sozialsenator Ulf Fink, ernsthaft versucht, den hehren Anspruch der christdemokratischen Formeln in die politische Praxis umzusetzen.

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Aus dem gesellschaftlichen Fortschritt, den die »Wende« verhieß, ist wahrlich nicht viel geworden: Die »neue soziale Frage«, die man freiheitlich zu lösen versprach, ist eine offene Frage geblieben; die technologischen Modernisierungsstrategien der Union sind zwar in wirtschaftlicher Hinsicht nicht ohne Erfolg, belasten aber die Zukunft mit unabsehbaren Risiken und gefährden die gesellschaftliche Freiheit, weil sie nicht wirklich in ethischer Hinsicht verantwortet sind; ganz zu schweigen von jener unsäglichen »geistig-moralischen Erneuerung«, die sich von Skandal zu Skandal als eine immer absonderlicher anmutende Farce entpuppte, bis sie dann endgültig im Kieler Sumpf verschwand.

Freilich darf sich die Sozialdemokratie durch die Tatsache, daß das neue sozialpolitische Konzept der Unionsparteien nicht gehalten hat, was es versprach, nicht davon abbringen lassen, ihre eigene Sozialpolitik weiter zu demokratisieren. An einer grundsätzlichen staatlichen Garantie und Kontrolle der sozialen Sicherungssysteme kann und darf niemand rütteln. Privatisierung kommt nicht in Frage. Doch in den staatlichen Organisationen muß der Freiraum für die Selbstbestimmung der Betroffenen erweitert werden. Eine Deklassierung der hilfsbedürftigen Menschen zu passiven Almosenempfängern ist nicht der richtige Weg.

Auch im Rahmen staatlicher Organisationen ist es möglich, Formen der sozialen Sicherung zu finden, die über die anonyme bürokratische Zuteilung von finanziellen Mitteln hinaus eine aktive, menschliche Solidarität vermitteln können. Die unterschiedlichen Erfahrungen, die derzeit viele staatlich unterstützte Selbsthilfegruppen auf diesem Gebiet sammeln, könnten durchaus zu einem sozialpolitischen Konzept gebündelt und verallgemeinert werden. Der Gedanke einer sozialen Grundsicherung für alle diejenigen, die keiner Erwerbsarbeit nachgehen können und kein anderes Einkommen haben, ist allein schon deshalb richtig, weil eine solche Sicherung mit einem geringen bürokratischen Aufwand zu organisieren ist.

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Allerdings sollte man sich weiter überlegen, wie auch eine Grundsicherung mit Organisationsformen unmittelbarer menschlicher Solidarität und individueller Selbstbestimmung verbunden werden könnte. Besser ist es, elternlosen Kindern die Geborgenheit in einer Pflegefamilie zu ermöglichen, als sie in Kinderheime zu überweisen. Besser ist es, durch öffentliche Hilfsmaßnahmen alten Menschen das Verbleiben in der Familie zu ermöglichen, als sie in Altersheime abzuschieben. Es müßte nachdenklich stimmen, daß nur wenige entwickelte Gesellschaften Altersheime nicht kennen. Jedenfalls lebt es sich glücklicher mit weniger Geld in der mitmenschlichen Solidarität einer Gruppe als mit mehr Geld in der Vereinsamung. Die Ausdrucksformen der Solidarität, die in materieller und sozialer Hinsicht stark von der Erwerbsarbeit in industriellen Großunternehmen bestimmt sind, bedürfen der Erweiterung, um mit dem Prozeß der gesellschaftlichen Individualisierung Schritt halten zu können. Wie die Verantwortung darf auch die Solidarität nicht nur mehr oder weniger anonymen Institutionen übertragen werden, sondern sie muß als menschliches Miteinander erfahrbar bleiben.

 

  Sozialpolitik als vorsorgliche Gesellschaftspolitik  

 

Die Sozialpolitik hat immer noch zu sehr einen defensiven Charakter, ist versichernd und reparierend, ist nachträglich und wenig vorsorgend. Vernunft und Verantwortungsbewußtsein aber gebieten Vorsorglichkeit in allen Bereichen der Politik. Genauso wie eine fortschrittliche Technopolitik auf den bewußten, gesteuerten Wandel der Gesellschaft zum Besseren ausgerichtet sein muß, genauso muß die Sozialpolitik auf eine positive Veränderung der Gesellschaft zielen, um progressiv zu sein — Sozialpolitik gleichsam als vorsorgliche Gesellschaftspolitik. Vorsorgen bedeutet, die gesellschaftlichen Ursachen beseitigen, die den Versicherungs- oder den Fürsorgefall wahrscheinlich, die Versicherung oder die Fürsorge nötig machen. Vorsorgen also bedeutet, die Gesellschaft zu verändern.

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Die gegenwärtige Arbeitslosigkeit hat ja keineswegs ihre tieferen Ursachen in den wirtschaftlichen Gründen, die zu ihrer Erklärung herhalten müssen. Kurt Biedenkopf sieht richtig, daß die Arbeitslosigkeit heute in erster Linie Ausdruck einer unzureichend intelligenten Organisation der Arbeit und des Arbeitsmarktes ist: »Arbeitslosigkeit existiert, obwohl das Bruttosozialprodukt, die Einkommen der Arbeitnehmer real gestiegen sind und der Wohlstand der Gesellschaft ständig gewachsen ist. Eine Gesellschaft, die in einem historisch bisher nicht vorstellbaren Massenwohlstand lebt und gleichwohl nicht in der Lage ist, alle Menschen, die dies wünschen, durch Arbeit an diesem Wohlstand zu beteiligen, hat sich unzureichend intelligent organisiert. Unbeschadet möglicher ökonomischer Ursachen für die gegenwärtige Arbeitslosigkeit ist es vor allem diese unzureichend intelligente Gestaltung der Ordnung der Arbeit, die zur Arbeitslosigkeit führt.«

Die Formulierung Kurt Biedenkopfs, wir hätten »die Ordnung der Arbeit unzureichend intelligent gestaltet«, verharmlost die Tatsache, daß wir verlernt haben, zu teilen und solidarisch miteinander zu leben. Wer gegen die Arbeitslosigkeit wirklich Vorsorgen möchte, der sollte seine Denk- und Tatkraft weniger auf die Organisation und Finanzierung eines Arbeitslosen-Versicherungssystems konzentrieren als vielmehr auf die Gestaltung der Arbeitsorganisation selber und des Arbeitsmarktes. Das aber heißt, die wirtschaftlichen Strukturen zu verändern, die Gesellschaft zu verändern.

Da die wirtschaftlichen Strukturen zu einem guten Teil Machtstrukturen sind, werden sie sich wohl kaum ändern lassen, ohne den wirtschaftlichen Bereich durchgreifend zu demokratisieren.

Von welcher Seite immer man das Problem der sozialen Sicherung betrachtet, ob von den gesellschaft­lichen Ursachen oder den gesellschaftlichen Ansprüchen her, ob unter dem Aspekt der Arbeitslosigkeit oder dem der Individualisierung, stets stellt sich mit der Frage nach der Sicherheitseffizienz auch die Frage der Demokratisierung. Die Linke wird in Zukunft nicht umhin können, die soziale Sicherheit der Menschen stärker in Verbindung mit einem fortschreitenden Prozeß der Demokratisierung zu denken.

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Der Status eines Staatsbürgers, der sich zwar rechtlich geschützt, staatlich abgesichert und bürokratisch versorgt weiß, der aber ansonsten überwiegend unselbständig und weisungsgebunden handeln muß und der in der Erwerbsarbeit oder für eigene Lebensplanung wenig verantwortlich ist, bedeutet vielen Menschen keinen Emanzipationsgewinn mehr.

 

  Nur ein demokratischer Staat kann friedfertig sein  

 

Gilt im allgemeinen, daß Sicherheit gegenwärtig nur noch im verantwortlichen demokratischen Miteinander zu erreichen ist, dann gilt dies nicht zuletzt auch für die äußere, die militärische Sicherheit. Seit ihres Bestehens hat die deutsche Sozialdemokratie die Ansicht vertreten, daß letztlich nur ein nach innen demokratisch organisierter Staat nach außen friedfertig sein kann. In ihren Streitschriften für die Idee der Völkerverständigung und des Völkerbundes waren sich Eduard Bernstein und Karl Kautsky, so unterschiedlich sie ansonsten dachten, darin einig, daß Staaten, die im Inneren zur Demokratie nicht fähig sind, schwerlich zu einem vernünftigen, gleichberechtigten und gewaltfreien Umgang miteinander finden werden. Wie sollte auch der, der bei sich zu Hause nichts anderes als autoritäre Verhaltensweisen kennengelernt hat, in Konfliktsituationen mit den Nachbarn anders als autoritär reagieren können?

Noch die nachstalinistische Sowjetunion hat die Konflikte in ihrem Machtbereich auf höchst autoritäre Art gelöst: Sie hat in Budapest und Prag ihre Panzer gegen die Bevölkerung und die Regierungen auffahren lassen — ein undenkbares Vorgehen in einem Bund befreundeter Staaten, die sich den Regeln eines demokratischen Miteinanders verpflichtet wissen. Daß sich jetzt die Sowjetunion auf den Weg gemacht hat, mehr Demokratie zu wagen, ist eine einzigartige historische Chance für einen dauerhaften Frieden, eine Chance, die der Westen nicht ungenutzt lassen darf.

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Er wäre gut beraten, die Zusammenarbeit mit einem Mann wie Michail Gorbatschow zu suchen, der erkannt hat, daß »die UdSSR die Demokratie braucht wie die Luft zum Atmen«. Noch kann niemand vorhersagen, ob die »Perestroika« auf Dauer gegen die konservative Beharrlichkeit eines Großteils des sowjetischen Machtapparats obsiegen wird. Dies aber ist ein Grund mehr für den Westen, die Verständigungs- und Abrüstungsmöglichkeiten, die sie jetzt eröffnet, durch eine neue Phase der Entspannungspolitik abzusichern.

Schon die Entspannungspolitik der siebziger Jahre hat die Lage in Europa entscheidend verändert und damit den Frieden sicherer gemacht.

Nicht nur die Verträge von Moskau und Warschau, das Vier-Mächte-Abkommen von Berlin, der Grundlagenvertrag oder die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) waren wichtige Ergebnisse dieser Entspannungspolitik, auch die Politik der »Perestroika« selber wäre ohne sie wohl kaum machbar gewesen.

Die vor allem in den Vereinigten Staaten verbreitete Kritik, die erste Phase der Entspannungspolitik sei nicht durch Abrüstungserfolge gekennzeichnet, vielmehr hätte die Sowjetunion sie benutzt, um weiter aufzurüsten, ist zutreffend. Die richtige Schlußfolgerung daraus kann aber nicht lauten, die Entspannungs­politik aufzugeben, sondern sie muß lauten: sie durch Abrüstung und Rüstungskontrolle zu begleiten. Diese Forderung ist so aktuell wie eh und je, denn während viel von Abrüstung geredet wird, stellen die Supermächte immer noch jeden Tag etwa acht bis zehn nukleare Sprengköpfe her. In hundert Tagen werden also circa achthundert bis tausend neue Atomsprengköpfe produziert. Man muß nur lange genug verhandeln, und schon übersteigt die Neuproduktion die Zahl der zur Verschrottung vorgesehenen Sprengköpfe. Im übrigen, selbst wenn man Sicherheit zuallererst durch Gleichgewicht der Rüstung gewährleistet sieht, steht die Anhäufung der Waffen in Mitteleuropa schon längst in keinem Verhältnis mehr zur Intensität des Konfliktes zwischen Ost und West.

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  Sicherheit durch Zusammenarbeit  

 

Der Satz, daß die Entspannungspolitik von Abrüstung und Rüstungskontrolle begleitet sein muß, gilt auch umgekehrt: Abrüstung und Rüstungskontrolle müssen durch Entspannungspolitik begleitet werden. Abrüstung und Entspannung sollen sich wechselseitig verstärken. Das INF-Abkommen ruft geradezu nach einer zweiten Phase der Entspannungspolitik. Jede Gelegenheit sollte genutzt werden, um auf allen Ebenen, also auch in bilateralen Verhandlungen mit den Mitgliedstaaten des Warschauer Paktes, auszuloten, wo und wie in Mitteleuropa abgerüstet werden kann: kernwaffenfreier Korridor, chemiewaffenfreie Zone oder konventionelle Truppenverdünnung zum Beispiel heißen die Stichworte. Darüber hinaus können vorab auf dem Gebiet moderner Technologie die wirtschaftlichen Kontakte zwischen den westlichen und den östlichen Staaten, den Wirtschaftsgemeinschaften (EWG und Comecon) und den Unternehmen (Joint Ventures) verstärkt werden. Sicherheit durch Zusammenarbeit ist das dem konservativen Konfliktmodell entgegengesetzte sozialdemokratische Konzept der Sicherheitspolitik.

Es zielt darauf ab, das Netz der gegenseitigen Bindungen und Abhängigkeiten immer dichter zu knüpfen. Die osteuropäischen Staaten, auch die UdSSR, suchen gute und langfristige Wirtschaftsbeziehungen zum Westen, um die eigenen Volkswirtschaften zu stärken. Ebenso müssen die kulturellen Beziehungen zwischen den ost- und den westeuropäischen Völkern systematisch ausgebaut werden. Dazu gehört auch ein ständiger Dialog über die gegensätzlichen ideologischen Positionen, deren Barrieren ohnehin unter den Sachzwängen der technologischen Produktion und der ökologischen Notwendigkeiten mehr und mehr zerbrechen. Diese neue Entspannungspolitik darf nicht auf die offizielle Ebene staatlicher Kontakte beschränkt bleiben: Menschen sollen sich begegnen. Sie muß aber behutsam genug sein, um nicht zu provozieren, um niemanden zu überfordern. Die Grenzen der jeweiligen Handlungs- und Bündnisspielräume müssen von der jeweiligen Seite gesehen und respektiert werden.

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Noch vor einigen Jahren konnten im Westen weder die Falken noch die Tauben der Abrüstungsdebatte, ja nicht einmal die sachkundigsten Kreml-Astrologen die »Perestroika« kommen sehen. Selbst im Osten hat wohl niemand, außer vielleicht denen, die sie jetzt machen, darauf zu hoffen gewagt.

Mithin stand die Diskussion um den NATO-Doppelbeschluß unter ganz anderen Vorzeichen: Alle mußten davon ausgehen und sind auch tatsächlich davon ausgegangen, daß sich das Konzept der sowjetischen Sicherheitspolitik auf absehbare Zeit nicht grundlegend ändern werde. Ob die Befürchtungen der Friedensbewegung unter solchen Prämissen eingetroffen wären, wird nicht mehr zu beweisen sein, denn Gorbatschow hat das sowjetische Sicherheitskonzept geändert. Allein dadurch wurde die Annahme der Friedensbewegung, daß die westliche Nachrüstung der Mittelstreckenraketen eine beidseitige Abrüstung dieser Raketensysteme erschweren würde, zum Irrtum — ein Irrtum übrigens, über den sich die Friedensbewegung nur freuen kann.

Nicht minder geirrt haben sich diejenigen unter den westlichen Falken, die gehofft hatten, einmal stationierte Raketen nicht mehr abbauen zu müssen. Nur weil sie nicht mit einer Änderung der bisherigen sowjetischen Haltung rechneten und deshalb nicht ernsthaft an die Möglichkeit der gegnerischen Abrüstung glaubten, sagten sie zu, die nachgerüsteten Mittelstreckenraketen wieder zu entfernen, sobald die der anderen Seite beseitigt würden. Jetzt, da man sie beim Wort nimmt, werden auch die hartgesottenen Falken, widerstrebend, zu Opfern ihres Irrtums — was den Widerstand der Stahlhelmfraktion in der CDU/CSU sowie der Konservativen in den USA gegen das INF-Abkommen erklärt. Gönnen wir also den aufrichtigen Befürwortern des NATO-Doppelbeschlusses die Genugtuung, mit (oder trotz) ihrer Strategie das angestrebte Abrüstungsziel erreicht zu haben.

Die Friedensbewegung hat ja nicht minder Grund zur Genugtuung. Denn viel entscheidender als ihre Forderung nach einem Verzicht der westlichen Raketennachrüstung war die Begründung, die sie dafür gegeben hat. Diese Begründung vor allem hat jenen Prozeß des Umdenkens unterstützt, wenn nicht sogar eingeleitet, der das INF-Abkommen erst ermöglichte.

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Die Friedensbewegung hatte sich gegen die westliche Nachrüstung in erster Linie deshalb ausgesprochen, weil sie die ihr zugrunde liegende Logik der Abschreckung für unvernünftig hielt. Sie sah in der Strategie eines Gleichgewichts des Schreckens nicht ein Element wachsender Sicherheit, sondern vielmehr eines wachsender Unsicherheit: Würde die Verstärkung des Abschreckungspotentials die Sicherheit tatsächlich erhöhen, dann wäre es unsinnig, die Abschreckungsfähigkeit durch Abrüstungsschritte vermindern zu wollen, denn Abschreckung ist um so wirksamer, je größer das Risiko für den Gegner ist. In der Logik der gleichgewichtigen, wechselseitigen Abschreckung aber wächst mit dem Risiko des Gegners stets auch das eigene Risiko. Jahrzehntelang waren Rüstungsexperten und Politiker bemüht, den Menschen in Ost und West die ständige Steigerung des Risikos unter dem Etikett »mehr Sicherheit« zu verkaufen. Daß ihnen dies zeitweilig so gut gelungen ist, wo doch normalerweise nach jedermanns Logik Sicherheit in einem umgekehrt proportionalen Verhältnis zum Risiko steht, gehört zu den Merkwürdigkeiten des kalten Krieges.

 

  Das Konzept der »gemeinsamen Sicherheit«  

 

Erst die Friedensbewegung ist gedanklich aus dem Teufelskreis dieser »Unsicherheitspolitik« ausgebrochen und hat versucht, sicherheitspolitische Alternativen zu konzipieren, die auch wirklich mehr Sicherheit bringen. In der Auseinandersetzung mit ihren Überlegungen wurde von Sozialdemokraten (Palme, Bahr) das Konzept der »gemeinsamen Sicherheit« entwickelt. Man begann zu begreifen, daß in Anbetracht der angehäuften atomaren Vernichtungskraft und des labilen Automatismus, der im Falle eines Falles ihren Einsatz regelt, Sicherheit nicht mehr in der gegenseitigen Abschreckung lag, sondern nur noch in der sicherheitspartnerschaftlichen Gemeinsamkeit. Es war der Fehler der Abschreckungsdoktrin, daß jeder nur den eigenen Frieden im Auge hatte. Der eigene Friede aber ist mit der waffentechnologischen Entwicklung zur Schimäre geworden. Die Alternative heißt nur noch: entweder gemeinsam den Untergang riskieren oder in einem gemeinsamen Frieden leben.

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Auf der westlichen Seite hat sich die internationale Sozialdemokratie zum Sprachrohr dieses neuen Konzepts gemacht. Sie hatte das Glück, jenseits des Eisernen Vorhangs auf offene Ohren zu treffen. Auch Michail Gorbatschow ist von der gefährlichen Unvernunft der atomaren Abschreckung überzeugt, es wäre sonst das INF-Abkommen nicht unterzeichnet worden. Nicht weil der Westen nachgerüstet hat, willigte der Osten in die Abrüstung ein, sondern weil ein neues Sicherheitskonzept die Zustimmung eines neuen Generalsekretärs der KPdSU fand, konnte die Null-Lösung verwirklicht werden. Dieses neue Sicherheitskonzept aber, das sich mehr und mehr durchsetzen wird, ist nicht von den Befürwortern der Nachrüstung erdacht worden. Es konnte von ihnen auch gar nicht erdacht werden, weil es völlig mit den uralten Denk- und Verhaltensstrukturen der herkömmlichen Sicherheitspolitik bricht.

Wegen der geographischen Lage des Atlantischen Bündnisses hatte die Abschreckungsstrategie der massiven Vergeltung von Anfang an eine Glaubwürdigkeits­lücke. Daß die Vereinigten Staaten ihre Existenz aufs Spiel setzen würden, um Europa zu verteidigen, erschien vielen nicht glaubhaft — und am wenigsten glaubten daran die Amerikaner selber. »Es ist schwer, sich vorzustellen, daß irgendein amerikanischer Präsident unter irgendwelchen Umständen einen strategischen Schlag auslöst — ausgenommen als Vergeltung für einen atomaren Angriff der Sowjetunion«, schrieb Robert McNamara im Herbst 1983 in »Foreign Affairs«. Also wurde die Strategie der »flexiblen Vergeltung« erfunden, um diese Glaubwürdigkeitslücke zu schließen.

Doch damit wurde das Gleichgewicht des Schreckens nur labiler, würde die Sicherheit durch Abschreckung noch unsicherer. Denn logischerweise kann man nicht einerseits strategische Atomwaffen anhäufen, um den Ausbruch eines Atomkriegs zu verhindern, und dann andererseits dieses Drohpotential mit taktischen Atomwaffen zu ergänzen suchen, die erlauben, mit der Aussicht auf Sieg einen Atomkrieg zu führen, indem sie ihn regional begrenzen.

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Aus einer politischen Waffe wurde eine militärische Waffe gemacht — ein kapitaler Fehler. Wer den Atomkrieg nicht will, sollte dafür nicht Kriegführungsstrategien, sondern Kriegsvermeidungsstrategien entwickeln. Die strategische Drohung mit massiver Vergeltung wird in dem Maße absurd, in dem sie, um glaubwürdig zu bleiben, taktischer Ergänzungen bedarf, die das wahrscheinlicher erscheinen lassen, was sie gerade unbedingt verhindern soll. In einem im Herbst 1987 erschienenen Aufsatz schreibt dazu Karl-Heinz Klar:

»Weil die flexible Antwort die Glaubwürdigkeit der Kriegsverhütung durch atomare Abschreckung untergräbt und mindert und dadurch, aber auch aus ihr eingeborenen Gründen die Gefahr eines Atomkrieges erhöht, ist sie eine ungeeignete Strategie der militärischen Friedenssicherung im Zeitalter der atomaren Waffen. Sie wird doppelt ungeeignet durch den Umstand, daß unter dem strategischen Regime der flexiblen Antwort eine permanente Modernisierung der atomaren Bewaffnung unerläßlich ist. Jedes neue, die Punkt-für-Punkt-Abschreckung und die Eskalationsleiter besser gewährleistende oder gar verdichtende atomare Waffensystem auf der einen Seite löst postwendend das Verlangen nach einem ebensolchen auf der anderen Seite aus. Gleichgewicht wird so zu einem nie erreichten, ja unerreichbaren Ziel, jeder Versuch, die Rüstungsdynamik zu begrenzen, sie gar im Kern zu brechen, wird zur Sisyphusarbeit.«

 

  Regionales Verteidigungsbündnis NATO  

 

Die NATO-Strategie der »flexible response« wurde 1968 beschlossen. Diese Strategie sieht den begrenzten Einsatz von Atomwaffen für den Fall vor, daß die konventionellen Streitkräfte der NATO einen Angriff der konventionellen Streitkräfte des Warschauer Paktes nicht mehr aufhalten können. Der ehemalige Oberbefehlshaber der NATO-Streitkräfte in Europa, General Rogers, hat mehrfach erklärt, daß er im Falle eines konventionellen sowjetischen Angriffs bereits nach sechs bis acht Stunden die Freigabe für den Einsatz von nuklearen Gefechtsfeldwaffen fordern müsse.

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Seit einigen Jahren wird diese Strategie in Europa mehr und mehr in Frage gestellt. Die Friedensbewegung argumentierte, zu Recht, daß eine Strategie, die im Falle eines Falles zur Zerstörung all dessen führt, was man zu verteidigen vorgibt, nicht akzeptabel ist.

Einig aber sind sich alle darin, daß jede Strategie eine entscheidende Voraussetzung hat: Sie muß von der Bevölkerung akzeptiert sein. Doch diese Voraussetzung jeder glaubwürdigen militärischen Strategie ist in Europa schon lange nicht mehr gegeben. Helmut Schmidt schreibt dazu: »Eine solche Militärstrategie für Europa zu akzeptieren mag leicht sein für jemanden, der selber in Kalifornien wohnt oder in Georgia. Es ist weniger leicht — eigentlich fast unmöglich —, diese Strategie zu akzeptieren, wenn man in der Mitte Europas lebt.«

Auch der ehemalige amerikanische Verteidigungsminister Robert McNamara, unter dessen Amtsführung die neue Strategie beschlossen wurde, hält sie nicht mehr für vertretbar. In seinem Buch »Blindlings ins Verderben« kommt er zu dem Schluß: »Militärische Konflikte können schnell eskalieren zu einem Atomkrieg, der zur sicheren Vernichtung unserer Zivilisation führt. Dieses Risiko ist viel größer, als ich aus militärischen, politischen oder ethischen Gründen akzeptieren kann. Ich will dieses Risiko nicht an meine Kinder und Enkelkinder weitergeben.«

Die Westeuropäer begreifen die NATO als ein regionales Verteidigungsbündnis. Sie können und wollen aus ihrer Verpflichtung für das Bündnis nicht für eine globale Weltmachtpolitik in Anspruch genommen werden. Die französische Politik hat daraus ihre besonderen Konsequenzen gezogen. Frankreich ist aus der militärischen Integration der NATO ausgeschieden. Es ist damit aber keineswegs aus der NATO ausgeschieden, sondern bleibt an all ihren politischen Aktivitäten beteiligt. Es nimmt an den Sitzungen des obersten Rates der NATO, dem Atlantischen Rat, teil.

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Dies gilt auch für alle Unterorganisationen, das politische Komitee, das Wirtschaftskomitee, die Ad-hoc-Gruppen sowie die technischen Komitees für Luftverteidigung, für zivile Notstandsverteidigung und für Fernmeldetechnik. Frankreich hat seinen Platz im internationalen Sekretariat der Organisation. Es leistet seinen vollen Beitrag zum zivilen Haushalt und zu einem Teil des militärischen Haushalts.

Obwohl es an allen politischen Aktivitäten der NATO beteiligt ist, weigert sich Frankreich, seine Truppen militärisch zu integrieren, da es autonom über seine Beteiligung an militärischen Auseinandersetzungen entscheiden will. In dieser Frage herrscht in Frankreich seit fünfundzwanzig Jahren eine breite Übereinstimmung von links bis rechts. Charles de Gaulle sagte im Januar 1963 auf einer Pressekonferenz: »Seine eigene freie Entscheidungsmöglichkeit zu besitzen und die Fähigkeit, sie sich im Rahmen seiner Mittel erhalten zu können, ist für ein großes Volk ebenfalls ein kategorischer Imperativ, denn Allianzen haben keine absolute Tugend, gleichgültig auf welchen Gefühlen sie beruhen.« In das gleiche Hörn stößt der heutige Präsident Francois Mitterrand in seinem 1980 erschienenen Buch »Sieg der Rose«: »Frankreich ist aus der NATO ausgetreten, das heißt aus dem Oberkommando, einer Nebenstelle des Pentagon ... Man überläßt anderen nicht die Entscheidung, wenn Leben und Tod auf dem Spiel stehen.«

Die Krise am Persischen Golf hat die Debatte um eine globale Verpflichtung der NATO erneut belebt. Schon als Präsident Carter seine schnelle Eingreiftruppe bildete, wurde unter anderem in der Bundesrepublik darüber diskutiert, ob es auch vorstellbar wäre, deutsche Truppen am Golf einzusetzen. Die Regierung Schmidt/Genscher hatte solchen Überlegungen eine klare Absage erteilt. In der gegenwärtigen Bundesregierung hingegen gibt es starke Kräfte, die diesem Gedanken durchaus aufgeschlossen sind. Immer wieder appelliert die amerikanische Führungsmacht an ihre westeuropäischen Verbündeten, sie bei ihren Verpflichtungen außerhalb des Vertragsgebietes der NATO zu unterstützen. Einer solchen Forderung steht die Verfassung der Bundesrepublik eindeutig entgegen.

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  Das Sarajevo-Trauma  

So ist der amerikanische Appell an die Europäer, Aufgaben außerhalb des NATO-Vertragsgebietes zu übernehmen, auch nicht das eigentliche Problem. Über die Entsendung deutscher Truppen an den Golf hätte nur die Bundesregierung zu entscheiden. Viel wichtiger ist die Frage, ob Auseinandersetzungen der Supermächte am Golf oder andernorts außerhalb des Vertragsgebietes der NATO geographisch eskalieren können. Genau diese Gefahr aber ist bei der gegenwärtigen NATO-Infrastruktur gegeben, da die Weltmacht USA die integrierte militärische Struktur der NATO dominiert und gleichzeitig eine eigene nationale und globale Politik nicht aufgeben will und wird. Zwar werden die Westeuropäer, wenn es bei der gegenwärtigen Struktur bleibt, immer wieder darauf drängen, daß das NATO-Gebiet nicht Gegenstand horizontaler Eskalation werden darf, doch bergen die gegenwärtige militärische Struktur undTechnik gerade jenes Risiko in sich, das man politisch vermeiden will.

In ihrem 1962 erschienenen Buch »August 1914« behauptet Barbara Tuchman, daß die Europäer unbeabsichtigt in den Ersten Weltkrieg getaumelt seien. Ein Kapitel des Buches beginnt mit dem Ausspruch Bismarcks, »daß irgendeine ganz lächerliche Angelegenheit auf dem Balkan« den nächsten Krieg auslösen werde. Präsident Kennedy, der darauf bestand, daß jedes Mitglied des Nationalen Sicherheitsrates dieses Buch las, erinnerte immer wieder an den Dialog zweier deutscher Reichskanzler über die Ursprünge des Ersten Weltkriegs. Einer fragte: »Wie ist das geschehen?« Sein Nachfolger antwortete: »Tja, wenn wir das nur wüßten.«

Die meisten Historiker sind indes der Ansicht, daß Europa im Jahre 1914 nicht so zufällig in den Weltkrieg schlitterte, wie es Barbara Tuchman darstellt. Auch die deutschen Machthaber wußten sehr genau, was sie taten und was sie damit auslösen würden. Nichtsdestoweniger ist Barbara Tuchmans Interpretation aktuell — selbst wenn sie eine Erfindung wäre. Präsident Kennedy hat sie nur deshalb seinen Beratern als Lektüre empfohlen, weil er sie für plausibel hielt.

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Denn die Möglichkeit, daß die Welt unwillentlich und unwissentlich in einen Krieg gerät, ist heute wahrscheinlicher denn je — reicht doch bei der Komplexität der atomaren Waffenautomaten schon ein schlichter Computerfehler aus, um ohne menschliches Zutun den Weltbrand auszulösen.

Eine Veränderung der NATO-Struktur hin zu den beiden Pfeilern USA und Europa, die Präsident Kennedy in seiner berühmten Rede vom 4. Juli 1962 in Philadelphia aus Anlaß des 186. Jahrestages der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung genannt hat, ist ein Ausweg aus dieser Situation. Kennedy sagte:

»Die Nationen Westeuropas — lange durch bittere Fehden gespalten, die noch viel ernster waren, als wie sie seinerzeit zwischen den dreizehn Kolonien bestanden — schließen sich zusammen und suchen, wie dies unsere Vorväter taten, Freiheit und Vielfalt und Stärke in der Einheit zu finden. Die Vereinigten Staaten blicken auf dieses große Unterfangen mit Hoffnung und Bewunderung. Wir sehen in einem starken und geeinten Europa nicht einen Rivalen, sondern einen Partner. Die Förderung seines Fortschritts ist siebzehn Jahre lang ein grundlegendes Ziel unserer Außenpolitik gewesen. Der Glaube, daß ein geeintes Europa in der Lage sein wird, eine größere Rolle in der gemeinsamen Verteidigung zu übernehmen ... Wir sehen in einem solchen Europa einen Partner, dem wir auf einer völlig gleichen Basis bei all den großen und mühevollen Aufgaben des Aufbaus und der Verteidigung einer Gemeinschaft freier Nationen gegenübertreten könnten.«

Eine solche Entwicklung wäre nicht nur im Interesse der Westeuropäer, die, anknüpfend an die früheren Vorstellungen zur Bildung einer europäischen Verteidigungsgemeinschaft, eine integrierte europäische Verteidigungsstruktur aufbauen müßten, sondern auch im Sicherheitsinteresse ihres amerikanischen Partners, dem ein verteidigungsfähiges und selbstbewußtes Europa gewiß nicht schaden könnte. Es bliebe dann ureigene Entscheidung der Amerikaner, wie stark und wie weit sie sich außerhalb des NATO-Vertragsgebietes engagieren wollen. Niemand kann so blauäugig sein zu glauben, daß es den USA möglich wäre, im Fall eines Einsatzes außerhalb des NATO-Vertragsgebietes um alle ihre Einrichtungen und Truppen im NATO-Vertragsgebiet herumzuoperieren. Die Erfahrung lehrt gerade das Gegenteil.

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  Gefahr von Vergeltungsschlägen  

Als zum Beispiel Präsident Reagan die Entscheidung traf, Libyen wegen seiner terroristischen Aktivitäten zu bestrafen, wurden Einrichtungen der NATO in Mitteleuropa herangezogen. Die nichtintegrierten NATO-Länder verweigerten den Vereinigten Staaten die Überflugrechte. Der libysche Machthaber Gadhafi hatte Griechenland mit Vergeltung gedroht, falls es zuließe, daß die Amerikaner von Kreta aus operierten. Gegenüber dem in der NATO integrierten Italien reagierte Libyen mit einem Angriff auf die kleine italienische Insel Lampedusa, auf der Fernmeldeeinrichtungen standen. Wer kann schon garantieren, daß es auf der einen Seite nur bei Libyen bleibt und auf der anderen Seite nur bei Lampedusa? Genausogut hätte es schon einmal Berlin treffen können, und der Vergeltungsschlag hätte von einer atomaren Supermacht ausgeteilt worden sein.

Robert McNamara schreibt in seinem Buch »Blindlings ins Verderben«: »Ich glaube, die Berlinkrise begann mit der Invasion der Schweinebucht im April 1961 ... Das Ergebnis — sorgsam von den Sowjets beobachtet — kann man nur als Debakel bezeichnen. Knapp zwei Monate später traf sich der Präsident mit dem sowjetischen Parteichef Nikita Chruschtschow in Wien. Vielleicht als Folge des Mißmanagements der Kuba-Invasion durch die Administration kam Chruschtschow zu der Einschätzung, Kennedy sei unerfahren und nachgiebig. Mit dieser Einschätzung hat er wohl gefolgert, die UdSSR könne ohne großes Risiko West-Berlin der Kontrolle des Westens entziehen.« Nach McNamara war also die Berlinkrise eine Folge der gescheiterten Kuba-Invasion. Er selber fragte damals einen ranghohen NATO-Befehlshaber, wie denn diese Krise in letzter Konsequenz ausgehen könnte. »Mit Atomwaffen«, lautete die Antwort.

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Vierzehn Monate später, auf dem Höhepunkt der Kubakrise, plädierte die Mehrheit der Berater Präsident Kennedys für einen Luftangriff auf die in Kuba stationierten sowjetischen Raketen. Diese Berater gingen zwar davon aus — so erinnert sich McNamara —, daß die militärische Überlegenheit der Amerikaner in der Hemisphäre den Erfolg der Luftangriffe garantiere, »die Sowjetunion jedoch sehr wahrscheinlich mit militärischen Aktionen gegen die Flanken oder gar den Zentralabschnitt der NATO antworten würde«.

Selbstverständlich ist auch den USA nicht daran gelegen, daß sich regionale Konflikte ausweiten. Wie sehr man sich dieses Problems bewußt ist, geht aus dem hervor, was die Carter-Regierung im Hearing über die Strategie des Atomkriegs vor dem Senatskomitee für Auswärtige Beziehungen am 16. September 1980 ungeschminkt vortrug: »Es gibt auch keinen Grund für die Annahme, daß die UdSSR irgendeinen Teil der Welt von Atomwaffen verschonen würde, selbst wenn dies den sowjetischen Interessen entspräche. Daher bringt jede Konfrontation zwischen den USA und der Sowjetunion das Risiko der Verschärfung und der geographischen Ausweitung des Konflikts mit sich.«

Der Golf-Konflikt hat auch den Europäern dieses Problem noch einmal ins Bewußtsein gerückt. Man muß nicht die von Jonathan Dean in seinem Buch »Watershed in Europe« dargelegte Auffassung teilen, daß der Fall, für den die NATO geschaffen worden sei, nämlich die Sowjetunion von einem Angriff gegen Westeuropa abzuschrecken, im Laufe der Zeit unwahrscheinlich geworden sei. Man muß auch nicht dem ehemaligen Bundeskanzler Konrad Adenauer folgen, der bereits im Jahr 1966 auf dem Bundesparteitag der CDU erklärte, die Sowjetunion sei in die Reihe der Völker eingetreten, »die den Frieden wollen«. Aber man muß aus den Ereignissen der letzten Jahrzehnte den Schluß ziehen, daß, sollte es zum Konflikt der beiden Supermächte in Europa kommen, die Ursache für diesen Konflikt mit hoher Wahrscheinlichkeit außerhalb des NATO-Verteidigungsgebietes liegen wird. Mithin ist es zwingend geboten, in Europa eine europäische Verteidigungsstruktur aufzubauen, die die oben geschilderten Risiken weitgehend vermeidet.

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  Deutschland und Frankreich weisen den Weg  

So kommt es nicht von ungefähr, daß neuerdings zwischen Frankreich und der Bundesrepublik die Debatte über eine gemeinsame Sicherheitspolitik wieder voll entbrannt ist. Der von Charles de Gaulle und Konrad Adenauer 1963 unterzeichnete deutsch-französische Freundschaftsvertrag verpflichtet die Verteidigungsminister der beiden Länder dazu, auf dem Gebiet der Strategie und der Taktik ihre Auffassungen einander anzunähern, um zu gemeinsamen Konzepten zu gelangen.

Weil aber dieser Auftrag viel zu lange nur auf dem Papier stand, schrieb vor einiger Zeit der frühere gaullistische Minister Alain Peyrefitte in einem Leitartikel des »Figaro«: »Ein neuer deutsch-französischer Vertrag, vergleichbar mit dem von 1963, ist wünschenswert geworden. In Sachen Währung und Verteidigung sind Deutschland und Frankreich in der Lage, weiterzugehen als die anderen und damit den Weg zu weisen. Die Zeit dazu ist reif.«

Der Schlüssel zu einer europäischen Sicherheitspolitik liegt also in Paris und Bonn. Sämtliche politischen Kräfte, die sich in Frankreich am Dialog über die europäische Sicherheitspolitik beteiligen, stimmen darin überein, daß ihr Land nicht in die Pentagon-dominierte NATO-Infrastruktur zurückkehren wird.

Stellvertretend für alle, stellt dazu Pierre Messmer, ehemals Premier- und Verteidigungsminister, fest:

»Eine langfristige Perspektive für die Verteidigung Europas kann nur eine Verteidigung mit europäischen Mitteln sein. Es liegt nicht in der Natur der Dinge, daß die Amerikaner auf Ewigkeit die Sicherheit Europas garantieren. Es geht um ein Bündnis mit den USA, das nicht unbedingt amerikanische Mittel in Europa verlangt.«

Diese Aussage wird von dem ehemaligen sozialistischen Verteidigungsminister Charles Hernu bekräftigt: »Für mich besteht die Lösung nicht darin, daß Frankreich in die NATO zurückkehrt. Die Lösung wäre, daß Deutschland mehr Freiheit hat, die gleiche Freiheit wie Frankreich, so daß es deutsch-französische Verträge geben kann. Es sei an dieser Stelle daran erinnert, daß der Wartime Host Nation Support ein bilaterales Abkommen zwischen den USA und der Bundesrepublik Deutschland ist.«

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Die Bundesrepublik muß bereit sein, ihre Sicherheit künftig in der Fortsetzung der Entspannungspolitik und in einer europäischen Verteidigungsstruktur zu suchen. In Frankreich unterstützt nicht nur die Mehrheit der Bevölkerung ein solches Vorhaben, auch die Regierungsparteien und die opponierenden Sozialisten befürworten gleichermaßen diese Idee. Sie haben erkannt, daß sich der französische Wille zur Selbständigkeit in Zukunft nur in einem selbständigen Europa verwirklichen kann. Ebenso haben sie erkannt, daß ein enges Zusammengehen mit der Bundesrepublik ein entscheidender Schritt wäre, dieses Ziel zu erreichen. Viele Politiker in der Bundesrepublik denken mittlerweile in die gleiche Richtung.

Der CDU/CSU-Fraktionsvorsitzende Alfred Dregger hat eine deutsch-französische Sicherheitsunion und die Ausweitung des französischen Nuklearschirms auf die Bundesrepublik, wie sie von französischen Politikern vorgeschlagen wurde, bejaht. Es ist richtig, daß man eine gemeinsame deutsch-französische Offiziers­ausbildung auf den Weg gebracht hat. Es ist richtig, daß gemeinsame Manöver durchgeführt werden. Es ist richtig, daß die Idee einer deutsch-französischen Brigade in beiden Ländern unterstützt wird.

Allerdings können sich die Bundesdeutschen nicht davor drücken, die Frage zu beantworten, wie der zukünftige Oberbefehl in Europa gestaltet werden soll. Ich bin nicht für eine französische, sondern für eine europäische Lösung: Im Falle eines deutsch-französischen Zusammengehens sollte der Oberbefehl alternieren. Die französische Atomstreitmacht kann dabei außer Betracht bleiben, da die Entscheidung darüber bis zu einer politischen Einigung Europas einzig und allein dem französischen Präsidenten vorbehalten ist. Davon abgesehen, bleibt die atomare Abrüstung die wichtigste Aufgabe der Politik.

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  Strukturelle Nichtangriffsfähigkeit  

 

Gerade jetzt, wo ein erneuter Anlauf genommen wird, eine europäische Verteidigungsgemeinschaft zustande zu bringen, ist es notwendig, die unterschiedlichen sicherheitspolitischen Konzepte zu diskutieren und sie mit den politischen Antworten, die die USA und die Westeuropäer auf die Initiativen des Warschauer Paktes geben wollen, abzustimmen. In der sicherheitspolitischen Diskussion fand bisher das Schlußdokument der Konferenz der Teilnehmerstaaten des Warschauer Vertrages vom 28. Mai 1987 zuwenig Beachtung. Dort heißt es: »Die Verminderung der Streitkräfte und konventionellen Rüstungen in Europa auf ein Niveau, auf dem jede Seite bei Gewährleistung der eigenen Verteidigung über keine Mittel für einen Überraschungsangriff auf die andere Seite sowie für Angriffsoperationen überhaupt verfügt«, sei ebenso Ziel des Warschauer Paktes wie »der gegenseitige Abzug der gefährlichen Arten von Angriffswaffen aus der unmittelbaren Berührungszone beider militärischer Bündnisse sowie die Verringerung der Konzentration der Streitkräfte und Rüstungen in dieser Zone auf einen vereinbarten minimalen Stand«.

Die Teilnehmerstaaten des Warschauer Vertrages schlagen den Mitgliedstaaten der NATO vor, mittels Konsultationen »die Militärdoktrinen dieser Bündnisse zu vergleichen, ihren Charakter zu analysieren und gemeinsam ihre künftige Ausrichtung zu erörtern, um die mit den Jahren angewachsenen gegenseitigen Verdächtigungen und das Mißtrauen abzubauen, um zu einem besseren Verständnis der beiderseitigen Absichten zu gelangen und zu gewährleisten, daß die Militärkonzeptionen und -doktrinen beider Militärblöcke und ihrer Teilnehmer auf Verteidigungsprinzipien beruhen. Gegenstand der Konsultationen könnten auch entstandene Ungleichgewichte und Asymmetrien bei einzelnen Arten von Rüstungen und Streitkräften sowie die Suche nach Möglichkeiten ihrer Beseitigung sein, und zwar auf dem Weg der Verminderung durch denjenigen, der jeweils vorne liegt, in dem Verständnis, daß diese Verminderungen zu immer niedrigeren Niveaus führen«. Dieses Angebot der Warschauer-Pakt-Staaten, Offensivfähigkeiten abzubauen, sollte von den Westeuropäern und der NATO aufgegriffen werden, weil auch sie ein vitales Interesse daran haben, die militärischen Strukturen defensiver zu machen.

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In den Militärdoktrinen der beiden Blöcke müssen offensive Optionen durch defensive ersetzt werden. Die SPD plädiert daher seit Jahren für einen militärischen Zustand »struktureller Nichtangriffsfähigkeit«. Inzwischen aber hat sich die mit diesem Begriff verbundene Forderung durchgesetzt, es beschäftigt sich damit sogar schon die Generalität. In seiner Begrüßungsrede anläßlich des Besuchs von Erich Honecker in der Bundesrepublik im Herbst 1987 sagte auch Bundespräsident Richard von Weizsäcker, daß es heute gelte, auf strukturelle Nichtangriffsfähigkeit hinzuwirken und »systemöffnende Zusammenarbeit zu fördern«.

Wie die meisten amerikanischen Politiker stehen auch die meisten französischen Politiker der Idee eines atomwaffenfreien Korridors skeptisch gegenüber. Sie wenden ein, daß erstens das konventionelle Übergewicht der Warschauer-Pakt-Staaten bei der Realisierung eines solchen Korridors stärker zur Geltung käme und daß zweitens ein solcher Korridor deshalb nicht zu befürworten sei, weil innerhalb von Stunden die Atomwaffen zurückgebracht werden können.

Nun war es ja immer sehr problematisch, die konventionelle Überlegenheit des Warschauer Paktes zu behaupten. Diejenigen, die das Gegenteil vertreten, nämlich eine militärische konventionelle Überlegenheit der NATO aufgrund ihrer Wirtschaftskraft, der Einwohnerzahlen und des technologischen Vorsprungs, haben zumindest ebenso gute Argumente. Daß man beim Kräftevergleich die polnischen Divisionen mitzählt und die französischen nicht, sei nur am Rande vermerkt. Nirgendwo im Warschauer Pakt wird man den Eindruck gewinnen können, daß dort ein konventioneller Angriff auf Mitteleuropa auch nur erwogen wird. Gewiß lassen sich Atomwaffen innerhalb von Stunden an jeden Punkt der Erde transportieren, mit Raketen sogar innerhalb von Minuten. Unter diesem Gesichtspunkt kann es in der Tat nicht mehr einen atomwaffenfreien Korridor geben.

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Es ist notwendig, endlich einzusehen, daß militärisch sinnlose taktische Atomwaffen im dichtbesiedelten Europa nichts verloren haben. Atomwaffenfreier Korridor heißt also: Abzug der militärisch sinnlosen taktischen Atomwaffen. Als der polnische Außenminister Rapacki im Jahre 1957 eine atomwaffenfreie Zone in Mitteleuropa vorschlug, ging es ihm schon darum, eine Brücke zum Westen zu schlagen und die Abhängigkeit von der UdSSR zu verringern. Der Vorschlag der französischen Politiker Messmer und Hernu, französische Neutronenwaffen auf dem Gebiet der Bundesrepublik zu stationieren, ist ähnlich unvernünftig wie der von Carters Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski, landgestützte strategische Systeme in Europa aufzustellen.

 

  Osthandel als Lohn oder Strafe  

Auch die neu in Gang gekommene sicherheitspolitische Debatte wirft natürlich die Frage auf, wie künftig die Zusammenarbeit zwischen den Vereinigten Staaten und Europa aussehen soll. Die Europäer gehen davon aus, daß John F. Kennedys Wort, die USA sehen in einem starken und geeinten Europa nicht einen Rivalen, sondern einen Partner, weiterhin gilt. Partnerschaft aber heißt, auf der Grundlage einer Respektierung der jeweiligen Interessen den Konsens zu suchen, so wie es der Artikel 2 des Nordatlantik-Vertrages verlangt, der die Vertragsparteien anhält, »Gegensätze in ihrer internationalen Wirtschaftspolitik zu beseitigen und die wirtschaftliche Zusammen­arbeit zwischen einzelnen oder allen zu fördern«. Wenn sich die Vereinigten Staaten dazu durchringen könnten, westeuropäische Interessen gebührend zu respektieren, wäre die Kontroverse über einen Energie­verbund Westeuropas mit der Sowjetunion schnell beigelegt. Was die aus der allgemeinen Energieverschwendung resultierenden Umweltschäden angeht die radioaktive Wolke aus Tschernobyl oder die Schwefel­dioxid­emissionen aus den Kraftwerken der DDR und der Bundesrepublik zum Beispiel , so haben wir den Verbund ohnehin schon längst.

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Ein Land wie die Bundesrepublik, dessen Handelsbilanz einen ungleich höheren Exportanteil aufweist als die der Vereinigten Staaten, muß auch zum Osthandel eine andere Einstellung als diese haben. Kein Zweifel, der Osthandel sichert Arbeitsplätze in den Ländern Westeuropas. Als es um die wirtschaftlichen Interessen nordamerikanischer Farmer ging, haben auch die Vereinigten Staaten nicht gezögert, das von ihnen über die UdSSR verhängte Weizenembargo aufzuheben. Oft hat es den Anschein, als sähen die Amerikaner in den Wirtschaftsbeziehungen zu den Staaten des Warschauer Paktes nur ein Mittel, »richtiges« oder »falsches« politisches Verhalten zu belohnen oder zu bestrafen. Der Osthandel aber ist ein festes Element der Friedenssicherung und taugt deshalb nicht für eine schwankende Politik des Zuckerbrotes und der Peitsche.

Strittig ist auch die Frage des Technologietransfers zwischen West und Ost. Wenn es stimmte, wie uns manche weismachen wollen, daß die Sowjetunion dem Westen technologisch überlegen sei, dann müßte doch der Westen sehr darauf erpicht sein, möglichst viel von der überlegenen sowjetischen Technologie nach Westen zu transferieren, und das Thema könnte zwischen den Atlantischen Parteien eigentlich nicht kontrovers sein. Die hin und wieder zu vernehmende Behauptung, nur die militärische Technologie der Sowjetunion sei der westlichen überlegen, nicht jedoch die zivile, ist für jeden grotesk, der etwas von Technologie versteht. Doch Scherz beiseite, marktwirtschaftlich organisierte Volkswirtschaften mit ihren weltweit operierenden Konzernen eignen sich kaum für wasserdichte Blockaden des Technologietransfers. Die Ankündigung Präsident Reagans, der Sowjetunion die Ergebnisse der SDI-Forschung zu überlassen, spricht dafür, daß auch in den USA eine Politik der Technologieblockade nicht konsequent verfolgt wird.

Freilich darf nicht der Eindruck entstehen, als seien die Westeuropäer nur für die Geschäfte mit dem Osten, die USA für die Sicherheit gegenüber dem Osten verantwortlich. Gerade deshalb will das Konzept der Sicherheit durch Entspannung und Zusammenarbeit — so die Formel des Harmel-Berichts — die Verteidigungsfähigkeit nicht vernachlässigen; gerade deshalb ist eine selbstverantwortliche europäische Verteidigungsgemeinschaft in Zukunft so überaus wichtig.

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Diese europäische Verteidigungsgemeinschaft verstößt nicht gegen amerikanische Interessen, und deshalb begrüßen sie auch viele amerikanische Politiker und sicherheitspolitische Experten. Es geht darum — wie es die »New York Times« vom 11. August 1987 formuliert hat —, die gewachsenen Strukturen und Verhaltensweisen des kalten Krieges aufzugeben und eine neue Politik zu versuchen. Eine Anzahl objektiver Faktoren fordert eine solche Entwicklung geradezu heraus. Da ist zum einen die Veränderung der sowjetischen Politik nach der Übernahme des Generalsekretariats der KPdSU durch Michail Gorbatschow. Da ist zum anderen die Tatsache, daß es bei den Abrüstungsverhandlungen zwischen den beiden Weltmächten auch um europäische Belange geht, mithin eine stärkere europäische Mitwirkung wünschenswert wäre. Und da ist zum dritten der Prozeß der europäischen Einigung, der weitergeführt werden will, aber nicht weiterkommen kann, solange die Europäer nicht zu einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik finden. Wer die politische Einigung Europas will, der kann nicht, zumal nach dem Beitritt Spaniens zur Europäischen Gemeinschaft, an der gegenwärtigen militärischen Struktur der NATO festhalten wollen.

 

  Für ein europäisches Verteidigungssystem  

Gegen Ende des 20. Jahrhunderts sind wir dem jahrhundertealten Traum von einem politisch geeinten Europa ein gutes Stück näher gekommen, am Ziel aber sind wir noch längst nicht. Obwohl doch alle Zeichen in Westeuropa auf Supranationalität stehen — die wirtschaftlichen, die kulturellen wie die zwischenmenschlichen Beziehungen, die Chancen wie die Risiken —, sträuben sich dagegen noch immer die Nationalstaaten. Noch immer klammern sich viele an die Idee der nationalen Souveränität, weil sie sich identitätsstiftende Selbstbestimmung oder Autonomie nur im nationalstaatlichen Rahmen vorstellen können. Das Kernstück jeder Souveränität bildet seit eh und je die Fähigkeit zur nationalen Sicherheit und nationalen Verteidigung.

In dem Maße aber, wie diese Fähigkeit schwindet, weil eine wirksame Verteidigung auf nationaler Basis aus strategischen und finanziellen Gründen gar nicht mehr zu realisieren ist, in dem Maße verliert auch die Vorstellung von der nationalen Souveränität ihren Kern. Wer ernsthaft ein vereintes Europa will, wird an einem europäischen Verteidigungssystem nicht vorbeikommen.

Die einzelnen Staaten wenden Unsummen für ihre jeweilige Verteidigungsmaschinerie auf — Unsummen, die anderswo fehlen. Und dennoch können wir uns glücklich wähnen, wenn wir von dieser Verteidigungsmaschinerie niemals Gebrauch machen müssen. Das Beste, was uns passieren kann, ist, diese ganze Maschinerie schrottreif werden zu sehen.

Sollte es nun aber infolge der technologischen und politischen Entwicklungen zu einer integrierten europäischen Verteidigungs­gemeinschaft kommen, weil die Verteidigungsmaschinerie auf nationalstaatlicher Ebene nicht mehr zu bewältigen ist, dann hätten die für den militärischen Apparat erbrachten finanziellen Opfer wenigstens einen weiteren positiven Sinn: Wir würden uns damit nicht nur Sicherheit erkaufen, sondern dazu auch noch die politische Einigung Westeuropas.

Mit der Erweiterung der europäischen Gemeinschaft ist auch die Politik der europäischen Einigung in eine neue Phase eingetreten. 1992 soll es zu einem einheitlichen Markt kommen. Was Wunder, daß in einer solchen neuen Phase der gemeinsamen Zukunftsplanung auch die Frage der Verteidigung neu gestellt wird. Warum auch sollte sich eine Gemeinschaft von dreihundertzwanzig Millionen Menschen notfalls nicht selber mit konventionellen Mitteln gegen Staaten verteidigen können, die industriell und technologisch weit unterlegen sind? Selbstverständlich muß jede europäische Verteidigungskonzeption von den vorherrschenden Machtstrukturen ausgehen.

Der Zweite Weltkrieg hinterließ ein Duopol der beiden Supermächte USA und UdSSR. Vieles spricht dafür, daß Duopole auf lange Sicht instabil sind. Entweder münden sie letztlich in eine kriegerische Auseinandersetzung oder sie zerfallen in eine pluralistische Machtstruktur. Mithin ist die Verhütung des Weltkriegs eine Aufgabe, die Behutsamkeit verlangt: Ohne das Duopol zu destabilisieren, das heißt in enger Abstimmung mit den Supermächten, muß eine pluralistische Machtstruktur errichtet werden. Der Aufbau eines europäischen Verteidigungssystems als Wegbereiter der politischen Einigung Europas ist dazu ein entscheidender Beitrag.

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Oskar Lafontaine 1988