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4 - Die Überwindung des Nationalstaats

 

Radioaktive Wolken kümmern sich nicht um Meilensteine, Nationalgrenzen oder Vorhänge. Also gibt es in der Situation der Endzeit keine Entfernungen mehr. Jeder kann jeden treffen, jeder von jedem getroffen werden. Wenn wir hinter den Leistungen unserer Produkte moralisch nicht zurückbleiben wollen (was nicht nur tödliche Schande, sondern schändlichen Tod bedeuten würde), dann haben wir dafür zu sorgen, daß der Horizont dessen, was uns betrifft, also unser Verantwortungshorizont, so weit reiche wie der Horizont, innerhalb dessen wir treffen oder getroffen werden können; also daß er global werde. Es gibt nur noch »Nächste«. 
Günther Anders 

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Es hat seine objektiven Gründe, daß wir heute in Ost und West gleichermaßen dazu übergehen, Sicherheit im Miteinander zu suchen. 

Erstens ist die Bedrohung, die von den in der Welt angehäuften nuklearen, chemischen und biologischen Massenvernichtungsmitteln ausgeht, für alle Menschen gleich groß. Die Überlebenden eines atomaren Krieges würden zum großen Teil in dem darauffolgenden »atomaren Winter« zugrunde gehen. Amerikanische Wissen­schaftler haben ermittelt, daß unter bestimmten Bedingungen schon 0,7 Prozent der vorhandenen atomaren Sprengkraft für eine globale klimatische Katastrophe ausreichen würden. Hinzu kommt, daß durch die fortschreitende Automatisierung und Computerisierung der strategischen Waffensysteme das Risiko ihrer Selbstaktivierung infolge menschlichen oder technischen Versagens wesentlich gesteigert worden ist.

Zweitens stellt die dramatisch wachsende Verelendung der »Dritten Welt« — einmal abgesehen von dem moralischen Skandal — eine Gefahrenquelle für die gesamte Menschheit dar. Hunderte Millionen Hungernder sind wie eine Zeitbombe, die jederzeit explodieren und eine Kettenreaktion von Konflikten auslösen kann. Dabei sind ja die Industriestaaten am Elend der »Dritten Welt« gewiß nicht unschuldig. Derzeit verschärft die von den reichen Nationen zu verantwortende Verschuldungskrise der Entwicklungsländer deren Probleme.

Drittens summieren sich auch die ökologischen Schäden zu einer weltweiten Katastrophe. Die Natur schafft es nicht mehr, die Eingriffe des Menschen selbstregulierend zu bewältigen. Die Entnahme von pflanzlichen und tierischen Lebensmitteln, von Rohstoffen und Energieträgern, von Sauerstoff und Wasser ist zuviel geworden, die Veränderung durch Land- und Forstwirtschaft, durch Städte- und Straßenbau zu großflächig, die Belastung durch industrielle und zivilisatorische Nebenprodukte zu hoch. Und die Umweltschäden spotten aller Landesgrenzen. Mit der Richtung des Windes trug die radioaktive Wolke von Tschernobyl Gefahr in alle Welt. Da die chemische Industrie das Wasser der Flüsse mit hochgiftigen Schwermetallen anreichert, gewinnt die Binsenweisheit, daß die Gewässer bergab fließen, für das nationalstaatliche Souveränitätsprinzip eine ganz andere Dimension. Die von schweizerischen, französischen und bundesdeutschen Industrieunternehmen in den Rhein geleiteten Abwässer bestimmen die Qualität seines Wassers in Rotterdam und gefährden dort die Trinkwasserversorgung der Bevölkerung.

Auch die Risiken der industriellen Produktion reisen ohne Paß und Visum. Unablässig verletzt der internationale Schadstoffverkehr sämtliche Landesgrenzen und beeinträchtigt die Lebenschancen der Menschen hinter den Grenzen. Dieser »Invasionsschaden« wächst ins Unermeßliche. Sind Schadens­ersatz­ansprüche schon auf der nationalen Ebene schwer zu regeln, so ist auf der internationalen kaum daran zu denken. Die Kohlendioxid-Emissionen der Industrieländer haben sich im Laufe der Zeit zu einer Art Schutzschicht in der Atmosphäre verdichtet, an der sich die von der Erdoberfläche reflektierte Sonnenstrahlung erneut bricht und auf die Erde zurückstrahlt. Als Folge einer solchen Wärmezufuhr ist in einer anhaltenden Dürreperiode die afrikanische Sahelzone nahezu unbewohnbar geworden.

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Die weitere Rodung der sauerstoffproduzierenden tropischen Regenwälder wird das Klima global verändern — mit unabsehbaren Folgen für alle Erdteile. Oder ein näherliegendes Beispiel: Als Folge eines ernsten Unfalls in der französischen Nuklearzentrale Cattenom würde auch im Sauerland, in Luxemburg und in Teilen von Rheinland-Pfalz auf absehbare Zeit sämtliches Leben erlöschen.

 

   Umweltschädigende nachbarliche »Übergriffe«  

Gehört zum Kern der nationalstaatlichen Souveränität die Garantie der territorialen Unversehrtheit und der nationalen Sicherheit, dann wird infolge der ständigen ökologischen Grenzverletzung aller durch alle das Souveränitätsprinzip faktisch außer Kraft gesetzt.

Bei dem gegenwärtigen Stand der industriellen Entwicklung ist der Nationalstaat ganz offenkundig nicht mehr in der Lage, das eigene Territorium gegen umweltschädigende »Übergriffe« des Nachbarn zu verteidigen. Mehr noch, er hat sich sogar der moralischen Berechtigung begeben, gegen solche »Übergriffe« des Nachbarn protestieren zu dürfen, weil er selber nicht einmal mehr verhindern kann, daß vom eigenen Territorium ähnliche »Übergriffe« auf das Nachbarland ausgehen.

Der Nationalstaat — um es mit den Worten des Münchner Politik- und Rechtswissenschaftlers Peter Cornelius Mayer-Tasch zu sagen — »ist nicht mehr Staats genug, sich gegenüber den technisch-ökonomischen Rationalitätsvorstellungen der transnationalen Gesellschaft das Maß an souveräner Unabhängigkeit und Eigenständigkeit zu bewahren, dessen er zur Erfüllung auch nur der elementarsten Staatsaufgaben bedarf. Und daß es sich bei der Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen um die elementarste aller Staatsaufgaben handelt, bedarf wohl kaum besonderer Betonung«.

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Immer dann, wenn nationale Interessen, wirtschaftliche Interessen vor allem, auf dem Spiel stehen, stellen sich die Emissions-Verursacherstaaten möglichst taub, wenn die betroffenen Nachbarländer ihre Forderungen äußern, denn es gehört zu den Grundsätzen nationalstaatlicher Souveränität dem Ausland gegenüber, die nationalen Interessen zu wahren. Aber gerade das ausdrückliche Pochen auf diesen Grundsatz verletzt die Souveränität der anderen Staaten nachhaltig. Mithin befinden wir uns in der paradoxen Situation, daß das Festhalten an der herkömmlichen nationalstaatlichen Souveränität diese am meisten untergräbt.

Wie in der militärischen Sicherheitspolitik stehen wir auch in der Umweltpolitik vor der Aufgabe, unsere Zukunft gemeinsam zu gestalten, wollen wir überhaupt noch eine Zukunft haben. Die Forderung nach internationaler Solidarität ist wichtiger denn je. Und es mangelt auch nicht an Solidaritätsappellen. Doch Lamentieren allein hilft nicht weiter, und schon gar nicht hilft Resignation. Entschlossenes gemeinsames Handeln tut not. Dem aber steht nicht nur unser Phlegma im Wege, unser Hang, Probleme zu verdrängen, die uns selber noch nicht unmittelbar und spürbar genug, sondern erst zeitversetzt unsere Kinder und Kindeskinder mit aller Wucht treffen werden. Im Wege stehen nicht nur unsere Wohlstandsängste, womöglich auf ein bißchen Bequemlichkeit verzichten zu müssen. Im Wege stehen auch die handfesten privatwirtschaftlichen Interessen der multinationalen Konzerne. Und im Wege stehen vor allem die nationalen Egoismen und Wirtschaftsinteressen.

Der Interessengegensatz zwischen denjenigen Staaten, die von der Umweltverschmutzung ihrer Nachbarn wirtschaftlich profitieren, und ebendiesen Nachbarn, die davon nichts anderes als den Schmutz haben, war allemal stark genug, um eine wirksamere Umweltpolitik zu verhindern. Die Länder mit einer aktiven oder ausgeglichenen Emissionsbilanz wie Großbritannien, die Vereinigten Staaten oder die Bundesrepublik haben bisher das Drängen der Länder mit passiver Emissionsbilanz, wie Schweden, Norwegen oder Kanada, auf eine schärfere internationale Emissionskontrolle abgewehrt. Die Interessen der Multis wie die nationalstaatlichen Egoismen könnten noch am ehesten durch eine supranationale politische Entscheidungs­instanz wirksam begrenzt werden.

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   Einheitliche Normen für den Umweltschutz  

Bisher war auf dem Gebiet des Umweltschutzes die Zusammenarbeit zwischen den einzelnen National­staaten wenig effizient. Die seit 1985 von Bruno Simma, Bernd Rüster und Michael Bock gesammelten und veröffentlichten internationalen Verträge, Abkommen und Erklärungen zur Umweltpolitik, füllen inzwischen mehr als dreißig Bände. Doch diese Vereinbarungen erweisen sich überwiegend als bloße Absichtserklärungen ohne rechtliche oder politische Wirkungskraft. Selbst rechtlich verbindliche Verträge verpuffen an der Unbestimmtheit der verwendeten Rechtsbegriffe, die von Staat zu Staat unterschiedlich ausgelegt werden.

Was macht es für einen Sinn, internationale Abkommen an solche Kriterien wie »Stand der Technik« oder »wirtschaftliche Vertretbarkeit« zu binden, die in jedem Land etwas anderes bedeuten? Solange die rechtlichen und technischen Normen des Umweltschutzes nicht international vereinheitlicht und präzisiert werden, kann es kaum eine weltweit verbindliche Umweltpolitik geben. Als organisatorischer Rahmen für eine solche Vereinheitlichung der Normen und Meßwerte bieten sich fürs erste die bereits vorhandenen internationalen Organisationen an - Europäische Gemeinschaft, Comecon, OPEC oder die Organisationen der amerikanischen und afrikanischen Staaten.

Wie sollte auch auf der zwischenstaatlichen Ebene eine wirksame Umweltpolitik zustande kommen, wenn sie sich schon auf der innerstaatlichen Ebene so schwer tut? Die Industriegesellschaft westlicher Prägung hat den staatlichen Handlungsspielraum eingeschränkt, dafür aber ihre Legitimationsbedürftigkeit auf den Staat abgewälzt. Der industrielle Komplex hat soviel Durchsetzungs- und Verhinderungskraft, weil die mit ihm verbundenen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerinteressen aufs wirksamste organisiert sind. Obwohl die Menschen durchschnittlich nur neun Prozent ihrer Lebenszeit auf die Erwerbsarbeit verwenden, sind nicht nur die Organisationen gewerkschaftlicher Gegenmacht, sondern auch die der traditionellen gesellschaftlichen Solidarität und der sozialen Sicherheit an ihr ausgerichtet.

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Demgegenüber sind die Nichterwerbsinteressen der Menschen aus den Bereichen, in denen sie durchschnittlich 91 Prozent ihrer Lebenszeit verbringen, sehr schwach organisiert. Dem Grad der Organisation entspricht die Durchschlagskraft der Interessenvertretung. Was ist nicht schon alles mit Arbeitsplatzargumenten »totgeschlagen« worden. Mithin ist es auch im Sinne einer wirksamen Umweltpolitik erforderlich, den gesellschaftlichen Arbeitsbegriff über den Erwerbssektor hinaus zu bestimmen und in diesem erweiterten Bereich menschlicher Tätigkeit die Interessen ebenfalls demokratisch zu organisieren. In der Form von Bürgerinitiativen hat sich bisher zwar auch der Nicht-Erwerbsbereich machtpolitisch zu organisieren versucht, doch blieben die Erfolge so punktuell wie die Organisationsform. Kein Zweifel aber, daß die umweltpolitische Erfolgsbilanz des Staates ohne den Druck der Bürgerinitiativen noch magerer ausgefallen wäre.

Die Schädigung der Umwelt ist ein supranationales Problem — letztlich unlösbar, solange nationalstaatliche Interessen und Egoismen Bestand haben.

Das heißt aber nicht, daß nicht auch eine nationalstaatliche Umweltpolitik erheblich zur Verbesserung der Lage beitragen kann. In dem Maße, wie die Umwelt vernetzt ist und die Umweltschäden global zusammenhängen, wirken sich Erfolge im Umweltschutz, die auf nationaler Ebene erzielt werden, immer auch positiv auf der internationalen Ebene aus. Erstens können die Gifte, die im Inland vermieden werden, nicht ins Ausland gelangen. Zweitens kann jeder Erfolg des einen Staates dem anderen als Vorbild dienen. Und drittens erhöhen die umweltpolitischen Fortschritte im eigenen Land das ökologische und ökonomische Interesse, die gleichen Standards international durchzusetzen sei es nur, um einer Verzerrung der wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit vorzubeugen.

Natürlich gilt auch umgekehrt, daß internationale Erfolge im Umweltschutz auf die nationalstaatliche Ebene durchschlagen. Bis die institutionellen Voraussetzungen für eine supranationale Umweltpolitik geschaffen sind, ist noch eine konsequente nationalstaatliche Umweltaußenpolitik erforderlich.

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Und nichts spricht dagegen, eine solche Politik gleichsam mit Zuckerbrot und Peitsche zu machen — mit Sanktionen und Subventionen. Eine Sanktionsmöglichkeit zum Beispiel wäre die Importsperre für Strom aus ausländischen Kernkraftwerken. Ein anderes Beispiel einer sinnvollen Subventionspolitik lieferte Bayern, als es sich finanziell an dem Bau einer Kläranlage auf dem Gebiet der DDR beteiligte. Überhaupt liegt es in der Natur der Sache, größere Umweltprojekte von mehreren Ländern gemeinschaftlich finanzieren zu lassen, da die industrielle Entwicklung zwangsläufig zu gegenseitiger Verschmutzung führt.

 

  Grenzüberschreitende wirtschaftliche Aktivität  

An der Problematik der Ökologie läßt sich die Zersetzung der nationalen Souveränität zwar deutlich aufzeigen, die globale ökologische Schadensvernetzung aber ist beileibe nicht das einzige Ferment der nationalstaatlichen Auflösung. Seit längerer Zeit liegt auch den wirtschaftlichen Transaktionen die steigende Tendenz zugrunde, nicht nur die jeweiligen nationalstaatlichen Rahmen zu sprengen, sondern sich der Kontrolle durch die nationale Politik schlechthin zu entziehen und somit die wirtschaftliche Souveränität der Nationalstaaten zu untergraben.

In seinem nicht ganz ernst gemeinten »Kurzen Abriß der Nationalökonomie« brachte Kurt Tucholsky diese Tatsache auf die lapidare Formel: »Was die Weltwirtschaft angeht, so ist sie verflochten.« In der Tat: Eine Vielzahl nationaler Wirtschaftskreisläufe ist heute durch ein solch hohes Ausmaß an Transaktionen miteinander verbunden, daß sie zu einem einzigen, vielfältig verzweigten Weltwirtschaftskreislauf ineinanderfließen. Schätzungen besagen, daß derzeit mindestens ein Drittel der gesamten, weltweiten wirtschaftlichen Aktivität über die politische Einwirkungsmöglichkeit eines einzelnen Staates hinausgeht. Mehr noch, ein entscheidender Teil dieser grenzüberschreitenden wirtschaftlichen Aktivität ist so organisiert, daß er auch durch zwischenstaatliche Übereinkünfte nicht mehr geregelt werden kann, er sich mithin überhaupt jedem politischen Eingriff entzieht.

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Diese Teilautonomie der Wirtschaft gegenüber der Politik beruht vor allem auf dem Zusammenspiel von transnationaler Organisation und zentraler Leitung der großen Konzerne. Die Souveränität der unternehmerischen Entscheidung über Produkt, Standort, Technologie, Forschung, Finanzierung und Marktstrategie bleibt in einer Hand, zugleich aber können die jeweils günstigsten Produktionsfaktoren — etwa die billigere Arbeitskraft — in den unterschiedlichsten Ländern genutzt werden. Auch müssen die Leistungen der einzelnen Teilunternehmen eines multinationalen Konzerns nicht unbedingt nach äußeren, politischen oder Markt-Kriterien bewertet, sondern können intern verrechnet werden und so der manipulativen Optimierung der Ergebnisse dienen.

Kaum einer der fünfhundert umsatzstärksten Konzerne der Welt macht seine Geschäfte in einem einzigen Land. Die Umsatzzahlen der größten Multis erreichen das Budget mittlerer Staaten. Die Summe der von den multinationalen Konzernen kurzfristig verfügbaren Finanzmittel beträgt gut und gern das Doppelte der verfügbaren Mittel aller Notenbanken und anderer Währungsbehörden zusammen. Deutlich kommt der Mangel an politischem Regulierungsvermögen in der Folge eines solchen Mittelungleichgewichts in der Währungsspekulation zum Ausdruck: Die Veränderungsschübe der Währungsparitäten laufen im Grunde weniger nach den politischen Gesichtspunkten der Währungsbehörden ab als vielmehr nach den Interesseneinschätzungen der großen Konzerne.

Der hohe Selbstfinanzierungsgrad sichert den multinationalen Unternehmen zwar ein großes Maß an Autonomie, hindert sie aber nicht daran, sich die Forcierung solcher Technologien, an denen ein großes staatliches Interesse besteht, aus der öffentlichen Hand subventionieren zu lassen. Nicht nur die Rüstungs- und Raumfahrtindustrie, sondern auch die Informatik- und Nuklearindustrie sind größtenteils aus Steuergeldern finanziert worden. Die Transnationalität der Konzernorganisation bringt es mit sich, daß ein und dasselbe Unternehmen zur gleichen Zeit aus den Steuertöpfen der unterschiedlichsten Staaten gespeist werden kann, die Staatspolitik aber dennoch, weil sie nicht gleichfalls transnational organisiert ist, wenig Einfluß auf die Konzernpolitik hat.

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  Die Multis geben den Ton an  

Die Fähigkeit, große Finanzmittel souverän für die eigenen Zwecke einsetzen und unter den jeweils kosten­günstigsten Standortbedingungen produzieren zu können, macht die Multis den im nationalen Rahmen operierenden Wirtschaftsunternehmen überlegen. Deshalb geben die Multis in der Lohn- und Preispolitik mehr oder weniger für alle den Ton an, denn der wirtschaftliche Prozeß im lokalen oder nationalen Bereich kann nicht von der Dynamik des stärksten Sektors abgekoppelt werden. Mithin ist der strategische Einfluß der transnationalen Wirtschaft weitaus größer, als es die Daten der Außenhandels­bilanzen andeuten. Ab einem gewissen Schwellenwert der Produktion kann eine relativ kleine Zahl von Entscheidungszentren, die über alle Staatsgrenzen hinweg eine Vielzahl von Betriebsstätten kontrollieren, die Entscheidungslogik des gesamten Wirtschaftssystems verändern. Die Multis organisieren und rationalisieren weltweit die Arbeitsteilung.

Wie aber können demokratische Gestaltungswünsche gegen Entscheidungszentren durchgesetzt werden, die nicht mehr für einen beschränkten lokalen oder nationalen Markt, sondern für den Weltmarkt produzieren, die von keinem einzelnen Standort aus politisch zu kontrollieren sind, die zudem einen globalen Zugriff auf alle Rohstoffe und Arbeitskräfte haben und über eine vielfältig aufgesplitterte Technologie verfügen? Was die Multis im Binnenraum einiger Länder durch Arbeitskämpfe oder Intervention des Sozialstaats an unternehmerischer Verfügungssouveränität eingebüßt haben, gewinnen sie transnational wieder zurück. Durch ihren weltweiten Zugriff auf die jeweils günstigsten Produktions­voraus­setzungen wird jede Binnensteuerung der Wirtschaft von den technologischen und organisatorischen Innovationen des transnationalen Sektors abhängig, werden alle Instrumente nationalstaatlicher Wirtschaftspolitik untauglich für seine Kontrolle.

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In ihrer bisherigen Form sind auch internationale Maßnahmen dazu kaum besser geeignet, können sie doch, als Ausfluß der Außenpolitik von Nationalstaaten, ihren grundsätzlich nationalstaatlichen Charakter nicht verleugnen. Noch sind sämtliche internationalen politischen Einrichtungen auf den Territorialstaat bezogen und auf die nationalen Mächte angewiesen. Auch die gewerkschaftlichen und politischen Kräfte definieren sich in der internationalen Zusammenarbeit national, eine Macht bilden sie nur in den Grenzen des Territorialstaats.

Die Haltung der Öffentlichkeit zu den multinationalen Konzernen ist zwiespältig. Vereinzelt werden sie wegen eines skandalösen Vorgehens — vor allem in den Entwicklungsländern — heftig kritisiert. Es trifft zu, daß einige Multis etwa in Lateinamerika vielfach überhöhte Preise durchdrücken, daß sie eigenständige Entwicklungen der Länder der Dritten Welt zugunsten ihrer Weltmarktproduktion behindern, daß ihre Gewinnrückführung häufig über dem Nettokapitalzufluß liegt. Das trübt aber nicht ihr gutes Verhältnis zu den Regierungen und gesellschaftlichen Organisationen in den Industrieländern. Als Garanten hoher Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit, als Vermittler des jeweils höchsten technologischen Standards, als Organisatoren von staatlichen Entwicklungsprojekten werden die Multis hoch geschätzt.

Ihre unbestreitbar überlegene Leistungsfähigkeit läßt sie zum begehrten Partner der politischen Instanzen werden. In den USA, in Frankreich oder auch in der Bundesrepublik wird die nationale Energiepolitik wesentlich von multinationalen Energiekonzernen mitgeprägt. Natürlich weckt eine solche Partnerschaft bei den Politikern den Wunsch, den transnationalen Sektor mit den spezifischen Mitteln der Wirtschaftspolitik steuern zu können. Allerdings verbindet sich bei Politikern wie bei Gewerkschaftern die Einsicht, daß eine grenzüberschreitende Antwort auf die Herausforderung der transnationalen Ökonomie notwendig sei, noch nicht mit der Fähigkeit, die dafür geeigneten Instrumente zu schaffen.

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Einer zentral geleiteten, transnational organisierten wirtschaftlichen Entscheidungsmacht ist mit Verhandlungen und Vereinbarungen zwischen staatlichen Gremien, die keine gemeinsame Macht- und Legitimationsbasis haben, nicht beizukommen. Noch so viele Konsultationen und Konferenzen, eine noch so rege Besuchsdiplomatie, ein noch so starker Ausbau von internationalen Hilfsorganisationen vermögen die fehlende politische Solidarität nicht zu ersetzen. Auch den Gewerkschaften will es trotz aller Bemühungen nicht gelingen, transnationale Solidarität wirksam zu organisieren. So bleibt der vielbeschworene Internationalismus der Arbeiterbewegung weitgehend illusionär, während der Internationalismus des Kapitals und des Zinses real ist.

 

  Transnationale Solidarität gegen transnationale Ökonomie  

Nicht weniger illusionär ist die internationale Wirtschaftspolitik. Ein »Weltwirtschaftsgipfel« folgt auf den anderen, ohne sichtbaren Einfluß auf den Lauf der Weltwirtschaft. Nach wie vor glauben viele an die Wirksamkeit nationalstaatlicher Instrumente der Wirtschaftspolitik, vorausgesetzt, sie sind auf der internationalen Ebene richtig koordiniert. Dabei ist doch gerade die zunehmende Häufigkeit internationaler Wirtschafts­konsultationen ein Zeichen dafür, daß die herkömmlichen Instrumente selbst in der zwischenstaatlichen Koordinierung nicht mehr allzuviel zu bewirken scheinen. Es ist höchste Zeit, zu begreifen, daß die transnationale Umlenkung von Handels- und Investitionsströmen, der Transfer von Technologie und Produktion nicht mehr nur als Veränderung außenwirtschaftlicher Rahmendaten abgetan werden kann, sondern als wesentliche Beeinträchtigung der politischen Handlungsfähigkeit des Nationalstaats, als Verlust an nationalstaatlicher Souveränität gesehen werden muß.

Viele Leitprodukte unserer Wirtschaft und unserer Lebensgestaltung — einschließlich der Rüstungsgüter — sind unter Mitwirkung der multinationalen Konzerne entwickelt worden. Heute haben die Multis das Quasimonopol für die groß-industrielle Durchsetzung von Produktinnovationen.

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Mithin befinden sich viele der neuen Technologien in denselben Händen, in denen noch die alten liegen. Die Konzerne, die bisher Energie aus fossilen Brennstoffen oder aus der Kernspaltung produziert haben, steuern jetzt zugleich auch die alternativen Methoden der Energieherstellung aus Sonne, Wind oder Biomasse — und sie steuern ihre wirtschaftlichen Interessen gewiß nicht auf Kollisionskurs. Die transnationale Steuerung des technologischen Fortschritts nach Profitinteressen kann einer selbstbestimmten, demokratischen Weltgestaltung nicht dienlich sein.

Weil aber unsere Zukunft von der gesellschaftlich kontrollierten Veränderung der Industrieprodukte und der industriellen Produktionsweise abhängen wird, können wir uns ein transnationales, gesellschaftliches und politisches Machtvakuum, in dem solidarisches Handeln in demokratischen Formen nicht möglich ist und wirtschaftliche Interessen allein die Gesetze des Handelns diktieren, weniger denn je leisten. Eine Gesellschaft, die eine freiere Zukunft anstrebt, kann nicht zulassen, daß die wichtigsten wirtschaftlichen Vorgänge und Strukturen nicht mehr durch demokratisch legitimierte politische Einrichtungen kontrolliert werden können. Vielmehr muß sie alles daransetzen, gegen die Macht der »transnationalen Ökonomie« eine wirksame, demokratisch legitimierte transnationale Solidarität zu organisieren.

Es wird uns nicht weiterbringen, wenn wir an der gegebenen politischen Struktur festhalten, die durch die Konzentration der politischen Macht innerhalb von nationalstaatlichen Rahmen sowie durch die Machtlosigkeit der internationalen Einrichtungen gekennzeichnet ist. Nur durch eine Änderung dieser Strukturen gleichsam von oben und von unten werden wir die transnationale Ökonomie kontrollieren können. Dazu bedarf es zum einen einer supranationalen politischen Organisation mit eigener, demokratisch legitimierter Entscheidungsbefugnis und zum anderen einer stärker dezentralisierten und stärker selbstbestimmten Produktionsweise innerhalb dieser supranationalen politischen Organisation.

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Mit anderen Worten: Wir brauchen die schnelle Verwirklichung der politischen Einigung Europas und wären darüber hinaus gut beraten, die Idee des Weltstaats als politische Utopie im Kopf zu behalten; wir brauchen aber gleichzeitig eine Wirtschaftsordnung, die demokratischer, solidarischer und gerechter organisiert ist.

Die Produktion von Gefährdungspotentialen ist weder auf ein bestimmtes Land noch auf eine bestimmte Wirtschaftsordnung beschränkt. Kapitalismus und real existierender Sozialismus wetteifern darin, die natürlichen Ressourcen auszubeuten, die Umwelt zu zerstören, die Risiken zu vermehren und zu verstärken.

Allzulange hat die Linke geglaubt, mit der Aufhebung jenes Grundwiderspruchs zwischen dem gesellschaft­lichen Charakter der Arbeit und der privaten Aneignung des Arbeitsertrages, der die kapitalistische Produktionsweise bestimmt, ließen sich zugleich auch alle ausbeuterischen, erniedrigenden und bedrohlichen Verhältnisse aus dem Wirtschaftsleben der Menschen beseitigen. Erst durch die Zuspitzung der ökologischen Krise in den letzten Jahren, von der die sozialistischen Systeme des Ostens nicht minder betroffen wurden als die kapitalistischen Systeme des Westens, kam die Linke zu dem Bewußtsein, daß die künftigen Probleme und Gefährdungen der Menschen weniger aus Wirtschafts- und Gesellschaftsordnungen erwachsen als vielmehr aus der modernen industriellen Organisation selber, das heißt aus der Arbeitsteilung und aus dem Verhältnis der Gesellschaft zu Naturwissenschaft und Technik.

 

  Ideologische Differenzen treten zurück  

Dieses Verhältnis ist sich heute überall auf der Welt sehr ähnlich, in Ost und West, in Nord und Süd. Überall herrschen Arbeitsteilung und Arbeitszerlegung vor, bestimmen quantitative Kriterien das Wirtschaften, nimmt die Abhängigkeit der Menschen von fremden Leistungen und anonymen Leistungssystemen zu, wächst mit der Rationalität der Technologien nicht nur die Effizienz der Produktion, sondern auch die Effizienz des Gefahren­potentials. Die Zwangsläufigkeiten und inneren Sachzwänge dieser globalen industrialistischen Lebensgestaltung prägen mehr und mehr die Beziehungen zwischen den Völkern und lassen die ideologischen Differenzen zweitrangig werden.

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Die gesamte Welt steht vor der Herausforderung, den aggressiv-ausbeuterischen Industrialismus zu besänftigen. In den Ländern des real existierenden Sozialismus tritt er ja der Natur gegenüber nicht weniger ausbeuterisch auf als in den kapitalistischen Ländern. Ob die Zukunft der Menschen menschlicher wird oder nicht, wird in erster Linie von ihrer Fähigkeit abhängen, ihre derzeit vorherrschende Einstellung zur Natur, zur Wissenschaft, zur Technik und zur Arbeit gemeinsam und vernunftgemäß zu ändern.

Daß sich der Industrialismus transnational entfaltet hat und seine notwendigen gesellschaftlichen Folgen die ideologischen Barrieren einebnen heißt nicht, daß die unterschiedlichsten Gesellschafts- und Wirtschaftsordnungen überhaupt keine Rolle mehr spielen. Zwar mag ihre Bedeutung für die Entstehung der Modernisierungsrisiken nur noch eine sekundäre sein, sie bleiben nichtsdestoweniger mitbestimmend. In der Form, die sie heute angenommen haben, sind Industrialismus und Kapitalismus in ihrer historischen Entwicklung nur schwer voneinander zu trennen — auch wenn es Kapitalismus ohne Industrie und Industrie ohne Kapitalismus gibt und gegeben hat. Aber da sich unser Verhältnis zu Natur, Technik und Arbeit wohl kaum in den herkömmlichen Denkstrukturen der bürgerlichen Ökonomie neu konzipieren läßt, scheint es ausgeschlossen, daß wir die Nachteile des modernen Industrialismus beseitigen können, ohne die moderne Erscheinungsform des Kapitalismus zu verändern.

Nicht alle Negativfolgen der industriellen Organisation sind ja das Ergebnis ihnen immanenter Zwangsläufigkeit. Und schließlich ändern im Verlauf der industriellen Entwicklung auch diese Zwangsläufigkeiten ihre Richtung. Bestand bisher aus der Ratio der industriellen Organisation eine Notwendigkeit, die Produktion zu quantifizieren, zu zentralisieren und zu hierarchisieren, so scheint sich mit den neuesten technologischen Entwicklungen zumindest eine Chance zu eröffnen, diesen Trend in Richtung Dezentralisierung, Demokratisierung und Qualifizierung umkehren zu können.

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Denn die kommenden Jahrzehnte prägend wird vor allem sein, den Produktionsbereich der Gesellschaft mit Informationen zu durchdringen: Eine wachsende Informationsdichte und Vernetzung von Informationsträgern sowie eine expandierende Zugänglichkeit von Informationsvorräten für eine steigende Zahl von Menschen wird die Strukturen des gesellschaftlichen Wirtschaftslebens verändern. Ob solche Veränderungen den Menschen zum Guten oder zum Schlechten gereichen, wird nicht zuletzt von den politischen und gesellschaftlichen Ideologien abhängen, die sie begleitend gestalten.

Das sieht auch Kurt Biedenkopf nicht anders. »Die technisch-wissenschaftliche Entwicklung« — so schreibt er in einem Zeitungsaufsatz — »verändert schließlich auch unsere kulturelle Haltung, unsere Vorstellungen von der Gesellschaft und dem Leben in ihr. Diese Veränderungen werden häufig mit dem Begriff <Wertewandel> bezeichnet. Sicher ist, daß mit wachsendem Wohlstand, größeren technischen Möglichkeiten, zunehmender Freizügigkeit, mehr Dezentralisation und der damit verbundenen Vermehrung an Autonomie, der wachsenden Bedeutung von Klein- und Kleinstgruppen auch die Haltung der Menschen, ihr Bewußtsein, ihre Lebensentwürfe sich verändern. Diese Veränderungen müssen durch die politischen und gesellschaftlichen Institutionen bewältigt werden. Hier sehe ich die eigentliche Schwachstelle zukünftiger Entwicklung. Das Beharrungsvermögen der Institutionen und der politischen Gruppierungen ist enorm. Es wächst mit der Größe der Organisationen. Es äußert sich bereits im Widerstand gegen die Aufdeckung neuer Sachverhalte. Die Beschreibung der heutigen Wirklichkeit löst zugleich einen Legitimationsbedarf bei solchen Institutionen aus, die sich aus der Wirklichkeit von vorgestern rechtfertigen. Deshalb wollen sie mit der neuen Wirklichkeit nicht konfrontiert werden. So kommt es zu den politischen Auseinandersetzungen über das, was die heutige Wirklichkeit ausmacht: zum Kampf um die Sachverhalte.«

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Für die Zukunftsfähigkeit der europäischen Wirtschaft, so Biedenkopf, gebe es zwei elementare Bedingungen: die Bewältigung der Umweltprobleme und den Erwerb der Fähigkeit, mit den vorhandenen Ressourcen auszukommen. Diese Bedingungen sind für jede Industriegesellschaft zwingend, unter welchen ideologischen Vorzeichen auch immer sie stehen mag. Es sind Sachzwänge, die dringend einer gemeinsamen Lösung über alle Grenzen hinweg und über alle Ideologien hinweg bedürfen.

Die ökologische Herausforderung zwingt Ost und West, ihre Zusammenarbeit zu verstärken. In dem Maße, in dem sie globale Auswirkungen hervorruft, wird sie auch das Verhältnis der Industrienationen zur Dritten Welt verändern. Die naturwissenschaftlich-technisch begründete Vormachtstellung der hochentwickelten Industrieländer wird relativiert werden durch ihre ökologische Abhängigkeit vom Rest der Welt. Wann aber werden wir endlich damit beginnen, die politischen Konsequenzen aus unserer globalen Verantwortung zu ziehen? Und welche Konsequenzen drängen sich auf?

 

  Der Nationalstaat ist unzulänglich geworden  

Die Transnationalität der Ökologie, der Ökonomie und der Technologie stellt die Menschheit vor die Notwendigkeit, ihre Solidarität ebenfalls transnational zu organisieren. Die Umweltschäden und Modernisierungsrisiken sind global und verletzen alle nationalstaatlichen Grenzen. Auch die wirtschaftliche Macht untergräbt durch ihre Transnationalität mehr und mehr die nationalstaatliche Souveränität und entzieht sich jeder demokratischen Kontrolle.

Der technologische Industrialismus gleicht weltweit die Ideologien, Sitten, Gebräuche, Moden und Lebens­formen einander an. Der Nationalstaat ist unzulänglich geworden. Seine politischen Einrichtungen können der globalen Probleme nicht Herr werden. Es ist an der Zeit, ihn durch demokratisch legitimierte, transnationale politische und staatliche Organisationen zu ersetzen, die wirksam eingreifen können.

Auch unter dem Vorzeichen der globalen Umweltkrise ist die Weltstaatsutopie, die weit in die Geschichte des abendländischen Denkens zurückreicht, heute wieder aktuell geworden.

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Doch machen wir uns nichts vor. Zu stark ist das Entwicklungs- und Wohlstandsgefälle zwischen den Ländern dieser Erde, zu stark sind die kulturellen Unterschiede, als daß die Weltstaatsidee in absehbarer Zeit verwirklicht werden könnte. Sie hatte ja auch nach den beiden Weltkriegen Konjunktur und konnte dennoch nicht viel Wirkungskraft entfalten: Die Organisation der Vereinten Nationen steht heute den Problemen hilflos gegenüber. Eine um so reellere Chance, zur politischen Einheit zu verschmelzen, haben hingegen die regionalen Staatenbünde, die in wirtschaftlicher und kultureller Hinsicht nicht allzuweit auseinanderliegen: die Vereinigungen der afrikanischen und amerikanischen Staaten zum Beispiel, die Comecon-Länder und gewiß die Europäische Gemeinschaft, die von allen auf dem Weg der Einigung wohl am weitesten vorangeschritten ist.

Europa ist nicht mehr nur eine reine Erfindung der Dichter, wie Heinrich Mann einmal gesagt hat. Europa ist politische Notwendigkeit. Europa ist schon im Aufbruch. Freilich gehören die Selbstzweifel, die Zweifel über die eigene Rolle, zur Identität des »alten« Kontinents ebenso wie das Unbehagen an der Moderne, das immer Bestandteil seines kulturellen Erbes war. Aber dieser Kontinent zeigt keineswegs greisenhafte Züge, wie sie ihm vor wenigen Jahren noch stärker nachgesagt wurden als heute, und seine Zurückhaltung gegenüber der ungebrochenen jugendlichen Aufbruchstimmung in anderen Teilen der Welt ist keinesfalls ein Zeichen von Eurosklerose

Edzard Reuter, der Vorstandsvorsitzende der Daimler-Benz-AG, sieht in dieser »nie genau meßbaren Mischung aus Erfahrung und Erneuerungswillen« die Grundlage für ein Modell, das Europa der Welt anbieten könnte: eine Industriekultur, die die Fähigkeit zum Fortschritt ständig erneuert, gepaart mit dem Bemühen, die Lehren der Geschichte zu beachten und weniger risikoreiche Pfade einzuschlagen. Jenseits allen kleinlichen Gezänks des bürokratisierten Europa hat sich der Kontinent längst wieder auf den Weg in die Zukunft gemacht.

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Allerdings wird das Bild Europas heute verdüstert durch die Schlagzeilen von großen Agrarüberschüssen, von Milliardenbeträgen, die ausgegeben werden müssen, um eine falsch konstruierte Preispolitik zu stützen. Es wird geprägt von der Handlungs- und Reformunfähigkeit, die in den wichtigsten Bereichen wie der Sozial-, Regional- und Umweltpolitik den dringend notwendigen Ausbau der Gemeinschaft verhindert.

Dabei können sich einige Leistungen der europäischen Wirtschaftsgemeinschaft durchaus sehen lassen. Vieles deutet daraufhin, daß das Zusammenwachsen der Gemeinschaft eine wesentliche Quelle der wirtschaftlichen Entwicklung Europas in den vergangenen Jahrzehnten war. So hat sich seit Abschluß der römischen Verträge beispielsweise das Bruttosozialprodukt pro Einwohner in der EG verdoppelt — in den USA ist es im gleichen Zeitraum lediglich um 70 Prozent gestiegen. Gemessen an den Versorgungsengpässen, die noch Ende der fünfziger Jahre existierten, und gemessen an dem enormen Produktivitätszuwachs der europäischen Landwirtschaft erscheinen selbst die gravierenden Struktur- und Finanzprobleme im Bereich der vielgeschmähten Agrarpolitik etwas weniger dramatisch.

Dennoch besteht kein Zweifel daran, daß die Agrarpolitik den gordischen Knoten bildet, der durchtrennt werden müßte, um den Weg für eine neue Phase der europäischen Zusammenarbeit freizumachen. Allein schon das alljährlich drohende Finanzdebakel der Gemeinschaft sorgt dafür, daß dieser Schritt gegen den hartnäckigen Widerstand der »grünen Lobby« unumgänglich werden wird. Die EG-Kommission hat bereits 1985 mit der Vorlage eines Grünbuches die Marschrichtung für eine sinnvolle Reform vorgegeben: Sie stellte fest, daß die auf ständigen Produktionszuwachs ausgerichtete Agrarpolitik versagt hat. Um Überschüsse und Kosten zu vermindern, ist es erforderlich, die Preispolitik stärker am Markt auszurichten. Als Ergänzung zu den Erlösen aus marktorientierten Stützungspreisen sollten den Bauern direkte, produktionsneutrale Einkommenshilfen gewährt werden, die die Leistungen für Umweltschutz und Landschaftspflege honorieren.

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Die drängenden Probleme im Bereich des transnationalen Umweltschutzes und die Beseitigung der bedeutsamen regionalen und strukturellen Ungleichgewichte erfordern von der Gemeinschaft zusätzliche Initiativen und Mittel, die nur bereitgestellt werden können, wenn es gelingt, die alles erdrückenden Lasten in der europäischen Agrarpolitik zu mindern. Edzard Reuter hat die wirtschaftliche Einigung Europas »eine Bedingung des Überlebens« genannt. Ein entscheidendes Instrument hierfür ist die Errichtung eines einheitlichen Binnenmarktes, die bis 1992 abgeschlossen sein soll. Für Edzard Reuter hat dieses Ziel geradezu eine dramatische Dimension: »Menschen bringen große Leistungen immer erst, wenn ihnen keine andere Wahl bleibt, wenn sie sich nicht mehr mit der Fortsetzung der Tagesroutine durch die Probleme des Alltags hindurchmogeln können. Diese Zeit ist gekommen.« 

 

  Einheitliche europäische Technologiepolitik  

Damit Europa seine verantwortliche Industriekultur, die zu wesentlichen Teilen in einer hohen Sensibilität für die Risiken und Folgewirkungen des modernen Industriesystems besteht, weltweit einzubringen vermag, bedarf es einer einheitlichen wirtschaftlichen Basis. Dazu gehören der Binnenmarkt ebenso wie eine schrittweise Verstärkung der Rolle der europäischen Währungseinheit Ecu entsprechend den Vorschlägen des Präsidenten der EG-Kommission, Jacques Delors. Dazu gehört angesichts der industriell-technischen Revolution, vor der wir stehen, auch und vor allem eine einheitliche europäische Technologiepolitik.

Die OECD hat die konkurrierenden Aktivitäten ihrer Mitgliedsländer zur Förderung neuer Technologien als »eine Art von technologischem Nationalismus« bezeichnet, »der den Wettbewerb unter Firmen durch einen Wettbewerb unter Staaten« ersetzt. An diese Feststellung knüpft sie die Warnung, daß künftige Auseinandersetzungen zwischen den hoch technisierten Staaten nicht zu vermeiden sein werden, wenn es nicht gelingt, einen internationalen Konsens über die Forschungsförderungspraktiken zu finden. Was wir uns beim gegenwärtigen Stand der industriellen Entwicklung allerdings am wenigsten leisten können, sind zwischenstaatliche Auseinandersetzungen gleich welcher Art.

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Sie mögen manchmal positive Ergebnisse zeitigen; daß sie zu einer wirksamen gesellschaftlichen Kontrolle der technologischen Entwicklungen beitragen, ist wenig wahrscheinlich. Zudem braucht Europa eine gemeinsame, eigenständige Forschungs- und Technologiepolitik, um sich im internationalen Wettbewerb mit Japan und den USA behaupten zu können. Auf sich allein gestellt könnte kein europäisches Land in diesem Technologiewettrennen mithalten.

Deshalb auch ist der Vorschlag der französischen Regierung vom September 1983 sinnvoll, als Zwischenstufe auf dem Weg der europäischen Einigung einen gemeinsamen Raum für Industrie und Forschung zu schaffen. Dieser Raum sollte nicht nur durch den systematischen Austausch von Wissen und Wissenschaftlern oder den Transfer von Technologien ausgefüllt werden, nicht nur durch eine antiprotektionistische Vereinheitlichung der technischen Normen, nicht nur durch privatwirtschaftliche oder öffentliche Projektkooperation, sondern auch durch die stärkere Einbeziehung des Umweltschutzes in die Modernisierungsstrategien oder durch die sozialverträgliche Steuerung der neuen Technologien mittels Humanisierung, Demokratisierung und Verkürzung der Arbeitszeit. Es ist an der Zeit, infrastrukturelle Projekte in Angriff zu nehmen, die geeignet sind, die innereuropäischen Grenzen abzubauen - europäische Programme etwa zum Umwelt- und Ressourcenschutz oder zur Humanisierung des Arbeitslebens, ein einheitliches neues breitbandiges Kommunikationsnetz oder ein europäisches Schnellbahnsystem.

In der Vergangenheit haben auf dem Gebiet der Forschungs- und Technologieentwicklung Gemeinschaftsprojekte wie Airbus und Ariane so etwas wie ein europäisches Bewußtsein aufkommen lassen. Hingegen scheint das Gemeinschaftsvorhaben Eureka wenig geeignet, die Integration Europas auf dem Gebiet der Forschung voranzubringen. Dieses Projekt wurde an den europäischen Institutionen vorbeiorganisiert und hat daher eher das Gegenteil, nämlich eine weitere Aufsplitterung, gefördert.

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Hinzu kommt, daß seine Zielsetzung viel zu unscharf und seine finanzielle Basis viel zu schwach ist, um Erfolge versprechen zu können. Eine deutliche Erhöhung des europäischen Forschungs- und Entwicklungs­budgets wäre erforderlich. Dringlicher aber ist es, im Rahmen einer Reform der europäischen Institutionen die Verantwortung der Europäischen Kommission und des Europäischen Parlaments zu stärken.

 

  Ein Europa der Regionen  

Mit der fortschreitenden faktischen Entmachtung des Nationalstaates durch Ökologie, Ökonomie und Technologie verbleiben auch die gravierenden Probleme nicht mehr in seinen Grenzen: Ihre Auswirkungen sind supranational oder regional. Auf der nationalstaatlichen Ebene wirken sie sich nur insofern aus, als die politische Instanz, die die Probleme lösen soll, nationalstaatlich ist. Die Erfahrung aber lehrt, daß sich Probleme wirksamer lösen lassen, wenn der Legitimationsraum der politischen Instanzen, der damit befaßt ist, mit dem Wirkungsraum der Probleme übereinstimmt. 

Die logische Antwort auf diese Situation kann also nur heißen: in einem politisch vereinten Europa die regionale Selbstverwaltung zu stärken - ein Europa der Regionen statt eines Europa der Vaterländer. Damit die Grenzen im großen verschwinden, müssen sie im kleinen aufgehoben werden. Nicht die interessenorientierte Konzentration der Nationalstaaten, sondern das soziale, ökonomische und kulturelle (Wieder-) Zusammenwachsen der Regionen über die Staatsgrenzen hinweg bedeutete den entscheidenden Fortschritt auf dem Weg zur europäischen Einigung. Jeder europäische Einigungsprozeß wird langfristig zum Scheitern verurteilt sein, wenn nicht die Nationalstaatsgrenzen, die Narben der europäischen Geschichte, insbesondere im Herzen Europas, etwa auf dem Gebiet des einstmaligen lothringischen Zwischenreiches ihren trennenden Charakter verlieren.

Es ist sicherlich kein Zufall, daß die europäischen »Hauptstädte« Brüssel, Luxemburg und Straßburg mehr oder weniger auf dieser tausendjährigen Trennlinie Europas liegen. Seit langem schon herrscht Einigkeit darüber, daß die deutsch-französische Aussöhnung der Schlüssel zur europäischen Einigung war.

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Die Intensität der deutsch-französischen Zusammenarbeit wird auch weiterhin der Gradmesser für die europäische Einigung sein. Es erscheint sinnvoller, daß sich eine Einheit um einen festen zentralen Kern kristallisiert und nicht um einen Punkt an der Peripherie, weil schon aufgrund ihrer sich berührenden geographischen Lage die Interessengemeinschaft der Kernstaaten stärker ist. Dies sollte aber keineswegs bedeuten, daß die weiteren Mitgliedstaaten der Gemeinschaft diskriminiert werden. Im Gegenteil: Sie können von dem guten Einverständnis zwischen Franzosen und Deutschen profitieren, da aus diesem Einverständnis die Schubkraft erwächst, derer die politische Einigung Europas bedarf.

Der Kristallisationspunkt in der Herausbildung der europäischen Regionen sind also die Kulturräume beider­seits der nationalen Grenzen des 17., 18., 19. und 20. Jahrhunderts. Am weitesten fortgeschritten ist dieser Prozeß inzwischen am Oberrhein, wo die Grenzen dreier Nationalstaaten ein Gebiet zerteilen, dessen soziale, wirtschaftliche und kulturelle Verbindungen die Jahrhunderte der Konfrontation überdauert haben: Das »Dreyeckland« ist zum Symbolbegriff für die kulturelle Verbundenheit des französischen Elsaß, der eidgenössischen Baseler Region sowie des Badischen in der Bundesrepublik geworden.

Die Verbundenheit dieser Region reicht inzwischen von der grenzüberschreitenden raumplanerischen Kooperation der regionalen Administrationen bis zum gemeinsamen politischen Protest: Wenn badische, elsässische und schweizerische Bürgerinitiativen vereint gegen umweltgefährdende Großprojekte beispielsweise im deutschen Wyhl, im elsässischen Markolsheim oder im schweizerischen Kaiseraugst zu Felde ziehen, deutet dies die neue Dimension grenzüberschreitender sozialer und politischer Zusammenarbeit an. Weitgehend auf den Bereich der administrativen Kooperation beschränkt blieb dagegen bislang die Zusammenarbeit in der »Euro-Region« im Dreiländereck zwischen der Bundesrepublik, den Niederlanden und Belgien.

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Ein zweiter Schwerpunkt interregionaler grenzüberschreitender europäischer Zusammenarbeit dürfte in den kommenden Jahren die Region Saar-Lor-Lux werden, die nicht nur geographisch, sondern auch kulturell an das Erbe des blühenden mittelalterlichen karolingischen Mosellandes anknüpfen kann. Eine alte Kulturregion könnte zu neuer Einheit zurückfinden. Allerdings sind hier die spezifischen regionalen Rahmenbedingungen, die den Prozeß des Zusammenwachsens beeinflussen und zum Teil auch behindern, wesentlich komplizierter als am Oberrhein. Probleme bereitet schon die politisch-administrative Vielfalt: Ein kleiner europäischer Nationalstaat, eine französische Region, ein deutsches Bundesland sowie Teile zweier rheinland-pfälzischer Regierungsbezirke müssen eine gemeinsame Sprache finden. Hinzu kommt die Tatsache, daß anders als am Oberrhein nicht eine natürliche Grenze einen äußeren Zwang zur Kooperation ausübt, und hinzu kommen auch noch die Besonderheiten der innerlothringischen Konkurrenz zwischen den regionalen Metropolen Metz und Nancy; das südliche und nördliche Lothringen einerseits und die regionalen Metropolen und die grenznahe industrielle Peripherie des lothringischen Kohlebeckens andererseits.

 

  Trotz Sprachgrenze kulturelle Gemeinsamkeit  

Obgleich die Krisen der Montanindustrie im Saarland und in Lothringen, zum Teil auch in Luxemburg, seit fast fünfzehn Jahren einen vergleichbaren Verlauf genommen haben, beginnt erst gegenwärtig, mit Hilfe der Europäischen Gemeinschaft, die Suche nach gemeinsamen Wegen aus der Krise. Dies, der gemeinsame Weg, eine gemeinsame Zukunft, ist die konkrete Utopie des alten europäischen Kerngebiets. Die bereits heute aus zahlreichen Initiativen - von der bürgerschaftlichen Kooperation beiderseits der Grenzen bis hin zu gemeinsamen Vorstößen bei den europäischen Institutionen — bestehende Zusammenarbeit kann trotz der jahrhunderte­alten Konfrontation auf das »gesunkene Kulturgut« einer ebenso langen gegenseitigen Beeinflussung zurückgreifen.

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Die augenfällige Aufdringlichkeit der Nationalgrenzen läßt oberflächliche Betrachter leicht vergessen, daß sich der deutsche und der französische Kulturraum beiderseits der Grenzen im Laufe der Geschichte kräftig durchmischt haben. Die linksrheinischen Gebiete, die heute zum Staatsgebiet der Bundesrepublik Deutschland gehören, sind insbesondere seit der Französischen Revolution nicht nur in ihrer Lebensart, sondern vor allem auch in ihrer politischen Entwicklung von Frankreich beeinflußt worden. So war das linke Rheinufer im 19. Jahrhundert das Zentrum der deutschen demokratischen Bewegung schlechthin, erinnert sei in diesem Zusammenhang nur an das Hambacher Fest von 1832. Umgekehrt sind die heute französischen Regionen Elsaß und Lothringen durch die Jahrhunderte vom deutschen Kulturraum beeinflußt worden. Kulturelle Gemeinsamkeit hat sich trotz der Sprachgrenze erhalten.

Unbestreitbar belastet die Vorherrschaft der Nationalstaaten und das Beharrungsvermögen des damit verbundenen zentralstaatlichen Denkens in starkem Maße das Zusammenwachsen der Grenzregionen. Nicht zufällig ist in allen genannten Grenzregionen die Auseinandersetzung um Atomkraftwerke von großer Bedeutung. Die großtechnologische Energieerzeugung mit Hilfe von Atomzentralen ist nur im Rahmen nationalstaatlicher Energiepolitik denkbar. Der Großverbund und das diesen bedingende großtechnische Energieweltbild entsprechen den Strukturen des zentralistischen Nationalstaats. Hingegen ist die Dezentralisierung der Energieversorgung, der sanfte Pfad der Energiepolitik, der alle Potentiale nutzt, Energie einzusparen, verbunden mit dem Umstieg in eine angepaßte, umweltschonende und nach Möglichkeit regenerative Energieerzeugung, nur auf regionaler Ebene möglich.

Die Auseinandersetzungen um Atomkraftwerke, vom schweizerischen Kaiseraugst über das deutsche Wyhl, die elsässischen Standorte Fessenheim und Gerstheim bis hin zum lothringischen Cattenom, sind stellvertretend für den Konflikt der Nationalstaaten. Sie sind das augenfällige Beispiel dafür, daß Nationalstaaten den ökologischen Umbau der Industriegesellschaften behindern, daß ihre Strukturen einer angemessenen Entwicklung der menschlichen Lebensräume in beiden Bereichen nicht mehr gerecht werden.

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Um die Zukunft menschlicher zu gestalten, bedarf es in zunehmendem Umfang des »Rückbaus« der nationalen Staatsgrenzen, bedarf es der Verlagerung von Entwicklungspotentialen in die Regionen. Im Regionalismus verwischen sich die Grenzen.

Das Europa der Regionen wäre sicherlich unvollständig, wenn die nationalstaatlichen Grenzen lediglich nach außen, an den Rand der gegenwärtigen Bündnissysteme verlegt würden. Es wäre unlogisch, die Ost-West-Beziehungen von der transnationalen Zusammenarbeit auszunehmen. So wie ein politisch vereintes Europa auf eine regionale Infrastruktur angewiesen ist, so ist die Entspannungspolitik zwischen Ost und West auf eine Infrastruktur der Begegnungen angewiesen.

Die nationalstaatlichen Grenzen überwinden hat nichts mit »Grenzstürmerei« zu tun. Grenzen gehören zur Identitätsbestimmung der Menschen, weil sich die eigene Identität nur über die Abgrenzung gegen das »Nicht-Identische« definieren läßt. Indem die Grenzen aus der Landschaft in die Köpfe der Menschen verlegt werden, können sie ihren trennenden Charakter verlieren und zu einem kulturellen Moment der Identitätsstiftung werden. Wenn es sich um kulturelle oder geistige Grenzen handelt, wenn es darum geht, die eigene kulturelle Identität an einer anderen Kultur zu messen, die eigene kulturelle Identität um die Konfrontation mit einer anderen Kultur zu bereichern, wird die Grenzüberschreitung zur positiven menschlichen Erfahrung. Doch brauchen wir nicht den Nationalstaat, um solche kulturellen Grenzen zu ziehen.

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  Die deutsche Nation war zu spät gekommen  

Es steht außer Frage, daß der Begriff der Nation in seiner geschichtlichen Entfaltung fortschrittliche Bestrebungen abgedeckt hat. »Nation« sei ursprünglich ein »linker« Begriff gewesen — so wird oft gesagt —, der erst mit dem späteren Mißbrauch durch die Rechte zeitweilig diskreditiert worden sei. Diese Behauptung ist nur richtig, wenn man unter »links« die bürgerliche Linke versteht. Die proletarische Linke hatte sich ja gerade gegen diesen bürgerlichen Nationalismus dem Internationalismus verpflichtet. Der Begriff »Nation« war einst als Kampfbegriff der bürgerlichen Gesellschaft gegen den feudalen Staat entwickelt worden.

Folgerichtig brachte die Französische Revolution ihre neue Staatsideologie auf diesen Begriff: Der Nationalstaat war geboren — und in seiner jakobinischen Ausführung weit mehr unter dem Sternzeichen der parlamentarischen Demokratie als unter dem des vaterländischen Chauvinismus. Das bedeutet aber keineswegs, daß dem Nationalstaat selbst in seiner demokratischen Version nicht immer auch ein vaterländischer Appellcharakter angehaftet hätte. Sein Geburtsmal war der Wille zur Wehrhaftigkeit, der Wille, sich gegen andere Völker abzugrenzen und sich gegen sie notfalls militärisch zur Wehr zu setzen. »Das höhere Prestige der Nation ist mit dem Bilde des Krieges verbunden. In Friedenszeiten ist es wirkungslos«, schreibt Simone Weil zutreffend.

Wo sich Nationalstaaten gebildet haben, geschah dies stets mit der Vorstellung einer bestimmten politischen und gesellschaftlichen Ordnung. In den meisten europäischen Ländern war dies die Vorstellung einer demokratischen Ordnung. Nicht so in Deutschland. Die »verspätete« deutsche Nation ging nicht, wie zum Beispiel die französische, aus einem Bürgerkrieg hervor, den die Demokratie siegreich gegen die Monarchie geführt hatte, sondern aus einem Krieg zwischen staatlichen Bündnissen.

In Sedan mußte mit dem Dritten Kaiserreich der Franzosen auch der deutsche Traum von einer vereinten Demokratie kapitulieren. Bismarcks Sieg festigte die preußische Monarchie und lieferte ihr die deutsche Nation samt ihrem Begriff aus, mit dem sich fortan in Deutschland nicht mehr viel Gutes verband:

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»Es begann die schäbige, plumpe, ungewaschene Opposition gegen eine Gesinnung, die eben das Herrlichste und Heiligste ist, was Deutschland hervorgebracht hat, nämlich gegen jene Humanität, gegen jene allgemeine Menschenverbindung, gegen jenen Kosmopolitismus, dem unsere großen Geister, Lessing, Herder, Schiller, Goethe, Jean Paul, dem alle Gebildeten in Deutschland immer gehuldigt haben.«

Diese Worte stammen aus der Feder Heinrich Heines, und sie waren natürlich auf eine frühere Zeit gemünzt. Aber sie passen wahrscheinlich noch besser auf die Zeiten nach der Reichsgründung, weil sie symptomatisch waren für die steigende Tendenz in der deutschen Nationalbewegung, die eigene Identität negativ über die Ablehnung des Fremden zu bestimmen. »Der Patriotismus des Deutschen«, sagt Heine, »besteht darin, daß sein Herz enger wird, daß es sich zusammenzieht wie Leder in der Kälte, daß er das Fremdländische haßt, daß er nicht mehr Weltbürger, nicht mehr Europäer, sondern nur noch ein enger Deutscher sein will.«

Die deutsche Nation war in jeder Hinsicht zu spät gekommen. Als 1789, die Nation in Frankreich gleichsam von »unten« realisiert wurde, war der dritte Stand, das Bürgertum, konkurrenzlos der Inbegriff des historischen Fortschritts. Als Kampfbegriffe desselben Standes konnten Nation und demokratischer Fortschritt ungestört miteinander verschmelzen. Anders in Deutschland. Als die Nation 1871 quasi von »oben« eingeführt wurde, war bereits ein vierter Stand, die Arbeiterklasse, auf die Bühne der Geschichte getreten und reklamierte vom Bürgertum den Fortschritt für sich im Namen nicht der Nation, sondern im Namen des Internationalismus. Das verschreckte Bürgertum flüchtete in den Schoß einer autoritären Monarchie, die sich aus Dankbarkeit für das Vertrauen redlich mühte, ihm die »vaterlandslosen Gesellen« mit allen Mitteln staatlicher Repression vom privilegierten Leib zu halten. Die Nation konnte dadurch nicht mehr zur Sache der Demokraten werden und wurde zur Sache der Nationalisten. Und weil sie zur Sache der Nationalisten wurde, ist heute die deutsche Nation wieder auf der Suche nach ihrer Einheit.

Wie die deutsche Einheit einst aus einem chauvinistischen Krieg hervorging, so ging sie später in einem noch chauvinistischeren Krieg wieder unter.

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  Verzicht auf Nationalstaatlichkeit  

Inzwischen aber hat sich die deutsche Nation so sehr verspätet, daß sie in ihrem Streben nach Staatlichkeit unzeitgemäß geworden ist. Was macht es noch für einen Sinn, auf lange Sicht nach nationalstaatlicher Einheit zu streben, wo doch schon auf kurze Sicht die politische Idee des Nationalstaats durch die Transnationalität der Probleme faktisch außer Kraft gesetzt wird? Der Nationalstaat hat schon heute die Vernünftigkeit seiner Idee überlebt. Sollten wir nicht endlich aufhören, dieses unter dem Aspekt der Vernunft anachronistische Dasein durch rückwärtsgewandte Utopien auch noch zu verlängern?

Gerade weil uns Deutschen die Vorstellung der nationalstaatlichen Einheit versagt blieb und auf absehbare Zeiten versagt bleiben wird, gerade weil wir Deutschen mit einem pervertierten Nationalismus schrecklichste Erfahrungen gemacht haben, gerade deshalb sollte uns schlechthin der Verzicht auf Nationalstaatlichkeit leichter fallen als anderen Nationen, die mit der Entstehung ihres Nationalstaats auch die Entfaltung einer demokratischen Gesellschaftsordnung verbinden konnten und immer noch können. Aufgrund der jüngsten Geschichte sind die Deutschen geradezu prädestiniert, die treibende Rolle in dem Prozeß der supranationalen Vereinigung Europas zu übernehmen.

Statt dessen erleben wir im Lager des Neokonservatismus eine Art Renaissance der nationalstaatlichen Idee, eine Art verzweifelter Suche nach den besseren, schöneren Wurzeln der deutschen Nation in der deutschen Geschichte, die einer politischen Realitätsflucht gleichkommt. Man merkt es den Neokonservativen an, wie schwer es ihnen fällt, sich einzugestehen, daß die Bundesrepublik Deutschland ihre Wurzeln auch in Auschwitz hat. Dies zu vergessen oder zu verdrängen, wäre so amoralisch wie gefährlich. Denn reichte unsere bundesdeutsche Nationalidentität nicht mehr bis Auschwitz, sondern nur noch bis in das Jahr 1949 zurück, so verlören wir das Verantwortungsbewußtsein für das, was in dem Jahrzehnt zuvor im Namen des deutschen Volkes geschehen ist.

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Während sich ein Teil der Wende-Historiker in apologetischer Absicht befleißigt, den Beweis zu führen, daß die Naziverbrechen nicht einzigartig waren, träumt ein anderer Teil schon wieder den »rechten« Traum von der »starken Mitte«: ein nationalstaatlich vereintes, militärisch und wirtschaftlich starkes Deutschland in der Mitte Europas als ausgleichende Macht zwischen West und Ost. Welch ein Glück für uns alle, daß dieser Traum eine Schimäre bleiben muß! Nicht minder illusorisch sind die linken Träume von der »schwachen Mitte«: ein nationalstaatlich vereintes, womöglich sozialistisches, neutrales und atomwaffenfreies Deutschland als Puffer zwischen den Blöcken. Es wäre genauso anachronistisch wie sein »starkes« Pendant.

Zu Recht hat Jürgen Habermas im Frühsommer 1987 in einer Rede vor der Universität in Kopenhagen dafür plädiert, die nach dem Zweiten Weltkrieg entstandene Selbstverständlichkeit der bundesdeutschen Westintegration nicht mehr in Frage zu stellen. Unter »Westen« versteht Habermas neben der europäischen Geistesgeschichte vor allem die gesellschaftlichen Lebens- und demokratischen Staatsformen, die sich in der ersten Staatengeneration des neuzeitlichen Europa herausgebildet haben. Kein anderes Thema ist so gut geeignet, die Widersprüche zu veranschaulichen, in denen sich die konservative, auf nationalstaatliche Einheit bedachte Deutschlandpolitik verfangen hat, wie das Thema der Westintegration. Seit den fünfziger Jahren sind ihre bundesdeutschen Kritiker nicht müde geworden, vor der Gefahr zu warnen, daß die von Adenauer forcierte Eingliederung der Bundesrepublik in das westliche Staatensystem — trotz aller Wiedervereinigungsrhetorik gerade der Westpolitiker — objektiv zu einer Zementierung der deutschen Teilung führen würde und geführt hat. Der Westorientierung des einen deutschen Teilstaates entsprach folglich die feste Eingliederung des anderen in das östliche Bündnis.

In der Abrüstungsdebatte sind es nicht die rechten Anhänger einer »starken Mitte«, sondern die konservativen Befürworter einer entschiedenen, auch militärischen Westintegration der Bundesrepublik, die am lautesten dafür streiten, das militärische Gleichgewicht zwischen den Blöcken zu erhalten.

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Zum militärischen Gleichgewicht zwischen Ost und West gehört aber unabdingbar, daß die Bewaffnung der DDR dem einen und die der Bundesrepublik dem anderen Lager angerechnet werden kann — oder aber die beiden deutschen Staaten wären entwaffnet beziehungsweise ihre Bewaffnung würde keinem der beiden Militärblöcke zugerechnet werden können. Neutralität oder Entwaffnung ist allerdings das letzte, was die konservativen Anhänger der bundesdeutschen Westintegration sich vorstellen können und wollen. Sie wollen die Quadratur des Kreises, und das mit aller Entschiedenheit: Sie wollen die feste Einbindung der Bundesrepublik in die Lebens- und Politikformen des Westens sowie in das nordatlantische Verteidigungs­bündnis, sie wollen das militärische Gleichgewicht zwischen Ost- und Westblock erhalten, sie wollen die nationalstaatliche Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten, und mehr noch, sie wollen dies alles zugleich, wollen das logisch Unvereinbare miteinander vereinen.

 

  Die Zukunft heißt Europa  

 

So ist gegenwärtig mit den Abrüstungsbemühungen der Supermächte die Frage der deutschen Wieder­vereinigung erneut auf die Tagesordnung der allgemeinen politischen Debatte gesetzt worden. Doch besteht zur Zeit hierzu weder irgendeine realistische Perspektive, noch scheint die Wiedervereinigung in dem Sinne wünschenswert, daß es zur Wiederherstellung eines wie auch immer konstituierten deutschen Nationalstaats kommt.

Linke wie rechte Träume und Illusionen in dieser Richtung entsprechen nicht der Notwendigkeit, durch den Rückbau der Nationalstaaten zu angepaßteren politischen Organisationsformen zu gelangen. Entscheidend ist unter diesem Gesichtspunkt nicht die (Wieder-) Herstellung einer staatlichen Einheit, entscheidend wird sein, inwieweit die politischen und gesellschaftlichen Organisationsformen — die es neu zu finden und zu gestalten gilt — gestatten, die Freiheitsspielräume der Menschen zu erweitern.

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Die Bundesrepublik ist eine juristische Konstruktion, hervorgegangen aus der willkürlichen Aufteilung des Deutschen Reiches unter den alliierten Siegermächten des Zweiten Weltkriegs. Die Mütter und Väter der Verfassung haben sie als ein Provisorium konzipiert und in der Verfassungspräambel ihr späteres Aufgehen in einer größeren staatlichen Einheit festgeschrieben. Gegenwärtig spricht alles dafür, die Bundesrepublik auch weiterhin als eine Art Provisorium zu verstehen. Allerdings ist die staatliche Einheit, in der sie einmal aufgehen soll, von den Verfassungsgebern in den Kategorien herkömmlicher Nationalstaatlichkeit zu eng gedacht worden.

Außerdem ist die herkömmliche Nationalstaatlichkeit zu wenig zukunftsträchtig. Die Zukunft heißt Europa. Das allein ist die größere Einheit, in der aufzugehen sich für die Bundesrepublik noch lohnt. Wir Deutschen brauchen Europa, weil sonst unsere kulturelle Identität nach und nach zu verkommen drohte, weil sonst die Zentren des Fortschritts immer seltener bei uns zu finden wären, weil sonst die Konflikte, aus denen die Welt immer wieder neu hervorgeht, uns zu ihrem Gegenstand machen würden, statt sich von uns beherrschen zu lassen.

Den Nationalstaat aufgeben heißt weder die Idee des Staates aufgeben noch die der Nation. Ein transnational vereinigtes Europa kann nur die politische Form eines demokratischen Staates haben, unter dessen Dach Platz für eine Vielfalt von Nationen wäre. Der Begriff der Nation wäre dann nicht mehr in erster Linie ein Kriterium der politischen Identität, sondern eines der kulturellen Identität — einer europäischen Identität, die sich im kulturellen Spannungsfeld zwischen Nation und Region, zwischen Hochsprache und Dialekt einstellen wird.

Der Nationalstaat hat keine Zukunft mehr. Die moderne industriell-technologische Entwicklung lehnt sich gegen ihn auf. Nur in der freien und gewaltlosen Zusammenarbeit über alle Grenzen hinweg werden die Menschen gemeinsam ihre Zukunft menschlicher gestalten können. Der Traum einer umfassenden politischen Gemeinschaft der Völker ist keineswegs neu. Doch wurde er nie Wirklichkeit. Warum also sollte er ausgerechnet jetzt wirklich werden?

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Darauf gibt es nur eine Antwort:

Die Realitäten fordern so nachdrücklich wie nie zuvor, daß eine solche Gemeinschaft errichtet werde. Es bleibt zu hoffen, daß die Menschen, wissen sie auch nicht immer, Katastrophen zu verhindern, doch vernünftig genug geworden sind, aus ihnen die richtigen Lehren zu ziehen. Die Sozialdemokratie ist seit einhundertfünfundzwanzig Jahren der Idee des Internationalismus verpflichtet. Sprechen alle Zeichen der Zukunft für die Notwendigkeit der internationalen Zusammenarbeit, dann kann doch wohl die Behauptung nicht vermessen sein, daß sie aus dieser Tradition heraus eher als andere Parteien fähig und bereit ist, den richtigen Weg in die Zukunft zu erkennen und einzuschlagen.

 

  Wir brauchen internationale Solidarität  

 

Der traditionelle Internationalismus der Arbeiterbewegung war in seinem Kern dem Wunsch entsprungen, das Klassenbewußtsein der Arbeiter genauso global und umfassend zu organisieren, wie sich der Kapitalismus organisiert hatte. Zugleich war er aber auch eine Antwort auf die weltweiten Folgen des Industrialismus. Nicht von ungefähr waren ja die Industriemessen, auf denen der Industrialismus gegen Mitte des 19. Jahrhunderts überschwenglich zelebriert wurde, das Medium, über das die Idee des Internationalismus in die Arbeiterschaft »aller Länder« transportiert wurde. Diese Idee einer internationalen Solidarität der Arbeiterklasse gegen die Herrschaft des Kapitals war stark genug, den internationalen Zusammenschluß der Arbeiterparteien und Organisationen hervorzurufen, aber sie war nicht stark genug, sich auch dort durchzusetzen, wo nationale und internationale Ideen kollidierten.

Viele Debatten auf den Kongressen der Zweiten Internationale waren geprägt von den Auseinandersetzungen über die nationalen Eigenarten der verschiedenen sozialistischen Parteien. So stand der Amsterdamer Kongreß von 1904 im Zeichen einer imposanten Fehde zwischen Jean Jaures, dem Führer der französischen Sozialisten, und August Bebel, dem Vorsitzenden der deutschen Sozialdemokratie.

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Jaures warf der SPD-Führung vor, es sei eine »verderbliche Illusion«, ihre Taktik allen anderen Ländern vorschreiben zu wollen. Denn je stärker die sozialistischen Parteien sein würden, desto mehr würden sie mit den Verhältnissen in ihren Ländern verschmelzen und desto weniger könnten allgemeine Verhaltensvorschriften gültig sein. Die spätere Geschichte sollte Jaures in dieser Hinsicht auf tragische Weise recht geben. Denn in der Tat gewannen mit der Stärke der sozialistischen Parteien die nationalen Bedürfnisse faktisch die Oberhand gegen die Gebote der internationalen Solidarität.

Als es im August 1914 zum Schwur kam, zeigte sich, wieviel die Idee des proletarischen Internationalismus in der Praxis wert war, wenn sie mit nationalstaatlichen Interessen in Konflikt geriet: Der vielbeschworene Internationalismus der Arbeiterbewegung hatte nicht den Hauch einer Chance, sich gegen den nationalen Taumel durchzusetzen und den Ausbruch des Weltkriegs zu verhindern.

Konrad Haenisch, früher einer der radikalsten Flugblattfabrikanten des sozialdemokratischen Parteivorstands und später preußischer Kultusminister, hat niedergeschrieben, was damals in vielen Anhängern des proletarischen Internationalismus vorging:

»Leicht ist dies Ringen zweier Seelen in der einen Brust wohl keinem von uns geworden ... Um alles in der Welt möchte ich jene Tage inneren Kampfes nicht noch einmal durchleben! Dieses drängendheiße Sehnen, sich hineinzustürzen in den gewaltigen Strom der allgemeinen nationalen Hochflut, und von der anderen Seite her die furchtbare seelische Angst, diesem Sehnen rückhaltlos zu folgen, der Stimmung ganz sich hinzugeben, die rings um einen herumbrauste und brandete und die, sah man sich ganz tief ins Herz hinein, auch vom eigenen Innern ja längst schon Besitz ergriffen hatte!

Diese Angst: Wirst du auch nicht zum Halunken an dir selbst und deiner Sache — darfst du auch so fühlen, wie es dir ums Herz ist? Bis dann — ich vergesse den Tag und die Stunde nicht — plötzlich die furchtbare Spannung sich löste, bis man wagte, das zu sein, was man doch war, bis man — allen erstarrten Prinzipien und hölzernen Theorien zum Trotz — zum ersten Male (zum ersten Male seit fast einem Vierteljahrhundert!) aus vollem Herzen, mit gutem Gewissen und ohne jede Angst, dadurch zum Verräter zu werden, einstimmen durfte in den brausenden Sturmgesang: Deutschland, Deutschland über alles!«

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Ganz anders Jaures. Vielleicht hat er im Sommer 1914 gerade deshalb entschlossener als andere Sozialisten­führer versucht, die internationale Solidarität der Arbeiterbewegung gegen den Krieg zu mobilisieren, weil er früher und nüchterner als andere erkannt hatte, daß, wenn es darauf ankommt, die internationalistische Rhetorik gegen die nationalstaatlichen Interessen keinen Bestand haben wird.

Hatte nicht der 1913 verstorbene August Bebel in einem Interview mit der Pariser Zeitung »Le Figaro« im Jahre 1892 auf die Frage, ob er im Kriegsfall auf seinen Genossen Jules Guesde — damals Vorsitzender der Sozialistischen Arbeiterpartei Frankreichs — schießen würde, geantwortet: »Ja — aber nur auf Befehl.«

Die Arbeiterbewegung ist in den Grenzen der Nationalstaaten entstanden und mußte, wenn sie politisch wirken wollte, zwangsläufig in dem Maße, in dem jede Politik nationalstaatlich organisiert war, mit den jeweils nationalstaatlich definierten politischen Bedürfnissen verschmelzen. Der Nationalstaat hat die globale Entfaltung der Solidarität verhindert — dies ist, was uns die Geschichte lehrt, und dies gilt noch heute. Um unserer Zukunft willen brauchen wir mehr denn je internationale Solidarität, doch wird sie sich nur entfalten können, indem wir den Nationalstaat überwinden.

Weitgehend überwunden scheint gegenwärtig in Europa der vaterländische Appellcharakter, der den Nationalstaat lange Zeit beseelte und der mit seiner Überhöhung einer falsch verstandenen Männlichkeit auch Sozialisten in seinen Bann schlug.

Ernst Heilmann, seit 1909 Chefredakteur der sozial-demokratischen <Chemnitzer Volksstimme>, von 1919 bis 1933 sozialdemokratischer Abgeordneter des Preußischen Landtags, dann von den Nazis ins KZ verschleppt und dort 1940 ermordet, schrieb mitten im Ersten Weltkrieg:

»Gegen diese Feinde [hilft] nur eines: Den Daumen aufs Auge und die Knie auf die Brust, und greinen uns ein paar Heilige dazwischen, wie furchtbar das Schicksal der französischen Arbeiter sei, so erwidern wir ihnen: Die französischen Arbeiter bleiben Männer, auch wenn wir mit ihnen Kugeln wechseln, ihr aber seid — alte Weiber. Mögen darum die ewig schwankenden Gestalten plötzlich den Verrina der Internationale spielen — ich gehe zum Hindenburg.«

Wenn der "Kugelwechsel" ein Attribut der Männlichkeit ist, dann sollten wir es lieber mit den »alten Weibern« halten. Vielleicht können wir über die wirkliche Gleichstellung der Frau in der Gesellschaft jener umfassenden Solidarität zum Durchbruch verhelfen, zu der die von Männern gemachte Politik bisher nicht fähig war.

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 wikipedia  Konrad_Haenisch  *1876 in Greifswald bis 1925

 wikipedia  Ernst_Heilmann  *1881 in Berlin bis 1940 

 

   www.detopia.de    Zitatnachweis      ^^^^ 

   Oskar Lafontaine 1988