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2 - Die aufgeklärte Megamaschine

 

Da es dem König aber wenig gefiel, daß sein Sohn, die kontrollierten Straßen verlassend, sich querfeldein herumtrieb, 
um sich selbst ein Urteil über die Welt zu bilden, schenkte er ihm Wagen und Pferd.
»Nun brauchst du nicht mehr zu Fuß zu gehen«, waren seine Worte. 
»Nun darfst du es nicht mehr«, war deren Sinn. 
»Nun kannst du es nicht mehr«, deren Wirkung.  

Aus: <Kindergeschichten> von Günther Anders

38-76

Die Entzauberung der Natur, die Emanzipation des Menschen von den unverstandenen Naturkräften war Voraussetzung für die Aufklärung. Das natur­wissen­schaftliche Denken wurde in technische Praxis umgesetzt; auf die theoretische Entzauberung der Natur folgte unmittelbar die künstliche, technische Entfaltung ihrer Kräfte — auch der zerstörerischen. Unsere Welt ist vor allem dort voller Risiken, wo sich die technische Produktion gegen die Gesellschaft verselbständigt hat. Martin Buber sagt:

»Die Heizer häufen noch die Kohlen, aber die Führer regieren nur noch zum Schein die dahinrasenden Maschinen. Und in diesem Nu, während du redest, kannst du es wie ich hören, daß das Hebelwerk der Wirtschaft in einer ungewöhnlichen Weise zu surren beginnt; die Werkmeister lächeln dich überlegen an, aber der Tod sitzt in ihren Herzen. Sie sagen dir, sie paßten den Apparat den Verhältnissen an; aber du merkst, sie können fortan nur noch sich dem Apparat anpassen, solang er es eben erlaubt. Ihre Sprecher belehren dich, daß es nichts anderes zu erben gibt als die Zwingherrschaft des wuchernden Es, unter der das Ich, der Bewältigung immer unmächtiger, immer noch träumt, es sei der Gebieter.«

Hat sich also letztlich doch das Prinzip der Aufklärung im Verlaufe der Entwicklung gegen die Gesellschaft gewandt? Droht doch letztlich die Aufklärung — der Geist der individuellen Freiheit — in ihr Gegenteil umzuschlagen durch die Art und Weise, in der wir heute produzieren? Es läßt sich ja nicht leugnen, daß die geistigen Prinzipien, auf denen auch die risikoträchtigen, modernen Technologien wissenschaftlich fußen, die wissenschaftlichen Prinzipien der Aufklärung selber sind. In dem Maße, wie die Freiheit der Erkenntnis den Aufschwung der Technik begünstigte, war dieser Aufschwung ein Ergebnis der Aufklärung.

 

Die Technik ist »unaufgeklärt«

Dieser kausale Zusammenhang mag einige Theoretiker der Ökologiebewegung zu dem Trugschluß verleitet haben, die Aufklärung sei am derzeitigen Elend der Natur und an der Bedrohung des Menschen schuld, es bedürfe mithin einer neuen Romantik. Nein, wir brauchen keine »Gegenauf­klärung«, vielmehr kommt es darauf an, den Geist der Aufklärung zu bewahren und dort zurückzugewinnen, wo er im Produktions­prozeß verloren­gegangen ist. 

Die moderne Gesellschaft gefährdet sich nur deshalb, weil sie immer noch nicht »aufgeklärt« genug produziert, weil sie zuläßt, daß die Technik sich gegen die Gesellschaft und mithin gegen ihre eigene Rationalität verselbständigt. Die Rationalität der Technik besteht gerade darin, dem Menschen nutzbringend zu dienen. Wo aber die Technik den Menschen gefährdet, wo sie die menschlichen Freiheiten der Selbstbestimmung und der Selbst­verwirklichung einschränkt oder gar verhindert, dort ist sie kontraproduktiv, dort verletzt sie ihre eigene Ratio, ist »unaufgeklärt«. Technische Vernunft darf sich niemals gegen die, sondern immer nur in der Gesellschaft entfalten. Wir brauchen vernünftige Technologien — und Vernunft kann es nicht gegen den Menschen, nicht gegen die Gesellschaft geben.

Es sind genug Gründe für die Verselbständigung der Technik gegen die Gesellschaft angeführt worden. Da ist zum einen die wachsende Komplexität der technischen Abläufe, durch die es zunehmend schwieriger wird, alle Neben- und Folgewirkungen der Technik abzuschätzen und in den Griff zu bekommen.

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 Da ist zum anderen die Profitorientierung der kapitalistischen Wirtschaft oder die Wachstums­versessen­heit der Wirtschaftspolitik. Und da ist nicht zuletzt die von Max Horkheimer diagnostizierte Instrumentalisierung der Vernunft, die sich in einer spezifischen »Fachidiotie« niederschlägt. Eine derart auf technokratische Rationalität verkürzte Vernunft ist das Gegenteil dessen, was die Aufklärung unter Vernunft verstanden hat. Wer danach fragt, inwieweit die Technik der Freiheit des Menschen dient, kommt an einer Kritik der instrumentellen Vernunft nicht vorbei.

Die menschliche Gattung zeichnet sich durch die Fähigkeit zur Vernunft aus. Vernunft hat den Menschen dazu gebracht, sich den Daseinskampf durch die Herstellung von Werkzeugen, von technischen Hilfsmitteln zu erleichtern. Die Menschen haben ihre eigene Geschichte zunehmend mit technischen Mitteln gemacht. Auch die Kriege sind mehr und mehr zum tödlichen Wettkampf des technologischen Wissens und der technischen Möglichkeiten geworden. Gerade das aber zeigt, wie fatal es ist, wenn Menschen die Vernunft selber nur wie ein Werkzeug, wie ein Instrument einsetzen: Sie denken sich die kompliziertesten Waffensysteme aus, um sich damit auf die rationalste Weise gegenseitig umzubringen. Die Geschichte des technischen Fortschritts ist wesentlicher Bestandteil der allgemeinen Menschheitsgeschichte. Würden aber die Menschen ihre technischen Hilfsmittel allein nach den Kriterien der instrumentellen Vernunft herstellen, sie würden die Herrschaft über die Technik verlieren und damit auch die Herrschaft über die eigene Geschichte. Sie würden ihre Freiheit einbüßen, wären determiniert durch die eigenen Produkte.

Oft ist in literarischen Satiren und Zukunftsvisionen dieser Alptraum beschworen worden. Die häufig variierte Geschichte von den intelligenten Robotern, die sich über ihre menschlichen Schöpfer erheben und sich selber reproduzieren, hat den Charakter einer Parabel. Denn die Angst vieler Menschen, von der »Megamaschine« überrollt und unterjocht zu werden, hat einen durchaus realen Hintergrund. Die Menschen unterliegen den Zwängen ihrer technischen Mittel. Um sich der Technik bedienen zu können, müssen sie die erforderlichen Voraussetzungen schaffen.

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Jede Großtechnologie bedarf zu ihrer Entwicklung und Nutzung einer bestimmten gesellschaftlichen Organisationsform, bedarf einer materiellen und gesellschaftlichen Infrastruktur sowie einer Reihe von Institutionen und gelernter Verhaltensweisen. Was wäre das Auto ohne Straßennetz und Ölraffinerien, ohne Straßenbauämter und Verkehrsplaner, ohne Straßenverkehrsordnungen und Verkehrspolizei, ohne Unfallstationen und Reparaturwerkstätten etc.? Die Entscheidung für den Ottomotor war auch eine Entscheidung für den Straßenausbau und für eine mobile Gesellschaft. Diese Einheit von technischer Apparatur und der zu ihrer Entwicklung, Nutzung und guten Funktion unabdingbaren gesellschaftlichen Organisation bezeichnet man als »Megamaschine«.

 

   Der Mensch kann der Technik nicht entrinnen  

Da zur Technik untrennbar auch menschliche Eigenschaften und Institutionen gehören, ist sie niemals wertneutral. Denn die Institutionen können Instrumente der Herrschaft sein, sie sind langlebig und schränken auch noch die nachfolgenden Generationen ein. Ohne jeden Zweifel werden menschliche Entfaltungs- und Handlungsspielräume durch die gesellschaftliche Organisation der Technik beschnitten. Nicht nur, daß die Technik in vielen Bereichen den Arbeitsrhythmus und Arbeitsablauf der Menschen diktiert, in ihrer gesellschaftlichen Organisation bestimmt sie auch ihre Lebensführung mit. Selbst unser Wohnen ist durch Bau- und Fabrikationstechniken genormt. Die Einschränkungen, die wir aufgrund der notwendigen gesellschaftlichen Organisation der Technik hinnehmen müssen, können mitunter zur Kontraproduktivität führen: Die gesellschaftlichen Folgeschäden der Technik werden größer als ihr Nutzen.

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So hat Ivan Illich nicht ohne Witz auch für das Auto eine Kontraproduktivitätsberechnung angestellt: Rechnet der Besitzer zur eigentlichen Fahrzeit auch die durchschnittliche Gesamtzeit hinzu, die er aufwenden muß, um zu verdienen, was das Auto kostet, um die Fahrvoraussetzungen zu erlangen, um Pflege und Wartung durchzuführen, dann braucht er eine Lebensstunde, um sechs Kilometer zurückzulegen. Das ist das Tempo eines guten Fußgängers. Die auf solche Weise »verallgemeinerte Geschwindigkeit« des Fahrrads liegt wesentlich höher. Natürlich ist dies eine Milchmädchenrechnung, weil sie den Zeitspareffekt des Autos unterschlägt, mit dem sich Zeit wie Geld sparen läßt: Man investiert Zeit, wenn man sie hat, und gewinnt Zeit zurück, wenn man sie braucht. Dennoch ist eine solche Rechnung gut geeignet, uns einmal deutlich vor Augen zu führen, wie stark unser Lebenslauf von einer Technik bestimmt wird, ohne daß wir uns dessen immer bewußt sind.

Kaum jemand, ob er will oder nicht, kann sich der technischen Zivilisation entziehen, weder im guten noch im schlechten. Wo gibt es noch den Ort, an dem uns der Motorenlärm nicht erreicht, wo den Ort, an dem die Luft noch rein von Abgasen ist? Wer sich in einer (auto-)mobilen Gesellschaft den Gesetzen und Auswirkungen der (Auto-)Mobilität entzieht, wird zum Außenseiter.

So ist es also kein Wunder, daß das Gefühl des einzelnen, an die technische Zivilisation ausgeliefert zu sein, mit dem technischen Fortschritt zugenommen hat. Die Techniken sind heute so komplex geworden, daß selbst Fachleute, die mit ihnen umgehen, sie nicht mehr erklären können. Es gilt, von der Vorstellung Abschied zu nehmen, daß ein Programmierer — oder ein Team von Programmierern —, der mit der Betreuung eines Computersystems beauftragt ist, weiß, wie das System über die vordergründigen Abläufe hinaus funktioniert. Noch weniger wissen diejenigen, denen wir so gerne die Verantwortung überlassen, die Politiker und Manager, wie das System funktioniert.

Angst und Unbehagen befallen den Menschen, weil er sich der Technik nicht mehr gewachsen fühlt. Aber das sind nicht erst Gefühle unserer Zeit. Schon in Goethes »Wilhelm Meisters Wanderjahre« findet sich der Satz: »Das überhandnehmende Maschinenwesen quält und ängstigt mich, es wälzt sich heran wie ein Gewitter, langsam, langsam; aber es hat seine Richtung genommen, es wird kommen und treffen.«

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Mit der Qualität der technischen Zivilisation ist allerdings auch die Qualität der individuellen Ohnmacht eine andere geworden. Zu dem Gefühl des Ausgeliefertseins kommt mehr und mehr das der Bewußtlosig­keit hinzu. Wir entwickeln heute Techniken, von denen wir nicht wissen, wohin sie uns führen. Niemand kann sagen, wozu die Gentechnologie einmal fähig sein wird, wozu sie gebraucht und mißbraucht werden kann. Niemand kann voraussehen, wie sich die Menschheit weiterentwickelt, wenn ihr Erbgut manipuliert wird. Es ist höchst fraglich, ob unser gegenwärtiges Wissen über die Gefahren, die hochradioaktivem Material innewohnen, ausreicht, um verantwortlich entscheiden zu können. Die schöne Utopie, daß die Menschen die eigene Geschichte frei und bewußt nach einem Plan der Vernunft machen werden, scheint sich heute in ihr Gegenteil zu verkehren — in eine Utopie des blinden, bewußtlosen Machens. Es werden Entwicklungen in Gang gesetzt, von denen niemand weiß, wohin sie die Menschheit treiben und welche Gefahren sie in sich bergen. Wo ist da noch die Vernunft, was hat dies mit Verantwortung zu tun?

 

  Mißtrauen gegen Experten  

Für die große Mehrheit der Menschen sind die neuesten technologischen Entwicklungen schon aufgrund ihrer Komplexität undurchschaubar. Bestenfalls einige Experten kennen sich noch auf begrenzten Gebieten aus. Was bleibt den Menschen anderes übrig, als diesen Experten zu vertrauen? Doch mit den schlechten Erfahrungen ist ihr Vertrauen geringer geworden. Die Atombombe hat ihnen auf allzu drastische Weise vor Augen geführt, zu welchen Entwicklungen Experten sich unter Umständen bereitfinden.

Mißtrauen, wie es von dem amerikanischen Kultur- und Technikkritiker Lewis Mumford ausgesprochen wird, ist durchaus angebracht; er schreibt in seinem Buch »Mythos der Maschine«:

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»In jedem Bereich, von der Atomenergie bis zur Medizin, wurden Entscheidungen, die das menschliche Schicksal permanent beeinflussen und möglicherweise dem ganzen Abenteuer des menschlichen Lebens ein Ende setzen werden, von selbsternannten und eigenmächtigen Experten und Spezialisten formuliert und ausgeführt, die gegen Menschlichkeit immun sind und deren Bereitschaft, diese Entscheidungen auf eigene Verantwortung zu fällen, der beste Beweis für ihre völlige Untauglichkeit ist, eine solche Verantwortung auf sich zu nehmen.«

Bedürfte es noch eines eindeutigeren Beleges für die Überforderung einzelner Wissenschaftler, verantwortungs­voll mit ihren Erfindungen umzugehen, als ihn der Erfinder der Neutronenbombe, Samuel T. Cohen, in einem Interview lieferte, an dem auch seine Tochter beteiligt war:

»Tochter: Also, du hältst alle Menschen für Monstren. Dann bist du auch eins!  
Cohen: Natürlich ...«   
»Frage: Haben Sie in den letzten zwanzig Jahren nie gedacht: O Gott, was hab' ich da erfunden?
Cohen: Nein, niemals. Es ist mit Abstand die genaueste Selektivwaffe, die jemals erfunden worden ist. Das klingt angeberisch. Aber es ist zufällig wahr. So etwas hat es noch niemals gegeben.«  

 

Natürlich handeln viele Experten nicht derart verantwortungslos. Der Göttinger Appell vom 12. April 1957, in dem die besten Physiker der Bundesrepublik dazu aufriefen, sich an der Herstellung, der Erprobung oder dem Einsatz von Atomwaffen in keiner Weise zu beteiligen, ist ein bekannter, wenn auch wenig repräsentativer Beweis für das Gegenteil. Auch werden wohl diejenigen Experten, die an fragwürdigen Entwicklungen mitwirken, subjektiv nicht empfinden, daß sie verantwortungslos handeln. Sie sind viel zu weich in ein Netz von Macht- und Wirtschaftsinteressen eingebettet, die um gesellschaftliche Legitimations­floskeln nie verlegen sind. Daß es sich dabei auch um staatliche Interessen handeln kann, steht außer Zweifel. Doch vielfach sind es privatwirtschaftliche Macht- und Profitinteressen, die von der Politik, selbst wenn sie es wollte, nicht kontrolliert werden könnten.

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Mit den wachsenden Ohnmachtsgefühlen, die der einzelne gegenüber den für die Verwaltung der technischen Zivilisation notwendigen Bürokratien empfindet, ist bei vielen Menschen der Glaube zurückgegangen, ihre Geschichte ließe sich ganz bewußt nach Maßgabe der Vernunft planen. Von dieser Idee war ja vor allem die politische Linke, das erwachsen gewordene Kind der Aufklärung, zeitweilig wie besessen. Wenn wir bedenken, wie schwer es uns fällt, frühkindliche Prägungen im späteren Leben zu überwinden, dann wird eher verständlich, warum etwa die staatssozialistischen Parteien des Ostens so lange gebraucht haben, um die ihnen überkommene Praxis in einem kritischeren Licht zu sehen. 

Erst gegenwärtig scheint ihnen allmählich die Einsicht zu dämmern, daß es an den unberechenbar wechselhaften Wünschen und Unzulänglichkeiten der Menschen, die ein Teil der menschlichen Freiheit sind, scheitern muß, das wirtschaftliche Leben einer Gesellschaft völlig zu verplanen. Solange innerhalb der Linken ungebrochen der Glaube vorherrschte, die Geschichte ließe sich bewußt nach einem Plan der Vernunft machen, mußte es den linken Parteien in erster Linie darauf ankommen, das entsprechend vernünftige, das »richtige« Bewußtsein, das sie selber zu haben vermeinten, auf die gesamte Gesellschaft zu übertragen und durch die Aktion der Massen zur geschichtlichen Wirkung zu bringen.

Heute bezweifelt nur eine Minderheit, daß die Menschen ihre Geschichte selber machen. Und doch ist die Linke bescheidener geworden. In den durch menschliches Tun verursachten Katastrophen und Kriegen des 20. Jahrhunderts offenbarte sich ihr nicht die Spur eines Planes der Vernunft.

Auch in den Ländern des realen Sozialismus, in denen das vermeintlich richtige Bewußtsein und das diesem Bewußtsein gemäße Prinzip der gesellschaftlichen Planung zur Staatsräson erhoben wurden, wird die Umwelt unvernünftig zugrunde gewirtschaftet. Was also ist das richtige »Bewußtsein«, mußte sich eine verunsicherte Linke im letzten Jahrzehnt erneut fragen. Eine Diskussion um eine programmatische Erneuerung setzte ein.

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  Das Vertrauen in die Technik schwindet  

 

Im Geschichtsverständnis der Aufklärung war der Fortschritt die Utopie des steten Fortschreitens der menschlichen Gesellschaft hin zu höherer Vernunft. Auch der technische Fortschritt wurde so gesehen. Das Fortschreiten der Wissenschaft und der Technik wurde in der Aufklärung als Verbesserung der menschlichen Lebensbedingungen begriffen und mit dem gesellschaftlichen Fortschritt gleichgesetzt. Dieser naive Fortschrittsoptimismus ist auch in den Sozialismus eingegangen. In der Folge aber mußte die sozialistische Linke erleben, daß im Ablauf der Geschichte nirgends ein Plan der Vernunft sichtbar wurde — im Gegenteil, sichtbar wurde mehr und mehr nur die vorherrschende Unvernunft: Auf Seveso folgte Bhopal, auf die Ölpest durch den Tanker Amoco-Cadiz die Verseuchung des Rheins, nach Harrisburg kam Tschernobyl. Nicht zuletzt die Katastrophen unserer Zeit haben es fraglich werden lassen, ob der wissenschaftlich-technische Fortschritt immer auch ein sozialer Fortschritt ist.

An den Statistiken der Wissenschaft, an den Berichten der Medien, vor allem aber an der eigenen, alltäglichen Erfahrung mit der beschädigten Umwelt kann jedermann die Risiken der modernen Technologie ablesen. Mit dem Bewußtsein zunehmender Gefährdung ging der Fortschrittskonsens innerhalb der Gesellschaft — und auch innerhalb der politischen Linken selber — nach und nach verloren. Laut Allensbacher Meinungsumfragen hielten im Jahr 1966 noch 72 Prozent der Bundesbürger die Technik für einen Segen der Menschheit. 1981 war dieser Anteil auf 30 Prozent gesunken, und bereits 19 Prozent der jungen Leute begriffen die Technik eher als Fluch. Bei der Bewertung solcher Zahlen darf man natürlich nicht übersehen, daß in ihnen ein subjektives Gefährdungsbewußtsein zum Ausdruck kommt. Zwischen 1966 und 1981 ist auch die Arbeitslosigkeit enorm angestiegen. Für viele Arbeitnehmer ist der Verlust des Arbeitsplatzes eine ständige Bedrohung. Die technologischen Neuerungen werden im Bewußtsein der Betroffenen zum »Jobkiller«, der den Arbeitsplatz »wegrationalisiert«.

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Doch nicht nur die durch den drohenden Verlust des Arbeitsplatzes bedingte subjektive Existenzangst, auch die objektiven Gefahren, die von der groß­techno­logischen Nutzung der Kernenergie ausgehen, haben bei vielen Menschen den Fortschrittsoptimismus in sein Gegenteil umschlagen lassen.

Die kulturpessimistische Dämonisierung der Technik, vormals eher eine Domäne des rechten Konservatismus, wurde im Verlauf der in den siebziger Jahren einsetzenden Technikdebatte wieder Mode und erhielt im »grünen« Gewand einen linken Touch. Dies war zum einen positiv, weil es den historisch überkommenen, unkritischen Fortschrittsglauben der traditionellen Linken erschüttern half und diese »alte« Linke somit zur Besinnung brachte, zum anderen aber negativ, weil die Dämonisierung der Technik bei einem Teil der »neuen Linken« den Blick für rationale technische Zukunftsperspektiven verschleiert.

Die historische intellektuelle Leistung der Linken bestand darin, die alten Utopien vom technischen, sozialen und politischen Fortschritt zu einem realistischen Konzept zusammengefügt zu haben. Schon im Fortschrittsbegriff der Aufklärung steckte der Gedanke, daß die Durchsetzung der Vernunft in der menschlichen Geschichte abhängig sei von der Beherrschung der Natur durch den Menschen im Arbeitsprozeß. 

Der Aufklärung verpflichtet erweist sich in diesem Sinne die politische Ökonomie von Marx, in der die Befreiung des Menschen und die Entwicklung der Produktivkräfte — dazu gehören neben dem Menschen selber Wissenschaft und Technik — zusammenfallen. Zwar betont Marx des öfteren, so auch in seinen Randglossen zum Gothaer Programm der Sozialdemokratie von 1875, daß die Arbeit nur deshalb zur Quelle allen Reichtums werden kann, weil der Mensch sich die Natur aneignet, die ja in erster Linie Quelle der Gebrauchswerte sei. Dieser Gedanke konnte sich jedoch in einer sozialistischen Ideologie, die den sozialen Fortschritt mit der »Entfesselung der Produktivkräfte« gleichsetzte, nicht kritisch entfalten. Erst in der ökologischen Krise der letzten Zeit war diese kritische Entfaltung möglich.

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Erst die katastrophalen Folgen der technologischen Entwicklung haben uns bewußt gemacht, wie unvernünftig, wie »unaufgeklärt«, wie rücksichtslos ausbeuterisch wir eigentlich wirtschaften, wenn wir den technischen Fortschritt nicht in humane und ökologische Schranken verweisen.

 

  »Nun laßt den Menschen wieder ran«   

 

Der gesellschaftliche Fortschrittskonsens ist verlorengegangen, weil der Fortschritt im Sinne der klassisch-aufklärerischen Fortschrittsidee zuwenig fortschrittlich war. Daß auch in der ökologischen Krise ein Teil der Linken dem Charme der Radikalität erlag, verwundert nicht, hat doch bisher noch jede Krise ihre radikalen Propheten hervorgebracht. Ließ früher die radikale Theorie den Kapitalismus an seinen ökonomischen Widersprüchen scheitern, so läßt sie ihn heute durch eine menschen- und naturfeindliche Technologie sich selbst zerstören. An die Stelle der ökonomischen Zusammen­bruchs­theorie ist die ökologische Apokalypse getreten. Doch genau wie früher werden die radikalen Theoretiker im Abseits bleiben, weil sie nicht die gesellschaftlichen Verhältnisse von innen aufbrechen wollen.

Die Sozialdemokratie hat sich in der Geschichte durchgesetzt, weil sie als Reformpartei stets im Innern der sozialen Verhältnisse für ihre Verbesserung gearbeitet hat. Anders wird sie sich auch künftig nicht durchsetzen können. Sie wird sich in der politischen Auseinandersetzung nicht behaupten können, wenn sie nicht mehr die Partei des Fortschritts ist. Deshalb ist es ihre Aufgabe, den Fortschritt in der Gesellschaft erneut konsensfähig, den technologischen und den sozialen Fortschritt wieder deckungsgleich zu machen. Durch eine verantwortliche Reformpolitik muß sie den Fortschritt wieder zur Vernunft bringen, indem sie ihn unter den gegebenen gesellschaftlichen und technologischen Voraussetzungen aus den Werten der Aufklärung neu bestimmt. Ihre historische Aufgabe ist es nach wie vor, mehr Freiheit, mehr Gerechtigkeit, mehr Solidarität, mehr Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung mit den technologischen Verhältnissen und nicht gegen sie zu verwirklichen.

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Versteht man unter Technik ein künstliches Hilfsmittel, das der Mensch herstellt, um sich seine Tätigkeit zu erleichtern, dann gehört die Benutzung der Technik zum Wesen des Menschen.

Der Mensch hebt sich ja von allen anderen Geschöpfen dadurch ab, daß er mit Hilfe von selbsterdachtem und selbstgemachtem Werk- und Denkzeug das in der Natur Vorgefundene umformt und durch künstlich Gefertigtes ergänzt. In den Jahrtausenden der menschlichen Evolution hat die Gesellschaft einen Grad der Technisierung erreicht, der uns Menschen von der Technik abhängig macht. Die Selbstverständlichkeit aber, mit der wir uns dieser Abhängigkeit ergeben, ist doch das beste Zeichen dafür, wie sehr uns die Technik im allgemeinen dient. Wie hilflos sind wir schon, wenn einmal nur kurz der Strom ausfällt. Technik ist ein solch fester Bestandteil unseres Daseins, daß es unsere Vorstellungskraft übersteigt, uns auszumalen, was ohne sie wäre. Unser gesamter Wohlstand beruht auf Technik.

Technik ist also Teil des Menschseins, kann weder im guten noch im schlechten vom Menschen getrennt werden, der sie schafft, bedient und benutzt. Es macht keinen Sinn, sie als selbständige Wesenheit zu dämonisieren. Aber macht es Sinn, ihr Dimensionen zu verleihen, die nicht mehr menschlichen Maßen entsprechen? Daß die Technik dem Menschen nur so lange dient, wie er sie beherrscht, hat — ein spektakuläres Beispiel — auch der Astronaut John Glenn erfahren müssen, der durch den Ausfall der automatischen Kontrollinstrumente seiner Raumkapsel in höchste Gefahr geraten war. Er griff persönlich in die Automatik ein und entging so dem Tod mit knapper Not. Als er aus der Raumkapsel stieg, waren seine ersten Worte: »Nun laßt den Menschen wieder ran.« Die Technik muß dem Menschen, nicht der Mensch der Technik angepaßt werden. So selbstverständlich dieser Satz in unseren Ohren klingt, so wenig gehörte er doch bis vor kurzem zum Selbstverständnis der Linken. Viel zu lange hat sich die sozialistische Bewegung nur als die eigentliche Vollstreckerin der menschlichen Anpassung an die moderne Technologie dargestellt.

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  Der Mensch darf nicht programmiert werden  

Soll aber die Technik dem Menschen angepaßt werden, so stellt sich zwangsläufig die Frage: Was ist der Mensch? Die Linke muß heute ihren Fortschritts­optimismus nicht zuletzt deshalb relativieren, weil sie sich in der Vergangenheit viel zu ausschließlich auf die andere Frage konzentriert hat: Wie funktioniert die Gesellschaft? Der sozialistischen Theorie mangelt es wahrlich nicht an scharfsinnigen Gesellschafts­analysen und -entwürfen, sie kennt aber nur wenige Versuche einer sozialistischen Anthropologie. Nach allem, was wir heute wissen, nach allen Erkenntnissen von Naturwissenschaften, Medizin, Philosophie und Psychologie haben wir ein Menschenbild entwickelt, das sowohl die Naturgebundenheit wie die Vernunftmöglichkeit, die Notwendigkeit wie die Freiheit, das Unbewußte wie das Bewußte, das Irrationale wie das Rationale, das Produktive wie das Destruktive im menschlichen Wesen berücksichtigt.

Der Mensch ist von Natur her nicht programmiert, nicht spezialisiert wie die anderen Lebewesen. Im Rahmen des Naturgegebenen hat er schier unbegrenzte Möglichkeiten. Er ist frei. Aber gerade diese Freiheit, dieser Mangel an verhaltensregelnden Instinkten zwingen ihn zur notwendigen Kulturleistung, um sein Leben zu erhalten. Er ist nicht determiniert, nicht festgelegt, sondern in einem steten selbstschöpferischen »Werden« begriffen. Das heißt, er ist im Prinzip unfertig, lernbedürftig. Er entwickelt sich kontinuierlich in einem Verhältnis gegenseitiger Beeinflussung zu dem Gesellschaftsverband, in dem er lebt. Und das wiederum heißt: Er ist lernfähig, in einem ständigen Lernprozeß befindlich. Aus diesem Grund kann man die Begriffe Freiheit und Fortschritt nicht statisch sehen. Freiheit und Fortschritt sind Funktionen des jeweils erreichten Standes der gesellschaftlichen Entwicklung: Aus den von ihnen selbst geschaffenen gesellschaftlichen Bedingungen sind sie stets neu zu bestimmen. Auch die derzeitige Krise des Fortschritts gehört zum Lernprozeß im Umgang mit den Folgen des Fortschritts.

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Da die Freiheit und das schöpferische Potential des Menschen in seiner Unfertigkeit und Undeterminiertheit begründet liegen, wird er dadurch gleichsam zu einem unberechenbaren Unsicherheitsfaktor. Er ist frei, vernünftig zu handeln, und frei, Fehler zu machen, frei auch, Fehler zu korrigieren, sofern sie korrigiert werden können. Will er Herr seiner Geschichte bleiben, muß er sich vor allem davor hüten, Fehler zu machen, die nicht mehr zu korrigieren sind. Wenn Unsicherheit, Unfertigkeit und »Fehlhaftigkeit« zum Wesen des Menschen gehören, dann kann ihm auch nur eine fehlerfreundliche Technik angemessen sein. Mit anderen Worten: Es sollte immer möglich bleiben, technische Prozesse zu überprüfen, entscheidend zu korrigieren oder sie völlig rückgängig zu machen.

Damit ist alles gesagt über gewisse gentechnologische Verfahren oder über die großtechnische Nutzung der Atomkraft — zumal letztere auch noch das Leben und den Fortbestand der Menschheit in nie dagewesenem Ausmaß gefährdet. Wenn es zum menschlichen Wesen gehört, nicht programmiert, nicht determiniert zu sein, darf auch nicht versucht werden, den Menschen zu programmieren. Das Klonen, das künstliche Herstellen eines menschlichen Embryos, der die gleiche Erbinformation wie ein anderer Embryo, Fötus, Lebender oder Verstorbener besitzt — sollte es einmal möglich sein —, ist inhuman. Dem Klon würde nicht nur die Singularität fehlen, er wäre — und hier kommt die Freiheit ins Spiel — determiniert. Für ihn ist, wie Hans Jonas konstatiert, »das Wagnis des Lebens um seine lockende und auch ängstigende Offenheit betrogen«.

Gerade weil der Mensch in seinem Wesen nicht programmiert, weil er unfertig und »fehlhaft« ist und sich nur dadurch am Leben hält, daß er seine schöpferischen Fähigkeiten in Kulturleistungen umsetzt, ist er zugleich äußerst kreativ. Mithin sind ihm auch solche Techniken nicht angepaßt, die seine schöpferischen Fähigkeiten einschränken, lähmen oder gar abtöten.

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Der Mensch gestaltet sein Leben in der Auseinandersetzung mit der Natur vermittels Arbeit und Technik. Zugleich aber ist er Teil der Natur, ist er auf den Stoffwechsel mit der Natur angewiesen, um sich zu erhalten. Wenn Techniken den Raubbau oder die Vergeudung jener Stoffe begünstigen, die der Mensch zum Leben braucht, können sie beim besten Willen nicht menschenfreundlich sein. Es hat lange gedauert, bis wir uns dieser schlichten Tatsache wieder bewußt geworden sind.

 

  Ein ökotechnisches Naturverhältnis ist geboten  

Wir Menschen sind lernfähig. Wir sind frei, auf unsere Einsicht die richtigen oder die falschen Taten folgen zu lassen. Doch sollten wir eines bedenken: Ein Zurück hinter die technische Zivilisation kann es nicht geben. Nichts gegen eine romantische Naturfrömmigkeit. Wie armselig wären wir, wenn wir die Natur nicht mehr als Schöpfung empfinden könnten, wenn wir vor den lebenden Kreaturen keine Achtung mehr hätten. Doch als Prinzip der Industriegesellschaft taugt die romantische Naturfrömmigkeit wenig, wenn sie nicht auch den technischen Produktionsprozeß zu bejahen vermag. Ohne die Technik zu bejahen, wird man sie ökologischen Kriterien nicht unterwerfen können. Mithin sollten wir uns den Vorstellungen von Günter Ropohl anschließen, der in seinem Buch »Die unvollkommene Technik« dafür plädiert, statt einer neoromantischen Naturfrömmigkeit lieber ein »ökotechnisches« Naturverhalten zum Grundprinzip der industriellen Gesellschaft zu machen.

Ein ökotechnisches Naturverhältnis hat zur ersten Bedingung, daß der Mensch die ökologischen Zusammenhänge, die Vernetzung der natürlichen Abläufe mit seinen technischen Mitteln nicht unterbindet oder zerstört. Wir dürfen die Natur nicht scheibchenweise der technischen Verwertung ausliefern, sondern müssen die Auswirkungen unseres technischen Eingriffs in die Natur im globalen Zusammenhang sehen. Der technische Zugriff der Menschen auf die Natur muß Grenzen haben. Wo diese Grenzen überschritten werden, schlägt die Natur zurück. Die Menschen im Veltliner Tal zum Beispiel haben dies zu spüren bekommen.

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Eine zweite Bedingung ist die Berücksichtigung der Wechselwirkungen zwischen Technik und Natur. Die natürlichen Ressourcen sind endlich. Wenn wir der Natur immer nur Stoffe entnehmen, die wir verwerten können, und ihr nichts zurückführen, was sie verwerten kann, betreiben wir Raubbau am Naturpotential der Menschheit und schränken die Lebenschancen unserer Kinder ein. Eine auf der möglichst breiten Anwendung von »Recycling-Techniken« beruhende Wirtschaft ist die dem ökotechnischen Naturverhältnis gemäße Form.

Eine solche Wirtschaft schont die Natur und ihre Ressourcen, belastet möglichst wenig die Umwelt der Menschen. Abfälle sollten abbaufähig, zumindest aber neutralisationsfähig sein. Gerade in dieser Hinsicht sind in den letzten Jahren durch die Perfektionierung der technischen Mittel Fortschritte erzielt worden. In diesem Sinne ist es wichtig, die Entwicklung von Techniken der direkten Stromerzeugung und der Gewinnung von Wasserstoff aus der Sonnenenergie mit aller Kraft zu fördern.

Diese Techniken erfüllen in hohem Maß die Kriterien der Sozial- und Umweltverträglichkeit und können darüber hinaus ganz erheblich zur internationalen Wettbewerbsfähigkeit der bundesdeutschen Volkswirtschaft beitragen. Sie deckten schon heute einen Teil unseres Energiebedarfs, wären sie in der Vergangenheit genauso stark mit öffentlichen Mitteln gefördert worden wie die Stromerzeugung aus Kernenergie. Die Zukunft gehört den regenerativen Energiequellen. In Zukunft sollten technologisches Wissen und Einsatz der Technik von dem Leitgedanken bestimmt werden, die Energieumwandlung zu minimieren. Selbst durch noch so günstige Ölpreise dürfen wir uns nicht dazu verleiten lassen, den bereits eingeschlagenen Weg der Energieeinsparung zu verlassen, der von einer wärmedämmenden Bauweise über alternative Materialverwendung bis zur mikroelektronischen Steuerung reicht.

Gerade die Tatsache, daß die Mikroelektronik für eine sparsame Steuerung von energietechnischen Prozessen unentbehrlich ist, zeigt, in welchem Maße neue Technologien dazu beitragen, die Umwelt und die natürlichen Ressourcen zu schonen.

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Häufig genügt es, eine Technik zu perfektionieren oder mit einer weiteren zu kombinieren, um schädliche Wirkungen auszuschalten. Da die Existenz eines großen Teils der Menschheit nur durch technische Hilfsmittel gesichert werden kann, müssen wir danach trachten, diese zu verbessern und zu ergänzen. Nicht ohne, nur mit der Technik können wir unsere Umwelt entlasten.

Manche Probleme können durch ein Mehr an Technik gelöst werden, manche durch ein Weniger. Dort aber, wo eine Technik die humane Dimension sprengt, wo sie Entwicklungen auslöst, die die Menschheit festlegen, wo sie die schöpferischen Fähigkeiten des Menschen abstumpft, wo sie die natürlichen Grundlagen menschlichen Lebens zerstört, dort gibt es nur eine vernünftige Lösung: auf diese spezielle Technik zu verzichten. Auf eine mögliche Technik verzichten? Die Frage klingt in vielen Ohren ketzerisch. Seit Jahrtausenden steht die Technik im Dienste der Menschen. Insbesondere in den letzten hundert Jahren hat sie ihnen mit gewaltigen Errungenschaften zu ungeahntem Höhenflug verholfen — ein Höhenflug im wahrsten Sinne des Wortes, symbolisiert durch die Mondlandung. Über solchen Erfolgen hatten sie vergessen, daß der ikarische Rausch des Höhenflugs zur Selbstzerstörung führt.

 

  Auf Technikkritik können wir nicht verzichten  

 

Dabei müßte den Menschen gerade auf technischem Gebiet der Verzicht leicht fallen, liegt es doch im Wesen der Technik, daß sie alternative Möglichkeiten bietet, um bestimmte Zwecke und Ziele zu erreichen. Der seit Jahren heftig geführte Streit um die bestmögliche Energieversorgung ist ein gutes Beispiel für die Vielfalt der technischen Möglichkeiten. Die Sozialdemokratie hat sich gegen die Stromerzeugung aus der Kernenergie ausgesprochen im Vertrauen auf andere, bessere Möglichkeiten der Technik. Ihre Entscheidung gegen die Atomkraftwerke war eine Entscheidung für andere Techniken der Energieerzeugung.

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Sie setzt auf energiesparende neue Technologien, sie setzt auf die Sonnenenergie, sie setzt auch auf die umweltfreundliche Verbrennung fossiler Brennstoffe auf der Basis der ebenfalls energiesparenden Kraft-Wärme-Kopplung. Hingegen lehnt sie die Verstromung der Atomkraft ab, da die damit verbundenen Risiken zu groß sind und die Analogie menschlicher Erfahrung für diese neue Technik unzuständig geworden ist.

Die Entdeckung der Kernspaltung hat alles verändert, sie muß auch unser Denken verändern. Wenn das »Restrisiko« darin liegt, daß im Falle eines Falles ganze Landstriche auf lange Zeit unbewohnbar werden, dann läßt sich nicht mehr auf der Ebene der Wahrscheinlichkeit, sondern nur noch auf der Ebene der Ausschließlichkeit verantwortungsvoll argumentieren. Wie irrational wir uns verhalten, wenn wir Wahrscheinlichkeits­betrachtungen anstellen, zeigt folgender Vergleich: Beim Zahlenlotto, wo die Wahrscheinlichkeit des Gewinns äußerst gering ist, hoffen wir, daß der unwahrscheinliche Glücksfall morgen eintritt; beim Supergau, dessen Wahrscheinlichkeit nicht ganz so gering ist wie die des Lottogewinns, hoffen wir, daß der Unglücksfall gar nicht oder erst in hunderttausend Jahren eintritt. Im übrigen hält Klaus Traube jede Zahlenangabe über die Eintrittswahrscheinlichkeit eines Kernschmelzunfalls für pseudowissenschaftlich verkleideten Unsinn.

Der in der Debatte um die Nutzung der Kernkraft immer wieder erhobene Vorwurf der Technikfeindlichkeit fällt auf seine Urheber zurück, beweist er doch nur, daß diese das der Technik innewohnende Moment alternativer Lösungsmöglichkeiten verkennen und ebenso übersehen, daß ein verantwortlicher Umgang mit der Technik auch das Wissen um die Folgen zur Voraussetzung hat. Durch die Entscheidung für die Verstromung der Kernenergie werden andere Techniken der Stromerzeugung vernachlässigt. Wer das Wesen der Technik begriffen hat weiß, daß wir zwar auf einige Techniken, nicht aber auf die Technikkritik verzichten können. Vielen ist heute klar, daß die technische Entwicklung einschließlich der Produkte, die sie hervorgebracht hat, keineswegs die beste aller möglichen ist, denn sie ist von fehlbaren Menschen gemacht. Erst die Kritik ermöglicht es, notwendige Korrekturen vorzunehmen.

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Es wäre fatal, die Technikkritik aus unkritischem Glauben an die absoluten Segnungen der Technik zu verurteilen. Selbstverständlich muß die Kritik, wenn sie eine erforderliche Korrektur aus der Natur der Technik nicht für möglich hält, soweit gehen, zum Verzicht aufzufordern. Der Verzicht der Automobilindustrie auf die Herstellung von Asbestscheiben für Autobremsen ist ein Beispiel für den Erfolg einer solchen Kritik. Aber nicht alle Techniken sind verbesserungsfähig, manche sind es nur bis zu einem gewissen Restrisiko. Ist dieses Restrisiko zu hoch, bleibt ebenfalls nur der Verzicht auf diese eine und die Konzentration auf eine andere technische Möglichkeit. Notwendige Kritik hat nichts mit Dämonisierung zu tun. Die meisten, die heute die Großtechnologie undifferenziert in Bausch und Bogen verdammen, meinen die Atomkraft, die Gentechnologie, vielleicht noch das Kabelfernsehen, für die es vernünftigere Alternativen gibt. Aber sie vergessen, daß auch die Glühbirne, daß auch das Telefon, daß auch der Ottomotor Großtechnologien sind, auf deren Dienste wir nicht mehr verzichten wollen.

 

  Opfer und Gewinner des technischen Fortschritts   

 

Sie vergessen, wieviel mühevolle Plackerei uns die Großtechnologien ersparen. Die mittlere Wochenarbeitszeit ist von fünfundachtzig Stunden im Jahre 1850 auf unter vierzig Stunden gesunken, und das allgemeine Wohlstandsniveau hat sich beträchtlich erhöht. Die mittlere Lebenserwartung der Menschen hat sich seit Mitte des vorigen Jahrhunderts mehr als verdoppelt. Derzeit streben wir eine mittlere Arbeitszeit von fünfunddreißig Stunden in der Woche an. Technik ersetzt also in größerem Umfang menschliche Arbeit — besonders im Bereich der Erwerbsarbeit. Die Menschen erhalten mehr Freiheit, die leider dann, wenn sie bis zur Arbeitslosigkeit geht, weder sinnvoll noch erwünscht ist. Wir fliegen zum Mond, schicken Satelliten und Raumfähren in den Weltraum und verarbeiten in Computern Millionen von Daten in der Sekunde, aber wir schaffen es nicht, allen Arbeitswilligen Arbeit zu geben.

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Da hilft es wenig, daß die allgemeine Erklärung der Menschenrechte, die die Vereinten Nationen 1949 verabschiedeten, in Artikel 23 den Satz enthält, jeder Mensch habe das Recht auf Arbeit. Die Technik hat ein Janusgesicht. Auf der einen Seite befreit sie die Menschen von anstrengender und schwerer Arbeit, bewirkt so eine Humanisierung der Arbeitsplätze und erhöht die Freizeit. Auf der anderen Seite verursacht sie oft auch monotone Arbeit im Produktionsprozeß und ungewollte Freizeit: Arbeitslosigkeit. Als Arbeitslose stigmatisiert, erfahren die Menschen die »Freisetzung« von der Arbeit aber nicht als Befreiung, sondern als soziales Elend. Weichen sie in die Schwarzarbeit aus, werden sie kriminalisiert. Konservative Politik kann sich mit der Zweidrittel-Gesellschaft abfinden, linke Politik nur um den Preis der Selbstaufgabe.

Die Sozialdemokratie war immer die Partei des technischen Fortschritts. Produktivitätssteigerung ist selbst dann noch ein grundsätzliches Ziel ihrer Politik, wenn durch technische Rationalisierungsmaßnahmen menschliche Arbeitskraft eingespart wird. Allerdings kann sie einer Politik der Produktivitätssteigerung nur unter der Bedingung zustimmen, daß der Gewinn der Technik gerecht aufgeteilt wird, daß alle gleichermaßen in den Genuß des technischen Fortschritts kommen, daß alle seine negativen Begleiterscheinungen solidarisch mittragen, daß nicht die einen die Gewinner, die anderen die Verlierer sind. Die Aufteilung des Gewinns der Technik hängt von der Aufteilung des Produktivitätszuwachses zwischen Lohnempfängern und Investoren ab. Da die Produktivitätssteigerung bei konstantem Auslastungsgrad nicht zu einem Rückgang, sondern zu einem Anwachsen des nationalen Volkseinkommens, zu einer Vermehrung des allgemeinen Reichtums führt, ist im Grunde nicht einzusehen, warum es in einem funktionierenden Sozialstaat Opfer dieser Entwicklung geben soll.

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Wenn ein Roboter, der die Arbeitskraft zweier Menschen ersetzt, viele Jahre funktionstüchtig bleibt und doch weniger als zwei Jahreslöhne der ersetzten Menschen kostet, dann ist es nur eine Frage der Umverteilung, auch die arbeitslos gewordenen Menschen mitzuernähren.

Denn was sie zum Volkseinkommen beigetragen haben, produziert spätestens nach zwei Jahren der Roboter. Man kann die Produktivitätszuwächse so aufteilen, daß es auf der einen Seite viele Opfer und auf der anderen Seite wenige große Gewinner des technischen Fortschritts gibt, oder so, daß auf Dauer keine Opfer zurückbleiben, dafür aber um so mehr Menschen an den Gewinnen teilhaben. Wer eine gerechtere gesellschaftliche Aufteilung des Produktionszuwachses erreichen will, darf die Frage nach der Lohnhöhe und der Arbeitszeit nicht mikroökonomisch zu lösen versuchen, sondern sozialstaatlich vermittelt. Eine nennenswerte Verkürzung der mittleren gesellschaftlichen Arbeitszeit wird in absehbarer Zeit nicht mehr zu umgehen sein. Heute müssen wir uns fragen: Führt die dritte industrielle Revolution in die Gesellschaft der Arbeitslosigkeit oder in die Gesellschaft der Freizeit? Wird sie den Menschen von verkrüppelnder Arbeit befreien, oder wird sie ihn noch mehr verkrüppeln, indem sie ihn zu erzwungener Untätigkeit verdammt? Muß der Mensch zu seiner Identitätsfindung, zu einer selbstverantwortlichen Existenz unbedingt einer Erwerbsarbeit nachgehen?

 

  Der Sprung in das Reich der Freiheit  

 

Die Industrialisierung führte vom Vorrecht des Nichtarbeitens in der Antike zur sittlichen Anerkennung der Arbeit. Aristoteles ist der Meinung, daß es im menschlichen Leben zwei streng voneinander getrennte Bereiche gibt: den Bereich der Arbeit, der notwendigen Plackerei, und den Bereich der Muße, der schöpferischen Betätigung und des vernünftigen staatsbürgerlichen Handelns zum Wohle der Polisgemeinschaft. Im Bereich der Arbeit herrschen nach seiner Auffassung Zwang, Disziplin und Fremdbestimmung, im Bereich der Muße Freiheit und Selbstbestimmung. Die Freien, in frühen Jahrhunderten die Herrschenden, haben sich daher stets bemüht, in den Genuß des Nichtarbeitens zu gelangen.

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Mit dem Christentum entwickelte sich dann die höhere Wertschätzung der Arbeit im Sinne des Herstellern von Gebrauchswerten. Von Mönchen wurde das »ora et labora« propagiert. Die Reformation hat schließlich die Arbeit zum Gottesdienst erhoben. »Etliche Hände beten wenig mit dem Munde, und wird doch die Arbeit ihrer Hände von Gott als ein Gebet geachtet«, sagt Luther. Erst mit der Reformation hat sich jenes bürgerliche Arbeitsethos in der Gesellschaft durchgesetzt, das für die Entfaltung der kapitalistischen Wirtschaft unabdingbar war. Gerade aber die kapitalistischen Merkmale der Arbeit haben es der großen Mehrheit der Industriearbeiterschaft unmöglich gemacht, die Heiligsprechung der Arbeit jemals nachzuvollziehen.

Die Sklaven, die Aristoteles als lebende Werkzeuge bezeichnet, kamen nie in den Genuß der Muße. Erst viele Jahrhunderte später, mit der fortschreitenden Industrialisierung und Rationalisierung eröffnete sich für die Lohnabhängigen die Chance, diesen Bereich des Lebens kennenzulernen, von dem Aristoteles sagt, daß dort Freiheit und Selbstbestimmung herrschen. Die verfügbare Zeit nahm zu. Die Technik bot die Mittel, der fremdbestimmten notwendigen, von anderen zugewiesenen Arbeit zu entfliehen. In jüngerer Zeit wird zwischen Arbeit und Tätigkeit unterschieden: Arbeit sei an die Produktion gebunden, Tätigkeit an die Freizeit. Der Sprung in das Reich der Freiheit wäre demnach ein Sprung aus der Arbeit in die Tätigkeit. Ähnlich sagt es auch Marx im 3. Band des »Kapital«:

»Das Reich der Freiheit beginnt in der Tat erst da, wo das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört. Es liegt also der Natur der Sache nach jenseits der Sphäre der eigentlichen materiellen Produktion ... Die Freiheit in diesem Gebiet [der materiellen Produktion] kann nur darin bestehen, daß der vergesellschaftete Mensch, die assoziierten Produzenten, diesen ihren Stoffwechsel mit der Natur rational regeln, unter ihre gemeinschaftliche Kontrolle bringen, statt von ihm als von einer blinden Masse beherrscht zu werden; ihn mit dem geringsten Kraftaufwand und unter den ihrer menschlichen Natur würdigsten und adäquatesten Bedingungen vollziehen.

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Aber es bleibt dies immer ein Reich der Notwendigkeit. Jenseits desselben beginnt die menschliche Kraftentwicklung, die sich als Selbstzweck gilt, das wahre Reich der Freiheit, das aber nur auf jenem Reich der Notwendigkeit als seiner Basis aufblühen kann. Die Verkürzung des Arbeitstages ist die Grundbedingung.«

Auch wenn das Reich der Freiheit erst auf der Basis des Reiches der Notwendigkeit aufblühen kann, so heißt das für Marx beileibe nicht, daß die notwendige Arbeit nicht an humane Bedingungen geknüpft sein müßte. Ausdrücklich fordert er, daß sich notwendige Arbeit mit dem geringsten Kraftaufwand, also mit Hilfe der rationalsten Technik und unter den menschenwürdigsten Bedingungen zu vollziehen habe. Diese Forderung ist logisch. Mit anderen Worten: Da die Freiheit in der Notwendigkeit wurzelt, müssen die Keime der Freiheit schon in den Wurzeln angelegt sein, um oben aufblühen zu können.

Wie stark auch immer wir den Bereich der notwendigen gesellschaftlichen Arbeit dank technischer Hilfsmittel verkürzen können, er wird dennoch über seine Produkte stets auch in den Bereich der Freizeit hineinwirken. Wir werden in unserer Freizeit nicht richtig frei sein können, wenn die Produkte unserer Arbeit unsere Freiheit einschränken. Wir werden nur dann Produkte herstellen, die unsere Freiheit nicht einschränken, wenn diese Freiheit schon in der Arbeit angelegt ist. Wir werden also nur insoweit durch die fortschreitende Befreiung von der Arbeit freier werden, wie auch in der Arbeit Freiheit angelegt ist.

 

  Produkte als existentielle Bedrohung   

 

Die lange Zeit menschenunwürdiger Bedingungen in der kapitalistischen Produktion hatte zur verständ­lichen Folge, daß sich das Augenmerk der Arbeiterbewegung vor allem auf das Reich der Notwendigkeit richtete, auf die Produktionsverhältnisse, die Produktionsweise und die Produktions­instrumente. Betriebsverfassung, Mitbestimmung, Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand sind Stichworte, die uns sofort einfallen, wenn wir überlegen, wie die assoziierten Produzenten den Stoffwechsel mit der Natur unter ihre gemeinschaftliche Kontrolle bringen sollen.

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Im Laufe der Jahre nahm die Arbeitsteilung weltweit zu. Natürlich war die Arbeiterbewegung bestrebt, das Reich der Freiheit auszudehnen. In der Technik sah sie das Mittel, die Arbeitszeit immer wieder zu verkürzen, um die für Arbeitnehmer verfügbare Zeit zu vergrößern. Weil aber im Mittelpunkt ihres Interesses das Reich der Notwendigkeit stand, weil sie sich mehr auf die Produktionsverhältnisse und die Produktionsweise konzentrierte, verlor sie nach und nach das Ergebnis der Produktion aus dem Auge. Zwar hat schon der junge Marx, anknüpfend an Hegel, die wirkliche Arbeit als entfremdet beschrieben: Statt der Arbeit selbst sei das Produkt der Arbeit zum wesentlichen Faktor geworden; die Arbeit sei entfremdet, weil sie sich in ihrem Produkt vergegenständlicht habe und weil dieses Produkt den Produzenten unabhängig gegenübertrete. Doch daß die Produkte den Produzenten einmal als existentielle Bedrohung globalen Ausmaßes gegenübertreten könnten, daran dachte damals niemand.

Hinzu kam, daß die Arbeiterbewegung im Spannungsverhältnis von Erwerbsarbeit und Freizeit völlig unterschiedliche und sogar widersprüchliche Vorstellungen der eigenen Ziele entwickelte. Im Gothaer Programm von 1875 galt die Arbeit als »Quelle allen Reichtums und aller Kultur«, so daß die ersehnte »Freiheit der Arbeit« nur darin bestehen konnte, bei allgemeiner Arbeitspflicht das Arbeitsprodukt nach vernunftgemäßen Bedürfnissen gerecht zu verteilen. Demgegenüber setzte Karl Kautsky wenig später die Akzente anders. Vom Sieg des Sozialismus erwartete er gerade nicht die »Freiheit der Arbeit«, sondern die »Befreiung von der Arbeit«.

Mögen auch die beiden Zielvorstellungen »Freiheit in der Arbeit« und »Befreiung von der Arbeit« mitunter gegeneinander ausgespielt werden, an sich sind sie keineswegs widersprüchlich. Mit den Worten von Marx ist schon gesagt worden, daß sich die Befreiung von der Arbeit und die Befreiung in der Arbeit gegenseitig bedingen, daß also die Befreiung von der Arbeit nur dann eine wirkliche Befreiung sein kann, wenn sie bereits in der Arbeit angelegt ist. 

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Die technologische Entwicklung bringt es mit sich, daß einerseits sowohl die »Befreiung des Menschen von der Arbeit« fortschreiten kann, ja fortschreiten muß im Sinne einer gerechteren Arbeitsaufteilung, wie auch andererseits die »Befreiung des Menschen in der Arbeit« fortschreiten soll und kann.

Jacques Julliard sieht in der Arbeitslosigkeit keine wirtschaftliche, sondern eine soziale Krise: »Machen wir uns doch nichts vor: Die derzeitige Krise hat mit den Wirtschaftskrisen der Vergangenheit wenig gemein. Sie nimmt weder die Form der Überproduktion noch die der Unterkonsumtion an; sie ist weniger eine ökonomische oder finanzielle, sondern im wesentlichen eine soziale Krise, die die Verteilung der Arbeit in unserer Gesellschaft in Frage stellt. Die Vollbeschäftigung kann nicht durch die Flucht nach vorn in eine sinn- und maßlose Produktivität wiedererlangt werden, sondern nur durch eine Neudefinition der Arbeit, in die auch andere Kriterien als die des kapitalistischen Systems aufgenommen werden müssen. Neugestaltung der konkreten Arbeit, Aufwertung der nicht produktiven Arbeit, Wiedereinführung der schöpferischen Dimension der Arbeitstätigkeit — das ist heute nicht nur eine moralische Forderung, sondern eine wirtschaftliche Notwendigkeit und für den auf Abwege geratenen Sozialismus ein Mittel, seine ursprüngliche Idee wiederzufinden und damit eine neue Bedeutung für die heutige Zeit zu gewinnen.«

In der Tat, der Arbeitsbegriff hat sich in den letzten Jahrzehnten gewandelt. Die Arbeit dient den Menschen heute nicht mehr allein dazu, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Sie wird auch nicht mehr in dem Ausmaß wie früher zur Begründung ihres Status in der Gesellschaft herangezogen. Mehr und mehr wollen die Menschen sich in ihrer Arbeit selber verwirklichen. Sie wollen auch eine gesunde Arbeit haben. Sie sind auch nicht mehr bereit — wie die Arbeitslosenstatistiken und die Statistiken über die Zahl der offenen Stellen zeigen —, jede beliebige Arbeit anzunehmen. Der chronische Mangel an Arbeitskräften in der Bauwirtschaft und in der Gastronomie ist Beleg dafür.

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Und noch etwas: Zwei Linien trennen die Arbeitsgesellschaft. Die erste trennt diejenigen, die bezahlte Arbeit haben, von denen, die keine haben; die zweite trennt diejenigen, die eine interessante und schöpferische Arbeit ausüben, von denen, für die Arbeit in erster Linie Sicherung des Lebensunterhalts bedeutet. Und wir dürfen auch nicht vergessen, daß Arbeit nicht nur ihre Objekte formt, sondern auch ihre Subjekte.

Die von Julliard verlangte Neudefinition der Arbeit kann an der beschriebenen Funktionsverschiebung nicht vorbeigehen. Es ist überflüssig zu erwähnen, daß die langjährige Fixierung des Arbeitsbegriffs auf die Erwerbsarbeit, also auf die bezahlte Arbeit, eine Ungerechtigkeit gegenüber den Menschen darstellte, die eine unbezahlte gesellschaftlich unverzichtbare Arbeit geleistet haben und immer noch leisten. Alte Menschen müssen versorgt, Kranke müssen gepflegt und Kinder müssen großgezogen werden.

Auch die Forderung nach Gleichstellung der Frau in Beruf und Gesellschaft verlangt, die starre Trennung von bezahlter Erwerbsarbeit und Familienarbeit aufzuheben. Der Begriff der Arbeit sollte daher in Zukunft seine Bestimmung und Bewertung nicht in erster Linie aus der damit verbundenen Bezahlung erhalten, sondern daraus, inwieweit die Arbeit gesellschaftlich nützlich ist und inwieweit sie dem einzelnen Chancen zur Selbstverwirklichung, zur Emanzipation bietet. Die Forderung nach Selbstverwirklichung und Emanzipation führt dazu, daß Arbeit und Bildung wieder in stärkerer Form miteinander verbunden werden, wie dies der Tradition der Arbeiterbewegung entspricht. Ein solches Konzept bietet auch die Möglichkeit, die beiden genannten Trennungslinien zu überwinden. Für die konkrete Utopie der Gesellschaft der Zukunft heißt das zum ersten: Ausbau der sozialen Grundsicherung; zum zweiten: gerechtere Verteilung der Erwerbsarbeit durch Verkürzung der Arbeitszeit; und zum dritten: Die Neudefinition der Arbeit hebt den Begriff der Arbeitslosigkeit auf, indem Weiterbildung und Umschulung als Tätigkeit begriffen werden für die Selbstverwirklichung des Menschen.

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Sie werden so stark erweitert, daß die produzierende Wirtschaft nach Arbeitskräften sucht, die ihre Weiterbildung und Umschulung abgeschlossen haben, statt daß die Arbeitslosen wie bisher vor den Arbeitsämtern Schlange stehen und gleichzeitig keine Möglichkeit haben, ihre beruflichen Fähigkeiten zu entwickeln.

Durch den Ausbau der Grundsicherung, die gegenwärtig im wesentlichen aus Sozialhilfe, staatlicher Ausbildungsförderung, Arbeitslosengeld oder Arbeitslosenhilfe und Rente besteht, soll die Erweiterung des Arbeitsbegriffs materiell abgesichert werden. Außerdem soll verstärkt für die gesellschaftliche Anerkennung der informellen Arbeit, also nicht bezahlter, gesellschaftlich nützlicher Arbeit, geworben werden. Ohne diese Anerkennung ließe sich zum Beispiel die staatliche Subventionierung eines Mutterschafts- oder Vaterschaftsjahrs gar nicht legitimieren.

 

  Technik als Instrument der menschlichen Selbstverwirklichung  

 

Da man heute noch zwischen Arbeit und Tätigkeit unterscheidet, zwischen fremdbestimmter, notwendiger Erwerbsarbeit und selbstbestimmter Kultur- und Freizeitaktivität, gehört zur Selbstverwirklichung des Menschen in der Arbeit auch die in der Tätigkeit. Will die Sozialdemokratie für die gesellschaftliche Anerkennung der Arbeit werben, die von Menschen außerhalb des Erwerbssektors geleistet wird, dann muß sie die Begriffe »Arbeit« und »Tätigkeit« wieder zusammenführen. Mit einem Wort: Sie braucht diesen erweiterten Arbeitsbegriff, um der technologischen Herausforderung sinnvoll begegnen zu können. Man kann nicht gleichzeitig die Arbeit als Mittel der menschlichen Selbstverwirklichung definieren und in der Befreiung von der Arbeit ein progressives Ziel sehen.

Weil die menschliche Arbeit nicht mehr von der Technik, mit deren Mitteln sie durchgeführt wird, getrennt werden kann, muß die Technik das Instrument der menschlichen Selbstverwirklichung sein, wenn die Arbeit ihr Mittel ist. Zumindest darf die Technik der Selbstverwirklichung des Menschen in der Arbeit nicht zuwiderlaufen.

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Die Arbeit an einem taktgebundenen Fließband unterwirft den Menschen dem Rhythmus der Maschine; wird hingegen ein Fließband lediglich als Transportmittel benutzt, ersetzt es anstrengende körperliche Arbeit und hilft ihm damit

Technik ist humanverträglich, wenn sie dem Wesen und der Würde des Menschen angepaßt ist und seiner freien Selbstverwirklichung in der Gesellschaft nicht im Wege steht. Der einzelne muß sie akzeptieren können und sich durch sie nicht bedroht fühlen. Sozialverträglich ist Technik, wenn sie die freie Entwicklung der Gesellschaft nicht behindert und zur Verbesserung der gesellschaftlichen Verhältnisse beiträgt. Sozialverträglichkeit bedeutet in diesem Sinne auch, daß die Gesellschaft bestimmt, wie Technik angewendet wird. Der technische Fortschritt darf unsere natürliche Lebensumgebung nicht zerstören. Und letztlich wird jeder Fortschritt fragwürdig, wenn dadurch praktisch eine Weltkatastrophe programmiert wird: Völkerverträglichkeit verlangt eine defensive statt einer aggressiven Waffentechnologie.

Da Mensch und Gesellschaft in ihrem Wesen unfertig sind, in einem ständigen Lern- und Entwicklungs­prozeß befindlich, müssen wir uns davor hüten, Human- oder Sozialverträglichkeit statisch zu verstehen. Der technische Fortschritt ist ein Motor auch des sozialen Wandels. Die Dampfmaschine, so hat es Marx einmal formuliert, sei ein größerer Revolutionär gewesen, als es der Bürger Blanqui je werden könne. Verändert sich aber durch die Einführung neuer Techniken die Gesellschaft, so muß die Frage nach der Sozialverträglichkeit einer technischen Neuerung nicht an den bestehenden Gesellschaftsstrukturen, sondern am Prozeß des sozialen Wandels erörtert werden. Es genügt keineswegs, die Technik nur den bestehenden Gesellschafts- und Arbeitsstrukturen anzupassen. Dies wäre ein struktur- oder machtkonservatives Verständnis von Sozial Verträglichkeit. Der progressive Standpunkt der Linken kann zwar wertkonservativ sein — um die von Erhard Eppler geprägten Begriffe zu benutzen —, aber niemals strukturkonservativ.

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An die Theorien der Aufklärung anknüpfend, umfaßte der Fortschrittsbegriff der Linken stets auch die Vorstellung, daß die gegebenen gesellschaftlichen Verhältnisse verbessert werden könnten. Die Linke bejahte den technologischen Wandel in der Erwartung, daß er den Weg zum sozialen Fortschritt ebnete, und auferlegte sich selber die vernunftgemäße Gestaltung seiner gesellschaftlichen Folgen.

 

   Dynamische Sozialverträglichkeit  

 

Heute wissen wir, daß es nicht ausreicht, allein die gesellschaftlichen Folgen des technologischen Wandels vernünftig gestalten zu wollen. Vielmehr muß der technologische Wandel selber schon vernunftgemäß gestaltet werden, damit auch seine gesellschaftlichen Folgen vernünftig sein können. War auch der Fortschrittsbegriff der Linken zu kurz gedacht, er war dennoch wirklich progressiv, weil er mit dem technologischen Wandel eine umfassende Neugestaltung der Zukunft verband. 

Die Linke muß jetzt ihren Fortschrittsbegriff weiter denken, ohne hinter diesen progressiven Ansatz zurückzugehen, das heißt ohne angesichts der tiefgreifenden technologischen Veränderungen der Produktionsbedingungen den Gedanken an eine Verbesserung der gesellschaftlichen Verhältnisse aufzugeben, nur um mögliche Negativfolgen einer solchen Veränderung abzuwehren. Eine »aufgeklärte« Linke muß das Wort »sozialverträglich« dynamisch verstehen: Der soziale Wandel an sich ist eben auch ein positiver, verträglicher Wert. Um uns die Chance zu belassen, mit der Technik den Weg in eine bessere Zukunft zu ebnen, muß die Gesellschaft den Wandel wagen, den die Technik anzeigt. Wagte sie den Wandel nicht, gäbe sie das Prinzip Hoffnung auf.

Wer Sozialverträglichkeit statisch versteht, wird aus falschen Fragen seine Schlüsse ziehen. Jede technische Innovation, die die bestehende Erwerbsstruktur, die bestehenden Berufs- und Qualifikationsstrukturen ändert, die die gewachsene Interessenvertretung stört, die die gegebenen Möglichkeiten menschlicher Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung verbaut oder erweitert, wird dann als unverträglich empfunden.

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Wird aber Sozialverträglichkeit richtig, das heißt dynamisch verstanden, dann lauten schon die Fragen anders. Ob sich die Gesellschaft durch die Anwendung einer neuen Technik zum Guten oder zum Schlechten verändert, wird als erstes zu erfragen sein. Sieht man von vornherein nur die Möglichkeit der negativen Veränderung, dann muß auf die Innovation verzichtet werden. Nur selten allerdings lassen sich die Folgen so eindeutig abschätzen.

Hier ist verantwortliches Handeln, verantwortliches Gestalten der Menschen gefordert. Der steuernde Eingriff menschlicher Vernunft muß das positive Potential der Technik aktivieren, das negative unterdrücken. Die entscheidende Frage ist nicht, ob und inwieweit die überkommenen Berufsstrukturen, die gewachsenen Institutionen der Interessenvertretung und der demokratischen Partizipation gestört werden, sondern die, ob und inwieweit das Aufbrechen der gegebenen Strukturen in sozialen Fortschritt umgemünzt werden kann. Es hätte ja wenig Sinn, eine Technik einem gegebenen gesellschaftlichen Zustand anpassen zu wollen, wenn ebendieser Zustand durch die Anwendung eben dieser Technik verändert wird. Mit der Veränderung der Strukturen werden natürlich auch ihre Begleiterscheinungen, die positiven wie die negativen, überflüssig.

Nehmen wir das Beispiel der gewerkschaftlichen Mitbestimmung. Manche herkömmlichen Formen der gewerkschaftlichen Mitbestimmung werden durch den technologisch bedingten Umbruch der Erwerbsstruktur nicht mehr möglich sein. Das allein wäre kein Grund, den Umbruch zu beklagen. Es wäre ja immerhin denkbar, daß mit dem neuen Zustand an demokratischer Qualität gewonnen würde und mithin jene alten Formen der Mitbestimmung nicht mehr nötig wären. Auch wenn diese Vorstellung, gemessen an der Wirklichkeit, weitgehend ein Traum bleibt, sollte der technologisch bedingte Umbruch der Erwerbsstruktur dennoch nicht abgelehnt werden, solange er sich produktivitätssteigernd auswirkt. Allerdings muß er dann unbedingt durch eine neue, den veränderten Strukturen angemessene Form der Mitbestimmung demokratisch gestaltet werden.

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Ein solch dynamisches Verständnis von Sozialverträglichkeit erlaubt es nicht nur, den technologischen Fortschritt selber zu bejahen, sondern beinhaltet zugleich die Aufforderung, die sozialen Folgen und Formen des technologischen Wandels entsprechend vernünftig zu gestalten, das heißt, die Zukunft der Gesellschaft im Sinne der Aufklärung bewußt vernünftig zu machen und den Fortschritt im Sinne der menschlichen Freiheit aus dem Fortschrittsgewinn stets aufs neue zu bestimmen. Gerade die Linke, die ja nie den einst revolutionären Charakter der Dampfmaschine bestritten hat, verlöre jede politische Legitimation, wenn sie mit dem technologischen Wandel nicht mehr die Hoffnung verbände, die Gesellschaft verbessern zu können.

 

   Die Technik muß dienen   

 

Die menschliche Gesellschaft beruht auf Arbeitsteilung — auf der Verteilung der Arbeit nicht nur unter Menschen, sondern auch auf Mensch und Maschine. In dem Maße, wie die Arbeitsteilung für die Gesellschaft konstitutiv ist, bildet auch die Technik ein Konstitutivum der arbeitsteiligen Gesellschaft. Mit anderen Worten: Die Arbeitsteilung begründet die Gesellschaftlichkeit der Technik. In der Anwendung durch die Menschen erfährt die Technik einen gesellschaftlichen Sinn, wird sie zu einem geschichtlich-gesellschaftlichen Projekt, in dem angelegt ist, was eine Gesellschaft und die sie beherrschenden Interessen mit den Menschen und mit den Dingen zu machen gedenken. Die individuelle und nationale Souveränität geht verloren, wenn die Technik den menschlichen Bedürfnissen und Fähigkeiten nicht angepaßt ist, wenn der Apparat neben den Menschen tritt, wenn er sich durch seine Komplexität gegen den Menschen verselbständigt.

Die Gesellschaft muß Herrin der Technik bleiben, damit nicht einzelne gesellschaftliche Gruppen sich ihrer bedienen können, um über andere unlegitimiert zu herrschen. Gerade weil die Technik so überaus gesellschaftlich ist, gerade weil sie konstitutiv ist für die Gesellschaft und ihre Zukunft, gerade weil sie unlöslich an gesellschaftliche Einrichtungen und menschliche Eigenschaften geknüpft ist, gerade deshalb muß sie Gegenstand der Politik sein.

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Wie konnte die Politik diese simple Tatsache vergessen? Wie konnte vor allem eine sozialdemokratische Reformpartei, die doch stets den sozialen Wandel zum Besseren steuern wollte, vergessen, auch den technischen Fortschritt zum Besseren zu steuern, obwohl sie ja immer gewußt hat, wie entscheidend er den sozialen Wandel prägt?

Im technologischen Höhenrausch haben wir die alte Lehre nicht mehr beherzigt, daß die Vernünftigkeit eines Zieles auch schon in den Mitteln, mit denen es erreicht werden soll, angelegt sein muß. Und in der Wachstumseuphorie der Nachkriegszeit galt allein die Devise, alles zu machen, was technisch machbar war: Die Menschen wollten den Mond erobern, und die friedliche Nutzung der Kernenergie schien ihnen den Weg in eine verheißungsvolle Zukunft zu ebnen. Die Technik war eine Sache, die nur die Wissenschaftler oder Ingenieure, bestenfalls noch die Wirtschaftsmanager zu verantworten hatten; auf keinen Fall aber die Politiker. Erst die mensch- und umweltbedrohenden Risiken der modernen technischen Produktion haben uns wieder bewußt gemacht, welche wesentliche Rolle eine vernünftige Technologiepolitik bei der Gestaltung der Zukunft spielt. Zumindest in dieser Hinsicht war die ökologische Krise der letzten beiden Jahrzehnte ein heilsamer Lernprozeß: Mit wachsendem ökologischem Bewußtsein konnten wir unseren Fortschrittsbegriff neu und vernünftiger bestimmen. Heute ist es höchste Zeit für eine Technologiepolitik, die mehr ist als bloß eine permissive, rein finanzielle Förderung einer jedweden Technologie, die durch ihre kapitalistische Verwertung und internationale Vermarktung Gewinne verspricht.

Ein Politikum ersten Ranges ist die Technik nicht nur, weil sie gesellschaftlich organisiert ist und weil mit dieser gesellschaftlichen Organisation Herrschafts- und Machtinteressen verbunden sind, sondern vor allem deshalb, weil nichts anderes die Gesellschaft so nachhaltig verändert. In einer parlamentarischen Demokratie ist es Aufgabe der Politik, den sozialen Wandel demokratisch zu gestalten.

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In dem Maße, wie die Politik die Kontrolle der Gesellschaft über die Technologie demokratisch organisiert, ist eine in den technischen Bereich lenkend eingreifende Politik legitim. In einer repräsentativen Staatsverfassung aber wird die Politik in den Parlamenten sanktioniert. Demnach muß die gesellschaftliche Mitgestaltung der Technik auch Sache des Parlaments sein.

 

   Gefährlicher Widerspruch   

 

Die Entwicklung der technologischen Produktivkräfte macht den politischen Eingriff mehr und mehr auch aus sich heraus erforderlich. Unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten bedeutet die zunehmende Technisierung des Produktionsprozesses — das heißt technische Systeme ersetzen menschliche Arbeit-, daß anstelle von Arbeit Kapital wirksam wird. Häufig übersteigt die erforderliche Kapitalkraft nicht nur die Möglichkeiten privater Unternehmer, sondern auch die der nationalen Kapitalgesellschaften. Dem Trend zur Multinationalität wirtschaftlicher Organisationen und Entscheidungen liegt nicht zuletzt die Kapitalintensivität der modernen, technisch bedingten Produktion zugrunde. Großtechnologien wie die Raumfahrt oder die Verstromung der Kernenergie wären mit privatwirtschaftlichen Mitteln allein gar nicht zu finanzieren gewesen. Nicht viel anders verhält es sich auf dem Gebiet der mikroelektronischen Informations- und Kommunikationstechnologien, wo ja eine öffentliche Einrichtung, die Post, mit Milliardeninvestitionen sämtliche infrastrukturellen Voraussetzungen schaffen muß. Längst ist also die Großtechnologie nicht nur unter dem Aspekt der Akzeptanz, sondern auch unter dem der Finanzierung zu einer öffentlichen, politischen Angelegenheit geworden.

Doch was bisher den Namen einer staatlichen Technologiepolitik trug, hat mit verantwortlicher politischer Gestaltung der Technik wenig zu tun. Diese Politik steht noch viel zu sehr im Zeichen einer liberalistischen Permissivität, ist viel zu sehr nur Erfüllungsgehilfe von Entscheidungen, die im wirtschaftlichen Bereich fallen, als daß sie den technologischen und somit auch den sozialen Wandel in eigener Verantwortung mitbestimmen könnte. Infolge seines individualistischen, nicht gesellschaftlich vermittelten Freiheitsbegriffes ist der Liberalismus nicht fähig, die Technik gesellschaftspolitisch zu gestalten.

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Wenn allein über den Markt und nicht auch über den öffentlichen Diskurs entschieden wird, was produziert werden soll, bleibt auch die Herstellung der technischen Mittel dem Marktkalkül unterworfen. Eingedenk des immensen Schadenspotentials der Großtechnik liegt hierin ein gefährlicher Widerspruch: Mit den technischen Produkten, die als das Ergebnis gesellschaftlichen und politischen Wollens und Handelns von der Gesellschaft und der Politik ethisch zu verantworten wären, wird umgegangen, als seien sie das Ergebnis eines marktwirtschaftlichen Prozesses. Erst die individualistische Gesellschaftsvorstellung des Liberalismus spricht dem sozio-technischen Wandel jene Eigengesetzlichkeit zu, die ihn der gesellschaftlichen Einflußnahme entzieht und die das Individuum zu seinem ohnmächtigen Gegenstand werden läßt. Um seine Freiheit zu bewahren, muß der Mensch die Technik auf der Ebene beherrschen, auf der sie selber ihre »Herrschaft« ausübt — auf der Ebene ihrer gesellschaftlichen Organisation. In der Konsequenz eines rein individualistischen Gesellschafts- und Freiheitsverständnisses aber kehrt sich dieTechnik gegen die Gesellschaft und gegen die Freiheit des Individuums. Dies zu verhindern ist Aufgabe der Politik. Sie muß um der Freiheit willen die gesellschaftliche Kontrolle der Technik institutionell verankern.

In der Diskussion der letzten Jahre, die sich von den Produktionsverhältnissen und der Produktionsweise auf die Technik und ihre Produkte verlagert hat, wurde immer wieder betont, daß die Gestaltung der Technik eine politische Aufgabe sei. Technische Innovation muß bewußt geregelt, ihre Gefahren müssen erkannt und abgewehrt, ihre Chancen genutzt werden. Auswahl und Gestaltung technischer Neuerungen müssen sich an den Kriterien orientieren, die auch für ausgewähltes Wachstum gelten: Sie sollen Arbeit humanisieren, Gesundheit fördern, die Zahl der Unfälle mindern, den pfleglichen Umgang mit Natur, Rohstoffen und Energie ermöglichen.

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Darüber hinaus soll technische Innovation die Ausübung von Grundrechten nicht gefährden, sondern erleichtern; sie soll Räume zur Entscheidung über die persönliche Lebensführung öffnen oder offenhalten; sie soll überprüfbar und revidierbar sein, damit Alternativen realisierbar, neue Entwicklungswege gangbar bleiben. Wir müssen produktbewußter produzieren. Denn nie geht man weiter, als wenn man nicht weiß, wohin man geht, hat Talleyrand einmal treffend gesagt.

 

   Der Staat als Nachtwächter  

 

Solchen Anforderungen kann die derzeitige Technologiepolitik nicht genügen. Meist beschränkt sie sich darauf, die Rahmenbedingungen für die privatwirtschaftliche und marktwirtschaftliche Technikentwicklung zu verbessern, ohne indes diese Entwicklung nach den Kriterien der Vernunft steuern zu wollen. Dazu wäre sie schon unter den heutigen Voraussetzungen durchaus in der Lage, denn der Staat bringt erhebliche finanzielle Mittel auf, um Forschung und Technologie zu fördern, um aufwendige technische Projekte vor- und mitzufinanzieren, um Maßnahmen zu unterstützen, die den privaten Unternehmen nicht ausreichend gewinnträchtig erscheinen. Die großen Technologien — Kerntechnologie, Brütertechnologie, militärische Technologie — sind alle Staats-, nicht Marktprodukte. Nicht Marktversagen, Staatsversagen liegt hier vor.

Noch aber fehlt der Wille zum Regeln und Steuern. Solange das ökonomische Credo gilt, der Staat solle in einem System des wirtschaftlichen »Laisser-faire« die Rolle des Nachtwächters spielen, wird sich dieser Wille auch nicht einstellen. Er wird da sein, wenn sich Ferdinand Lassalles Idee durchsetzt, daß der Staat nicht die Funktion eines Nachtwächters haben darf, sondern daß der Zweck des Staates die Erziehung und Entwicklung des Menschengeschlechts zur Freiheit sein soll.

Und es fehlen zum Steuern auch noch die Kriterien. Solche Kriterien können allein aus der prognostischen Abschätzung der sozialen Folgen, die voraussichtlich bei der Anwendung einer neuen Technologie entstehen, gewonnen werden.

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Jede Technik muß vor der Anwendung auf ihre Umwelt- und Sozialverträglichkeit geprüft werden. Dafür sind neue Rechtsgrundlagen notwendig, denn mit der herkömmlichen Techniküberwachung ist es nicht mehr getan. Pilotprojekte könnten ein wirksames Mittel der Technikbewertung sein, dürften dann allerdings von den Ingenieuren nicht mehr nur als verlängerte Entwicklungsphase betrachtet werden, sondern auch als ein Test auf Umwelt- und Sozialverträglichkeit. Die feststellbaren, wahrscheinlichen oder möglichen Chancen und Risiken müssen abgewogen und in öffentlicher Diskussion erörtert werden. Bei der gesellschaftlichen Kontrolle der Technik sind wir alle gefordert. Denn die Konflikte, die unvermeidlich zwischen den unterschiedlichen Bedürfnissen und Wertsystemen entstehen, können nur vermittels einer hinreichend diskursiven öffentlichen Erörterung der verschiedenen Alternativen in einen notwendigen demokratischen Konsens übergeführt werden.

Selbstverständlich muß einem demokratischen Gemeinwesen daran gelegen sein, daß seine gesetzgebenden Körperschaften an diesem offenen Bewertungs­prozeß teilhaben. Der Deutsche Bundestag sollte sich über das Instrument der Enquete-Kommission hinaus eine Instanz zur Abschätzung der Technikfolgen schaffen. Andere Länder haben für ihre jeweiligen Parlamente solche Einrichtungen gegründet. Am weitesten voran sind die Vereinigten Staaten, die im Jahre 1972 das Congressional Office of Technology Assessment eingerichtet haben. Schon in den frühen sechziger Jahren war dort ein solches Büro im Zusammenhang mit dem Weltraumprogramm gefordert worden. Es sollten Konzepte entwickelt werden, damit Technikfolgen und Risiken in systematischer Weise vorweg erkannt und bewertet werden können.

Der amerikanische Kongreß empfand das Informationsdefizit gegenüber der Exekutive als untragbar. Die Debatte verschärfte sich, als die amerikanische Regierung den Bau eines zivilen Überschallflugzeugs anstrebte. Der Kongreß setzte sich im Dezember 1970 gegen die Regierung durch: Das Flugzeug wurde nicht gebaut.

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Inzwischen hat das amerikanische Büro für Technikfolgenabschätzung eine Anzahl von Studien für den Kongreß erstellt, so zum Beispiel über »Technik und alte Menschen«, »Informationstechnik und Auswirkungen auf das Bildungswesen«, über »Entwicklung der computergesteuerten Büroarbeit«, über »Elektronische Überwachung und bürgerliche Freiheit«, über die »Sicherheit am industriellen Arbeitsplatz«, über die »Möglichkeiten des Energie­sparens« usw. In letzter Zeit ist die Studie über SDI bekannt geworden. Das Büro zweifelt nachdrücklich an den grundsätzlichen Möglichkeiten der technischen Realisierung und warnt darüber hinaus vor einer Gefährdung der internationalen Stabilität.

Natürlich würde es nicht ausreichen, nur beim Parlament eine Instanz zur Abschätzung der Technikfolgen anzusiedeln. Andere Institute müssen vor allem dort eingerichtet werden, wo geforscht wird. Die Beteiligung der Staatsbürger am Prozeß der Technikbewertung muß ebenfalls institutionell abgesichert werden, zum Beispiel durch den Ausbau der Mitbestimmung am Arbeitsplatz.

 

  Bewertung der Technikfolgen  

 

Bisher konnte sich ein Großteil der Technik wildwüchsig aus dem Konkurrenzstreben der Erfinder und Unternehmer entwickeln. Die staatliche Technopolitik wußte ihr »Gewährenlassen« stets mit Wirtschafts- und Arbeitsplatzargumenten zu rechtfertigen. Sie hat es versäumt, durch gestaltende Eingriffe die technologischen Wildwüchse einzudämmen. Doch gegen solche Risiken hilft nur eine normative Technologiepolitik, die den Einsatz der Technik auf der Grundlage eines Systems von Geboten und Verboten regelt. Der Staat greift ja auch in anderen existentiellen Fragen in das Räderwerk der Marktwirtschaft ein, ohne es damit anzuhalten. Die Sozialdemokratie will den technischen Fortschritt nicht verhindern — ganz im Gegenteil. Sie will über den Einsatz der Technik politisch entscheiden und den technischen Wandel demokratisch gestalten.

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Die Abschätzung der Technikfolgen sollte aber nicht erst dann einsetzen, wenn der Handlungsspielraum durch Sachzwänge bereits verlorengegangen ist — durch hohe Investitionen zum Beispiel, durch das Wirken von Interessengruppen, durch die weitgefächerte Einbindung der Technik in die Wirtschaftsstruktur. Eine vernünftige Technologiepolitik darf nicht nur reaktiv sein, das heißt, sie darf nicht nur auf die von der Technik aufgeworfenen Probleme reagieren, sie sollte ihnen vielmehr vorgreifen, sollte Schäden verhindern. Gerade das wiederum macht die Technikbewertung so überaus schwierig. Wer vorgreifen will, muß prognostisch bewerten. Und jeder weiß, wie unzuverlässig Prognosen sind, weil nicht alles vorhersehbar ist. Eben weil nicht alles vorhersehbar ist, muß eine vernünftige Technologiepolitik reaktiv sein, muß sie Fehlentwicklungen rückgängig machen können.

Die Bewertung der Technikfolgen wird noch dadurch erschwert, daß sie von einem dynamischen Sozial­verträg­lichkeitsbegriff auszugehen hat. Nicht allein der gegebene Gesellschaftszustand ist zu berücksichtigen, auch der soziale Wandel und die Veränderung des Menschen müssen mit einkalkuliert werden. Denn jede große technische Neuerung verändert auch die Menschen und ihr Bewußtsein. Die Schwierigkeit liegt darin, mit dem »alten« Bewußtsein die Auswirkungen der technischen Innovation auch unter dem Aspekt eines möglicherweise anderen, künftigen Bewußtseins beurteilen zu müssen. Weil diese Auswirkungen falsch kalkuliert sein können, darf die Bewertung nicht endgültig sein, muß sie sich jederzeit überprüfen und modifizieren lassen — gleichsam eine dynamische Bewertung.

Es gibt keine wertfreie, politisch neutrale Einschätzung der Technikfolgen. Die Steuerung und Kontrolle der technischen Entwicklung ist immer Gesellschaftspolitik. Und es gibt auch nicht die eine Zukunft, weil sich immer verschiedene Szenarien für die Zukunft entwerfen und diskutieren lassen. Die Politik muß dafür sorgen, daß Technik und Freiheit nicht Gegner werden, sondern daß ein verantwortungsvoller Umgang mit der Technik diese zur Verbündeten der Freiheit macht.

Dazu reicht es nicht aus, die Technik den gegebenen gesellschaftlichen Zuständen einfach anpassen zu wollen. Auch die konservativen Modernisierungs­strategien setzen mehr und mehr auf eine politisch gestaltete, dem Menschen angepaßte Technik. Von den konservativen Strategien unterscheiden sich die progressiven jedoch dadurch, daß sie nicht die gegebene Gesellschaftsordnung zum Maßstab für ein politisches Gestalten der Technik nehmen, sondern daß sie sich von dem utopischen Bild einer besseren, vernünftigeren und freieren Gesellschaftsordnung leiten lassen.

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Oskar Lafontaine 1988