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1  Miteinander statt gegeneinander

 

Werden wir, wenn es uns als Produktions- und Konsumgesellschaft gut geht, so zufrieden mit dem Augenblick, so blind für Tatsachen, ... so verantwortungslos, so verlogen bleiben? Dann gehen wir einem Verhängnis entgegen, ganz anderer Art als dem Hitlers, und dann werden wir uns so wenig verantwortlich dafür fühlen — wie seinerzeit.  -- Karl Jaspers

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In der Vorweihnachtszeit des Jahres 1987 schlugen die Erziehungsberater der deutschen Caritas Alarm. »Immer mehr Kinder und Jugendliche haben Angst vor der Zukunft«, so lautete der Tenor ihrer Erfahrungen, der in der Presse für Schlagzeilen sorgte. Mitunter sei es Angst vor dem Krieg, Angst vor dem Atom, Angst vor der Umweltzerstörung, Angst vor dem Leistungszwang, meistens aber sei es eine allgemeine Lebensangst, unklar und unbestimmt. Solche Ängste führten zu Leistungsstörungen in der Schule, zur Flucht ins Spiel- und Rausch verhalten, zur Aggression, zur Suche nach neuen Lebens­zusammen­hängen in den Jugendsekten und den jugendlichen Subkulturen der Punks und Skinheads.

Die Kinder in einer der reichsten Gesellschaften dieser Erde haben vor der Zukunft Angst — welch ein Paradox? Oder doch nicht?  Ist es nicht gerade die Art und Weise, in der wir unseren Reichtum erzeugen, die uns allen angst macht? Was müssen wir ändern, damit die Zukunft wieder heller scheint?

Nach Tschernobyl hatten viele die Hoffnung, daß manches anders wird. Nichts ist anders geworden. Im Jahr nach Tschernobyl hat die CDU/CSU einen Bundestagswahlkampf unter dem Motto geführt: »Weiter so ...«. Wie sollte man da nicht zum Zyniker werden? Was bedeuten schon die sechzigtausend Krebstoten mehr innerhalb der nächsten fünfzig Jahre, die der amerikanische Strahlenexperte und Knochenmark­spezialist Robert Gale als Folge des ukrainischen Reaktorunglücks prognostiziert, wenn doch genauso viele Menschen im Verlauf des nächsten Jahrzehnts allein auf bundesdeutschen Straßen sinnlos sterben werden? 

Denn es gilt dort — »weiter so« — die freie Fahrt für freie Bürger! Betroffen ist nur der, den es trifft. In Tausenden gerechnet sind die Toten nur noch ein Problem der Statistik. Hat Elias Canetti nicht recht, wenn er in seinem Buch »Masse und Macht« das Überleben als eine Leidenschaft beschreibt?

»Die Genugtuung des Überlebens, die eine Art von Lust ist, kann zu einer gefährlichen und unersättlichen Leidenschaft werden. Sie wächst an ihren Gelegenheiten. Je größer der Haufen der Toten ist, unter denen man lebend steht, je öfter man solche Haufen erlebt, um so stärker und unabweislicher wird das Bedürfnis nach ihm.«

Die menschliche Psyche ist von erstaunlicher Anpassungsfähigkeit. Könnten wir nicht verdrängen, unsere Existenz wäre nahezu unerträglich.

Niemandem würde mehr das Essen schmecken, müßte er ständig daran denken, daß zur gleichen Zeit irgendwo auf der Welt Menschen verhungern. Die Gabe des Verdrängens, die uns ein angenehmes Leben — selbst noch in der Gefahr — ermöglicht, hat jedoch ihre Kehrseite: Unser Erschrecken über selbstverschuldete Katastrophen, unsere Empörung über Unrecht und Elend halten meist nicht lange genug an, um das Verhalten, das zu Katastrophen und Ungerechtigkeit führt, nachhaltig zu ändern. Mit der Verdrängung kommt die Gewöhnung. Der Mensch gewöhnt sich an das Leben in der Gefahr.

Allein schon die Befürchtung gewalttätiger Terrorakte vermag uns Bundesbürger in schiere Hysterie zu versetzen. In Nordirland oder im Libanon gehört der Terror zur alltäglichen Wirklichkeit, zur »Normalität«. Entsprechend »normal« reagieren darauf dort die Menschen. Ein anderes Beispiel: Als 1981 in Polen das Kriegsrecht eingeführt wurde, konnte die Bevölkerung in einer speziellen Rundfunksendung Einzelheiten zu diesem Erlaß erfragen. Die erste Frage an Radio Warschau lautete: »Kann unter dem Kriegsrecht geheiratet werden?« Die Fähigkeit, das Unangenehme zu verdrängen und sich an fast jeden Zustand zu gewöhnen, hat die Menschen blind gemacht.*

Ich erinnere mich an eine nächtliche Autofahrt durch eine der weiten, locker besiedelten Ebenen Frankreichs. Durch diese Ebenen führen die Landstraßen Kilometer um Kilometer geradeaus — nicht einmal die Andeutung einer Kurve ist vorhanden. Auf einer solchen Straße fuhren wir. Die Nacht war klar und trocken. Es herrschte so gut wie kein Verkehr. Vor uns, in der Ferne, sahen wir die Lichter von Autos stehen.

 

* detopia-2007: Man weiß ja bei solchen politischen Büchern nicht, inwieweit spezielle angemietete Bücherschreiber ("Ghostwriter") mit beteiligt sind; also in Harvard studierte Leute mit journalistischer Begabung. — Ich will hier nur kurz anfügen: Die Fragen im sozialistischen Rundfunk wurden natürlich gesteuert, bzw. unangenehme Fragen gar nicht zugelassen (bzw. echte Fragen wurden gar nicht gestellt, weil keiner anrief.).  Canetti-detopia    Jaspers.detopia

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Obwohl wir schnell fuhren, dauerte es nahezu eine Viertelstunde, bis wir die Autos erreichten. Erst daran merkten wir, daß wir die Lichter fast zwanzig Kilometer weit gesehen haben mußten. Es war ein Unfall passiert. Ein Personenwagen war auf einen korrekt beleuchteten Lastzug geprallt, der vor ihm in der gleichen Richtung vorschriftsgemäß auf der rechten Straßenseite gefahren war. Wie wir sehen konnten, war der Aufprall für die beteiligten Personen glimpflich verlaufen. Um so unerklärlicher, um so absurder erschien uns dieser Unfall. Genau wie wir, mußte der Fahrer des Personenwagens die Lichter des Lastwagens schon meilenweit und minutenlang vor sich gesehen haben.

Später habe ich darüber einmal mit einem Psychologen gesprochen, der sich mit Ursachenforschung auf dem Gebiet von Verkehrsunfällen beschäftigt. Meine Schilderung überraschte ihn nicht. Natürlich habe der Fahrer des Personenwagens, so seine Interpretation, die Lichter des vor ihm fahrenden Lastzuges gesehen. Im Gegenteil, er habe sie unter den monotonen Umständen seiner nächtlichen Geradeausfahrt zu lange gesehen, ohne sie zu erreichen, so daß er sie nach einer Weile nicht mehr wahrnahm. Deshalb sei er unfähig gewesen, ihnen auszuweichen, und auf den Lastwagen aufgefahren.

 

   Die Warnlichter blinken auf  

 

Ich habe mich oft gefragt, ob ein ähnlicher Wahrnehmungsfehler nicht auch kollektiv eintreten könnte. Wir sind uns der Risiken der modernen Produktion bewußt, wir hören die Warnungen der Wissenschaftler, wir lesen über die Gefahren in Büchern und Zeitungen, wir sehen die Bilder von Zerstörungen im Fernsehen: Überall blinken die Warnlichter auf. Und trotz dieser ständig blinkenden Warnlichter scheinen wir wie jener Autofahrer unfähig, das Steuer herumzureißen. Der Unfall wird nicht zu vermeiden sein, wenn wir weiter so handeln, als nähmen wir die Warnzeichen nicht wahr. Sehenden Auges reagieren wir blind wie Lemminge. Das ist doch zum Verzweifeln absurd.

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Mag auch kollektives Verdrängen eine Schutzreaktion sein, die uns das Leben erleichtert, es hilft uns nicht weiter. Im Gegenteil. Wir verdrängen mit Vorliebe das, was uns bedrückt und wofür wir uns nicht verantwort­lich fühlen wollen. In dem allgemeinen Verdrängen offenbart sich ein allgemeiner Mangel an Verantwortungs­bewußtsein. 

Dieses gesellschaftliche Defizit ist den Kabarettisten Gerhard Polt und Hanns Christian Müller nicht entgangen. Ihre Satire »Die Verantwortungsnehmer« hat in der Tat eine Marktlücke entdeckt.

»Es ist doch heutzutage so: Schaun Sie, Staat, Länder, Kommunen, Verwaltung, große und kleine Konzerne, Privatwirtschaft, überall geht's in Graben, und kein Mensch will die Verantwortung übernehmen. Vierzehntausendachthundert Konkurse allein letztes Jahr; was von der öffentlichen Hand geleistet wird, läuft praktisch aufs selbe raus. — Es wird halt besser verschleiert. Eine gigantische Mißwirtschaft zu Lasten des Steuerzahlers, einer muß ja zahlen. Aber keiner ist bereit, auch einmal zu sagen, gut, die Sache ist schiefgegangen, ich war's, ich bin verantwortlich. 

Und das ist die Marktlücke, in die wir hier praktisch hineingestoßen sind. Wir, die Schilda-Respons GmbH & Co. KG, wir übernehmen jedwede Verantwortung ideeller Art, allerdings natürlich ohne finanzielle Konsequenzen, mir sin ja koa Versicherung. Des macht, wia gsagt, ja der Steuerzahler ... Heute geht die Tendenz dahin, daß man den Verursacher trennt vom Verantwortungsnehmer. Verursacher san praktisch diese maroden Administrationen, und Verantwortungsnehmer sind dann in diesem Fall wir. 

Weil, an Schuldigen braucht ma ja, schon allein für die Presse. Und so ham mir halt dann zum Beispiel die Verantwortung für diesen schnellen Brüter übernommen, also der Herr Sittich und ich, gell, gegen ein dem Schaden angemessenes Entgelt natürlich, weil auf a Million kimmts bei sieben Milliarden Schwund a nimmer drauf zsamm. Zumal die Akzeptanz von staatlicher Mißwirtschaft in der Bevölkerung zunehmend wächst.

Gut, der Politiker, er könnte die Verantwortung für seine Schweinereien auch nach oben oder nach unten abschieben, aber der Spielraum ist begrenzt. Schiebt er nach oben, kriegt er eins auf'n Deckel, schiebt er nach unten, wird er nicht mehr gewählt. Jetzt steht er allein da mit seiner Schweinerei und dem Damoklesschwert der Verantwortung, wohin damit? Ganz einfach, hier zur Schilda-Respons GmbH & Co. KG, mir machn des. Ja, unser Herr Sittich zum Beispiel, er is praktisch eine Art professioneller Watschenmann, stimmt's, Herr Sittich?«

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Wäre es nicht die Krönung unserer Dienstleistungsgesellschaft, auch die Verantwortung als Dienstleistung anzubieten? Spaß beiseite — es ist doch heutzutage wirklich fast so, wie es hier satirisch genial zugespitzt wird. Die Tendenz geht dahin, den Verursacher vom Verantwortungsnehmer zu trennen. Eine solche Trennung findet — wie es Gerhard Polt und Hanns Christian Müller in satirischer oder Niklas Luhmann und Martin Jänicke in wissenschaftlicher Absicht festgestellt haben — zwischen Politik und Wirtschaft, zwischen Politik und Verwaltung und, dem Ziel einer mündigen Gesellschaft zuwiderlaufend, auch zwischen Politik und Wählerschaft statt.

Niemand wird bestreiten, daß in einem System der freien Marktwirtschaft wesentliche ökonomische Entscheidungen von Unternehmern und Managern getroffen werden. Dennoch wird dem Staat die Verantwortung für wirtschaftliche Fehlentwicklungen zugeschoben — von der Inflation über die Konjunktur bis zur Arbeitslosigkeit. Für eine Wirtschaftsflaute muß die Politik als Sündenbock herhalten, für einen wirtschaftlichen Aufschwung heimst sie den Lorbeer ein. Und die politischen Parteien spielen dieses Spiel in aller Ernsthaftigkeit mit. In dem Maße, in dem die Politik auch in den marktwirtschaftlichen Systemen, in die sie kaum jemals entscheidend eingreift, die Verantwortung für die wirtschaftliche Gesamtlage übernimmt, legitimiert sie diese auf den Prinzipien des Eigennutzes und des Gewinns beruhenden Systeme als gemeinnützig.

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   Überforderte Machthaber  

 

Weniger evident, aber nicht viel anders verhält es sich im öffentlichen Sektor. Die politische Theorie spricht den gewählten Politikern eine Leitungsfunktion zu, den Beamten und Angestellten des Staates eine Ausführungs­funktion.

Die Verwaltung ihrerseits ist demokratisch legitimiert, weil sie den Willen von demokratisch legitimierten Politikern ausführt. So ist es nur logisch, daß die Politiker für die Tätigkeit des Staatsapparates in die Verantwortung genommen werden. Doch erweist sich auch hier die Praxis als nicht auf der Höhe des theoretischen Anspruchs. Den verantwortlichen Politikern widerfährt tagtäglich, was Niklas Luhmann »die Überforderung des Machthabers in Organisationen« nennt. Die Verwaltungen sind heute derart komplex geworden, daß es die Kontrollmöglichkeiten eines einzelnen Machthabers übersteigt, sie zu beherrschen, und daß seine Kapazität, Informationen zu verarbeiten, nicht ausreicht.

Spätestens seit Max Webers Analyse der bürokratischen Herrschaftsformen wissen wir, wie stark politische Entscheidungen durch den staatlichen Verwaltungsapparat mitgeprägt werden. Vorbereitung und Durchführung der meisten politischen Entscheidungen sind nur so gut wie die Arbeit des entsprechenden Verwaltungsapparates. Faktisch verselbständigt sich der Staatsapparat weitgehend gegenüber der auf das beamtete Fachwissen angewiesenen, gewählten politischen Exekutive. Der Politik verbleibt dabei nur die Rolle des Legitimationsbeschaffers.

Durch die weitgehende Trennung von Entscheidungs- und Verantwortungsebene in wichtigen Fragen des Staates und der Gesellschaft wird der Politiker — freiwillig oder unfreiwillig — zu einer Art ideellen »Gesamt-Herr-Sittich«: ein universeller »Verantwortungsnehmer«, gar häufig auch »professioneller Watschenmann« wider Willen. Solange die wirtschaftlichen Daten oder die Tätigkeiten der Verwaltung, die der Politiker zwar nicht bestimmen kann, die er aber aufgrund seiner fiktiven Allverantwortlichkeit zu verantworten hat, positiv ausfallen, wird es seiner Eitelkeit frönen, die Verantwortung zu übernehmen, umgibt sie ihn doch nutzbringend mit der Aura der Kompetenz.

Ganz anders natürlich die Reaktion des Politikers, wenn das, was seine Allverantwortlichkeit ihn zu verantworten verpflichtet, negativ ist. Da sträuben sich plötzlich Eitelkeit und Eigennutz gegen die Rolle des Verantwortungsnehmers.

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Schließlich ist er ja unschuldig am beklagenswerten Lauf der Dinge, hat er doch die falschen Entscheidungen nicht selber getroffen. Wer bitte spielt schon gerne den öffentlichen Watschenmann? Einen Herrn Sittich aber, den gibt es leider nur im Kabarett. Also hält sich das verehrte Publikum an die gewohnten Verantwortungs­nehmer — an die Politiker.

Der Begriff der »Regierungsverantwortung« beinhaltet eine doppelte Verantwortung: die für den jeweiligen Zustand der Gesellschaft und die für die Tätigkeit des Staatsapparates. Hieraus erwächst der Politik im Staat, in Wirtschaft und Gesellschaft eine Sündenbockfunktion. Martin Jänicke schreibt in seinem Buch »Staatsversagen«:

»Die Sündenbockrolle der Politik in westlichen Industriegesellschaften ergibt sich also erstens daraus, daß der Staat in der Wirtschaft wenig entscheidet, aber mit immer mehr befaßt ist und am Ende alles zu verantworten hat. Sie entsteht zweitens im Staat dadurch, daß die zur Fiktion gewordene Kontroll- und Entscheidungskompetenz der Politik weiterhin das Argument einer Allverantwortung der Politiker für bürokratisches Versagen liefert. Und sie entsteht drittens dadurch, daß das Versagen unregierbar gewordener Bürokratien und Industrien zugenommen hat und eine erhöhte Nachfrage nach Verantwortlichen schafft. Die Politik wird mit beachtlichem Prestige dafür bezahlt, daß sie diese Rolle zu übernehmen bereit ist.«

 

 Politiker unter Erwartungsdruck 

 

Die überall vorhandene Tendenz, das eigene Versagen auf Sündenböcke abzuwälzen, wird dadurch nicht weniger bedenklich, daß sich neben der politischen Wissenschaft auch die Satire ihrer angenommen hat. Im Gegenteil — oft genug war es gerade die Satire, die die gesellschaftlichen Mißstände am scharfsinnigsten und am treffendsten aufgedeckt hat. Wo Sündenböcke gebraucht werden, muß etwas falsch sein am gesellschaftlichen Verantwortungsbewußtsein, einem wesentlichen Bestandteil der politischen Kultur.

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Zu viele, so hat es den Anschein, verstehen die repräsentative Staatsverfassung als ein System der repräsentierten Verantwortlichkeit: Sie werfen mit ihrer Stimme auch ihre gesellschaftliche Verantwortlichkeit in die Wahlurnen. Dieses groteske Mißverständnis setzt den Politiker, ob er will oder nicht, einem enormen Erwartungsdruck aus.

Seine Lage ist der eines professionellen Fußballspielers nicht unähnlich. Die Zahl der Wählerstimmen, die der Politiker auf sich vereinen kann, entspricht hinsichtlich der daran geknüpften Erwartungen der Höhe der Transfersumme, die der neue Verein für einen Spieler bezahlen mußte. In der Politik sind Profession­alität und Führungskraft gefragt. Wie der neu verpflichtete Spieler seinem Vereinspublikum, so schuldet auch der gewählte Politiker seinen Wählern Leistung und Erfolg. Versagt er, wird er ausgepfiffen und auf die Oppositionsbank geschickt. Würde sich eine Fußballmannschaft vor dem Match eingestehen, keine Mittel gegen das gegnerische Spiel zu haben, sie gäbe sich von vornherein auf. Und welcher Politiker könnte zugeben, daß er für die anstehenden Probleme keine Lösungen anzubieten hat, ohne seine Macht und mithin die Möglichkeit, das Zeitgeschehen verantwortlich mitzugestalten, aufs Spiel zu setzen? Selbst wenn er keine anbieten kann, steht er doch ständig unter dem Druck, welche anbieten zu müssen.

Schlägt der Fußballprofi im Spiel einen falschen Paß, belehrt ihn unmittelbar das Murren der zigtausend »Sachverständigen« auf den Rängen des Stadions. Sie alle wollen es besser wissen, wohin der Ball hätte gepaßt werden müssen, obwohl keiner von ihnen so gut Fußball spielt wie der gescholtene Akteur auf dem Rasen. Dem Politiker ergeht es ähnlich. Stellt sich nämlich heraus, daß seine Vorstellungen nicht die richtigen sind, dann muß auch er sich eines Besseren belehren lassen — doch leider allzu häufig nur von Leuten, deren Vorschläge um keinen Deut richtiger sind. Ulrich Beck schreibt dazu: »Politiker müssen sich sagen lassen, wohin der Weg ohne Plan und Bewußtsein geht, und zwar von denjenigen, die es auch nicht wissen ..., und sie müssen diese Fahrt ins unbekannte Gegenland dann mit der eingeübten Geste des verblassenden Fortschrittsvertrauens als ihre Eigenerfindung unter den Wählern zum Glänzen bringen.«

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Wie jeder andere kennt auch der Politiker das Gefühl der Ohnmacht. Wesentliche Entscheidungen im Prozeß der gesellschaft­lichen Entwicklung fallen außerhalb des politischen Bereichs. Und wenn sie im politischen Bereich getroffen werden, dann sind es oft die Entscheidungen anderer Nationalstaaten, die die wirtschaft­liche Entwicklung im eigenen Lande wesentlich beeinflussen. In dem Maße, wie mit der zunehmenden Komplexität der Gesellschaft die Möglichkeiten der gewollten, gezielten Veränderung schrumpfen, werden auch die klassisch­en Handlungsspielräume der Politik zusehends enger. Da aber dem gewählten Politiker die Verantwortung übertragen wurde, erwartet man von ihm die Lösung von gesellschaftlichen Problemen, die eigentlich nur dann gefunden werden kann, wenn alle Mitglieder der Gesellschaft miteinander verantwortungs­voll handeln. Wie aber soll jemand noch verantwortlich handeln können, wenn er seine Verantwortung delegiert hat? In einem diskursiven Lernprozeß müßte der einzelne die Fähigkeit erwerben, die abgegebene Verantwortung wieder zu übernehmen.

 

   Ständige Rechtfertigungsrituale  

Da aber die Politik ihr Prestige gerade aus der Funktion des universellen Verantwortungsträgers gewinnt, tritt die Versuchung an die Politiker heran, sich möglichst viel Verantwortlichkeit übertragen zu lassen. Doch damit wiederum programmieren sie das eigene Scheitern bei der Bewältigung von solchen Problemen, die nur unter der Voraussetzung eines verantwortungsbewußten Handelns aller lösbar sind. Der Politiker wird zum Opfer der von ihm selber geweckten Erwartungen, gerät unter Rechtfertigungs­druck und flüchtet, mangels wirklicher Erfolge, in ein Ritual der ständigen Selbstbeweihräucherung. Weder Opposition noch Regierende können es sich leisten, dieses Ritual einzustellen, ohne Wählerstimmen einzubüßen.

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Selbst wenn sich sogar ein großer Teil der Wählerschaft mit den meisten Politikern der Lächerlichkeit eines solchen Rechtfertigungsrituals bewußt ist, so ist doch der andere Teil immerhin noch groß genug, um zu verhindern, daß die Politiker darauf verzichten. Nur in dem Maße, wie sich eine andere, eine bessere politische Kultur durchsetzt, wird sich das politische Verhalten ändern. Ohne unsere Bereitschaft, unser Verhalten zu verändern, wird sich aber eine andere politische Kultur nicht durchsetzen. Gerade dieser dialektische Zusammenhang, durch den die Voraussetzungen einer Veränderung in den Teufelskreis gegenseitigen Bedingens geraten, erschwert eine Verbesserung der politischen Kultur so ungemein. Und dennoch brauchen wir nichts dringlicher. Eingedenk der traurigen Auswüchse, die wir in den letzten Jahren erlebt haben, täte auch unserer politischen Kultur eine Art »Perestroika« gut.

Bezeichnend für den Mangel an gesellschaftlichem Verantwortungsbewußtsein ist die vorherrschende doppelte ökologische Moral. Zwar beklagen wir alle die übermäßige Belastung der Umwelt, doch kaum einer tut wirklich alles, was er tun könnte, um die Umwelt zu entlasten. Viele sind es ja nicht, die auf den Komfort des eigenen Autos verzichten wollen. Keiner kommt ohne chemische Stoffe aus.

Selbstverständlich müssen wir gegen die Vergiftung unserer Umwelt protestieren, wenn erforderlich, auch demonstrieren. Nur dürfen wir dabei nicht vergessen, daß wir uns selber keineswegs exkulpieren können, indem wir andere demonstrativ anprangern. Es ist nicht möglich, die Gesellschaft in Täter und Opfer zu trennen. Zu den Müllbergen der Wohlstands­gesellschaft trägt jeder bei.

Die Bewältigung der damit verbundenen Probleme ist nur durch gemeinsames gesellschaftliches Handeln auf der Grundlage einer verallgemeinerten Verantwortlichkeit vorstellbar. Wollten wir zum Beispiel die Altlasten im Kerngebiet unserer industriellen Ballungsräume wirklich abtragen, müßten wir ganze Industrieanlagen und Straßenzüge abreißen und die darunter liegenden Bodenschichten vollständig ersetzen. Das Verfahren, kontaminiertes Material wie etwa verstrahlte Molke in Eisenbahnwaggons durch die Bundesrepublik zu fahren, zeugt von der Ratlosigkeit der Müllartisten unter der Zirkuskuppel.

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Umdenken ist ein Gebot der Stunde. Wer ernsthaft die von der modernen Produktion, die vom technologischen Wandel aufgeworfenen Probleme angehen will — Probleme der Umweltverschmutzung zum Beispiel oder Probleme der Energie­versorgung —, der muß mehr Demokratie wagen, das heißt, jeder muß mehr Verantwortung übernehmen.

Die Verantwortung zu demokratisieren heißt nicht, den Handlungsspielraum der Politik einzuengen, sondern ist heute die einzige Möglichkeit, ihn zu erweitern. Letztlich ist es jene faktische Allverantwortlichkeit der Politik, die den Politiker handlungsunfähig macht, die ihn aus der gestaltenden in eine bloße legitimat­orische Rolle drängt. Die Politik begibt sich ihrer Entscheidungs- und Geltungsmacht, wenn sie sich damit begnügt, das Handeln der staatlichen Bürokratie zu legitimieren oder die Rolle des Sündenbocks für die volkswirtschaftliche Entwicklung zu spielen.

Die Verantwortung zu demokratisieren heißt in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, die Trennung von Entscheidungs- und Verantwortungs­ebene aufzuheben und, soweit wie möglich, die gesellschaftliche Verantwortlichkeit unmittelbar an die gesell­schaftliche Entscheidungs­macht zu binden. Die Betonung liegt hier auf dem Eigenschaftswort »gesellschaftlich«. Natürlich sind auch Manager ihren Unternehmen und Aktionären verantwortlich. Doch obwohl ihre Verantwortlichkeit weitgehend auf privatwirtschaftliche Interessen beschränkt bleibt, treffen sie mitunter Entscheidungen, die für die gesamte Gesellschaft von Interesse sind. Die in der Verfassung der Bundesrepublik festgeschriebene Sozialverpflichtung des Eigentums kommt in der wirtschaftlichen Praxis zu kurz.

Der Handlungsspielraum der Politik wird zusätzlich eingeengt durch das, was man »Sachzwänge« nennt. Als Sachzwänge erscheinen auch Situationen, in denen Entscheidungen zu verantworten sind, die von anderen getroffen wurden. Eine verantwortungsbewußte Politik wird solche Sachzwänge vermeiden. Sie wird so rechtzeitig in den Entscheidungsprozeß eingreifen, daß ihre Entscheidungsfreiheit durch möglichst wenig vollendete Tatsachen eingeschränkt ist.

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Im Falle der großtechnologischen Nutzung der Kernenergie zum Beispiel haben sich die immensen finanziellen Investitionen zu einem »Sachzwang« ausgewachsen, der nun viele Ökonomen und Politiker wider besseres Wissen davon abhält, ihre gesellschaftliche Verantwortlichkeit wahrzunehmen. Verantwortliches Handeln ist immer vorsorglich — ein wohlüberlegtes Handeln, dem die vernunftgemäße Abwägung seiner gesellschaftlichen Folgen vorausgegangen ist.

 

   Die überlieferte Ethik trägt nicht mehr  

 

Es ist ja nicht zuletzt auch das Korsett von »Sachzwängen«, in das der einzelne mit der gesellschaftlichen Organisation der Technik gepreßt wird, das bei vielen ein Gefühl des Ausgeliefertseins an die »Megamaschine« hervorruft. Das ist das gefährlichste an der Megatechnik: jene Gefühle des Ohnmächtigseins, die sie in uns weckt und die uns lahmen, die uns hindern, unseren Teil Verantwortung an ihrer Bändigung zu übernehmen. Sosehr das ideologische »Laisser-faire« des Liberalismus diese gefährlichen Gefühle nährt, so sehr stemmt die Linke sich dagegen unter der aufklärerischen Devise, daß der Mensch selber seine Geschichte bewußt und vernünftig, das heißt frei und verantwortlich machen soll.

Die Politik hat gegen die Ohnmachtsgefühle der Menschen genauso anzukämpfen wie gegen den auch ihr eigenen Hang, die Probleme zu verdrängen. Deshalb sollte sie, wo immer möglich, den »Sachzwängen« vorgreifen, damit sich Ohnmachts­gefühle und Verdrängungs­bedürfnisse nicht in einem Teufelskreis der gesellschaftlichen Verantwortungs­losigkeit gegenseitig hochschaukeln.

Wenn die Politik das Prinzip der Vorsorge als Maxime ihres Handelns nimmt, kann sie verlorenen Handlungs­spielraum gegen die Sachzwänge zurückgewinnen. Wir können es uns nicht mehr leisten abzuwarten, was die von uns gemachten Dinge mit uns machen, um dann, im ungünstigsten Falle, ein Pflaster auf unsere Wunden zu kleben. Über kurz oder lang werden die Wunden nicht mehr zu heilen sein.

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Es bleibt uns gar nichts anderes übrig, als die Werte und Maßstäbe, nach denen wir leben wollen, vorab verbindlich festzulegen und zu versuchen, die künftige Entwicklung nach diesen Werten und Maßstäben politisch, das heißt gesellschaftlich und demokratisch zu gestalten. Mit anderen Worten: Eine Politik, die auf den vernunftgemäßen technologischen Wandel einwirken soll, muß sich an allgemeingültigen, ethischen Normen orientieren können, muß ihre Kriterien nicht aus der Technik selber, sondern aus einer der Technik übergeordneten Ethik herleiten. Eine solche normative Technologiepolitik bedarf eines gesellschaftlichen Wertesystems, das nicht beliebig ist.

Derzeit verfügt die Gesellschaft weder über ein solches Wertesystem noch über die Institutionen, die sie braucht, um künftig die eigene Technisierung bewältigen zu können. Vor der revolutionären Qualität der neuen Technologien haben die bisherigen ethischen Entwürfe keinen Bestand mehr. Hans Jonas schreibt in »Das Prinzip Verantwortung«: »Was der Mensch heute tun kann und dann, in der unwiderstehlichen Ausübung dieses Könnens, weiterhin zu tun gezwungen ist, das hat nicht seinesgleichen in vergangener Erfahrung. Auf sie war alle bisherige Weisheit über rechtes Verhalten zugeschnitten. Keine überlieferte Ethik belehrt uns daher über die Normen von <Gut> und <Böse>, denen die ganz neuen Modalitäten der Macht und ihrer möglichen Schöpfungen zu unterstellen sind.«

An anderer Stelle fügt er hinzu, daß es die öffentliche Politik mit Fragen von solcher Umfangbreite und solchen Längen projektierender Vorwegnahme vorher nie zu tun hatte und daß in der Tat das veränderte Wesen menschlichen Handelns das Grundwesen der Politik verändere.

Nun können wir es nicht dabei belassen, Hans Jonas den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels zu geben oder ihn in ganzseitigen Interviews in deutschen Tageszeitungen zu Wort kommen zu lassen. Dafür sind seine Gedanken eine viel zu große Herausforderung an uns. Wenn die überlieferte Ethik nicht mehr trägt und die öffentliche Politik oder, besser, wir alle es mit Fragen projektierender Vorwegnahme zu tun haben, mit denen wir noch nie konfrontiert wurden, dann können wir von einem Identitätsverlust unserer Gesellschaft sprechen. Die Nachgeborenen finden sich in der konstitutiven Überlieferung nicht mehr zurecht. Die eingangs erwähnte Zukunftsangst unserer Kinder ist dafür ein eindeutiger Beleg.

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Es wird eine Veränderung der normativen Strukturen verlangt, des Wertesystems also, das in unserer Gesellschaft Handlungen erlaubt oder verbietet. Global denken, lokal handeln — das ist der kategorische Imperativ der Ökologiebewegung. Daß lokales Handeln globale Auswirkungen hat, wissen wir spätestens seit Tschernobyl. Aber wir müssen lernen, daß auch das Fahren eines Pkws, das Verbrennen von Kohle oder der Gebrauch einer Spraydose in diesem Sinne nicht mehr lokales Handeln sind.

Die Soziologie lehrt uns, daß das Organisationsprinzip einer Gesellschaft ihre Kapazität begrenzt, zu lernen, ohne ihre Identität zu verlieren. Das Organisationsprinzip unserer Gesellschaft setzt der Entfaltung der Produktivkraft keine Grenzen, aber es läßt universalistische Wertsysteme zu und damit die Veränderung der normativen Strukturen. Die Grundwerte Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität sind universalistisch und können somit Maßstäbe lokalen Handelns sein.

Um die geforderte Veränderung der normativen Strukturen zu erreichen, müssen die beiden kontroversen Politikmodelle, das des Neokonservatismus und das der demokratischen Linken, daraufhin untersucht werden, inwieweit sie geeignet sind, eine politische Ethik zu begründen, die dem veränderten Wesen menschlichen Handelns Rechnung trägt.

 

   Feindbilder und Ausgrenzung  

 

Der Skandal im Jahr 1987 in Schleswig-Holstein entsprang einem Politikmodell, das in dem anderen nicht nur den politischen Gegner, sondern den Feind sieht — ein Politikmodell, in dem der Zweck, die Macht zu erhalten, jedes Mittel heiligt. Die europäische Kultur beruft sich auch auf die christliche Überlieferung. Die radikalste Forderung der christlichen Lehre ist die Feindesliebe. Die Liebe zum Mitmenschen läßt uns die Feindbilder überwinden.

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Die politische Sprache meidet kein Wort so sehr wie das Wort »Liebe«. Wenn Sprache verräterisch ist, dann zeigt sich hieran der Mangel an Liebesfähigkeit in unserer Zeit. Die Kieler Affäre rückte in ein neues Licht, welche Bedeutung dem Grundwert der Solidarität beizumessen ist. Es gehört zu den unabdingbaren Grundsätzen jeder politischen Kultur, den Mitmenschen auch dann zu respektieren, wenn seine politischen Auffassungen mit den eigenen nicht übereinstimmen.

Die Kieler Affäre ist auch nicht ein Produkt des Zufalls, vielmehr ist sie Teil der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung. Nur zu gut paßt sie zu jener Renaissance konservativen Politikerverständnisses, die Mitte der siebziger Jahre einsetzte und die in ihren Exzessen durchaus auf die politischen Kategorien eines Carl Schmitt zurückgreift. In seiner Abhandlung über den »Begriff des Politischen« aus dem Jahre 1932 schreibt er: »Die spezifisch politische Unterscheidung, auf welche sich die politischen Handlungen und Motive zurückführen ließen, ist die Unterscheidung von Freund und Feind.« Und weiter: »Jeder religiöse, moralische, ökonomische, ethnische oder andere Gegensatz verwandelt sich in einen politischen Gegensatz, wenn er stark genug ist, die Menschen nach Freund und Feind effektiv zu gruppieren.«

Eine Politik, die dazu neigt, sich an Feindbildern zu orientieren, ist im sozialen wie im militärischen Sinn eine Politik der Ausgrenzung und der Abschreckung. Sie ist nicht fähig zum solidarischen Verteilen, zum Verteilen auch der Verantwortung. Mitleidslos grenzt sie sogar Kranke aus, behandelt sie wie Feinde — man denke nur an die Aids-Bekämpfung in Bayern. Es sieht so aus, als sei Aids den Konservativen eine willkommene, bequeme Katastrophe, um von den anderen existentiellen Bedrohungen unserer Zeit wie Atomkraft, Hochrüstung und Arbeitslosigkeit abzulenken. Statt auf den mündigen Menschen zu bauen, sucht man Zuflucht in staatlichen Eingriffen und ordnungspolitischen Maßnahmen. Damit aber wird dieser Krankheit nicht beizukommen sein, liegt ihre Ursache doch im individuellen Verhalten. Nur Maßnahmen, die es zu ändern vermögen, werden wirksam sein.

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Eine Politik, die die Menschen nach »Freund und Feind gruppiert«, steht gegen das Politikmodell der demokratischen Linken, die immer auf Solidarität, auf das Miteinander setzt. Da die Linke anfänglich den Fehler beging, den Sturm des Neokonservatismus auf ihre traditionellen Bastionen zu leicht zu nehmen, büßte sie die kulturelle Hegemonie ein. Mit wenigen Ausnahmen — Spanien etwa, vorübergehend auch Frankreich — verlor die Linke weltweit an Bedeutung und wurde dort, wo sie regierte, von konservativen Mehrheiten abgelöst. Den Höhepunkt dieser Renaissance des Konservatismus bildete die Wahl Ronald Reagans zum amerikanischen Präsidenten. So wie der Dollar eine internationale Leitwährung ist, so ist die politisch-kulturelle Entwicklung in den USA für viele Staaten auf der ganzen Welt beispielhaft. Es lag in der Logik dieser Zeit, daß auf Ronald Reagan in den Vereinigten Staaten Helmut Kohl in der Bundesrepublik folgte.

 

   Die neokonservative Politik ist gescheitert  

 

Diese Flucht in den Neokonservatismus hatte tiefe Ursachen. Der Fortschrittsmythos des Industriezeitalters zerschellte an den Realitäten. Der Glaube, daß ein ständiger Zuwachs des Bruttosozialprodukts die Probleme dieser Welt lösen würde, ließ sich nicht länger aufrechterhalten. Mehr und mehr wurde den Menschen bewußt, daß sie auf die falschen Pferde gesetzt hatten. Auch die politische Linke wurde von diesem Bewußtsein erfaßt. In dem Maße aber, wie sie ihre Theorie revidierte, war sie gezwungen, eine neue Politik zu entwickeln. Es ist ein bekanntes Phänomen, daß sich die Menschen in Phasen der Orientierungslosigkeit konservativen Politikmodellen zuwenden. So verlor auch die Linke gegen Ende der siebziger Jahre im Zuge der Revision ihrer Positionen die politische Macht an einen wiedererstarkten Neokonservatismus, dessen Markenzeichen jene Unterscheidung in »Freund« 'und »Feind« ist, man denke nur an Ronald Reagans »Reich des Bösen« und Heiner Geißlers »Lagertheorie«.

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Doch mittlerweile, nachdem das Scheitern der neokonservativen Politik offensichtlich geworden ist, hat sich die Szenerie schon wieder gewandelt. Nirgendwo haben die Konservativen ihre Versprechungen eingelöst. Nirgendwo ist die Arbeitslosigkeit dadurch beseitigt worden, daß Verteilungspolitik von unten nach oben betrieben wird, anstatt wie in der sozialdemokratischen Ära von oben nach unten. (Werden wir je eine Gesellschaft erleben, die demokratisch und solidarisch genug ist, um nicht mehr obrigkeitsstaatlich von Verteilen zu reden, sondern schlicht mitmenschlich von Teilen?)

Seit mehr als fünf Jahren versucht die Bundesregierung ihr Glück mit der sogenannten Angebotspolitik. Die Staatsquote ist kleiner geworden, die Produktions­kosten sind gesunken. Die Preise sind stabil und die Realzinsen nach der Entscheidung der Deutschen Bundesbank, den Diskontsatz zu senken, erträglich niedrig. Die Gewerkschaften haben sich zurückgehalten, und die Einkommen aus Unternehmertätigkeit sind auf Kosten der Löhne kräftig gestiegen. Für das Jahr 1986 errechnete die Bundesbank ein neues Rekordgewinnjahr. Die Unternehmer haben Geld in der Kasse, in den Rücklagen und vor allem im Ausland. Aber die Investitionen hängen nach, und die Arbeitslosigkeit nimmt zu. Theoretiker wie Praktiker sind irritiert, daß der Investitionsmechanismus früherer Jahre nicht mehr greift. Die Gewinne von gestern sind, zumindest im nationalen Rahmen, nicht mehr die Investitionen von heute und die Arbeitsplätze von morgen. Nachdem sozialdemokratische Rezepte jahrelang in den Wind geschlagen wurden, sind sie nun wieder modern: Die Konjunkturprogramme werden enttabuisiert.

Am deutlichsten wird das Scheitern konservativer Politik in den USA. Mit welch großen Zielen war Ronald Reagan einmal angetreten! Die Staatsfinanzen wollte er sanieren, die Handels- und Leistungsbilanz in Ordnung bringen, den Dollar stabil und stark machen. Und was hat er erreicht? Die amerikanischen Staatsfinanzen sind mit unübersehbaren Hypotheken belastet, Handels- und Leistungsbilanz sind so unausgeglichen wie eh und je, und der Dollar ist von astronomischen Höhen auf den tiefsten Stand der Nachkriegszeit gefallen.

Wenn man sieht, wie sehr diese Entwicklung auch die Wirtschaft in der Bundesrepublik tangiert, ist es gut, sich daran zu erinnern, in welchem Ausmaß die Wirtschaftspolitik Reagans von den Neokonservativen bei uns gepriesen und unterstützt wurde.

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Welche Ironie der Geschichte auch, daß Reagan, die Leitfigur des Neokonservatismus, der Mann der Politik der Stärke, der Aufrüstung und des Kampfes gegen das »Reich des Bösen«, als einzigen Erfolg seiner Amtszeit einen typisch sozialdemokratischen Abrüstungsvertrag mit der UdSSR vorweisen kann. Hoffen wir, daß der amerikanische Senat das Mittelstreckenabkommen anders behandelt als seinerzeit, nicht zuletzt auf Betreiben Reagans, den SALT-II-Vertrag Carters.

 

  Leitidee der Solidarität  

 

Auch in der Bundesrepublik sind die Konservativen verwirrt. Verhärtet und ratlos suchen sie nach neuen politischen Wegen. Der Richtungsstreit in den Unionsparteien ist Ausdruck dieser Entwicklung. Die Sozialdemokratie hingegen hat sich erholt. In vielen Bereichen hat sie inzwischen die Meinungs­führer­schaft zurückgewonnen, weil sie den notwendigen Prozeß der programmatischen Erneuerung früher begonnen hat, früher beginnen mußte. Vor allem hat sie erkannt, daß die Menschheit nur überleben kann, wenn sie zu gemeinsamem Handeln findet, zur Gemeinsamkeit auch mit der Natur. Es führt kein Konzept in eine freie Zukunft, das nicht die gesamte Schöpfung in die Leitidee der Solidarität mit einschließt. Die Alternative der Linken zum Neokonservatismus ist eine Politik, die auf gemeinsames Handeln zielt, eine Politik, in deren Zentrum die Solidarität steht.

Ein solches Zukunftsprojekt verlangt eine andere Außenpolitik, die sich vom Gegeneinander der Systeme und Blöcke löst und die Verant­wortungs­gemein­schaft aller Staaten fördert; eine Sicherheitspolitik, die nicht auf Aufrüstung und Abschreckung zielt, sondern auf Sicherheits­partner­schaft; eine Militärpolitik, die nicht Angriffsoptionen den Vorzug gibt, sondern der strukturellen Nichtangriffsfähigkeit. Die SPD hat in ihrer Außenpolitik in erster Linie ja ohnehin niemals auf militärische Optionen gesetzt, sondern auf den politischen Ausgleich, auf die Entspannung.

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Das Trennende zu überwinden, das Gegeneinandergerichtete zu beseitigen war von jeher auch Grundlage sozialdemokratischer Deutschlandpolitik. Diese Politik begann mit dem Berliner Passierschein-Abkommen, führte zum Abschluß des Grundlagenvertrages und setzt sich fort in den Vorschlägen zum atom­waffen­freien Korridor oder zur chemiewaffenfreien Zone.

Das gemeinsame Papier von SED und SPD mit dem Titel »Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit« liegt auf der Linie dieser Politik. Es hat mittlerweile weltweit eine größere Beachtung gefunden, als die Autoren geglaubt haben mochten. Nach den neuerlichen Verhaftungen in Ostberlin erlangt es auch eine neue Bedeutung für die deutschdeutsche Politik. Im Dialog mit der DDR können wir uns jetzt auf den folgenden Satz berufen, in dem das Grundmuster des linken Politikmodells wiedergegeben ist:

»Es muß Normalfall werden, daß wir miteinander handeln, verhandeln und zusammenarbeiten, während wir gleichzeitig da offene und klare Kritik äußern können, wo nach unserem Verständnis ... die Menschenrechte und die Demokratie im anderen Bereich verletzt werden.«

Ebenso zeigt die innenpolitische Diskussion um die Steuerreform, daß in der Bundesrepublik der Begriff der sozialen Gerechtigkeit zu neuen Ehren kommt. Die Mehrheit der Bevölkerung lehnt diese Steuerreform ab, weil ihrer Finanzierung alles andere denn die Idee der Solidarität zugrunde liegt. Die Entlastung der Spitzeneinkommen paßt genausowenig in unsere sozialpolitische Landschaft wie die Streichung von sozialen Leistungen für die Arbeitnehmerschaft.

Noch hat die Idee des Sozialstaats nicht ausgedient, sie ist aktueller denn je. Um den Sozialstaat zu bewahren, brauchen wir die Reform der Renten­versicherung, brauchen wir die Reform des Gesundheits­wesens. Um den Sozialstaat zu bewahren, müssen wir über die Idee einer sozialen Grundsicherung diskutieren und ihr eine konkrete politische Gestalt geben. Zur sozialen Grundsicherung gehört selbstverständlich auch die Bewahrung der Natur. Mit der geforderten Renaissance des Grundwerts der Solidarität, der immer etwas mit Gleichberechtigung und Gleichheit zu tun hat, ist auch die Frage nach der Gleichstellung der Frau in Beruf und Gesellschaft auf die Tagesordnung gesetzt. Allzu lange stand der Artikel des Grundgesetzes »Frauen und Männer sind gleichberechtigt« nur auf dem Papier.

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   Die Linke hat die Nase vorn  

 

Immer mehr Menschen in unserem Land spüren, daß die Verheißungen des Neokonservatismus nicht geeignet sind, die Probleme der Zukunft zu bewältigen. Im Zeitalter von Tschernobyl, der Rheinverseuchung und der Massenarbeitslosigkeit kann die Antwort auf die drängenden Zukunftsfragen niemals »weiter so« heißen. Was Wunder also, daß die »Weiter-so-Parteien« Ende 1987 — so zeigen es sozialempirische Untersuchungen — in der Wahlbevölkerung der Bundesrepublik die Mehrheit verloren haben. Gewiß spielte dabei auch die Entwicklung in Schleswig-Holstein eine Rolle. Doch die eigentlichen Ursachen für diesen Meinungsumschwung liegen sehr viel tiefer. Es scheint, als sei das politische Pendel nach einer Phase des Rechtsausschlagens wieder in der entgegengesetzten Phase der Bewegung, weg vom Gegeneinander, hin zum Miteinander. Noch ist dies eine Phase des Suchens und der neuen Orientierung. Doch zweifelsohne hat dabei die Linke die Nase vorn.

Während ihrer Regierungszeit hat die Sozialdemokratie gespürt, was es bedeutet, auf Utopie zu verzichten. Diesen Verzicht kann sich die politische Linke einfach nicht leisten, weil sie damit das Prinzip Hoffnung aufgäbe. Was aber kann im Zeitalter der atomaren Bedrohung, im Zeitalter der schleichenden Umweltzerstörung die politische Utopie der Linken sein? Die europäische Linke fußt im Marxismus, den man ohne die geistige Tradition des jüdischen Volkes nicht richtig begreifen kann. Unverkennbar trägt das Marxsche Proletariat die Züge des Volkes Israel, das von seinem Gott aus Ägypten in ein Land geführt wurde, wo Milch und Honig floß. Vielen sozialistischen Utopien haftet ein ähnlicher Erlösungscharakter an.

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Hans Küng weist zu Recht darauf hin, daß Erlösung wie Emanzipation Befreiung meinen: 

»Emanzipation meint Befreiung des Menschen durch den Menschen. Erlösung aber meint Befreiung des Menschen durch Gott. Emanzipation läßt sich gewiß nicht durch Erlösung ersetzen. Allzu lange haben Christen das Leid vorschnell mit Gott versöhnt, indem sie es einfach als seinen Willen ausgaben, die Befreiung ins Jenseits verlegt und die versklavten Menschen dorthin vertröstet haben. Aber gerade deshalb gilt auch umgekehrt: Erlösung läßt sich nicht durch Emanzipation ersetzen. Allzu lange meinten Menschen in der Neuzeit, das vielfältige Leid der Menschen und der Menschheit eigenmächtig abschaffen zu können, indem sie ihm mit Wissenschaft und Technik zu Leibe rückten. Seiner Leidensschuld und Todesgeschichte ist ja der Mensch durch seine Emanzipation keineswegs entronnen.«

 

   Die Revolte beginnt täglich neu  

 

Eine politische Utopie kann daher weder im Verkünden letzter Wahrheiten bestehen noch Erlösung verheißen. Die politische Utopie der Linken ist die Emanzipation des Menschen, die Realisierung seiner Freiheit. Sie ist Aufklärung, Selbstbestimmung, Solidarität, keinesfalls Erlösung. Albert Camus, der im Sozialismus verweltlichtes Christentum sah, hat es als das wesentliche Unternehmen der Revolte bezeichnet, das Reich der Gnade durch das Reich der Gerechtigkeit zu ersetzen. Er lehnte die politischen Utopien ab, die vom Menschen fordern, daß er über sich hinauswachse. In der Überforderung durch solche utopischen Entwürfe sah Camus die Ursache für die katastrophale Lage des Menschen.

In dem Drama »Die Gerechten« sagt Kaliajew: 

»Ich aber liebe die Menschen, die heute leben, auf der gleichen Erde wie ich ... Für sie kämpfe ich, und für sie bin ich bereit zu sterben. Und einem fernen Staat zuliebe, dessen ich nicht sicher bin, werde ich meinen Brüdern nicht ins Gesicht schlagen. Ich will nicht um einer toten Gerechtigkeit willen zu einer bestehenden Ungerechtigkeit beitragen.«

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Camus wußte, daß es kein endgültiges Gelingen gibt. Er wußte, daß das Erreichte morgen schon wieder zerronnen sein kann, daß die Revolte täglich neu beginnt, daß ein endgültiger Sieg nicht zu erringen ist. Deshalb riet er zu einer anderen, bescheideneren, weniger ruinösen Utopie. Er wußte auch, daß die marxistische und die kapitalistische Ideologie, beide auf dem Fortschrittsglauben beruhend, beide von der Überzeugung ausgehend, daß die Anwendung ihrer Grundsätze die Harmonie der Gesellschaft schicksalhaft herbeiführen müsse, Utopien sind, die uns teuer zu stehen kommen. Camus sah, daß es keine Inseln der Unschuld und des Unbeteiligtseins mehr gibt und daß die Grenzen sinnlos sind, daß jeder in einer Welt der konstanten Beschleunigung, in der sich der Atlantik in weniger als einem Tag überqueren läßt, zur Mitschuld oder zur Solidarität gezwungen wird. 

Kein wirtschaftliches Problem, so nebensächlich es auch scheinen mag, läßt sich außerhalb der Solidarität zwischen den Nationen lösen. Die Tragödie ist kollektiv. Alle wissen wir also ohne den Schatten eines Zweifels — so Albert Camus —, daß die neue Ordnung, die wir suchen, keine ausschließlich nationale, nicht einmal eine kontinentale und vor allem nicht eine westliche oder eine östliche Ordnung sein kann. Es muß eine universale Ordnung sein. Der Weg, der zur universalen Ordnung führt, ist der Weg des gegenseitigen Übereinkommens aller Beteiligten — ist das Miteinander. Auf diesem Weg kann uns nur eine Utopie der Freiheit leiten, die keine Heilslehre mit endgültigem Anspruch ist. Eine ihr verpflichtete Politik fordert ebensowenig das Opfer der lebenden Generationen für das mutmaßliche Glück der zukünftigen, wie sie für das vermeintliche Glück der Lebenden das Opfer der zukünftigen Generationen fordert.

In diesem Zusammenhang sei an die Worte von Thomas Paine erinnert, daß die Eitelkeit und Anmaßung, noch jenseits des Grabes regieren zu wollen, die lächerlichste und unverschämteste aller Tyranneien sei, daß der Mensch kein Eigentum im Menschen besäße und daß ebensowenig eine Generation in zukünftigen Geschlechtern Eigentum besäße.

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Die Utopie der Freiheit kann ihre humane Verheißung nur entfalten, wenn ihre Imperative nicht dogmatisch fixiert, sondern stets vernünftig und neu an die sich verändernden Bedingungen der Zeit angepaßt werden. Jede Utopie, die zum Dogma wird, schlägt über kurz oder lang in Terror um — der Stalinismus ist hierfür nicht das einzige Beispiel in der Geschichte. In einem absoluten Verständnis ist Freiheit nicht zu verwirklichen. Sie ist, als humane Verpflichtung für unser Handeln und Wollen, das immer wieder Ferne, auf das wir zusteuern. Absolute Freiheit ist Utopie im Wortsinne, das heißt, sie ist für den Menschen unter den Bedingungen seiner natürlichen und sozialen Existenz ohne möglichen Ort. Wir müssen mit der Erfahrung der Grenze leben. Eine solche Grenze zieht der Tod, zieht die Natur, ziehen unsere Mitmenschen. Die Mißachtung dieser Grenzen bedeutete nicht mehr Freiheit, sondern geradezu die Zerstörung der Freiheit, die uns möglich und aufgegeben ist.

 

   Einige sind gleicher  

 

Doch gibt es auch Grenzen der Freiheit, die, weil sie ideologischer Natur sind, nicht sein müssen — Grenzen, die die Freiheit zum Privileg der einen machen, indem sie die anderen ausgrenzen. In dem Maße, wie der liberale bürgerliche Freiheitsbegriff in seiner geschichtlichen Entwicklung über den Begriff des Eigentums vermittelt worden ist, hat er bis heute seinen »ausgrenzenden« Charakter nicht abgelegt, ist er damit immer konstituierend für konservative Politik.

In der frühen bürgerlich-liberalen Gesellschaftstheorie galt das Recht auf persönliches Eigentum als wesentlicher Ausdruck der individuellen Freiheit. Dem bürgerlichen Staat wurde als Hauptaufgabe der Schutz des Eigentums vor den Übergriffen der Besitzlosen zugedacht. In der Theorie waren Besitzende und Besitzlose durchaus gleichgestellt, hatten doch beide das gleiche formale Recht, Eigentum zu bilden. In der kapitalistischen Wirklichkeit aber sah dieses Recht natürlich anders aus: Die Masse der Besitzlosen hatte de facto nicht die geringste Chance, über das Eigentum an der eigenen Arbeitskraft hinaus zu einem nennenswerten persönlichen Eigentum zu gelangen.

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Anatole France hat eine solche formale Rechtsgleichheit mit unübertroffener Ironie bloßgelegt: Armen wie Reichen ist es verboten, unter Brücken zu nächtigen. So gesehen fehlt dem liberalen Freiheitsbegriff ein Element, das für die Moderne wesentlich ist: die Bindung an die tatsächliche soziale Gleichheit. Wenn sich die Freiheit im Besitz — im Haben — ausdrückt, müssen die Besitzlosen — die Habenichtse — zur Bedrohung für die Freiheit werden. Das liberale Freiheitsrecht, mit seinem Eigentum alles tun oder lassen zu dürfen, was nicht das identische Freiheitsrecht des anderen beeinträchtigt, bedurfte des staatlichen Schutzes gegen die Besitzlosen, das heißt gegen die große Mehrheit der Menschen. Dieses Recht war auf das Individuum bezogen, nicht auf die Gesellschaft und schon gar nicht auf die Natur. Das individuelle Recht auf Eigentum schloß das Recht auf Ausbeutung der Natur mit ein.

Schon Rousseau hatte gegen die liberalistische Einengung des Freiheitsbegriffes protestiert, die den einzelnen als einen Teil der Natur und einen Teil der Gesellschaft gesetzt hatte. Für Rousseau war Freiheit nur als Übereinstimmung mit sich selbst als Natur und mit der Gesellschaft denkbar. Freiheit gab es nur in der Gesellschaft — nicht gegen sie. Darin ist ihm Marx gefolgt und mit Marx die europäische Linke.

In seiner Kritik der französischen »Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte« von 1791 hat Marx deutlich gemacht, wie sehr der liberale Freiheitsbegriff vom Eigentumsbegriff her bestimmt worden ist und wie sehr er die Menschen voneinander entfremdet, anstatt sie miteinander zu verbinden:

»Das Menschenrecht des Privateigentums ist also das Recht, willkürlich, ohne Beziehung auf andere Menschen, unabhängig von der Gesellschaft, sein Vermögen zu genießen und über dasselbe zu disponieren, das Recht des Eigennutzes. Jene individuelle Freiheit, wie diese Nutzanwendung derselben, bilden die Grundlage der bürgerlichen Gesellschaft. Sie läßt jeden Menschen in dem anderen Menschen nicht die Verwirklichung, sondern vielmehr die Schranke seiner Freiheit finden ... Keines der sogenannten Menschenrechte geht also über den egoistischen Menschen hinaus, über den Menschen, wie er Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft, nämlich auf sich, auf sein Privatinteresse und seine Privatwillkür zurückgezogenes und vom Gemeinwesen abgesondertes Individuum ist. Weit entfernt, daß der Mensch in ihnen als Gattungswesen aufgefaßt wurde, erscheint vielmehr das Gattungsleben selbst, die Gesellschaft, als ein den Individuen äußerlicher Rahmen, als Beschränkung ihrer ursprünglichen Selbständigkeit.«

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  Die Utopie der Freiheit   

 

Dem bürgerlichen Menschenbild des isolierten Individuums setzt Marx den Menschen als Gattungswesen entgegen. Damit ist erstens gemeint, daß der Mensch im anderen Menschen nicht primär den anderen, sondern den Mitmenschen sieht, in dem er einen Teil des eigenen Wesens erfassen und verwirklichen kann. Zweitens versteht Marx darunter das Wesen des Menschen als einen Teil der Natur, mit natürlichen Bedürfnissen und natürlichen Fähigkeiten, diese zu befriedigen. Die Natur liefert aber die Mittel zur Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse nicht unmittelbar. Sie müssen durch die Arbeit erst umgewandelt, gleichsam menschlich gemacht werden. Im Prozeß der Geschichte wird so Natur zur menschlichen Natur. Wirkliche Freiheit heißt daher, die menschlichen Produktivkräfte so zu entwickeln, daß die Verwandlung der Natur in menschliche Natur gelingt. Wirkliche Freiheit heißt, die Gesellschaft so zu verändern, daß die Menschen einander nicht nur als Begrenzung, sondern auch als Versprechen, als Quelle von Glück erfahren.

In dem bürgerlich-liberalen Verständnis von Freiheit bedarf die individuelle Freiheit des einen der Sicherung gegen das andere Individuum und gegen die Gesellschaft. Dem stellt die Linke einen Freiheitsbegriff entgegen, der auf den Mitmenschen bezogen ist, der die individuelle Freiheit als Freiheit in der Gesellschaft meint. Ein Freiheitsverständnis, das sich gegen den Mitmenschen, gegen die Gesellschaft, gegen die Natur behaupten will, greift zu kurz.

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Freiheit kann es nur mit dem anderen, nur in der Gesellschaft, nur in Einklang mit der Natur geben. Der einzelne Mensch kann nur frei sein, wenn auch sein Mitmensch frei ist, wenn die Gesellschaft, in der er lebt, eine freie und solidarische Gesellschaft ist. In der Utopie der Freiheit sind Mensch, Gesellschaft und Natur vereint.

Ein solches Verständnis von Freiheit in der Gesellschaft hat die individuelle Freiheit, wie sie von der Aufklärung postuliert wurde, zur Voraussetzung. Freilich begnügt es sich nicht damit, sondern geht darüber hinaus, indem es die Solidarität und nicht das Eigentum als Kategorie der Freiheit bestimmt. In der Aufklärung wurde Freiheit als die Autonomie des vernunftfähigen Menschen definiert. Die Frage »Was ist Aufklärung?« beantwortete Kant mit jenen vielzitierten Sätzen: »Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen ... Zu dieser Aufklärung aber wird nichts erfordert als Freiheit

Im Freiheitsverständnis der Aufklärung waren Freiheit der Erkenntnis, Freiheit der Selbstbestimmung und Freiheit der Selbstverwirklichung einbegriffen. Dies ist, in kurzen Worten, die humane Verheißung der Moderne. Freiheit der Selbstbestimmung und Freiheit der Selbstverwirklichung aber setzen voraus, daß der Mensch nicht Objekt, sondern Subjekt der Politik ist, mehr noch, daß der Mensch nicht Objekt, sondern Subjekt der Geschichte ist. So gesehen ist die moderne politische Linke ein Kind der Aufklärung, war doch deren These, daß der Mensch Herr seiner Geschichte sei, für das theoretische Selbstverständnis der Linken wesentlich.

 

  Der Mensch macht seine Geschichte  

 

Vor der Französischen Revolution war es nicht denkbar, daß die Menschen planend und gestaltend an die Geschichte herangehen konnten — es gab noch kaum einen Begriff von »Geschichte«. Es gab nur Geschichten: Geschichten von Menschen, Familien und Institutionen, von Kriegen, von Städten, Staaten und Völkern — viele einzelne Geschichten.

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Der Zweck solcher Geschichten lag im Bedürfnis der Menschen, vergangene Ereignisse nachzuerzählen. Ihr Sinn war es, zu unterhalten und aus den Vorkommnissen der Vergangenheit allgemeine Lehren zu ziehen. Um die lenkende Hand Gottes zu veranschaulichen, ließ sich selbstverständlich auch die Universalgeschichte nacherzählen, die Gott bis dahin mit den Menschen veranstaltet hatte. Erst die Aufklärung setzte die Geschichte aus dem Plural in den Singular und erfand jenen Begriff »Geschichte«, der uns heute geläufig ist.

In einem Beitrag für den Westdeutschen Rundfunk wies der Historiker Reinhart Koselleck schon vor geraumer Zeit darauf hin, daß sich mit dieser Begriffsschöpfung der Aufklärung eine wesentliche inhaltliche Umdeutung dessen verband, was unter Geschichte verstanden wurde. Denn mit dem neuen Begriff wurde der Verzicht auf eine außergesellschaftliche Instanz besiegelt: »Um Geschichte überhaupt zu erfahren oder zu erkennen, bedurfte es nicht mehr des Rückgriffs auf Gott oder die Natur«, so Koselleck.

Dieser Geist der Aufklärung hatte sich gegen Ende des 18. Jahrhunderts auch in den Wissenschaften weitgehend durchgesetzt. Napoleon soll den großen Mathematiker Laplace einmal gefragt haben, warum Gott in seiner Theorie nicht ein einziges Mal vorkomme. »Sire, ich hatte diese Hypothese nicht nötig«, soll Laplace geantwortet haben. Seine Antwort war weder eine Lästerung noch eine Verneinung Gottes. Aus ihr sprach lediglich das neue Vertrauen auf die natürliche Ordnung der Dinge im Universum und die Gewißheit, daß die naturwissenschaftliche Erkenntnis dieser Ordnung der theologischen Rechtfertigung nicht bedarf. Im Prinzip nicht anders wurde nun auch die Geschichte definiert.

Der neue Geschichtsbegriff war die Voraussetzung für das Entstehen der modernen politischen Linken. Denn die Geschichte konnte von den Menschen überhaupt erst als machbar gedacht werden, nachdem sie aus dem Plural in einen singulären Leitbegriff verselbständigt worden war: Als von sich selber gemacht kann man ja wohl nur die eigene Geschichte, nicht aber die vielen Geschichten der anderen denken.

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Der Übergang von den Geschichten im Plural zu der einen Geschichte im Singular kündigt mithin von einem neuen menschlichen Selbstbewußtsein und einem neuen Erwartungshorizont: Durch das Handeln der Menschen ist die Gesellschaft geworden, wie sie ist; daher kann sie auch durch menschliches Handeln verändert werden.

Die Vorstellung vom Menschen als dem Subjekt seiner Geschichte gehört zur Utopie der Freiheit. Vor allem in seinem »Machen«, in seinem Tätigwerden erfährt ja der Mensch seine Freiheit, realisiert er seine Verantwortung. Den Menschen als Subjekt der Geschichte verstehen heißt zugleich die Freiheit des Individuums in der Gesellschaft bejahen und die Frage nach seiner freien Tätigkeit stellen, die Frage auch nach dem bewußten, vernünftigen Plan des menschlichen Handelns, also die Frage nach der menschlichen Verantwortung. Freie und selbstverantwortliche Tätigkeit ist das Lebensmerkmal des Subjekts. Wenn aber die Geschichte machbar ist und von Menschen gemacht wird, wenn zudem der Mensch in seiner Tätigkeit frei ist, dann ist er auch fähig, sein künftiges Schicksal bewußt zu planen. Dies war die logische politische Konsequenz, die die Linke aus den Theorien der Aufklärung gezogen hat.

Doch wer für sich die Freiheit beansprucht, die vorhandene Gesellschaft systematisch nach einem anderen Gesellschaftsplan zu verändern, der muß nach den Bedingungen und Grenzen des Machbaren fragen. Marx hat auf diese Frage im »18. Brumaire des Louis Bonaparte« die berühmt gewordene Antwort gegeben:

»Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen. Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf den Gehirnen der Lebenden.«

Mit dem letzten Satz wollte Marx sagen, daß die überkommenen Denkstrukturen den geistigen Fortschritt fesseln können, daß die »Geister der Vergangenheit« die Menschen behindern, die etwas schaffen wollen, was noch nicht dagewesen ist.

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War der von Marx beschriebene Alp noch überwiegend geistiger Natur, so sind wir gegenwärtig dabei, ihm für die zukünftigen Generationen eine völlig andere und ungleich gefährlichere Qualität zu verleihen. Nicht so sehr der Geist aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf der Freiheit der Lebenden, sondern ihre Produktion — so wird es in Zukunft heißen müssen, wenn wir nicht »aufgeklärter« produzieren. So wie Camus uns vor der moralischen Überforderung des Menschen warnte, so stehen wir heute vor der Aufgabe, die Überforderung des Menschen durch seine Produkte zu verhindern, die immer auch eine moralische ist. Wir stellen zwar auch Theorien auf, wir stellen aber vor allem Materialien her, die die nachfolgenden Generationen als ein wahrer Alptraum bedrohen.

Plutonium zum Beispiel strahlt fünfhunderttausend Jahre. Es legt die Menschen auf diesen Zeitraum fest, nimmt ihnen die Freiheit, sich jemals wieder gegen die Plutonium-Technologie entscheiden zu können. Ähnlich verhält es sich mit der Belastung der Atmosphäre durch Treibgas und CO2. Niemand kann abschätzen, in welchem Umfang dadurch die Lebensbedingungen zukünftiger Generationen beeinträchtigt werden. Wenn der Mensch das Subjekt seiner Geschichte bleiben will, muß er seine Entscheidungsfreiheit bewahren, muß er einmal getroffene Entscheidungen zurücknehmen können. Jene »Geister der Vergangenheit«, die Marx beschwor, konnten von den Menschen immer wieder gebannt werden. Der Ungeist des Plutoniums aber wird sie fünfhundert­tausend Jahre lang bedrohen. Ein alter Psalm sagt: »Unser Leben währet siebzig Jahre, und wenn's hoch kommt, so sind's achtzig Jahre...« Achtzig Jahre sind ein menschliches Maß, fünfhunderttausend Jahre ein Unmaß.

 

   Fortschritt in den Grenzen der Freiheit  

 

Der Mensch bleibt nur dann Herr seiner Geschichte, wenn er seine Produkte bestimmt und nicht seine Produkte ihn bestimmen. Da wir jedoch heute durchaus in der Lage sind, Produkte herzustellen, durch die das Leben der Menschen auf unabsehbare Zeit festgelegt wird, gilt der Grundsatz der Aufklärung, daß die Menschen ihre eigene Geschichte machen, nur so lange, wie sie nicht alles machen, was machbar erscheint.

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Der technische Fortschritt ist an die Grenzen der Freiheit gestoßen. Wo wir sie überschreiten, droht uns neue Ohnmacht. Der weitere Fortschritt muß sich also innerhalb dieser Grenzen entfalten. Das Fortschrittsverständnis der Aufklärung wußte von solchen Grenzen noch nichts. Die Aufklärung vertraute auf die Vernunft des Menschen. Sie konnte in ihrer Vorstellung nichts anderes als das Glück der Individuen wollen, da der autonome Gebrauch der Vernunft die Freiheit des Menschen begründet.

Die Aufklärer haben nicht damit gerechnet, daß die Vernunft auch instrumentell verkürzt werden kann, indem sie nur noch die Mittel zu perfektionieren trachtet, jedoch nicht mehr fragt, ob auch die entsprechenden Zwecke vernünftig sind. Statt dem größtmöglichen Glück aller zu dienen, konnte eine derart verkürzte Vernunft zum Werkzeug von partikularen Interessen werden. Mit anderen Worten: Ihr Gebrauch war nicht mehr daran gebunden, die natürlichen, sozialen und ethischen Folgen zum Regulativ zu machen. So konnte die solcherart verkürzte Vernunft das Wirtschaftswachstum und die technologische Entwicklung bis zu dem Punkt treiben, wo ihr Segen in Unheil umschlägt.

Nun kann aber die Linke nicht deshalb den Fortschrittsgedanken aufgeben, weil der instrumentelle Gebrauch der Vernunft auch ihn verkürzte. Heute kommt es vielmehr darauf an, die Aufklärung um ihres humanen Gehalts willen fortzuführen und in einer Kritik der instrumentellen Vernunft deren Gebrauch wieder unter die Kontrolle ethisch verantwortbarer Maßstäbe zu stellen.

Das erläuterte Politikmodell der Linken erweist sich daher in der heutigen Zeit als geeignet, die Steuerungs­probleme der Industriegesellschaft anzugehen. Es setzt nicht auf den autoritären Obrigkeitsstaat, sondern auf die Demokratisierung der Verantwortung und auf diskursive Lernprozesse. Es fußt trotz der atomaren Bedrohung auf dem Glauben an die Machbarkeit der Geschichte. Es verheißt nicht Erlösung, sondern Emanzipation.

Freiheit ist nicht gegeneinander, sondern nur miteinander erlebbar. Eine immer komplexere Gesellschaft schafft ihre Integration über Mitmenschlichkeit und Solidarität, nicht über Abgrenzung und Überbetonung des sich selbst genügenden Individuums. Ein solches normatives System begründet die Hoffnung, der Technikgesellschaft der Zukunft ein menschliches Antlitz zu geben.

Der einseitig technologische und wirtschaftliche Fortschritt war nicht fortschrittlich genug, nicht »aufgeklärt« genug, weil er die ökologischen und menschlichen Folgen außer acht ließ. Wahrer, unverkürzter Fortschritt ist und bleibt Fortschritt zu mehr Menschlichkeit, zu mehr Solidarität, zu mehr Freiheit.

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detopia.de    Zitatnachweis      ^^^^

Oskar Lafontaine - Die Gesellschaft der Zukunft. Reformpolitik in einer veränderten Welt - 1988 - 230 Seiten