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15  Depression und Hoffnung

Keen-1992

 

256-283

Wären Depressionen und melancholische Gefühle so selten wie Tuberkulose, so könnte man abschließend Überlegungen darüber anstellen, wie sich die Psyche des einzelnen heilen ließe.

Noch vor zehn Jahren benutzten 32 Prozent der Frauen und 16 Prozent der Männer in den <besten Jahren>*  ver­schreib­ungs­pflichtige Medikamente zur <Stimmungs­aufhellung>. (* im Alter zwischen 30 und 44 — Statistik des <National Institute for Mental Health>) 

Zwischen 9,3 und 10 Millionen Erwachsene und 3,3 Millionen Jugendliche wurden außerdem vom Ministerium für Gesundheit als alkoholgefährdet eingestuft. Der jüngste explosionsartige Anstieg der Anti-Drogen- und Anti-Alkohol-Programme bestärkt mich in der Vermutung, daß alle Formen der Sucht in den neunziger Jahren verbreiteter sein werden, als sie es in den achtziger Jahren waren.

Wir haben es also mit mehr als nur einer psychologischen Fehlanpassung des einzelnen zu tun.

Um die Ursachen und Heilungsmöglichkeiten für unsere Krankheit zu erkennen, müssen wir über die psycho­log­ische Betrachtungs­weise hinausgehen und uns der politischen Dimension der Langeweile zuwenden. Die These, die ich in diesem Kapitel vertrete, ist unorthodox und umstritten: Demnach sind die zunehmenden Lange­weile­erfahrungen und Depressionen eher ein Symptom für das Scheitern der Gesellschaft als für das Versagen des einzelnen.

Wer sich langweilt und depressiv reagiert, ist möglicherweise den »normalen« Amerikanern überlegen, nicht unterlegen, die in dieser Zeit der gesellschaft­lichen Krise weiterleben, als wäre nichts geschehen. Es sind gerade die Sensibelsten, die unter der Mechanisierung, Standardisierung, Militarisierung, Bürokratisierung und Urbanisierung des modernen Lebens — unserem kulturellen Unbehagen — leiden. Es gibt vieles im Amerika von heute (und in Europa, der Sowjetunion und China), das deprimierend ist. Unsere geheimen Gefühle der Melancholie drohen, die Beziehungen, Gemeinschaften, Institutionen sowie das ökologische Gleichgewicht zu zerstören, ohne die wir auf diesem Planeten nicht überleben können. Wir sind depressiv, weil wir immer tiefer in einen Zustand der Hilflosigkeit geraten.

Auf welche Weise führt nun unsere Kultur zu Depressionen? Welche Veränderungen müssen wir herbei­führen, um die Traurigkeit aus unserem Staatskörper zu vertreiben? 

Natürlich erfordern diese Fragen Antworten, die zu groß sind, als daß man sie in einem Buchkapitel abhandeln könnte. Doch betrachten wir die Gesellschaft Nordamerikas anhand von vier Punkten (Frauen, Arbeit, Fernsehen, Krieg), um einige Probleme und Chancen klarer fassen zu können.

 

  Die Weisheit der Frauen 

Hören wir zunächst, was die Frauen zu sagen haben. Wenn sich eine Lehre aus dem Gefühl der Depression ziehen läßt, so diese: Viel dürfte davon abhängen, wie eng wir mit der weiblichen Sensibilität in uns in Kontakt kommen.

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Laut Maggie Scarfs Aufsatz sind die Frauen Nordamerikas »The More Sorrowful Sex«1) — das traurigere Geschlecht. Zwischen zwei- bis sechsmal so viele Frauen wie Männer leiden dieser Diagnose zufolge unter Depressionen. Siebzig Prozent aller Psychopharmaka werden von Frauen eingenommen. Warum? Frauen gehen häufiger als Männer zum Arzt, und die meisten Ärzte sind Männer. Es besteht die Neigung, Frauen, die unglücklich und enttäuscht vom Leben sind, als »depressiv« zu bezeichnen und sich des Problems zu entledigen, indem man ihnen Medikamente verschreibt. Da »85 Prozent derjenigen Personen, die Psycho­pharmaka einnehmen, berichten, sie hätten noch nie die Hilfe eines Psychiaters in Anspruch genommen« (Scarf), ist klar, daß die Diagnose »Depression« und die implizite Deutung ihres Sinns in der Praxis des Allgemein­mediziners gestellt wird.

Eine Frau kommt in die Sprechstunde ihres Hausarztes und klagt über unklare Beschwerden. Aber er findet keine organischen Schäden. Er denkt (ohne den Nutzen einer psychologischen Ausbildung oder philosoph­ischer Reflexionen über den Sinn der Melancholie), die Frau leidet unter Depressionen — und er verschreibt das einzige ihm bekannte Rezept: Tabletten. Und so werden die Beschwerden als Folge einer fehlgeschlagenen Anpassung eingestuft, die innere Erregung der Frau wird künstlich stillgestellt, und man macht ihr Hoffnungen in Form einer Zauberpille, die die »Stimmung« aufhellt. Das Indigo der sich verdüsternden Stimmung verschwindet, und durch Librium erscheint das Leben schon bald wieder in rosaroten Tönen (die Farbe für kleine Mädchen).

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Frauen neigen Maggie Scarfs Auffassung zufolge stärker zu Depressionen als Männer, weil man sie dazu erzogen hat, sich stets der Zuneigung anderer Menschen zu versichern. Darauf lasse sich indes kein unabhängiges Selbstwertgefühl aufbauen: »Frauen räumen dem Streben, anderen zu gefallen, den höchsten Rang im Leben ein. Sie wollen für andere attraktiv sein, möchten umsorgt sein und für andere sorgen ...«

Frauen werden mit aller Macht in eine Richtung gedrängt, die von der Frage: »Was will ich?« wegführt, hin zur Frage: »Was wünschen oder brauchen die anderen von mir?« Daraus ergibt sich, daß »die normal weibliche, normal abhängige Frau möglicherweise ihre Innenwelt als entleert von allem erlebt, was ihr gut erscheint und ihrem Leben Sinn verleiht«, sobald eine wichtige Beziehung scheitert und eine Zeit zwischen­menschlicher Dürre anbricht. Die depressive Frau hat etwas verloren, von dem sie vital abhängig ist — das Band der Liebe.

Aus diesem Bild der Depression der Frau von heute zweigen zwei - nichtchemische - Wege der Hoffnung ab. Der erste Weg führt zu größerer Macht, Individuation und Befreiung.

Viele Frauen haben sich aus alten Rollen befreit. Die Frauenbewegung hat den Frauen geholfen, ihre Hilflosig­keit und Abhängigkeit abzulegen, ihre Aggressivität zu beherrschen und einen gerechten Anteil am ökonomischen und politischen Kuchen zu fordern. Viele haben Henry Higgins Frage aus <Pygmalion>: »Wieso ähnelt eine Frau eigentlich nicht mehr einem Mann?« durch den Nachweis beantwortet, daß sie genausogut konkurrieren, erobern und befehlen können wie die besten unter den Männern. Die Frauen haben sich in die einst den Männern vorbehaltenen Rollen hineingedrängt. Dadurch sind sie in den Genuß der Privilegien der Macht und — in gleichem Maße — der seelischen und körperlichen Belastungen gekommen.

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Der zweite Weg ist radikaler, und es gibt ihn nur als zukünftige Möglichkeit: Nicht die Frauen müssen sich ändern, sondern die gesellschaftliche Kultur: Alles, was herkömmlich als das weibliche Element gilt, muß die volle Gleichberechtigung erhalten. Diese radikale Alternative beruht auf einer Deutung des psychischen Leidens und der Melancholie, die heute von der überwiegenden Mehrheit der Frauen geteilt wird.

Gehen wir einen Augenblick davon aus, es gäbe tatsächlich eine besondere weibliche Sicht- und Lebens­weise. Zwar verfügen auch einige Männer über diese Sensibilität, und einige Frauen nicht, aber die Vertreter der weiblichen Sichtweise sind in unserer Kultur immer noch überwiegend die Frauen. Nehmen wir weiter an, diese Lebensform erführe in unserer von Männern dominierten, technologischen, linkshirn­orientierten, rationalistischen, aktivistischen Konkurrenz­gesellschaft nicht ausreichend Gerechtigkeit. Und unterstellen wir schließlich, die Depressiven unter uns verfügten über prophetische Gaben und seien gar nicht krank.

Depressive Frauen könnten deshalb traurig sein, weil sie in einer tiefen, intuitiven Schicht ihrer Psyche begreifen, daß wir Gefahr laufen, die Einstellungen, Gefühle, Wertvorstellungen und Verhaltensweisen einzubüßen, ohne die menschliches Leben nicht überleben kann. Vielleicht ist der Schmerz der Frauen hellsichtig, zutreffend, wahr!

Die Neurotischsten unter uns sind vielleicht jene, die nicht niedergeschlagen reagieren, wenn das Band der Liebe zu zerreißen droht, die sich nicht verhärten und sich »durchschlagen«, ohne daß sie sich um andere sorgen oder daß man sie umsorgt.

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Es gibt eine fast vergessene Tradition, derzufolge das Leiden das Tor zum wirklichen Menschsein darstellt. Im Judentum wie im Christentum war der Erlöser — der uns in eine neue Wirklichkeit führen sollte — ein »Mann des Leidens und vertraut mit tiefem Kummer«. Tiefer Kummer verrät dem Bewußtsein, daß etwas, das wir lieben und wertschätzen, gefährdet, vielleicht sogar schon gestorben ist. Nur durch Trauer über das Vergangene können wir aus der Depression hinausgehen und eine neue Zukunft schaffen.

Vermutlich ist die epidemieartige Verbreitung depressiver Erkrankungen unter Frauen ein Signal aus der Tiefe unseres kollektiven Erbgutes, das zeigt, daß wir in Schwierigkeiten sind. Die heute grassierende Melancholie kann ein heilsames Unbehagen sein, eine Wunde, die uns zwingt, die eingefahrenen Bahnen unseres individuellen und politischen Lebens zu verlassen.

Was rät uns nun die Stimme der Frauen? Was sind die Wörter, die mit den traurigen Gefühlen einhergehen?

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Die Familie, die Gemeinschaft und das Land sind die Wiege der Hoffnung. Kinder sind die fleisch­geword­ene Hoffnung, unsere lebendige Zukunft.

Das weibliche Bewußtsein hat seinen Mittelpunkt im Bewußtsein der Wichtigkeit zwischenmenschlicher Beziehungen. Wie Forschungen im Bereich der Biologie, Physik und Ökologie zeigen, ist alle Realität Beziehung. Offenbar halten Frauen hartnäckig an dieser Tatsache fest. Im tiefsten Inneren hat sich die weibliche Psyche dem modernen Experiment des Individualismus verweigert, dessen Ethik etwa lautet: »Ich mach meine Sache, du machst deine Sache, und wenn wir uns dabei treffen, okay, wenn nicht, find' ich's schade.« 

Sie hat nie geglaubt, daß jeder nur für sich sorgen soll. Nie hat sie geglaubt, daß das Abstrakte wichtiger sei als das Konkrete, der Marktplatz wertvoller als der heimische Herd, man sich eher mit dem Femen als mit dem Nahen verbünden sollte. Nie ist sie der Illusion verfallen, es gehe im Leben um die Anhäufung von Macht.

Wenn die Frauen ein genetisch verankertes Bedürfnis haben, Beziehungen herzustellen, sich um andere Menschen zu kümmern, das Band der Familie und der Gemeinschaft zu nähren — wie sollen sie da über die heutigen gesellschaftlichen Verhältnisse keinen Schmerz, keine Mutlosigkeit spüren? Der Verfall der Familie und der Gemeinschaft, die globale Umweltverschmutzung und die drohenden Schrecken des Krieges rauben uns den Glauben, wir hätten noch eine Zukunft. Soziologen diagnostizieren heute eine große Verbreitung von Zuständen der Entfremdung, der Angst und der Anomie. Unser Leben wird immer schneller, bestimmt von Zuständen des »High«-seins und großer Anonymität. Wir sind gut genährt, aber einsam, lassen uns unterhalten, aber langweilen uns, haben häufig Sex, werden aber kaum einmal richtig geliebt.

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Der melancholische Ruf der Frauen fordert uns auf, andere Prioritäten zu setzen, unsere Volkswirtschaften und unsere politischen Strategien neu zu ordnen, Konkurrenz und Individualismus hinter uns zu lassen und eine fürsorglichere Gesellschaftspolitik zu betreiben. Er fordert uns auf, die Verbindungen mit der Erde zu ehren, die Intimität zu feiern, ohne die wir verhärten, die Familie wertzuschätzen, die das Nest der Freiheit bildet, für Gemeinschaften zu arbeiten, in denen Kooperation und Teilen groß­geschrieben wird. Meist schenken wir der Weisheit der Frauen keine Beachtung, weil dies tiefgreifende Umwälzungen in der Gesellschaft erforderlich machen würde. Die gegenwärtige Krise entspringt der wachsenden Erkenntnis, daß wir uns ändern müssen oder aber sterben werden. Vielleicht sind wir ja schon derart verzweifelt, daß wir der sanften Weisheit zuhören, die wir zu lange zum Schweigen gebracht haben.

Es ist ein Zeichen der Hoffnung, daß die Männer nun endlich aus ihren patriarchalischen Träumen erwachen und sich auf ihre Gefühle und Intuitionen besinnen. Die aufkeimende Männerbewegung schickt Tausende auf die Abenteuerfahrt ins eigene Innere, wo sie die spirituellen Werte entdecken, die die Frauen nie ganz preisgegeben haben. Wir sind offenbar eine Generation von Sexisten die sich langsam befreien. Es ist an der Zeit, daß wir unseren Gefühlen trauen und unseren Schmerz achten. Vielleicht sollten wir unsere Aufputschtabletten und Beruhigungsmittel wegwerfen und beginnen, uns selbst, unsere Beziehungen, unsere Familien und unsere Gemeinschaften zu ändern.

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   Arbeiten wofür?  

 

Haben auch Sie manchmal Lust, laut zu schreien, weil Ihre Arbeit so ungeheuer monoton ist? Arbeit ist ein Paradox. Wir arbeiten, und dennoch beklagen wir uns, wir seien in unseren Jobs gefangen. Nur 28 Prozent von uns würden weiterarbeiten, weil sie Spaß an der Arbeit haben.

Warum arbeiten wir? — Wenn wir nicht arbeiten, haben wir nichts zu essen. Die meisten Menschen ertragen ihre Arbeit, weil sie keine Alternative haben. In unserer von Technik geprägten Kultur sind die meisten Menschen durch die Forderungen der Industrie zur Langeweile verdammt. Die wirtschaftliche Ordnung beruht auf Routine, Standardisierung, Regelmäßigkeit, Quantifizierung sowie auf der großen arbeitenden Klasse, deren Arbeit sich auf monotone Verrichtungen beschränkt. Monotonie ist nur ein anderer Ausdruck für Effizienz.

Gesellschaftlicher Reichtum beruht auf Massenproduktion und dem Verkauf von Waren. Da das Kapital vorwiegend in Maschinen investiert wird, die nicht stillstehen dürfen, müssen die Menschen dazu gebracht werden, ihr Leben so einzurichten, daß es mit den Bedürfnissen der Maschinen übereinstimmt. Die Menschen müssen so zurechtgestutzt werden, daß sie zu der Arbeit passen, nicht umgekehrt. In der von der Ökonomie beherrschten Gesellschaft regiert die Uhr. Der körpereigene Rhythmus geht zum Teufel. Ob man nun bereit ist oder nicht — um acht Uhr morgens trifft man bei der Arbeit ein, um zwölf Uhr ist Mittags­pause, und um vier Uhr hört man wieder auf.

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Mannhaft oder »frauhaft« tragen wir unsere Verantwortung, investieren wir unsere frischesten Kräfte in die Arbeit und ertragen die unvermeidliche Langeweile. Es geht nicht anders. Jedenfalls glauben wir das.

Blicken wir tiefer, so finden wir viele andere Motive, die uns zum Arbeiten veranlassen. In einer Umfrage der Zeitschrift <Psychology Today> gaben jene Personen, die sagten, sie würden weiterhin arbeiten, auch wenn keine finanzielle Notwendigkeit dazu bestehe, die folgenden Gründe an:2)

 

 

Männer

Frauen

Ich habe Spaß an meiner Arbeit. 

29,0 %

28,6 %

Aus der Arbeit beziehe ich den Großteil meiner Identität. 

25,8 %

27,5 %

Die Arbeit sorgt dafür, daß ich mich nicht langweile.

17,4 %

18,2 %

Meine Arbeit ist für andere wichtig und wertvoll. 

13,9 %

10,8 %

Ich bin gern mit meinen Kollegen/innen zusammen. 

5,3 %

8,1 %

Ich hätte ein schlechtes Gewissen, wenn ich durch meine
Arbeit keinen Beitrag zum Wohle der Gesellschaft leistete.

4,4 %

3,4 %

Ich arbeite aus Gewohnheit weiter.

4,2 %

3,4 %

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Die Mischung der Motive, die sich in dieser Umfrage spiegelt, zeigt, daß wir nicht nur berufstätig sind, weil wir unseren Lebens­unterhalt verdienen müssen, sondern weil wir auch andere Werte mit unserer Arbeit verbinden — Kreativität, Identität, Engagement, Dienst am anderen, das Gefühl der Zusammengehörigkeit. Wie der Mann, der das Spanferkel erfand, als sein Haus niederbrannte, und weiterhin der kostspieligen Gewohnheit der Brandstiftung frönte, um geröstetes Schweinefleisch essen zu können, so erdulden auch wir die Langeweile, weil wir gern Arbeit haben.

So wie Frauen traditionellerweise ihre Identität in Beziehungen fanden, so fanden die Männer die ihre in der Arbeit. Die Frage, die ein Mann als erstes dem Gegenüber stellt, lautet: »Und was machen Sie beruflich?« Wir erwarten von der Arbeit mehr als nur ein geregeltes Einkommen, das uns den Lebensunterhalt sichert. Wir sehnen uns nach Sinn und dem Gefühl, daß wir anderen dienen und Wertvolles schaffen.

Hier liegt das ausweglose Dilemma der heutigen Arbeit: Nach wie vor soll die Arbeit unserem Leben Sinn verleihen, und doch werden die Arbeitsplätze systematisch durch die Erfordernisse der zunehmenden Mechanisierung, der Urbanisierung und der Bürokratie trivialisiert. Eine Gesellschaft, die sich der Produktion und Konsumption verschreibt, stellt her, was Gewinn abwirft, nicht was sinnvoll ist.

Insgeheim stellen wir so große Forderungen an die Arbeit, daß es uns schwerfällt, mit der Abwesenheit von Arbeit (=Freizeit) fertigzuwerden. Wir meinen, wir wünschten uns ein geruhsames Leben, aber zuviel freie Zeit empfinden wir als eine größere Belastung als zuwenig freie Zeit. Wir investieren so viel Identität und Hoffnung in die Arbeit (ungeachtet der Befriedigung, die sie uns wirklich schenkt), daß wir kaum wissen, was wir machen sollen, wenn man uns die Arbeit nimmt.

266


Während McCarthy-Ära weigerte sich ein berühmter Filmregisseur zunächst, vor dem »Untersuchungs­aus­schuß für unamerikanische Aktivitäten« auszusagen. Daraufhin setzte man ihn auf die »schwarze Liste«, und er erhielt Berufsverbot. Schließlich gab er dem Druck nach und sagte aus, weil er in der Zeit der Arbeits­losig­keit unter Impotenz litt. Die Verbindung von Arbeitsplatz, Status und Männlichkeit ist so weit verbreitet, daß viele Männer bald nach der Pensionierung sterben. Keine Arbeit zu haben heißt, seine Identität zu verlieren. Über Freizeit zu verfügen, stellt eine Bedrohung dar.

Zwei Wege führen aus diesem Dilemma.

Zum einen könnten wir Arbeit und Berufung trennen. Man kann die Erwartung aufgeben, unsere Arbeit könne schöpferisch oder sinnvoll sein, und sich damit begnügen, alles zu tun, damit man wenigstens genug Geld zum Leben hat. Der Job brächte das Geld ins Haus. Den Beruf, die Aktivitäten, in denen man Sinn findet, Identität, Gemeinschaftlichkeit und seine schöpferischen Triebe könnte man dazu verwenden, um ein Haus zu bauen, ein Kunstwerk zu schaffen, eine Beziehung einzugehen oder sich ein Hobby zuzulegen. Wir könnten die Arbeitszeit der Profitmaschine opfern und uns in der Freizeit dem Streben nach Sinn widmen.

Andererseits könnten wir fordern, daß die Firma, das Ladengeschäft, das Kaufhaus, die Farm, die Gewerk­schaft, das Büro, in dem wir arbeiten, uns allmählich auf sinnvollere Weise beschäftigt. Wir könnten fordern, daß ein Auto sicher, langlebig und sparsam im Verbrauch zu sein habe; daß Rechtsanwalts­kanzleien mehr der Gerechtigkeit dienen als dem Recht; daß in Schulen mehr erzogen als nur unterrichtet wird; daß jeder Arbeitsplatz auf irgendeine Weise die Möglichkeit bereitstellt, dem öffentlichen Wohl zu dienen, und nicht nur auf privaten Gewinn ausgerichtet ist.

267


Kein Arbeitsplatz kann oder sollte Sie voll und ganz in Anspruch nehmen — weder emotional, geistig noch seelisch — und Ihre Identität ganz und gar bestimmen. Die Frage, die Sie beantworten müssen, lautet: Wieviel Sinn und Befriedigung im Leben erwarten Sie von der Berufstätigkeit? Wieviel von Freunden? Der Familie? Dem politischen Engagement? Der Freizeit und dem Spielen?

Wenn Sie wollen, daß die Arbeit einen Großteil Ihrer Berufung zum Ausdruck bringt und Ihnen Raum gibt, ein wenig von Ihren schöpferischen, moralischen und politischen Impulsen umzusetzen, können Sie rasch in Schwierigkeiten geraten. Die Machtstruktur in jeder Gesellschaft besteht aus einer Gruppe von Menschen, die über die Macht verfügen, den anderen Langeweile aufzuzwingen.

In <Humboldts Vermächtnis> vertritt Saul Bellow die These: »Die Kombination von Macht und Langeweile ist niemals angemessen untersucht worden. Langeweile ist ein Werkzeug der sozialen Kontrolle. Macht ist die Macht, Langeweile zu verhängen, Stillstand zu befehlen ...«

Sind Sie in einem Job gefangen, bei dem die Arbeitszeit nicht mit Ihrem Körperrhythmus übereinstimmt und die Arbeits­platz­beschreibung keinen Gebrauch von Ihrer Kreativität macht? Wenn Sie sich die Arbeits­beding­ungen genau ansehen, können Sie herausfinden, über wie viel oder wie wenig Macht Sie verfügen. Bestehen Sie auf Ihrem Recht auf interessante, sinnvolle Beschäftigung, und Sie gehen das Risiko ein, Ihren Arbeitgeber zum radikalen Umdenken zu bewegen oder sich selbständig machen zu müssen.

268


Aufgrund der Arbeitsteilung in industriellen Gesellschaften erhebt sich allerdings eine grundsätzliche Frage: Verdammt die Spezialisierung uns alle zur Langeweile? Heute gibt es immer mehr Spezialisten und Experten, die immer mehr über immer weniger wissen. Ärzte (deren Fachgebiete wiederum in Proktologie, innere Medizin, Dermatologie usw. untergliedert sind), kümmern sich um unseren Körper; Psychiater stellen unsere Psyche richtig ein; und der Pfarrer kümmert sich um das, was von der Seele übrigbleibt. Berufspolitiker regieren uns. Rechtsanwälte knebeln uns jedesmal mit Verträgen, wenn wir heiraten, uns scheiden lassen oder ein Grundstück oder Haus kaufen. Agro-Geschäftsleute produzieren unsere Lebensmittel.

Die Spezialisierung hat zu einer komplexen Gesellschaft geführt, in der die Begabungen und Interessen des einzelnen wenig Raum haben, sich auszudrücken. Jeder Individualismus führt unweigerlich zur Arbeitsteilung. Und wer will bestreiten, daß die Welt reicher geworden ist, weil Picasso die Freiheit genoß, sein Leben der Kunst zu widmen, und Einstein seins der reinen Mathematik? Was aber ist der Preis der Überspezialisierung?

Im vorigen Jahr saß ich in einem kleinen mexikanischen Dorf und sah zu, wie die Bauern auf den Markt kamen. An nordamerikanischen Maßstäben gemessen, waren sie alle arm. Aber während ich ihre Gesichter betrachtete — stark und schön, durchzogen von Falten, die von Jahren der Mühsal und der Arbeit kündeten —, fragte ich mich, ob diese Menschen wohl freier waren als die Amerikaner der Mittelschicht. Jeder von ihnen verfügte über das Ur-Wissen, wie man überlebte. Sie waren imstande, Nahrungsmittel anzubauen, die Kranken zu verarzten, eigenhändig ihre Häuser zu bauen.

269


Je verfeinerter unsere Kultur wird, desto weniger Kenntnis hat der durchschnittliche Bürger, wie er sich selbst versorgen kann. Wir verdienen Geld und bezahlen Fachleute, um unsere Kinder zur Welt zu bringen, unsere Kleidung herzustellen, unsere Lieder zu komponieren, unsere Spiele zu spielen. Der Sex zählt zu den wenigen verbliebenen Aktivitäten, denen man nicht berufsmäßig nachgeht.

In der Sphäre der Spezialisierung sind wir beschränkt auf eine begrenzte Skala von Fertigkeiten und Freuden. Es kann aufregend sein, ein versierter Gehirnchirurg zu werden, aber wie steht es mit dem Menschen, der gezwungen ist, sein ganzes Leben Versicherungsanträge zu bearbeiten? Die Spezialisierung auf Routinearbeiten erzeugt ein gewisses Maß an Monotonie — und Angst. Wendell Berry sieht in der Arbeitsteilung die wesentliche Krankheit des modernen Menschen. Der Durchschnitts­amerikaner, schreibt er, habe die Fähigkeit zur Selbstversorgung eingebüßt — mit einer Ausnahme: Geld.

Von Morgens bis abends berührt er nichts, was er selbst hergestellt hat und auf das er stolz sein kann ... Der durchschnittliche Bürger ist ängstlich, weil er es sein soll ... weil er hilflos ist. Daß er von so vielen Spezialisten abhängig ist, der Nutznießer von so viel Hilfe durch die Experten, kann nur bedeuten — er ist ein Gefangener, ein potentielles Opfer. Wenn er sich des Sachverstandes so vieler anderer Menschen bedient, dann lebt er auch mit ihrer Duldung ... Er besitzt eine Chance, das zu verwirklichen, was er sich im Leben wünscht: selber eine unbedeutende, kleine Spezialität in dem instabilen, spannungsgeladenen, überall brüchigen Gefüge von Spezialgebieten zu entwickeln.3)

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Die Arbeitsteilung beherrscht unsere Gesellschaft in solch großem Maße, daß man sich kaum vorstellen kann, was geschähe, wenn wir unser Leben der Kontrolle durch Experten entrissen. Man kann sich aber leicht vorstellen, daß wir reicher und sicherer wären, wenn unsere Erziehung und Ausbildung einschlösse, während einer Saison Getreide zu säen, die Grundlagen der Gesund­heitsfürsorge zu erlernen, damit wir unsere Kinder zur Welt bringen und uns um unsere Sterbenden kümmern könnten, ein Haus zu bauen, ein Auto zu reparieren, vor Gericht ein Plädoyer zu halten, zu musizieren, eine Geschichte zu verfassen, einem Kind etwas zu lehren, einen Computer zu programmieren.

Es ist interessant, sich auszumalen, was geschähe, wenn die Gewerkschaften die Forderung nach sinnvollerer Arbeit stellten. Was wäre, wenn wir auf dem Recht bestünden, etwas Sinnvolles zu schaffen, einen Beitrag für die Allgemeinheit zu leisten, anderen zu dienen, eine Arbeit zu tun, auf die man stolz sein kann? Was würde geschehen, wenn die tiefen Wünsche, die sich in der Melancholie und der Langeweile der Frauen verbergen, als Forderungen auftauchten, unsere wirtschaftlichen und politischen Prioritäten zu ändern?

 

   Medien contra Einbildungskraft  

 

Macht uns das Fernsehen zu einer Nation von Voyeuren, die es erregend finden, anderen Menschen beim Handeln zuzuschauen? Es mehren sich die Indizien, daß das Fernsehen zu den wichtigsten Produzenten unserer Passivität zählt, ein Sedativ der Einbildungs­kraft und ein Zerstörer der Leidenschaft ist, mithin eine gefährliche Droge.

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»Die Mehrheit der erwachsenen Bevölkerung in den Vereinigten Staaten verbringt derzeit über die Hälfte der Zeit, in der sie wach sind und nicht arbeiten, vor dem Fernsehapparat. Im typischen Fall sieht das Vorschulkind pro Woche vierundfünfzig Stunden fern; 99 Prozent der US-amerikan­ischen Haushalte besitzen ein Fernsehgerät, das durchschnittlich 6½ Stunden pro Tag angeschaltet ist.« 4)

Und was geht in uns vor, während wir fernsehen? Ob wir uns nun Richard III. oder die neueste Game-Show ansehen, das Fernsehsignal selbst läßt die Augen­bewegungen erstarren. Es hemmt das analytische Denken und das Erinnerungsvermögen und reduziert uns auf einen halb-infantilen Zustand der passiven Abhängigkeit, der durchaus mit bestimmten Formen der Drogensucht vergleichbar ist. 

In seinem Aufsatz <Vier Argumente für die Abschaffung des Fernsehens> trägt Jerry Mander einige erschütternde Indizien zusammen. Seine Schlußfolgerungen lauten unter anderem: Das Fernsehen vergrößert nicht unser Wissen, sondern beschränkt uns auf einen zerebralen Lebensmodus. Das Fernseh-Signal ruft einen hypnotischen, süchtig machenden Effekt hervor. Es hemmt die Lernbereitschaft, indem es uns in einen tranceähnlichen Alpha-Zustand versetzt, in dem man keine geordneten Gedanken entwickeln kann.

(Demgegenüber erzeugt Lesen ein hohes Maß an Beta-Wellen-Aktivität, da wir mit dem Buch interagieren müssen. Lieber Leser: Merken Sie, wie sich der Fernseh-Bauch in Muskeln verwandelt und Sie gemeinsam mit mir begreifen, ordnen, zurückweisen, zustimmen, streiten, mich nach Belieben zur Hand nehmen oder aus der Hand legen, blättern, Absätze überspringen, von hinten nach vorne lesen? So schaffen wir gemeinsam einen Text. Danke!)

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Das Fernsehen verringert unsere Wachsamkeit. Es hemmt unsere Handlungen, erzeugt einen Zynismus der Sinne, macht unseren Geist unflexibel, programmiert unser Unbewußtes mit gebrauchten Träumen, zerstört unsere Achtung vor komplizierten Zusammenhängen und erzeugt eine Mentalität, die der Kommerz-Vision vom Leben Glauben schenkt.

Dabei kann man leicht das Offensichtliche übersehen:

Selbst wenn das Fernsehprogramm voll wäre von anspruchsvollen Sendungen — es würde uns dennoch nur Ersatzerfahrungen bieten. »Romeo und Julia« ist kein Ersatz für die ersten süßen Küsse zwischen Jugendlichen und das Steigen der Säfte, wenn wir zum erstenmal lieben. Und tausend Komödienfolgen können den Körper nicht so durchschütteln wie ein einziges spontanes Lachen. Die Kunst bereichert das Leben, aber ein Übermaß an passivem Fernseh­konsum erfüllt uns mit fremden Träumen, die wir nicht verarbeiten können. Auch wenn wir sechseinhalb Stunden lang die klassischen Werke des menschlichen Geistes anschauten — es würde uns aus der aktiven Beziehung zur eigenen Lebensgeschichte vertreiben.

Das nachempfundene Leben ist eine Ersatzbefriedigung. Je stärker uns das Fernsehen fesselt, desto höher die Wahrscheinlichkeit, daß wir eines Tages aufwachen und feststellen, wir haben vergessen zu leben. Irgend jemand hat einmal gesagt, der viktorianische Gentleman habe es der Dienerschaft überlassen, an seiner Statt zu leben. Wir laufen Gefahr, Berufssportlern unsere Spiele, Berufssoldaten unsere Kämpfe und Berufspolitikern unsere Entscheidungen zu überlassen.

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Unsere Lage ähnelt ein wenig der Beschreibung, die Plato von den Gefangenen in der Höhle des Nichtwissens gibt. Gleich diesen Gefangenen hocken auch wir in einem dunklen Raum und sehen nichts weiter als die Schatten der Bilder an der Wand. Dieses Bild halten wir fälschlich für die Wirklichkeit. (»Pappi, gibt es wirklich einen bionischen Menschen?«)

Jeden Abend tanzen banale und gewalttätige Fernseh­dramen vor unseren Augen und hypnotisieren unseren Geist. So werden die über den Bildschirm flimmernden Phantasmen zu unseren ständigen Begleitern. Unser Innenleben bevölkern blutleere Gespenster, die leere Reden halten und unsere Aufmerksamkeit immer stärker in Anspruch nehmen. Zunehmend werden wir aus der Gemeinschaft mit anderen Menschen vertrieben und in unsere Verliese — unsere Wohnungen und Häuser eingesperrt. (Das Wort Idiot bezeichnet im Griechischen eine Person, die keine Chance zur Teilhabe am politischen Geschehen hat).

Ohne Träume stirbt jeder Körper und jede Politik. Wenn wir schweigend verharren und den Blick nach innen richten, verbinden wir uns mit unseren tiefsten, unbewußten Begierden. Bei Tagträumen ruft uns das noch unfertige Selbst an, und das Versprechen, wer wir werden können, schreibt sich in unser Unbewußtes ein. Träume haben die Kraft, uns zu formen. Die Gefahr des Fernseh-Zeitalters besteht darin, daß der Blick in die Medien den Blick nach innen ersetzt. Vorfabrizierte Träume, programmiert von Händlern, die uns ihre Produkte aufdrängen, und Propagandisten, die unseren Geist beherrschen wollen, zerstören die stille, fruchtbare Dunkelheit, in der allein wir die Stimmen unserer intimen Phantasien hören.

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Wer immer die Träume einer Nation beherrscht, hat die Macht, die Wirklichkeit zu formen. Die Hersteller der Bilder, die Fabrikanten der Helden und Heldinnen, die Geschichtenerzähler und offiziellen Sänger gestalten unsere Begierden und bestimmen, was wir schließlich lieben. Früher einmal gab es fahrende Sänger, Troubadours und Familienpicknicks, bei denen der Onkel von den Streichen erzählte, die der Vater als kleiner Junge spielte, und Großväter und Großmütter, die sich an längst vergangene Zeiten erinnerten.

Heute haben wir allenfalls die Fernsehserie Roots, gesponsert von Xerox (für diese Firmen sind Sie gleichsam eine Blaupause, ein geklonter Konsument). Durch die Bilder, die das Fernsehen aussendet beziehungs­weise unterdrückt, formt es unsere Wünsche. Gene Youngblood beschreibt diesen Zustand mit großer Eindringlichkeit:

Wir können nur begehren, was man uns gegeben hat. Begierden werden erlernt.... Es ist eine Gewohnheit, geformt durch die beständige Wiederholung einer bestimmten Klasse von Interaktionen. Das Begehren ist das wichtigste aller industriellen Produkte; es wird erworben durch erzwungene Gewohnheit aufgrund fehlender Alternativen. Daher kann man auch nur das begehren, was es gibt; genauso wichtig ist, daß wir nicht begehren können, was man uns nicht gibt. Natürlich treffen wir selber eine Wahl zwischen dem Material, mit dem wir unseren Lebenssinn, unsere Werte und unsere Vorlieben kultivieren..... Man ist aber nicht imstande, das zu pflegen, was man nicht bekommen kann. Wir bestellen kein Gericht, das nicht auf der Speisekarte steht. Wir wählen keinen Kandidaten, der nicht auf der Wahlliste steht..... Wir wählen nicht das aus, was selten zu bekommen ist, selten betont oder nur hin und wieder vorgestellt wird.....

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Die Videowelt wird bevölkert von Modellen menschlichen Scheiterns, doch wo sind die Landkarten des Erfolgs und der Freude? Wie sollen wir ein <gesundes> Leben führen, wenn die Videowelt nur krankhafte Verhaltensweisen und Verderbtheit darstellt? ... Das innerste Wesen des Totalitarismus besteht in der Herrschaft über unser Begehren durch die Herrschaft über unsere Wahrnehmung ... Die Heraus­forderung der Moderne besteht darin, zu erkennen, daß wir unser Leben ändern müssen.5

Ein Großteil der Langeweile in der modernen Gesellschaft rührt von den künstlichen Grenzen der Phantasie her, die uns die suchtartige Abhängigkeit von den Medien aufzwingt. Unsere Vorstellungen werden usurpiert und kolonisiert von den großen Produktionsgesellschaften, die uns zu passiven Konsumenten machen möchten. Die Existenz des kommerziellen Fernsehens hängt davon ab, daß man sich ruhig verhält, keine Fragen stellt, den kleinen falschen Botschaften vorgetäuschter Begeisterung Folge leistet, die die offiziellen Heldinnen uns ins Ohr flüstern, und dem Rat der zynischen »Persönlichkeiten« folgt, die ihren Namen dazu hergeben. Sie davon zu überzeugen, die Frühstücksflocken XY seien gut für Ihre Gesundheit. Sie sind es nicht! Wir müssen gedankenlos sein, sonst funktioniert das System nicht.

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  Gewalt — die endgültige Lösung?  

 

Die Langeweile der schweigenden Mehrheit bleibt weitgehend unbewußt. Die Leere wäre uns bewußt zu schmerzlich, zu verwirrend. Aber sie ist vorhanden. Woran erkennt man sie? Man kann ein Vakuum ja nicht photographieren.

Haben Sie schon einmal beobachtet, was geschieht, wenn ein Pechvogel in Hundekot getreten ist? Man zieht eine unsichtbare Mauer, alle Anwesenden meiden die verschmutzte Stelle, aber keiner sagt, daß da etwas stinkt. Dasselbe trifft auf die Langeweile zu. Man erkennt sie, wenn man sieht, daß die Leute alles daran setzen, sie zu übergehen.

Die schweigende Mehrheit zieht auch heute noch seelische und politische Gewalt dem Gespenst der Lange­weile vor. Das Spannungsfeld innerhalb der Politik reicht von einer Minderheit, die melancholisch gestimmt ist, bis zur Mehrheit, den heißblütigen Befürwortern von Macht und Aggressivität. Rot, Weiß und Blau = Zorn, Langeweile und Depression. Die »Roten« glauben, wir müssen den American way of life mit unserem Blut verteidigen. Die »Blauen« sehen allein die Hoffnungslosigkeit unserer gegenwärtigen Lage und essen und trinken, um zu vergessen. Beide vermeiden die Leere, den weißen, neutralen Zustand des Nichts-Tuns und Nichts-Fühlens.

Gewalttätigkeit ist heute zu einem akzeptierten Teil des American way of life geworden. Wie meine Frau Janana sagt: »Krieg ist der Pickel der Langeweile, kurz bevor er aufgeht.« Bei kalten und heißen Kriegen und in Aufrüstungsprozessen vergießen wir unser Lebensblut in ausgeklügelten Abwehrmechanismen. Wir stärken unsere Umzäunungen, stählen unsere Entschlußkraft und kämpfen bis zur Selbstvergessenheit, anstatt die (unvorstellbare) Alternative in Erwägung zu ziehen, die Gewalt als Lebensform aufzugeben. Und in der Zwischenzeit wird die Seele, das Herz der Nation, traurig. Da bleibt kaum Geld für Sozialausgaben, die Alten, die Kranken, die Ausnahmen.

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Stagflation heißt diese besondere Form der Neurose der Konzerne, bei der wirtschaftliche Rezession mit Inflation einhergeht. Die »Roten« hegen zahllose grandiose Ideen hinsichtlich der Fax Americana, astronomisch hoher Ausgaben und neuer Anreize für die Wirtschaft. Die Traurigen meinen, unsere Städte, Familien und persönlichen Beziehungen wären im Verfall begriffen.

Dieses Problem erkannte schon ein erfahrener Soldat: Dwight D. Eisenhower. Bevor er aus dem Amt schied, warnte er vor dem militärisch-industriellen Komplex: »Jedes Gewehr, das hergestellt wird, jedes Kriegsschiff, das vom Stapel läuft, jede Rakete, die abgefeuert wird, bedeutet letztlich einen Diebstahl an jenen, die Hunger leiden und nicht genug zu essen haben, an jenen, die frieren und keine Kleidung besitzen. Unsere vor Waffen starrende Welt gibt nicht nur Geld aus: Sie vergeudet auch den Schweiß ihrer Arbeiter, das Genie ihrer Wissenschaftler und die Hoffnungen ihrer Kinder.«

Ein Leben, das sich am »Feind« orientiert, führt zu oberflächlichen Erregungen und tiefer Verzweiflung. Krankhaft mißtrauische Menschen können sich nur eines vorstellen: Wer könnte mich bedrohen? Nie, wer sie gerne streicheln, liebkosen würde oder Freude an ihnen hätte. Der Mensch, der einen Feind braucht, ist psychisch verarmt. Seine Einbildungskraft und sein Mitgefühl sind zu schwach entwickelt, als daß er das Band der Freundschaft spürt.

Die sterilsten Orte überhaupt sind militärische Gefechtszentralen. Generäle — die Spezialisten auf diesem Gebiet, die Verteidiger des rechten Glaubens — konzentrieren all ihre Energien auf tödliche Szenarien. Die Krieger-Mentalität hat uns an den Punkt auswegloser Absurdität geführt. Trotz Glasnost und des Zusammen­bruchs des Kommunismus kann es immer noch zu einem atomaren »Schlagabtausch« kommen, bei dem die Hälfte der Weltbevölkerung ausgelöscht würde.

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Wenn dann die ersehnte Krise kommt, fließt Adrenalin in den Adern dieser knallharten Männer, während sie sich das bevorstehende Blutbad vorstellen. Daniel Ellsberg beschrieb mir diese Szene: »Während einer Krise herrscht im Gefechtsraum eine riesengroße Erregung. Man ist mit allem, was geschieht, verbunden. Da sieht man Leute, denen man den Zugang verweigert hat, und sie wandern umher wie Zombies. Sie träumen immer noch von irgendeiner Möglichkeit, dieser wilden Erregung näherkommen zu können - dieser köstlichen, ungeheuren Spannung, die aufkommt, wenn man sich den Tag des Jüngsten Gerichts ausmalt. Das alles macht im buchstäblichen Sinne süchtig. Das gewöhnliche Leben wirkt daneben blaß und langweilig.«

Der Krieg kann die Hölle sein. Aber er ist eine ganz bestimmte Sichtweise, der Inbegriff des Lebensüber­drusses. Das Töten ist phantasielos, vorhersehbar, eine banale Form der Problembewältigung. Gewalt ähnelt dem Wiederholungszwang. Niemand lernt, gewinnt oder löst irgend etwas durch einen Krieg. Nationen haben ihre Ressourcen Generation um Generation erschöpft. Wenn uns die Geschichte irgend etwas lehrt, dann dies: Kriege (der Zufluchtsort der Hilflosen, Phantasielosen und Fühllosen) werden von den Toten geführt — psychischen Zombies, deren gesamtes Leidenschafts-Repertoire sich auf Gewalt­tätig­keit beschränkt.

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Im zwischenmenschlichen Verkehr beginnt Erregung mit Vergebung. Allein das Verzeihen befreit uns aus dem geschlossenen, zwanghaften Kreislauf von Mißtrauen-Kränkung-Vergeltung und gestattet uns, den Blick vom Feind abzuwenden und auf die kaleidoskopischen Möglichkeiten ringsum zu lenken. Feindschaft verhärtet unser Herz, verengt das Blickfeld, zieht die Muskeln und Blutgefäße zusammen. Nimmt man die Haltung des Kämpfens oder Fliehens ein, steigt der Blutdruck, und das gesamte Nervensystem konzentriert sich auf den einen Gefahrenherd. Vertrauen macht den Körper weich, erweitert die Gefäße, weitet die Augen, erlaubt uns, uns zu öffnen und die Umgebung freudig zu empfangen.

Können wir diese gewohnheitsmäßige Gewalt brechen? Eine Politik der Hoffnung entwickeln, die die Politik der Gewalt-Langeweile ersetzt? Man stelle sich vor, was geschähe, wenn wir eine Politik hätten, die von Phantasie und Mitleid beherrscht wäre, statt von krankhaftem Mißtrauen und Gewalt.

De-eskalation ist ein Wagnis — aber ein faszinierendes. Gewohnheitsmäßig geübte Gewalt zeitigt vorherseh­bare Ergebnisse — Depressionen, Zerstörung und Gewalt. Das Wettrüsten stellt uns vor eine alles entscheidende Wahl: Entweder wir erschöpfen unsere Lebenskraft, oder aber wir erwachen aus dem Alptraum der Gewalt. Die derzeitige epidemieartige Verbreitung psychischer und ökonomischer Depressionen läßt sich nicht heilen, indem wir die Wirtschaft stimulieren, den Geist ruhig stellen und die Stimmung in der Gesellschaft mit rhetorischen Fragen beschwichtigen. Unsere Traurigkeit ist echt. Den Großteil unserer Energie und unserer Phantasie investieren wir in das Geschäft des Tötens.

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»Seit mehr als einer Generation arbeitet ungefähr die Hälfte aller Wissenschaftler und Ingenieure in unserem Land an Projekten, die mit dem Militär zusammenhängen. Die Folge ist: Die Vereinigten Staaten verfügen über die am weitesten entwickelten Raketen und Kampfflugzeuge, können aber keine ordentliche Eisenbahnstrecke bauen.«6) Eine wahrhaft niederschmetternde Erkenntnis.

Der einzige gerechte Krieg besteht im Kampf gegen unsere Neigung, in den Krieg zu ziehen. Der gerechte Krieg geht gegen die Mächte im Selbst und in der Nation, die für ständige Konfliktherde in uns sorgen. Der wahre Feind ist in uns. Wie auch das Reich des Friedens. Angst macht uns die eigene Angst vor der Freiheit und einem erfüllten Leben.

Es gibt in der Geschichte der Menschheit immer wieder entscheidende Augenblicke. Heute stehen wir am Scheidewege. Die Zukunft unserer emotionalen und psychologischen Existenz hängt von unseren politischen Entscheidungen ab. Entweder wir vergehen, oder aber wir gehen das Wagnis des Friedens ein.

 

  Jenseits der Politik der Depression  

 

Die Probleme, die wir behandelt haben, sind so umfangreich, daß wir auf der Suche nach Lösungen fast wie gelähmt sind. Wie sollen wir damit beginnen, den weiblichen Weg des Seins zu schätzen und ihm die volle Gleichberechtigung einzuräumen? Die Arbeit neu zu erschaffen und unsere Berufung zu entdecken? Unsere Lust auf Gewalt zu kühlen? Schluß zu machen mit dem Wahnsinn des Krieges? Die Medien zu reformieren? Eine Gesellschaft zu schaffen, welche die Vielfalt der Phantasie, des Begehrens und der Lebensweisen wirklich und wahrhaftig ermutigt?

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Der Vorschlag, grundlegende Änderungen in der Art, wie wir Beziehungen, Gemeinschaften, Arbeitsplätze und Kriege konstruieren, herbeizuführen, mag naiv und bestenfalls utopisch erscheinen. Doch was wäre die Alternative? Mehr Depressionen. Mehr Konsum. Mehr Gewalt.

In der Politik wie in der Psychotherapie setzt der Heilungsprozeß mit dem Akzeptieren der Krankheit ein. Sie zeugt von der tiefen Krise unserer Werte und unserer Phantasie. Unsere namenlose Traurigkeit verrät uns, daß die Zeit gekommen ist, das Dahinscheiden des American Dream zu betrauern und sich einzugestehen, daß unsere zivile Religion mit ihrer Vision von »Freiheit und Gerechtigkeit für alle« ersetzt worden ist vom kommerziellen Glaubens­bekenntnis der Produkte und des Gewinns für alle. Das Entscheidende bleibt das Bruttosozialprodukt. Vietnam war das Ende unserer Unschuld. Die Energiekrise, das Auftreten neuer Formen des Nationalismus und die globale Verbreitung der atomaren Waffen verweisen auf das Ende der amerikanischen Anmaßung, omnipotent zu sein.

Wir können den Anfang oder das Ende der Amerikanischen Revolution einläuten. Entweder es entwickelt sich eine zunehmend militaristische, faschistische Gesellschaft, die den Löwenanteil der abnehmenden globalen Ressourcen für sich beansprucht, oder wir können ein neues Erwachen erleben, einen neuen Traum entdecken. Vielleicht können wir den Geschwindigkeits-Trip aufgeben und Freude an weniger verschwenderischen Rhythmen finden. 

Vielleicht können wir lernen, die einfachen Freuden zu genießen saubere Luft, reines Wasser, eine befriedigende Arbeit, das Berühren und Teilen von Essen, zu Fuß gehen, zusehen, wie ein Kind heranwächst, Sich-unterhalten, Stille, etwas anbauen, züchten, ernten, handwerk­liches Arbeiten, das Herstellen nützlicher Dinge und schöner Geräte, das Erschaffen solidarischer Gemeinden und Gemeinschaften. Im Willen zur Einfachheit finden wir vielleicht mehr Freude, als wir einst am Konsum fanden.

Die Neue Revolution wird — wenn sie sich denn vollzieht — das Werk mehrerer Generationen sein. Die Liebhaber von Maschinen müssen das Zusammenleben mit allen Formen des Lebens im Rahmen eines neuen Abenteuers erlernen. Vielleicht ist unsere Traurigkeit nur das erste Anzeichen für ein noch fernes Lied. Und wenn wir diesem Lied aufmerksam lauschen, vernehmen wir vielleicht einen neuen Ruf, der durch unsere Krankheit und unser Unbehagen hindurchdringt. 

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 Ende 

 

 

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Von Sam Keen 1992