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3  Zeuge des Untergangs

 

(1931-1933)

Remarque

1.

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Meine ersten Polizistenprügel habe ich nicht von deutschen <Ordnungs­hütern> bezogen, sondern von Pariser <flics>. Sie hatten mich als verdächtigen Ausländer bei einer Veranstaltung in der <Salle Bullier> festgenommen, deren Hauptredner der von mir verehrte Schriftsteller Henri Barbusse war. Nur um ihn, dessen großen Antikriegsroman <Das Feuer> ich begeistert gelesen hatte, persönlich zu erleben, war ich zu dieser Massenversammlung gegangen. 

Aber das wollte der Kommissar, der mich auf der nächstgelegenen Polizeistation verhörte, partout nicht glauben. Für ihn war es ausgemacht, daß ich ein »ausländischer Hetzer«, vielleicht sogar ein Spion sei. Um mich geständig zu machen, verordnete er mir eine »passage au tabac«. So hieß diese grobe Routinebehandlung Verhafteter. Es hieben zwei stämmige uniformierte Korsen stumm mit ihren weißen Gummiknüppeln auf mich ein, um mir ein Geständnis zu entlocken, mit dem ich nicht dienen konnte, weil ich beim besten Willen nichts zu gestehen hatte. 

John Heartfield: Wahlsonntag (14. September 1930)

So ließen sie mich denn nach zwei Stunden laufen, und ich humpelte mit schmerzendem Rücken und seiner geschundenen Verlängerung zu der besorgten französischen Familie zurück, die mich im Rahmen des deutsch-französischen Schüleraustausches während der großen Sommerferien des Jahres 1931 als Gast bei sich aufgenommen hatte. 

Es war meine erste selbständige Auslandsreise, und meine Eltern, die selber noch nie in Paris gewesen waren, ließen mich nur mit großer Sorge fahren. Aber es erschien ihnen wohl wichtig, daß meine auf dem humanistischen Gymnasium mit seiner Konzentration auf Latein und Griechisch nur spärlich gepflegten Kenntnisse lebendiger Fremdsprachen sich etwas verbesserten. 

Außerdem hofften sie — wie ich erst viel später von ihnen erfuhr —, daß ich mich in der »ville d'amour« endlich für ein junges Mädchen interessieren würde, denn sie hatten gelesen, daß in der bündischen Jugendbewegung, der ich so begeistert anhing, homosexuelle Neigungen begünstigt, ja erzeugt würden, ein Verdacht, der auf unseren Bund nicht zutraf, aber Nahrung erhielt, als einmal während meiner Abwesenheit ein Unbekannter namens Karl Fischer anrief und ungeniert die Botschaft zurückließ, er müsse mich unbedingt wiedersehen.

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Karl Fischer, der damals schon Mitte Fünfzig gewesen sein muß, war einer der Gründer des »Wandervogel«. Ich hatte ihn zufällig kennengelernt, als er sich auf einer Sonntagswanderung unweit von Potsdam unserer Gruppe zugesellte und mich einlud, statt mit den anderen weiterzuziehen, ihn auf einer Paddeltour zu begleiten. Das war eine große Ehre, denn ich wußte aus Blühers Buch über die deutsche Jugendbewegung, welche historische Rolle dieser Mann vor fast dreißig Jahren in dem großen Aufbruch der Jungen gespielt hatte.

Wir haben dann auch an diesem Sonntagnachmittag, in einem kleinen schwankenden Boot einen Seitenarm der Havel hinuntergleitend, über jene alten Zeiten in Steglitz gesprochen, die mich brennend interessierten, und uns dann freundlich verabschiedet. Daß dies in der Tat »alles« gewesen sei, wollten die besorgten Eltern wohl nicht recht glauben. Da ich bis zu meinem achtzehnten Jahr zu meinem Kummer etwas mädchenhaft aussah, waren ihre Befürchtungen sogar verständlich. 

Weshalb hatten sie es dann aber vor ein paar Jahren zugelassen, daß mein Kinderfoto mit rosa Hängekleid in einer Werbevitrine der Porträtistin am Unter­grund­bahnhof Zoo öffentlich ausgestellt wurde? Ich hatte mich damals so sehr darüber geschämt, mit einer »Gummipuppe« — so nannten wir Zehnjährigen die Mädchen — verwechselt zu werden, daß ich die Vitrine zu später Stunde mit einem Plakat für die »Rote Hilfe« überklebt hatte.

Wie erwartet, habe ich mich wirklich auf dieser Parisreise verliebt, aber nicht in eine Französin, sondern in eine zierliche Exotin, die ich auf der damals an der Porte de Vincennes stattfindenden »Exposition Coloniale« kennenlernte. Sie arbeitete im »Pavillon de l'Indochine« als Fremdenführerin und interessierte sich wohl vor allem deshalb für mich, weil ich kein Franzose war. Denn sie haßte »ces maudits colonialistes«, und statt Liebesgeflüster hörte ich schon bei unserem ersten Zusammensein Haßtiraden gegen französische Fremdenlegionäre, die ihren älteren Bruder zuerst gefoltert und dann für viele Jahre ins Gefängnis geworfen hatten.

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Obwohl ich doch zu Hause leidenschaftlich an Politik interessiert war, störte mich das jetzt enorm. Ich wollte Zärtlichkeit, sie ließ das aber kaum zu und agitierte mit blitzenden Mandelaugen fast unaufhörlich, während wir durch die große Ausstellung spazierten. Doch ich ließ nicht locker und hoffte Tag um Tag, Arm in Arm immer wieder auf etwas romantischere Abendpromenaden oder gar auf eine Einladung in ihr Zuhause. Wie Geneviève, sie zeigte diesen französischen Vornamen vor wie eine Beute, es fertigbrachte, sich so oft von ihren Pflichten im Ausstellungspavillon freizumachen, weiß ich nicht. Sie muß das mit ihrem ungewöhnlichen Charme erreicht haben, der ja auch mich angezogen hatte, aber in unseren viel zu seriösen Gesprächen nie mehr aufleuchtete. Kein Streicheln, kein Kosewort konnten sie von ihrem missionarischen Eifer ablenken. Unsere eigenartige Beziehung endete abrupt, als ich ihr voller Ungeduld endlich einen ungeschickten Kuß aufzwang. Sie beschimpfte mich als »sale imperialiste« und lief davon.

Drei Wochen lang habe ich mich in Liebeskummer verzehrt, aber als ich im August nach Berlin zurückkehrte, hatte ich gar keine Zeit mehr, meinen enttäuschten Gefühlen nachzuhängen. Denn in der kurzen Zeit, die ich nicht in Deutschland gewesen war, hatte sich die wirtschaftliche und politische Lage so sehr zugespitzt, daß sie alle Gemüter und alle Gespräche beherrschte.

Der Zusammenbruch der Danatbank, die Notverordnungen der Regierung mit ihren scharfen Lohnkürzungen und drastischen Steuererhöhungen, das stürmische Anwachsen von Kurzarbeit und Arbeitslosigkeit, vor allem aber das immer unverschämtere Auftreten der uniformierten Nazisturmtruppen verbreiteten zunehmend Spannungen und Sorgen.

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Natürlich waren wir als Juden davon besonders betroffen. Es blieb ja nicht bei den verbalen Attacken des kleinen Doktor Goebbels, der sich besonders den jüdischen Polizeipräsidenten Weiss zur Zielscheibe gewählt hatte, sondern kam immer öfter auch zu tätlichen Angriffen auf Besucher von Synagogen, die mitten auf der Straße überfallen und mißhandelt wurden, ohne daß die »Schupos« rechtzeitig eingegriffen hätten.

In unserem Jugendbund bildeten sich jetzt zwei Strömungen, die in immer stärkeren Gegensatz gerieten. Es mehrte sich die Zahl derjenigen, welche die deutsch-jüdische Symbiose, die zu einem der Grundsätze der »Kameraden« gehörte, nunmehr als aussichtslos zu erkennen meinten und sich jetzt vorwiegend zu einer jüdischen Kultur und einem jüdischen Volk bekannten. Sie schlössen sich unter dem Namen »Der Kreis« zusammen, lernten Hebräisch und bereiteten ihre Anhänger ähnlich wie der große zionistische Jugendbund »Blau-Weiß« — nun zu »Kadimah« (»Vorwärts«) umbenanntauf die Auswanderung nach Palästina vor.

Die andere Seite hielt das für eine Fehl- und Rückentwicklung. Gerade Juden seien durch ihre Zerstreuung über die ganze Erde dazu bestimmt, völkische Enge zu überwinden und — wie besonders Buber verlangte — beispielhaft den Dialog zwischen den verschiedenen Kulturen zu fördern. Einige Befürworter dieser Haltung, zu denen auch Ernst Stillmann, Ernst Jablonski und ich gehörten, gingen weiter. Wir meinten, daß nur eine sozialistische Neuordnung die Probleme der zunehmenden wirtschaftlichen Verelendung, die dem Judenhaß Auftrieb gab, wirklich lösen könne. Zwar trennten sich die in so tiefe Gegensätze geratenen Mitglieder unseres Bundes noch nicht. Die antibürgerlichen Ideale und die lebens-reformerische Haltung der Jugendbewegung hielten sie vorläufig zusammen. Aber wie lange konnte das noch dauern?

Ich nahm damals an einer Bündnisverhandlung unserer »Linken« mit den kommunistisch orientierten »Roten Pfadfindern« teil. Sie fand im Karl-Liebknecht-Haus statt, der aus Furcht vor Übergriffen der SA in eine wahre Festung verwandelten KPD-Zentrale, am Bülowplatz gegenüber der »Volksbühne«. Aber diese Gespräche spielten sich von Anfang an in einem so frostigen Klima ab, daß sie gar nicht zum Erfolg führen konnten. 

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Wir wurden von den Besitzern der historischen Wahrheit als bürgerliche Schwärmer behandelt, die immer noch nicht begriffen hatten, was Klassenkampf sei. Mein entschiedenes Eintreten für den Pazifismus wurde rüde als »sentimentales Gestammel« abgetan. Man müsse auf die gewaltsamen faschistischen Aggressionen mit Gewalt antworten und dementsprechend bewaffnete Formationen für den zu erwartenden Bürgerkrieg aufbauen, wurde ich belehrt. Nur nach außen hin werde man die Friedensbewegten weiter unterstützen.

Besser durchsetzen konnte ich mich mit meinen Ideen in der sogenannten »Schulgemeinde«, dem seit noch nicht langer Zeit bestehenden Schul-Parlament des Mommsen-Gymnasiums. Es mißfiel zwar den meisten der konservativen Studienräte und wohl auch dem Direktor, aber nach längeren Verhinderungs­bemühungen mußte es doch erlaubt werden, weil die republikanisch gesinnte Schulbehörde eine solche demokratische Institution nicht nur gestattete, sondern sogar verlangte.

Ich bin einmal sogar zum Vorsitzenden dieser Institution gewählt worden, habe mich aber auf diesem Posten nicht lange halten können, weil ich kein guter Organisator und ein zu wenig energischer Veranstaltungsleiter war. Ich brachte es einfach nicht fertig, Dauerrednern das Wort abzuschneiden, war auch viel zu ungeduldig, wenn in den vorbereitenden Sitzungen unendlich lang und langweilig über kleine Details verhandelt wurde.

Und so wurde ich kein Politiker.

 

2.

Etwa vom Herbst 1931 an begann man sich am Familientisch zu fragen, welchen Beruf der einzige Sohn wohl ergreifen solle. Eine Bühnenkarriere, für die ich mich immer mehr interessierte, seit ich begonnen hatte, viele Vorstellungen, vor allem aber die großen Premieren am »Deutschen Theater« und im Schillertheater, zu besuchen, kam leider nicht in Frage. Denn die Eltern verkündeten: »Du wirst etwas Anständiges!« Das war zwar nur scherzhaft gemeint, aber es war auch Ausdruck eines Minderwertigkeitsgefühls, das sie nie losgeworden waren.

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Für mich wurde es in diesem Jahr immer klarer, daß ich mich dem künstlerischen Film verschreiben wollte. In diesem Medium war man dabei, eine neue Bildersprache zu erfinden, hier müßte ich kein Epigone sein, sondern könnte Pionier einer Kunstgattung werden, die sich noch in voller Entwicklung befand. Meinen Freunden verkündete ich übertrieben selbstbewußt, ich wolle der Tolstoi des Lichtspiels werden.

Mit einer geliehenen Schmalfilmkamera begann ich zu experimentieren und versuchte, Bilder aus meinen Träumen aufs Zelluloid zu bannen. Denn Traum und Film gehörten für mich zusammen. Das konnte mit meinen geringen Mitteln nicht gelingen, und so machte ich mich daran, einen Streifen aufzunehmen, den ich »den subjektiven Film« nannte. Seine Darsteller sollte der Zuschauer nie zu sehen bekommen, sondern stets nur das, was sie mit ihren Augen erfaßten. Ich ließ also die Blicke meines Helden über das Gewühl der überfüllten Tauentzienstraße streifen, machte den Zuschauer miterleben, wie ein schnelles Auto auf die Hauptfigur, einen Passanten beim Überqueren des Fahrdammes, zuraste, wie er und mit ihm der Bildausschnitt umstürzte und nun die Räder erschreckend mächtig und nah über das Unfallopfer rollten, bis ihn das Dunkel der Ohnmacht umfing. Wie er dann aber noch einmal die Augen aufschlug, nur noch Verschwommenes wahrnahm, bis er endgültig das Bewußtsein verlor. 

Als ich dieses Meisterwerk im engeren Freundeskreis der Familie vorführte, meinte der Romanautor Werner Scheff, mit dem die Eltern täglich auf Mittagsspaziergang in den Schöneberger Stadtpark gingen: »Nicht übel, meine Junge, aber erst wirst du das Handwerk von der Pike an lernen müssen.« Er tat auch gleich etwas dafür und erhielt von einem Bekannten, Herrn Burlin, dem Besitzer der Filmkopieranstalt »Rapid«, das Versprechen, man werde mich nach dem Abitur als Lehrling einstellen. Diesen Schulabschluß mußte ich allerdings erst noch schaffen, und dafür blieben nur noch ein paar Monate.

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Ob mir das überhaupt gelingen könne, war damals noch sehr zweifelhaft, vor allem weil meine Leistungen in Mathematik so erbärmlich schlecht waren, daß der Herr Studienrat Karthaus sich meine Klassenarbeiten nicht einmal mehr ansah und mich während des Unterrichts als hoffnungslosen Fall links liegen ließ. So habe ich den intellektuellen Reiz und die Eleganz von Algebra, Geometrie und der höheren Mathematik erst viele Jahre später begriffen. Da war es aber schon zu spät, noch nachzuholen, was ich und mein phantasieloser Lehrer damals versäumt hatten.

Gerettet hat mich damals mein Deutschlehrer, der kriegsversehrte einarmige Studienrat Stecher, weil ihm meine Aufsätze gefielen. Nur mit der Interpunktion klappte es nicht. So schrieb er mir in seiner linkshändigen unverwechselbaren Schrift mit roter Tinte ins Heft: »Der Verf. wird sich einmal vor den Setzern schämen müssen, wenn er nicht endlich lernt, wo Kommata hingehören.« Die Spitzennote Eins, die er mir für sein Fach gab, wurde als Ausgleich für mein Versagen vor den Zahlen und Formeln angesehen. 

So bestand ich denn mit meinen 24 Mitschülern im März 1932 das Abitur und wurde in ein Leben entlassen, das ich in meinem Prüfungsaufsatz als entfesseltes, hochwogendes Meer beschrieben hatte. Von Welle zu Welle geschleudert, würde ich mich schließlich halb tot (aber auch halb lebendig!) an einem zu Hilfe gekommenen Rettungsboot anklammern können. Keine ganz falsche Prognose, wie sich herausstellen sollte.

 

3.

Filme machen wollte ich, studieren wollte ich, endlich frei leben wollte ich, und dann machte mir das Schicksal sofort einen dicken Strich durch die Rechnung. Zurückgekehrt von der dreiwöchigen Abiturreise nach Italien, wurde ich mitten im lebhaften Erzählen plötzlich ohnmächtig und rutschte mit verzerrter linker Gesichtshälfte vom Stuhl. Der Hausarzt verordnete Ruhe, hatte aber keine genauere Diagnose parat als »Überanstrengung«.

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Das konnte eigentlich nicht stimmen. Denn mein Schulfreund Erich Weinmann und ich hatten ohne jede Hetze die übliche Bildungsreise auf den Spuren Goethes absolviert und es besonders genossen, daß wir nicht schon frühmorgens zum Schulunterricht aufstehen mußten. Also was war's? Eine erste neurologische Untersuchung brachte noch keine schlüssige Diagnose. Schlappheit, Gleichgültigkeit und Kopfschmerzen, eine leichte Temperaturerhöhung, die nicht weichen wollte, ließen vermuten, daß es sich wohl um eine milde Form von Gehirnhautentzündung handeln mußte.

Steckte nicht vielleicht Schlimmeres dahinter? Ein Tumor? Eine Hirnverletzung? Nie hatte ich die Mutter so besorgt gesehen. Sie drang darauf, daß ich mich von Professor Kurt Goldstein, einem bedeutenden Neurophysiologen, untersuchen ließ, der durch seine Forschungen an sogenannten »Kopfschüsslern«, hirnverletzten Soldaten des Weltkriegs, in seinem Fach weltweit bekannt geworden war.

Eben deshalb war es schwer, ja fast unmöglich, zu dieser Koryphäe zugelassen zu werden. Meiner Mutter gelang das wieder einmal, indem sie mich als junges Genie pries und dem Herrn Professor einige meiner Schreibereien aufdrängte. Gelesen hat er das vermutlich nicht, aber um endlich Ruhe zu haben, erlaubte er mir, zu ausführlichen Untersuchungen auf seine Station am Krankenhaus Moabit zu kommen. 

Nun wurde ich durch eine systematische und angstmachende Serie von Tests geschickt. Sie ließen mich mit geschlossenen Augen durchs Untersuchungs­zimmer laufen, auf einer vorgezeichneten Linie balancieren. Sie zapften mein Rückgrat an und entnahmen ihm Flüssigkeit, sie durchleuchteten meinen Schädel von allen Seiten, und als sie dort nicht fanden, was sie vermuteten, pumpten sie mir Luft ins Gehirn, um es in diesem Zustand abermals zu fotografieren. Das waren scheußliche Quälereien, und ich hielt sie nur aus, weil mein Bettnachbar, ein weiser älterer Mann, der an unheilbarer multipler Sklerose litt, mir immer wieder vor Augen hielt, wie beneidenswert ich sei, wenn ich meinen mit seinem Zustand verglich. Dennoch: Nacht für Nacht quälte mich die Vorstellung, daß man meinen Schädel aufmeißeln und an meinem Gehirn herumschnippeln werde.

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Wirklich herausgefunden, was mir eigentlich fehlte, hat auch der überarbeitete, dennoch aber stets liebenswürdige Professor nicht. Vermutlich war eine Halsentzündung, die ich übergangen hatte, um sofort nach der Abschlußprüfung auf die lang erwartete Reise in die südliche Freiheit zu gehen, der ursprünglich harmlose Auslöser meiner folgenden Beschwerden gewesen. Statt mit einer Mandeloperation Zeit zu verlieren, hatte ich damals aus Ungeduld nur den Eiter von dem entzündeten Organ absaugen lassen. So war wohl die Infektion über die Blutbahnen in andere Teile des Körpers und schließlich bis ins Gehirn gelangt. 

Es beeindruckte mich, daß der Medizinstar bekannte, er könne trotz der vielen Untersuchungsunterlagen nichts Bestimmtes oder gar Endgültiges aussagen. Wissenschaft sei trotz aller Daten meist Vermutung, ließ er den jungen Mann an der Schwelle des akademischen Studiums wissen.  

Diese skeptische Lehre lohnte, wie ich erst später begriff, die Qualen, die ich durchgemacht hatte. Ich habe bei meinen häufigen späteren Begegnungen mit allzu selbstsicheren Forschern immer wieder an sie zurückgedacht.

 

4.

So ist gleich beim Eintritt ins Erwachsenenleben eine Schicksalswelle über meinem Kopf zusammengeschlagen. Als ich wieder Luft holen und in die weitere Zukunft schauen konnte, war alles mit einem Schlag ganz anders geworden. Ich mußte mich schonen, schonen, schonen, sollte mindestens zehn Stunden pro Tag schlafen und jede Überanstrengung vermeiden. Noch war mein Elan nicht gebrochen, aber doch unwiderruflich gebremst.

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Merkwürdig und trotz aller weiterer Untersuchungen nicht zu klären, war das neue ungewohnte Gefühl, es gebe so etwas wie eine gläserne Scheibe zwischen mir und der Welt. Ich war nicht mehr in ihr mit all den anderen, sondern auf eine unerklärliche Weise abgetrennt, über oder neben Dingen und Menschen, als müder Zuschauer, niemals wirklich bei und mit ihnen. War das eine seelische Befindlichkeit, erklärbar aus einer Unfähigkeit, die täglich wahrgenommene Wirklichkeit des Lebens zu akzeptieren, wie mein langjähriger Freund, der angehende Psychiater Harry Timar, meinte, oder litt ich an den Folgen einer physischen Verletzung?

Harry, wie die meisten unserer Generation, war tief von den Romanen Hermann Hesses beeindruckt. Er gab mir den »Demian« und vor allem den »Steppenwolf« zu lesen, mit dessen Hauptfigur, einer gespaltenen Persönlichkeit, ich mich sofort identifizierte. Mein Doppelleben spielte sich zwischen wüsten nächtlichen Träumen und der ungreifbar gewordenen täglichen Wirklichkeit ab. 

Ich begann ein Traumtagebuch anzulegen, und da ich aus meiner Lektüre erfahren hatte, daß man während der ganzen Schlafdauer träumt, allerdings das meiste beim allmählichen Übergang zum Erwachen wieder vergißt, ließ ich mich durch einen lauten Wecker vier- oder fünfmal pro Nacht aus der Traumwelt reißen, notierte halbwach die Erlebnisse, die ich noch erwischen konnte, und sah mir erst am Morgen bei vollem Bewußtsein meine reiche Beute von Bildern, Gedankenfetzen, unzusammenhängenden Szenen an, zufrieden, aber auch überrascht wie ein Fischer, der den Inhalt seines Netzes prüft.

Sobald es mir etwas besser zu gehen schien, meldete ich mich wie vorgesehen in der Filmkopieranstalt, weil die Volontärsarbeit in diesem Betrieb ja angeblich für einen angehenden Filmkünstler unverzichtbar war. Aber länger als fünf Wochen bin ich dort nicht geduldet worden. Nachdem ich im Halbdunkel stolpernd mehrere Rollen der Uraufführungskopie des Meisterwerks »Die Tänzerin von Sanssouci« in einen der für Brandfälle bereitstehenden Wasserbottiche hatte rutschen lassen, empfahl mir der Firmenchef, am nächsten Morgen nicht wiederzukommen, aber wenigstens zum Abschied für die nunmehr zu Überstunden gezwungene Belegschaft »eine Runde Bier zu schmeißen«. Dies tat ich denn auch und wurde unter betrunkenen Dankrufen verabschiedet.

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Gleich darauf versuchte ich mich im Filmatelier Tempelhof als Regieassistent bei Richard Oswald, einem alten Freund meines Vaters, der zwar schon über hundert Filme gedreht hatte, aber bei seiner Arbeit immer noch so nervös wie ein Anfänger war und seine Unsicherheit alle halbe Stunde durch eindrucksvolle Wutausbrüche loszuwerden versuchte. Der Film hieß »Unheimliche Geschichten« und war in einer der Hauptrollen mit Paul Wegner besetzt, einem großartigen Charakterdarsteller, der schon, ohne ein einziges Wort zu sagen, Eindruck machte durch sein breitknochiges Mongolenhaupt und etwas Geheimnisvolles, das aus seinen tiefliegenden Augen sprach.

Von dem aufgeregten Gehabe unseres Spielleiters und dessen lieber Familie, die stets mit Regie führte, ließ sich der große Mime überhaupt nicht beeindrucken. Während der ganzen Drehzeit habe ich ihn, außer in seiner Rolle, nur einmal sprechen gehört: "Unheimliche Pfuscher!" knurrte er, als wieder einmal mitten in einer seiner Szenen die Scheinwerfer erloschen.

Daß aus diesem Chaos schließlich ein ganz annehmbarer Film entstand, blieb für mich ein Mirakel, und ich war sogar ein wenig stolz, daß ich im Vorspann als Assistent erwähnt wurde. Außerdem habe ich in diesem Streifen zum ersten und zum letzten Mal eine Filmrolle gespielt. Da wieder einmal ein für einen kleinen Nebenpart bestellter Schauspieler nicht erschienen war — wie sich später herausstellte, hatte man vergessen, ihn an den Drehtermin zu erinnern —, mußte ich einspringen. Ich hatte einem von Harald Paulsen gespielten Reporter, der durch die einzelnen Episoden führte, die Tür zu öffnen und den memorablen Satz zu sagen: »Sie werden schon erwartet!« Das war schwerer, als ich gedacht hatte. Einmal drückte ich zu früh, dann wieder zu spät auf die Klinke. Und meine Sprechweise klang nicht natürlich, sondern viel zu betont.

»Red' nicht so geschwollen«, schrie mich Oswald an. »So wichtig ist das doch nicht.« - »Ja aber ohne mich geht die Handlung nicht weiter«, wagte ich einzuwenden. »Schluß!« brüllte der Chef, seine Gattin stimmte schrill ein, und der rothaarige Sohn Gerhard klatschte vergnügt in beide sommersproßigen Hände.

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5.

Nach dieser etwas ernüchternden Begegnung mit der Welt des Films begann ich nun mit um so größeren Erwartungen mein Studium. Doch das, was mir die Professoren der Humboldt-Universität erzählten, vermochte mich vorläufig nicht zu fesseln. Ich war auch noch nicht wirklich entschlossen, was ich als Hauptfach wählen sollte. Die abstrakten Ausführungen des Ordinarius für Philosophie verstand ich nur teilweise. Sie waren mir einfach zu hoch. Die Vorlesungen des Professors für neue Geschichte empfand ich als zu einseitig und reaktionär, weil sie an den Lehren des historischen Materialismus völlig vorbeigingen. Nur der Psychologe Wolfgang Köhler machte Eindruck auf mich. Seine Versuche, mit denen er etwas über die Fähigkeiten von Menschenaffen herauszubekommen versuchte, fand ich wenigstens amüsant, aber eigentlich hatte ich mir unter der Erforschung der menschlichen Seele doch etwas ganz anderes vorgestellt.

Was sollte das alles in einer Zeit, da alleine in Deutschland sechs Millionen Menschen keine Arbeit finden konnten und täglich eine Revolution bevorstand? Eigentlich hätte ich mich in dieser Situation wieder politisch engagieren müssen. Wenn ich es nicht tat, so lag das nicht nur an meinem immer noch schlechten Gesundheitszustand, sondern mehr noch daran, daß ich mich mit keiner bestehenden politischen Partei oder Bewegung ganz identifizieren konnte.

Die Sozialdemokraten, die so oft Kompromisse mit den schlimmsten Feinden der Republik geschlossen hatten und deren hochgestelltes Mitglied, der Berliner Polizeipräsident Zörgiebel, kürzlich sogar auf streikende Arbeiter hatte schießen lassen, verachtete ich. Die linksliberalen Demokraten hatten kaum ein Verhältnis zur Jugend, aber um so mehr zu einer Geschäftswelt, die demokratiefeindlich war. Und die Kommunisten, bei denen Treue zu ihrer starren, allein gültigen »Linie« stets Vorrang vor ihrer Treue zu den bedrängten Menschen besaß, schienen mir in ihrem sturen ideologischen Denken preußischer zu sein als die Preußen.

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Vor allem fiel mir auf, wie wenig es der Weimarer Republik gelang, Begeisterung oder auch nur Zustimmung aus dem breiten Volk zu erhalten. Schon im Gymnasium hatte die vorgeschriebene alljährliche Verfassungsfeier am 11. August nur Gähnen erzeugt und allein dadurch das Mißfallen von Lehrern wie Schülern erregt, daß sie deswegen früher aus den Sommerferien zurückkommen mußten. Schwarz-Rot-Gold faszinierte nicht, die Landesfarben waren ein Symbol grauer Langeweile. Daß die demokratischen Parteien Politik nicht als Schaugeschäft betreiben wollten, ehrte sie, zeigte aber auch, daß sie den Zeitgeist nicht erfaßt hatten.

Meine einzige politische »Heimat« war eine Zeitschrift: die »Weltbühne«, in der Kurt Tucholsky, Carl von Ossietzky, Kurt Hiller und der junge Rudolf Arnheim schrieben, dessen Fimkritiken ich meist noch im Stehen las, sobald ich am ungeduldig erwarteten Dienstagmorgen das kleine hellrote Heft vom Zeitungskiosk abgeholt hatte.

Es war besonders Tucholsky, dem meine glühende Sympathie gehörte, zuerst vor allem, weil er sich so eindeutig und beredt für mein Vorbild, den von der Feme ermordeten Hans Paasche, eingesetzt hatte. Aber auch seine so ganz undeutsche und unspießerische Liebe zur freieren und genüßlicheren französ­ischen Lebensart, der gutmütige Spott, mit dem er das Berliner jüdische Kleinbürgertum im Prototyp des »Herrn Wendriner« bloßstellte und nicht zuletzt die ironische Skepsis, mit der er sich selbst begegnete, hatten prägenden Einfluß auf mich. Daß dieser Vielseitige unter fünf Pseudonymen schrieb, hat mir später Mut gemacht, mich unter verschiedenen Autorennamen zu Wort zu melden. Ich begann zu begreifen, daß in jedem einzelnen mehrere Persönlich­keiten steckten, daß wir widersprüchlicher, aber auch vielfältiger waren, als es uns die Schule gelehrt hatte.

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Als überzeugter »Weltbühnen«-Leser bin ich denn auch am 10. Mai 1932 — ich erinnere mich an das Datum so genau, weil es der Tag vor meinem neunzehnten Geburtstag war — mitgegangen, als sie den Pazifisten Ossietzky von der Redaktion seines Blattes ins Gefängnis Tegel begleiteten, wo er als verantwortlicher Redakteur für einen von seinem Mitarbeiter Georg Kreiser veröffentlichten Enthüllungsartikel über die Geheimaufrüstung der Reichswehr anderthalb Jahre einsitzen sollte.

Ich war wohl der jüngste unter den etwa hundert prominenten Teilnehmern, der an diesem nicht erlaubten, aber vom sympathisierenden Vizepräsidenten der Polizei geduldeten Demonstrationsspaziergang teilgenommen hat. Und ich bin nicht bis zum Ende dabeigeblieben, weil ich auf dem Weg mit einem der Herren Schriftsteller, dessen Namen ich nicht kannte — und auch nicht erfahren wollte —, in eine heftige Diskussion geraten war. »Sehen Sie hier junge Menschen?« provozierte ich ihn. »Weshalb könnt ihr die Jugend nicht faszinieren?« Diesen Vorwurf verübelte er mir und schickte mich hochmütig als »dummen Jungen« nach Hause.

 

6.

Als Student hatte ich selbstverständlich Erlaubnis, die größte Bücherei Berlins, die Preußische Staatsbibliothek, zu benutzen. Hier fand ich, was ich in den Vorlesungen und Seminaren der Uni vermißte: Zugang zu einem unerschöpflichen Reichtum des Wissens. Besonders die Zeitschriften-Lesesäle zogen mich an. Denn dort lagen die neuesten Ausgaben der Periodika aus den verschiedensten Fachgebieten auf, und wenn ich sie lesen oder auch nur durchsehen wollte, mußte ich nicht erst einen Bestellzettel ausfüllen, sondern konnte sofort zugreifen und mir fünf, sechs, sieben Hefte von den Regalen zu meinem Arbeitsplatz an einem der soliden, langen Eichentische holen.

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Bevor ich mich entschied, was ich lesen wollte, blätterte ich erst einmal eine Stunde lang in den unterschiedlichsten Publikationen. Friedländer hatte mir ja beigebracht, Texte schnell zu überfliegen und nur dort haltzumachen, wo mein Interesse besonders angezogen wurde. So tat ich etwas, das mir meine Professoren sicherlich übelgenommen hätten: ich wanderte schnell von einem Forschungsgebiet zum anderen. Hatte ich eben noch einen Blick in ein Physikjournal geworfen, versuchte ich nun, einen Aufsatz über Neurophysiologie zu verstehen, und wenn's mir nicht gelang, sprang ich ab zu einer Kunst- oder Literaturzeitschrift.

Studienfreunde, die mir das als »Oberflächlichkeit« ankreideten, hatten sicherlich recht. Aber gewann ich dafür nicht etwas, das ihnen ganz fehlte, nämlich Übersicht

Täglich erlebte ich ja bei meinen neugierigen Streifzügen die Zerrissenheit des immer zusammenhangloser scheinenden Kosmos der ständig zunehmenden Erkenntnisse. Die überwältigende Masse der Informationen, die ich als beglückend empfunden hatte, empfand ich nun oft als bedrängend, andererseits erschien mir die selbstgewählte Beschränkung auf ein Spezialgebiet, in das sich die meisten Forscher zurückzogen, als eine Art Versagen. Welch einem in seiner Unvollständigkeit unwissenschaftlichen Bild der Wirklichkeit hingen die angeblich so exakten Wissenschaftler an, wenn sie über Einzelkenntnissen die Vielfalt und die großen Zusammenhänge vernachlässigten?

Aber konnte es denn überhaupt anders sein? Konnte es noch Köpfe geben, die imstande waren, diese Überfülle aufzunehmen und zu begreifen? Als ich im Herbst 1932 auf einem der langen Regale die wenig verbreitete politische Zeitschrift »Gegner« fand, ahnte ich nicht, daß sie mich zu einem solchen universalen Geist führen sollte.

Ich war an diesem unscheinbar aufgemachten Heft hängengeblieben, weil da ein Autor namens Harro Schulze-Boysen der gleichen Unzufriedenheit Ausdruck gab, die mich allen politischen Strömungen entfremdet hatte. Die alten Mächte Kirche und Feudalismus, Bürgerstaat, Proletariat und Jugend­bewegung hätten versagt, stellte der mir unbekannte Verfasser fest. Es gebe in allen politischen Gruppierungen Menschen, die einander heute noch als Gegner sähen, aber morgen schon als Kampfgenossen für die Vision einer neuen Gesellschaft zusammenarbeiten würden. Ich las:

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»Wir dienen keiner Partei. Wir dienen jenem unsichtbaren Bund von Tausenden, die gegenwärtig vielleicht noch verteilt in allen Lagern stehen, die aber wissen, daß der Tag nah ist, an dem sie zusammenkommen müssen. Wir haben kein Programm. Wir kennen keine steinernen Wahrheiten. Das einzige, was uns heilig ist, ist das Leben...«

Ich war also in meiner Ablehnung der Parteien nicht alleine, sondern konnte Freunde entdecken, die ähnlich empfanden. Ein Hinweis auf der Rückseite der Zeitschrift sagte mir, wo ich sie finden könnte: im »Cafe Adler« am Dönhofplatz, wo sich die »Gegner« jede Woche trafen.

Mein erster Eindruck von diesen vermeintlichen Rebellen war allerdings enttäuschend. Ihr Vokabular, in dem zahlreiche Worte vorkamen, die ich bisher nur aus den Reden und Schriften völkischer Wirrköpfe kannte, stieß mich ab. Harro, der junge Mann, der den eindrucksvollen Aufsatz im »Gegner« geschrieben hatte, erinnerte mich in Aussehen und Auftreten zu sehr an die forschen Offizierstypen, die ich von deutschnationalen Studentenversammlungen her kannte. Er war groß, blond, hielt sich angestrengt steilgerade und verkündete mit pathetischer Stimme, »in allen Urkräften des Volkes liegt die Zukunft beschlossen«. »Wo bin ich da hineingeraten?« fragte ich mich. 

 

7.

Aufzuhorchen begann ich erst, als jemand sich einmischte, den ich nur hören und nicht sehen konnte, weil er durch eine hohe Blumenrabatte verdeckt war, die quer durch das längliche Lokal lief und es in zwei Hälften teilte. Diese spitze Stimme sprach mit einem starken berlinischen Dialekt, der durchaus nicht zu dem Inhalt seiner hochgestochenen Bemerkungen paßte. Denn da war die Rede von Integral- und Differentialrechnung, von Psychoanalyse, von Nuklear­forschung und der phylogenetischen Entwicklung des Lebens. 

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Doch all diese gelehrten Ausführungen, die ich zunächst für Bildungsprotzerei hielt, dienten einem politischen Diskurs ganz ungewöhnlicher Art. Der Redner versuchte uns nämlich klarzumachen, daß die revolutionären Erschütterungen, von denen seine Vorredner geschwärmt hatten, aus ganz anderen Ecken kommen würden, als sie meinten.

»Ihr wollt die Menschheit retten. Aber ihr habt keine Macht. Macht ist böse. Ohnmacht ist noch böser. Hinter der Menschenliebe muß die Übermacht und Produktionsgewalt des Ultra-Technoikums stehen.« Und damit begann der allzu gelehrte Redner - unter wachsender Unruhe - aufzuzeigen, wie weder Parteien noch Bünde und revolutionäre Ideologien, sondern die neuen Entdeckungen und Erfindungen der Physiker, Tiefenpsychologen und Ingenieure menschliche Geschichte von Grund auf revolutionieren würden wie noch nie.

»Genug!« wurde dazwischengerufen. »Verpiß dich ins Seminar«, schrie jemand, und es setzte ein Höllengelächter ein, in dem jedes weitere Wort des ungewöhnlichen Redners unterging.

Wäre ich nicht durch meine Zeitschriftenlektüre der letzten Monate ein wenig vorbereitet gewesen, hätte ich vielleicht ähnlich reagiert. So aber nahm ich die Herausforderung an, stand auf und verlangte von dem mir unsichtbaren Aufrührer, er möge uns doch sagen, wie seine sehr interessanten Erkenntnisse in praktisches politisches Handeln umgesetzt werden könnten. Er schickte sich sogleich an, das zu tun. Aber man überschrie ihn, ließ ihn nicht mehr zu Wort kommen. So begab ich mich suchend auf die andere Saalseite, in der Hoffnung, mit dem Unbekannten ein privates Treffen zu vereinbaren.

Unbekannt war er, wie ich gleich merkte, nur mir. Die meisten anderen Teilnehmer an dieser wöchentlichen Veranstaltung kannten Adrien Turel* schon.

"Sonst quatscht er vom Matriarchat und vom embryonalen Zustand der Menschheit, die noch gar nicht zur Welt gekommen sei", flüsterte mir jemand zu, den ich von den Univorlesungen kannte. Dabei zeigte er auf einen schmalen, eher blassen Brillenträger, der den Diskussionsleiter mit energischen Handbewegungen abermals auf sich aufmerksam machen wollte, aber absichtlich übersehen wurde.

*   A.Turel bei Utopie1  (1890-1957, 67)

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Erst als die Veranstaltung in einem weiteren Tumult zu Ende gegangen war, konnte ich das Wort an ihn richten, und er lud mich sofort ein, noch eine Molle mit ihm zu trinken. Als wir aufbrachen, stellte sich heraus, daß »Turelchen«, wie man ihn nannte, zum engsten Kreis der »Gegner« gehörte und an der Redaktion der Zeitschrift beteiligt war, wo er sich die Arbeit mit dem aus der Nähe viel sympathischer wirkenden Harro teilte.

Die folgenden zwei oder drei Stunden, die wir in einer Kneipe der Innenstadt verbrachten, wo Turel Stammgast zu sein schien, hatten jene besondere, ja einmalige Qualität, die einem nur ganz selten geschenkt wird.  

Ununterbrochen sprechend, über die eigenen Worte stolpernd und sich mit jedem »Gläschen« steigernd, entwickelte dieser am ganzen Leibe vor geistiger Aufregung Zitternde eine zeitgeschichtliche Vision, die all das, worüber wir uns täglich erhitzten, provinziell und kleinkariert erscheinen ließ. 

Da schrumpfte Hitler zu einem bösen Zwerg, dem aber - wie Turel meinte - die leitartikelnden Verteidiger der Weimarer Republik keinen Einhalt gebieten würden, weil sie nicht begriffen hätten, daß dieser gefährliche Gnom instinktiv die vom Industrialismus heraufbeschworenen Krisen zu nutzen wisse. Dabei verstehe er sie im Grunde genausowenig wie fast alle anderen Zeitgenossen. 

Er - Adrien Turel - aber habe eingesehen, daß mit dem Eindringen der Forschung in den Kern der Materie, der Zellen und sogar ins Innerste der Seele die Geschichte von nun an einen ganz anderen Lauf nehmen werde. 

Der Übermensch-Gedanke Nietzsches und die Mutterrechtstheorie Bachofens, die Relativitätstheorie Einsteins und Freuds Psychoanalyse überschatteten längst schon einen wirkungslos gewordenen Marxismus, der zur Kirche erstarrt sei. 

Wir stünden vor der Eroberung des Jenseits, auf der Schwelle eines vierdimensionalen Zeitalters. Wenn wir das einmal begriffen hätten, könnten wir die Demiurgen der kommenden Epoche werden.

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Das, was ich hier in wenigen Zeilen zusammenzufassen versuche, war überwuchert von Dutzenden historischer Anekdoten, die auf hochdeutsch, berlinisch und französisch erzählt wurden. 

Immer wieder sah es so aus, als würde der auf Seitenwege, deren Abzweigungen und immer neue Verästelungen geratene Diskurs nie wieder zu seinem Hauptthema zurückfinden. Aber das gelang dem übersprudelnden Seher schließlich mit einer schnoddrigen Wendung. 

Ein von Kichern begleitetes Satyrspiel schloß das gewaltige Bild eines großen Zivilisationsdramas ab, gerade noch ehe der Kopf des mit Zungen Sprechenden auf den Tisch gesunken war und seine ins Lallen geratene Rede verstummte.

 

8.

Es meldeten sich in diesem letzten Jahr vor dem Untergang der Republik viele seltsame Heilige zu Wort. Einer malte in riesigen weißen Buchstaben das Wort HINGABE an Häuserwände und Fabrikmauern. In den Hinterhöfen der Mietskasernen hörte man jetzt nicht nur die bettelnden Sänger und Drehorgelspieler, sondern die ekstatischen Beschwörungen von Sektenpredigern und Endzeitpropheten

Eine aufgedunsene Frau mit langem ungewaschenen Haar sprach kein Wort, sondern weinte mitten auf einer belebten Straße so laut, daß man es bis in den vierten Stock hinauf hörte. 

Immer neue astrologische und religiöse Blättchen erschienen, die selten über zwei bis drei Ausgaben hinauskamen. Sie druckten riesige rote Schlagzeilen und trugen Titel wie »Der Seher« oder »Das Reich Gottes«.

Wer Turel nicht genauer kennenlernte, hätte meinen können, daß er zur Schar dieser Illuminierten gehöre. Aber wir, die nun seine Aufsätze im »Gegner«, seine Broschüren, Essays und Gedichte zu lesen begannen, merkten schon, daß hier ein ungewöhnlicher Denker Ideen ausbreitete, die man ernst nehmen mußte.

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Charakteristisch für seine Mitteilungen war, daß er die großen Ereignisse in der Welt und im Kosmos stets in Zusammenhang mit seiner ganz persönlichen Geschichte brachte. Die Tatsache, daß er von Geburt an rechtsseitig gelähmt war, verstand er nicht als Unglück, sondern als Auszeichnung. Schon als kleiner Junge hatte er von daher die Zuversicht gewonnen, daß er sich als ein besonderer, vom Schicksal gezeichneter Mensch unter Normalen durchsetzen könnte, »einfach weil eine neue Zeit, eine neue Kultur, eine neue Weltbeherrschung, dementsprechend auch ein neuer Menschentypus im Herauf­kommen« sei.

Daß dieser nun schon über vierzigjährige Westschweizer trotz der Veröffentlichung von Gedichtbänden, Dramen, philosophischen Abhandlungen in bekannten Verlagen materiell immer noch völlig verarmt war und als geduldeter Untermieter bald bei diesem, bald bei jenem Bekannten unterschlüpfen mußte, störte ihn nicht. Er meinte, das sei das von ihm gewollte Resultat einer »Strategie der Erfolglosigkeit«, die ihm Freiheit und Unabhängigkeit garantierte. Wenn er kühn behauptete, daß er schon jetzt von seinem jeweiligen Dachstüblein aus die Weltgeschicke wesentlich beeinflusse, so erschien das in den Augen derjenigen, die er durch die Originalität seiner Hypothesen beeindruckte, durchaus nicht so größenwahnsinnig, wie es klang.

Oskar Loerke, als Lyriker zu Ruhm gelangt, und als Lektor des S.-Fischer-Verlags eine der einflußreichen Persönlichkeiten des Kulturlebens der ersten Nachkriegszeit, begeisterte sich: »Der Name Adrien Turel bezeichnet eine der großartigsten vergeistigt-seelischen Kraftzentralen, die heute in den Dienst einer inneren Durchleuchtung der Menschenwelt gestellt sind.«

Der Anblick des Röntgenfotos einer Hand in der französischen Zeitschrift »Nature« war, wie er oft erzählte, ein Schlüsselerlebnis des jungen Turel. Das, was er zu sagen hatte, wirkte auf die Sicht seiner Zuhörer oder Leser wie Röntgenstrahlen. Sie meinten nun, Blicke unter die Oberfläche des täglichen Geschehens zu tun und Verborgenes zu erkennen, das den Gang der Ereignisse bestimme.

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Dieses elitäre Bewußtsein verband die wenigen Mitglieder des inneren »Gegner-Kreises«, die doch für den Einfluß und die Mitbestimmung der vielen kämpfen wollten. Wer von dem bewunderten Jüngling Harro zu Gesprächen und Festen in seine große, fast leere Wohnung eingeladen wurde, fühlte sich als Mitglied einer Avantgarde oder, wie Schulze-Boysen mit leiser Verschwörerstimme verkündete, als Bruder eines neuen Ordens, in dem die »besten Kräfte« aller Richtungen und Parteien gegen ein »bürokratisches Staatsgebilde«, eine »spekulativkapitalistische Wirtschaft«, eine »laue Kirche« sich zusammen­fanden, um »als Vogelfreie« zu schaffen, was den »Gesicherten« nicht gelang: die neue menschliche europäische Gesellschaft.

Das klang in meinen Ohren furchtbar pathetisch, denn die jungen Menschen meiner Generation neigten eher zu Ironie und Selbstkritik. Vielleicht waren die großen Worte, das übersteigerte Selbstbewußtsein der »Gegner«, notwendig, um nicht ohnmächtiger Resignation zu verfallen. 

Aber im kleineren Kreis machten wir uns über solchen »verbalen Mumpitz« lustig, wie ihn besonders der Geldgeber der Zeitschrift, ein durch Patente reich gewordener Schweizer Chemiker namens Fred Schmid, in seiner geistigen Retorte herstellte.

 

9.

Daß ich den Kontakten zum »Gegner-Kreis« wenig später mein Überleben verdanken sollte, habe ich damals noch nicht ahnen können. Weder zu Hause noch bei meinen bündischen Kameraden verstand man mein Interesse für »diesen seltsamen Haufen«, der nicht in das bekannte politische Schema paßte und als eigenbrötlerisch, romantisch versponnen oder einfach als verrückt galt. Oft habe ich Jahrzehnte danach, als die antiparlamentarische Opposition versuchte, sich quer zu allen Parteien zu stellen, an diese mißverstandenen Vorläufer der Apo gedacht.

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Übertrieben zuversichtliche Erwartung, wie sie auch ein Vierteljahrhundert danach so charakteristisch für die 68er-Bewegung in ihren kurzen Augenblicken vermeintlicher Triumphe war, herrschte in diesen Monaten der Agonie des republikanischen Deutschlands bei fast allen vor, die sich radikale gesellschaftliche Veränderungen wünschten und sie für unvermeidlich hielten. 

Denn die unübersehbare Verelendung, die wir hautnah miterlebten, die blutige Zuspitzung der politischen Konflikte zu fast täglichen Straßenkämpfen, der immer bedrohlichere Aufstieg Hitlers flößten uns Weltverbesserern weniger Furcht als Hoffnung ein. Das sei doch nur ein Vorspiel, dachten wir. Wir bildeten uns ernsthaft ein, erst wenn es ganz schlimm komme, werde es endlich besser werden.

Auch ich habe damals leichtsinnig an diese »Eisbrecher-Theorie« glauben wollen, die vor allem von den Kommunisten verkündet wurde. Sie behauptete, daß die Braunhemden mit ihrer Aggressivität und unbedenklichen Entschlossenheit das Packeis des kapitalistischen Staats aufbrechen, dann aber, verbraucht durch diese Anstrengungen und ohne überzeugende Konzepte, schnell von der Szene abtreten würden.

Wir alle - dazu gehörte sogar ein sonst so luzider Kopf wie Adrien Turel - meinten, daß die »herrschende Klasse« aufgeblasen, dumm und faul sei und daher zum unvermeidlichen Untergang bestimmt. Erst viel später haben wir eingesehen, daß die Mächtigen es verstanden, sich alles zu kaufen, was sie zur Erhaltung ihrer Positionen brauchten: sowohl physische und technische Gewalt wie die intellektuellen Kopflanger, die sich in ihren Diensten die wirkungsvolle Organisation der - angeblich neuen, in Wirklichkeit aber alten - Herrschaftsformen ausdachten.

In Erwartung eines großen Zusammenbruchs, dessen entsetzliche Folgen sich an der Wende von 1932 zum Schicksalsjahr 1933 niemand genau vorstellte, lebte Berlin in einer heute kaum mehr verständlichen Hochstimmung. Nie war die Theater- und Filmbegeisterung so groß wie in diesem Winter, standen die großen Boxkämpfe und vor allem die Sechstagerennen der Berufsradler mit ihren nächtlichen Prämienjagden und bejubelten Überrundungen, begleitet von spontanen Massengesängen der Zuschauer, so sehr im Mittelpunkt der Alltagswirklichkeit. Die fanatischen, immer gewaltsameren politischen Auseinander­setzungen wurden im Grunde auch als Drama, als Sensationsfilm, als Sportmatch erlebt.

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So ist sogar der spektakuläre Fackelmarsch, mit dem dann Hitler am 30. Januar 1933 seine Ernennung zum Reichskanzler zelebrieren ließ, eher als aufregendes Schauspiel denn als warnendes Signal empfunden worden. Selbst Nazifeinde waren davon beeindruckt.

Zufällig traf ich in der Menge am Regierungsviertel, wo ich mir als neugieriger Zaungast, wie Zehntausende anderer Berliner, das große Flackerspektakel ansah, einen der Aufnahmeleiter des Films, an dem ich kürzlich in Tempelhof mitgearbeitet hatte. Er rief mir laut zu: »Unheimliche Geschichten!« Das war ja der Titel unseres Machwerks, und er setzte ihn nun nicht etwa ängstlich, sondern eher begeistert über diese spektakuläre Premiere des Führerstaates.

 

10.

In den vielen Berichten, die über das Ende der Weimarer Republik erschienen sind, wird der Brand des Reichstages als Fanal geschildert, flammender Höhepunkt, in dem die letzten Reste des demokratischen Deutschland in Flammen aufgehen. Ich halte das für eine nachträgliche Dramatisierung, denn ich habe dieses Ereignis, so wie die meisten Berliner jener Tage, zunächst nicht als etwas besonders Ungewöhnliches erlebt. Wir hatten uns Ende Februar 1933 schon so sehr an den Zustand des nicht deklarierten, aber täglich und stündlich wütenden Bürgerkrieges gewöhnt, daß dieses Attentat auf die von den Nazis verfemte »Schwatzbude« durchaus nicht unerwartet kam.

Erst der Propagandasturm, mit dem das bösartige Werbegenie Goebbels in den rauchenden Schutthaufen hineinblies, um derart eine ekstatische Krisen­stimmung zu schaffen, hat das Ereignis zum tragischen Finale der ersten deutschen Republik hochgepeitscht.

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Typisch für dieses Vorgehen war eine Blitzaktion der braunen Studenten. Sie hatten gleich nach dem Brand die dem Ereignis in großer Aufmachung gewidmete erste Seite des »Völkischen Beobachters« auf die Mitteilungsbretter aller studentischen Organisationen geheftet, die sich im Vestibül der Humboldt-Universität befanden. Das mußte am frühen Morgen geschehen sein, als sich noch keiner der sonst üblichen »Stehkonvente« um diese Stützpunkte versammelt hatte. Denn sonst hätte man ihnen diese Übergriffe sicher nicht gestattet.

Aber nun, es war vor der Zehn-Uhr-Vorlesung, sah ich, wie nicht anders als sonst die verschiedensten Grüppchen an ihren üblichen Plätzen herumstanden und das Ereignis kommentierten, ohne daß jemand bisher auf die Idee gekommen war, etwas gegen die Okkupation ihres kleinen politischen Mitteilungsraums zu unternehmen.

Es war eine ganz instinktive Reaktion, die mich veranlaßte, erst eine, dann zwei und schließlich alle erreichbaren Titelblätter nacheinander von den schwarzen Brettern runterzureißen. Diese Befreiungsaktion wurde übrigens kaum beachtet, so intensiv waren alle Grüppchen in ihre Gespräche vertieft. Daher war ich überrascht, als mich beim Eintritt in den Vorlesungssaal ein Polizist in Zivil zur Seite nahm und eher höflich als barsch befahl: »Kommen Sie mal mit!«.

Gleich gesellte sich ein zweiter zu ihm, und die beiden begleiteten mich aus der Uni hinaus, ohne zu erklären, wer sie seien, was sie von mir wollten und wohin sie mich brächten. Das hatte seinen guten Grund. Denn bis zu diesem Zeitpunkt war es der Polizei noch untersagt, im »akademischen Freiraum« tätig zu werden. Sie wollten also kein Aufsehen erregen, und ich war zu schockiert oder zu feige, um mich sofort laut rufend gegen diese ungesetzliche Handlung zu wehren.

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Tatsächlich war durch den neuen nationalsozialistischen Innenminister Preußens, Hermann Göring, seit letzter Nacht bereits an alle staatlichen Exekutiv­organe Weisung ergangen, welche die sofortige Festnahme von politisch Verdächtigen, wo immer man sie fände, ohne jeglichen schriftlichen Haftbefehl gestattete. Das war, wie ich später begriff, sogar mein Glück. Hätten mich nämlich die Nazistudenten selber aufgegriffen, so wäre ich sofort in die Gewalt der braunen Sturmtruppen geraten, die ihre Gegner ohne jedes Verhör zusammenschlugen.

So aber wurde der Delinquent ordnungsgemäß auf der Verhörabteilung des Polizeipräsidiums am Alexanderplatz abgeliefert, einem häßlichen wilhelminischen Backsteinbau, der nicht nur außen, sondern auch innen (schwach) rot war. Denn hier hatten seit mehr als einem Jahrzehnt die Sozis regiert, und sie waren auch jetzt nach dem kürzlichen Machtwechsel noch immer auf ihren Posten. So vermeinte ich eine gewisse heimliche Sympathie für mein »Verbrechen« zu bemerken, als mich der Schreibtischbulle aufforderte, nein, bat, doch bitte alle meine Taschen auszuleeren. Als das viele Zeugs, was ich wie üblich bei mir getragen hatte, vor ihm auf dem Schreibtisch lag, mahnte der Kommissar durchaus freundlich: »Die Zigaretten müssen Sie nun auch noch herlegen. Sie bekommen sie nachher bestimmt zurück.« - »Hab ich keine«, antwortete ich. »Bin Nichtraucher.« - »Und wozu ist dann das da?« Er deutete auf eine Streichholzschachtel, die neben Taschentuch, Kamm, alten Fahrscheinen, dem Schlüsselbund und dem Portemonnaie lag. Wir sahen uns beide, ohne etwas zu sagen, an. Das war eine wirklich fatale Situation am Tage nach einer großen Brandstiftung, deren Täter man jetzt suchte.

Ich konnte schon erklären, woher dieses »Corpus delicti« kam. Aber wer würde mir das glauben? Wie jeden Tag hatte ich dem Kriegsinvaliden, der im Rollstuhl am Eingang der Uni saß, gewohnheitsgemäß zehn Pfennig hingelegt und sofort bemerkt, daß er heute zum ersten Mal das Hakenkreuzabzeichen am schäbigen Rockaufschlag trug. »Du auch ?!« hatte ich ihm zugerufen. Daraufhin hielt er mir diese blöde Streichholzschachtel hin und ließ mich wissen: »Sie! Ich bettle nicht mehr. Ich verkaufe!«

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Zugegeben, sie klang nicht sehr wahrscheinlich, meine Geschichte, obwohl sie sich wirklich genauso ereignet hatte. Und der Beamte zeigte deutlich, daß er sich da nicht hereinlegen lassen werde. Mit einer müden Handbewegung befahl er mich zur Protokollaufnahme und riskierte es, halblaut zu bemerken: »Da mußt du dir schon was Besseres ausdenken!« Das »Genosse« danach brachte er aber doch nicht über die Lippen, und mir fiel nichts anderes ein, als zu sagen: »Man kann ja die Hölzer nachzählen. Da fehlt kein einziges.« 

Er ging gar nicht darauf ein, gestattete mir aber, bevor er mich in eine Wartezelle bringen ließ, noch zu Hause anzurufen. Ich dürfe nur sagen wo ich sei, mehr nicht. Dennoch riskierte ich es, der erschrockenen Mutter mit leiser Stimme mitzuteilen: »Ruf sofort Sven an!« Der Polizist muß das gehört haben. Aber er wollte es überhören. 

Nicht ganz eine Stunde später holte man mich in das Verhörzimmer zurück, ließ mich ein Dokument unterzeichnen und übergab mich einem jungen Mann in SA-Uniform, der mich mit Stößen in den Rücken hinaustrieb. Das war Sven Schacht, Neffe des späteren Finanzministers Hjalmar Schacht, der damals noch wie andere Mitglieder dieser Nazitruppe an den »deutschen Sozialismus« glaubte, dem Hitler nicht ganz zehn Tage zuvor bei einem geheimen Treffen mit Thyssen und anderen Spitzen der Industrie abgeschworen hatte.

Ich hatte Sven im »Gegner-Kreis« kennengelernt und dort noch vor ein paar Tagen heftig mit ihm diskutiert, um ihn von seinem naiven Führerglauben abzubringen. »Wie hast du das fertiggebracht?« fragte ich ihn, als wir auf der Straße vor dem Präsidium waren. »Ich habe die einfach angeschrien: Der gehört doch zu uns! So muß man mit preußischen Beamten reden.« Sven hat mich noch sicher bis zur Haustür in der Tharandterstraße gebracht, und der Milchmann, Herr Unglaube, an der Ecke konnte nicht glauben, was für seltsamen politischen Umgang ich plötzlich hatte. 

Sieben Jahre später wurde mein Lebensretter in Belgrad verhaftet. Er hatte den Überfall auf Jugoslawien als Berichterstatter des <Berliner Tageblatt> mitgemacht, aber als später Nazigegner so bald wie möglich Kontakt zu kroatischen Partisanen aufgenommen. Ihm kam nach seiner Verhaftung durch die Wehrmachtspolizei niemand brüderlich zu Hilfe. Sie haben ihn grausam hingerichtet. 

Am 4. März, ein paar Tage nach meiner kurzen Festnahme, sollte die Reichstagswahl stattfinden, bei der Hitler legal, wie er es versprochen hatte, die absolute Mehrheit erlangen wollte. Harro, Turelchen und andere »Gegner« waren schon von den Nazis in eines ihrer »Sonderquartiere« verschleppt worden. Daß sie auch mich nun abholen würden, war vorauszusehen. Ich mußte also versuchen, so schnell wie möglich zu verschwinden. Denn ich war leider seit kurzer Zeit deutscher Staatsbürger. 

Der Vater hatte zwei Jahre zuvor sich und seine Familie einbürgern lassen, weil er mir dadurch meine berufliche Zukunft in Deutschland erleichtern wollte. Deshalb besaß ich einen gültigen deutschen Reisepaß. Durfte ich es aber wagen, mit diesem Papier ins Ausland zu reisen? Vermutlich war mein Name längst auf irgend­welchen Fahndungslisten

Ohne politische Erfahrung, aber einfallsreich wie immer, fand die Mutter eine großartige Lösung. Sie hatte gehört, daß Teilnehmer von Gesellschaftsreisen die Grenzen mit einem Kollektivpaß passieren konnten. So meldete sie mich beim Skiclub »Schneevögel« an, der zwei Tage vor der fatalen Reichstagswahl per D-Zug nach Tirol fuhr. Auf diese Weise habe ich die Heimat am Vorabend des Untergangs der Republik inmitten ausgelassener Sportler verlassen, die ganz unpolitische Schnaderhüpferln grölten. 

Auch ich war ganz zuversichtlich, daß dieser durch die Umstände erzwungene Ausflug nur von kurzer Dauer sein würde. Wer nahm denn schon »diesen verrückten Teppichbeißer« ernst? »Nur« Millionen Verzweifelte und Irregeleitete, die einen »Retter« suchten und einen Todesengel fanden.

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Remarque

Als Arnold Zweigs <Der Streit um den Sergeanten Grischa> Ende der zwanziger Jahre erschien, beeindruckte mich dieser Roman, in dem es um die Verfolgung und Verteidigung eines einfachen russischen Kriegsgefangenen ging, so sehr, daß ich bat, im Deutschunterricht einen Vortrag über das Buch halten zu dürfen. Auch Ludwig Renns <Krieg> und besonders Ernst Glaesers <Jahrgang 1902> habe ich sofort nach Erscheinen verschlungen. Ihr Inhalt verstärkte meine zuerst durch Leonhard Frank erweckte pazifistische Einstellung.     bing  Ernst+Glaeser+Jahrgang+1902 1902-1963

Aber keines dieser Bücher wirkte so stark auf mich und uns alle, die schon wieder einen neuen militanten Nationalismus entstehen sahen, wie Erich Maria Remarques »Im Westen nichts Neues«. Dieser Bericht eines einfachen Soldaten aus den Schützengräben des Weltkrieges war so erschütternd, daß besonders wir Jungen wochenlang über kaum etwas anderes so oft sprachen. 

Schon als der Roman Fortsetzung nach Fortsetzung in der »Vossischen Zeitung« erschienen war, hatte ich das Schicksal seines unglücklichen Helden Tag um Tag miterlebt, die Seiten ausgerissen und zusammengeheftet. So besaß ich ein zusammengestoppeltes Exemplar, als das Buch nach seinem Erscheinen wochenlang ausverkauft war, und konnte es meinen Schulfreunden — keinem länger als einen Tag — ausleihen.

Ich war auch mit den Eltern bei jener turbulenten Erstaufführung der amerikanischen Filmfassung dieser sehr deutschen Erinnerungen im »Mozartsaal« am Nollen­dorfplatz, als die Nazis weiße Mäuse im dunklen Parkett aussetzten und damit eine Panik auslösten, die ich gar nicht verstand, weil ich diese Tierchen nicht für furchterregend, sondern für niedlich hielt.

Immer wollte ich diesen Remarque persönlich kennenlernen, aber als ich ihn 1938 am <Quatorze Juillet> auf der Pariser Rue de la Harpe beim begeisterten Straßentanz mit einer hinreißenden Partnerin — es war Marlene Dietrich — erkannte, traute ich mich nicht, sein Vergnügen zu stören. Durch meine Frau, die EMR während des Kriegs in Hollywood gut kennengelernt hatte, habe ich dieses Idol meiner Jugend dann viel später doch noch persönlich getroffen. 

Es war in einem Café unter den Arkaden der Piazza von Locarno, als er mir, der ich gerade ein erstes erfolgreiches Buch geschrieben hatte und mich nun mit dem zweiten quälte, aus eigener Erfahrung einen wichtigen Rat gab: »Ihr zweites Buch kann gar nicht so groß ankommen wie das erste. Schreiben Sie es ungehemmt fertig, und denken Sie dabei stets an das dritte.« Dabei faßte er beruhigend meine Hand. Ich habe nie vorher oder nachher eine so starke taktile Ausstrahlung verspürt.

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