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   Teil 3  Die physische Erinnerung   

Janov 1980

1  Die körpereigenen Schmerz-Killer 

 

 

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Die jüngsten Entdeckungen bezüglich der Endorphine zeigen, in welch hohem Maße menschliches Verhalten durch die Verbind­ung von Urschmerz und Verdrängung beherrscht wird. Endorphine sind morphin-ähnliche Substanzen, die der Körper produziert und die schmerzstillend wirken; das heißt, sie »befassen« sich mit Schmerzen. Wir sind nicht nur unserem Urschmerz ausgeliefert, sondern auch den Substanzen, die abgerufen werden, ihn zu unterdrücken.

Endorphine spielen eine signifikante Rolle in der menschlichen Entwicklung. Sie tragen beim Verdrängen von Bedürfnissen und Urschmerzen dazu bei, unsere Triebe unter Kontrolle zu halten, und ermöglichen daher eine Speicherung und zeitliche Verschiebung unserer Reaktionen auf die Zukunft. Das bedeutet, daß uns Zeit zum Nachdenken, Verstehen und vor allem zum Abstrahieren bleibt — Zeit zum Ersinnen von Reaktionen und zur Schaffung eines Reaktions­repertoires, das uns von dem direkten Reiz-Reaktions-Verhalten der Tiere unterscheidet. 

In diesem Sinne stellen die Endorphine den Ursprung des Menschseins dar — die raison d'etre* des Neokortex.1 Letztendlich erlauben sie uns zu symbolisieren und zu abstrahieren, was schließlich eine neue Gehirn­struktur zur Folge hat.

Der Endorphin-Ausstoß hat es der Menschheit ermöglicht, trotz der fortwährenden Katastrophen in der Welt zu funktionieren und sich anzupassen. Im psychologischen Sinn erlaubt er uns, die »schöne Seite zu betrachten«, weil wir über die erforderlichen Mittel verfügen, unsere dunkle Seite zu verstecken.

Seit Beginn der primitivsten Lebensformen haben die Endorphine die Funktion, unangenehme Empfindungen dem Bewußtsein fernzuhalten. Diese ursprüngliche Wirkungsweise ermöglichte schließlich dem Neurotiker die Spaltung der Psyche; sie gestattet es, daß eine Ebene des neuralen Aufbaus nicht weiß, was die andere Ebene tut oder denkt.

1)  Endorphine werden hauptsächlich von der Hypophyse und dem Hypothalamus produziert. Sie sind auch in anderen Gehirn­strukturen vorhanden und befassen sich entweder mit der Vermittlung oder der Unterdrückung der Urschmerz-Botschaften im ganzen Gehirn.

duden.de   Raison_d_Etre   Existenzberechtigung, Daseinsberechtigung; Rechtfertigung  


Durch sie kann der Mensch trotz fortwährender Deprivation und Traumata im frühen Leben funktionieren. In diesem Sinne sind Endorphine für den Ursprung des Unbewußten verantwortlich; das Unbewußte könnte ohne sie nicht existieren. Sie lassen uns vergessen und erlauben uns, nicht nur unbewußte Urschmerzen, sondern das Unbewußte selbst zu leugnen.

Das Endorphinsystem (heute sind viele Endorphin-Arten bekannt) wird durch das unablässige Wechselspiel mit der Außenwelt immer verwickelter. Dieses schmerz­kontrollierende System entwickelte sich aufgrund des Bedürfnisses, Unangenehmes und Schädliches zu vermeiden. Jetzt produziert der Körper Endorphine, die tausendmal stärker sind als das kommerziell hergestellte Morphium. Dies läßt die gewaltige Kraft der Urschmerzen erkennen, die sich im menschlichen Nervensystem niedergeschlagen haben. Ich bin der Überzeugung, daß die Endorphine genau der Aufgabe entsprechen, die von ihnen verlangt wird — das heißt, sie zeigen die Stärke der Urschmerzen an, mit denen sie sich beschäftigen müssen.

Neurotensin ist ein kürzlich entdecktes Endorphin. Wenn man das Leidensbild eines Primals betrachtet, versteht man, warum dem Körper die Herstellung einer Substanz auferlegt wurde, die sehr viel stärker ist als jede Morphium-Injektion. Die Stärke von Neurotensin gibt uns ein Vorgefühl von der unglaub­lichen Kraft von Urschmerz.2

Die Tatsache, daß die Wirkungsweise der Endorphine injiziertem Morphium ähnelt, kann am Beispiel des Naloxon, ein dem Morphium antagonistisch wirkender Stoff, illustriert werden. Naloxon versetzt einen Menschen sofort in Urschmerzen, nicht weil es schädlich ist, sondern weil es die Verdrängung aufhebt und Urschmerz an die Oberfläche läßt. In diesem Sinne ist Naioxon ein Wirkstoff des Bewußtseins. Die Endorphin-Forschung unterstützt stark die Annahme, daß eine strukturelle Ähnlichkeit zu Morphium besteht, und weist darauf hin, daß Urschmerz ein Anlaß zur Selbstinjektion von Morphium ist.

2)  Vor kurzem wurde ein weiterer körpereigener Schmerz-Killer entdeckt, Dynorphin. Er ist 700mal stärker als Enkephalin, 200mal stärker als Morphium und 50mal stärker als Beta-Endorphin. Je mehr wir entdecken, desto mehr erkennen wir, daß unsere Biologie stark schmerzorientiert ist und daß ein großer Teil unserer Biochemie nicht viel mehr ist als ein schmerzstillender Verbund, der für Verdrängung sorgt.

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Fast alle Schmerz-Killer, seien es Tranquilizer, Alkohol oder Barbiturate, bedienen sich der gleichen Mechan­is­men, um die Produktion von Endorphin in Gang zu bringen. Alkoholentzug kann mit Tranquilizern und sogar Heroin behandelt werden, während andererseits Heroinentzug mit Alkohol behandelt werden kann. Es geht in jedem Fall darum, Urschmerz abzutöten. 

Deutlich erkennbar ist auch die enge Beziehung zur Sucht, sei es Alkohol, Aspirin, Heroin, Tranquilizer oder Schlaftabletten. Sie bezwecken alle das gleiche. Die grundlegende Behandlung jeder Sucht kann deshalb nur in einer Befreiung des Körpers von Urschmerz gefunden werden — der an erster Stelle die Ursache der Einnahme von Schmerz-Killern ist. Menschen, die »nur ein bißchen nervös« sind, die Tranquilizer zur Beruhigung nehmen, sollten wissen, daß Urschmerz ihr Problem ist.

Der schwedische Pharmakologe Lars Terenius entdeckte, daß Patienten, die unter emotionalem Schmerz leiden, mehr Endorphine produzieren als Patienten, die unter physischen Schmerzen leiden.Emotionaler Schmerz ist real und physisch häufig intensiver als »körperlicher Schmerz«. In Terenius' Analysen hielten die Menschen mit emotionalem oder psychischem Schmerz weniger physischen Schmerz aus. Ihr Körper war überreaktiv, produzierte mehr Schmerzunterdrücker. Der Körper unterscheidet nicht zwischen physischem und emotionalem Schmerz, wenn es darum geht, ihn zu verarbeiten. Wir fühlen uns gefühlsmäßig schlecht, wenn wir körperlich verletzt sind, und wir leiden physisch, wenn wir emotionale Qualen erdulden. Auf Verletzungen, gleich welchen Ursprungs, haben wir nur eine Reaktion.

Sogar psychosomatische Beschwerden beruhen auf einer physischen Störung, auch wenn man das, worüber sich die Patienten beklagen, nicht auf einer Röntgenaufnahme entdecken kann. Ärzte handeln, als sei psycho­somatischer Schmerz real, auch wenn sie nicht daran glauben. Das beweist die Tatsache, daß sie ihren Patienten häufig Tranquilizer geben, die nicht viel mehr sind als (Ur-)Schmerz-Blocker. Selbst wenn Ärzte glauben, daß sie »nur die Nerven des Patienten beruhigen«, tragen sie in Wirklichkeit dazu bei, die Übermittlung der Schmerz-Botschaft durch die Nervenbahnen herunterzudrücken.4

3)  Vortrag auf dem Second World Congress on Pain, Montreal, August 1978.

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Es gibt mindestens sieben Endorphin-Arten. Zwei von ihnen scheinen in entgegengesetzten Richtungen zu funktionieren, das eine ist Leucin, (»Leu«)-Endorphin, das andere Methionin, (»Meth«)-Endorphin. Leu-Endorphin dient der Übermittlung von Urschmerz. Es ist im Übermaß bei Psychotikern zu finden; es dient dazu, Schmerz zu übermitteln, und verstärkt und begünstigt dadurch den psychotischen Prozeß. Meth-Endorphin ist in der entgegengesetzten Richtung tätig und hat schmerzstillende Funktionen. Es »tötet« (stumpft) Urschmerz ab. 

Andere wichtige biochemische Systeme arbeiten mit den Endorphinen zusammen, um entweder Urschmerz zu übermitteln oder zu hemmen. Das Dopamin-System könnte mit dem Leu-Endorphin zusammen­arbeiten, um das Limbische System anzuregen und die Schleusen zum Urschmerz zu »öffnen«. Diese Systeme lösen das Leiden aus. Patienten mit Nierenproblemen, die eine Hämo-Dialyse (eine Art Blutreinigung) erhalten, verloren vorübergehend ihre psychotischen Symptome, wenn Leu-Endorphin ausgeschaltet wurde, was ein Hinweis darauf sein kann, daß die Auslösung von Urschmerz für die Psychose entscheidend ist und daß er sowohl im Blut als auch im Gehirn vorhanden ist. Es ist, mit anderen Worten, buchstäblich möglich, die Psychose aus dem Blutkreislauf herauszuwaschen, wenngleich auch nur vorübergehend. Diese Forschungen bieten uns wichtige Anhaltspunkte für die Beziehung zwischen Urschmerz und Psychose und für die Schluß­folgerung, daß »Geisteskrankheit« organisch, im ganzen Organismus vorhanden ist.

Immer mehr Anzeichen deuten darauf hin, daß ein Trauma im frühen Lebensalter die Endorphine in die eine oder andere Richtung aus dem Gleichgewicht bringt, so daß wir entweder zuviel oder zu wenig spezifische Arten von Schmerz-Abstumpfern haben.

Während der frühen Entwicklung sind Hirnzellen in der Lage, bei der Wahl ihrer neuralen Transmitter zu variieren, wenn sie einer bestimmten Umwelt ausgesetzt werden.5 Es gibt Hinweise dafür, daß die Umwelt eine bestimmte Art der Gehirnstruktur und -funktion aufbaut, die sich spezifischer­weise mit eben dieser Umwelt beschäftigt.

4)  R.F. Squires Arbeit in Kopenhagen weist darauf hin, daß sich radioaktiv gemachtes Valium »an höchst spezifische Opiat-Rezeptor-Stellen (in Tiergehirnen) bindet«.
5)  Science,  26. Oktober 1979; Rezension von Jean Marx.

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Mit anderen Worten, das biochemische Gleichgewicht im Gehirn kann permanent verändert werden und hängt von den frühen Lebenserfahrungen ab.

Jemand kann zuviel oder zu wenig Leu-Endorphin oder Meth-Endorphin haben. Wenn es sich um ein starkes Ungleichgewicht handelt, das hinausgezögert wird, kann später eine Psychose die Folge sein. Im Gehirn von Psychotikern sind zum Beispiel viel mehr Dopamin-Rezeptoren. Wo mehr Urschmerz ist, muß es auch mehr Stellen geben, wo er »aufgenommen« werden kann.

Anhaltspunkte dafür, warum Schizophrene im Übermaß über Dopamin-Rezeptoren verfügen, geben uns die Arbeiten von Morpurgo und Spinelli. Wenn das Leben von Anfang an außergewöhnlich schmerzhaft ist, wird eine große Menge aktivierender Neuro-Transmitter nötig, die bei Erregung intervenieren. Es kommt zu einer Hyperreaktivität und einem größeren Empfindungs­vermögen gegenüber jeder Art von Reizen. Zu finden sind diese Dopamin-Rezeptoren in signifkantem Ausmaß im Vorderhirn, wo Vorstellungen entstehen, und im Limbischen System, wo Emotionen verarbeitet werden. Dies könnte erklären, warum der paranoide Psychotiker auf Vorstellungen als letzten Zufluchtsort der Abwehr zurückgreift. Eine Morphiuminjektion unterdrückt diese »Vorstellungs­fähigkeit« auf der Stelle — dies wiederum ist ein deutlicher Hinweis auf die Beziehung zwischen Urschmerz und psychotischem Vorstellungs­vermögen.

Die Signifikanz des frühen Traumas, das Neurose und Psychose nach sich zieht, wird durch neue Experimente von Clara Torda illustriert.6 Sie führte eine Reihe von Experimenten mit Rattenjungen durch und stellte fest, daß stressende Erfahrungen während des frühen postnatalen Lebens einen signifikanten Anstieg der Opiat-Rezeptor-Systeme zur Folge haben. Das zeigt, daß diese Traumata die Gehirnstruktur (vorzeitige Entwicklung von bei Schmerz intervenierenden Zellen) und ihre Chemie (die Menge der zirkulierenden Endorphine) veränderten. Früher Urschmerz zieht die Neuro-Maschinerie in Mitleidenschaft und schafft die Bedingungen für spätere Abnormität. Dies bedeutet, daß anomales Erwachsenenverhalten das Resultat schwerer Traumata während des intrauterinen und frühen postnatalen Lebens sein kann. »Emotionaler« Streß wird als Urschmerz verarbeitet.

6)  Clara Torda, »Effects of Recurrent Postnatal Pain-Related Stressful Events on Opiate Receptor Endogenous Ligan System«, Psycho­neuro­endocrinology, 1978, 3, S. 85-91.

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Die schmerzhaften Erfahrungen der Tiere hatten ein Hirnsystem mit einer größeren Anzahl von Opiat-Rezeptoren zur Folge. Obwohl Torda mit Tieren arbeitete und ihre Befunde noch nicht im gesamten Umfang auf den Menschen übertragbar sind, liegen die Implikationen auf der Hand. Die umgekehrte Argumentation heißt, daß eine erhöhte Anzahl von Opiat-Rezeptoren im menschlichen Gehirn auf das Vorhandensein früher Traumata hinweist. Vielleicht haben aus diesem Grund Psychotiker doppelt so viele Dopamin-Rezeptoren im Limbischen System wie normale Menschen.

Man hat bei Tieren mit Amphetamininjektionen Psychosen hervorgerufen (am <Albert Einstein College of Medicine>). Die Tiere verhielten sich tatsächlich »verrückt« — sie liefen hin und her, rannten sich die Köpfe ein und bewegten sich in stereotypen, sich wiederholenden Mustern, richteten sich fortwährend auf und so weiter. Bei der Autopsie entdeckte man in ihren Gehirnen einen viel höheren Dopamin-Wert. Was noch entscheidender ist: Vor der Verabreichung des Amphetamins wurden die Tiere mit einem Summer konditioniert. Jene Tiere, die später nur dem Summer ausgesetzt wurden, hatten immer noch höhere Dopamin-Werte im Gehirn. Kurz gesagt, veränderten psychologische Faktoren die Biochemie der Tiere mit der gleichen Gewißheit, als hätten sie Injektionen erhalten.

Amphetamine wirken hauptsächlich dadurch, daß sie die Sekretion von Noradrenalin und Dopamin auslösen, die beide das Gehirn aktivieren. Einen vertrauten Typ der Amphetamin-Psychose finden wir bei Menschen, die sich zuviel »Speed« (Aufputsch­mittel) einverleiben. Drogen, die die Endorphin­produktion fördern, können diese Art von Psychose aufheben.

Die Tatsache biologischer Veränderungen im Gehirn als Folge früher Traumata ist deshalb so wichtig, weil der Organismus durch ungünstige Ereignisse hyperaktiv gemacht werden kann, sich diese Hyperaktivität einprägt und das Gehirn in entsprechender Weise verändert.  

Das kann sich mit psychischen Faktoren vermischen und eine aggressive, extrovertierte Persönlichkeit hervor­bringen. Die aggressive Persönlichkeit wiederum bedarf des Übergewichts der einen oder anderen biochemischen Substanz, und damit hat sich der Kreis geschlossen. Es ist nicht einfach so, daß der Organismus erregt ist, sondern daß sich das Gehirn verändert hat. Und das hat Einfluß darauf, zu welcher Art von Persönlichkeit man wird.

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Die Einprägung beeinflußt die gesamte Physiologie, nicht nur das Hirnsystem. Deshalb kann es eine eingravierte Tendenz zu hohem Puls und hyper­kinetischem Verhalten geben. Diese physiologische Veränder­ung kann in Verbindung mit einer bestimmten sozialen Umwelt große Triebstärke, gesteigerte Libido und eine Vielzahl psychischer Begleiterscheinungen nach sich ziehen. Sie kann auch zu »Draufgängertum« führen oder sogar bei Ehrgeiz eine wichtige Rolle spielen, denn Ehrgeiz impliziert, abgesehen von seinen psychischen Komponenten, eine bestimmte Energie oder Antriebsmotivation, die einen Menschen vorantreibt. Solche Charakteristika können, so befremdend es erscheinen mag, von einem massiven Geburtstrauma herrühren, das eine allgemeine Hyperaktivität ausgelöst hat. Offensichtlich spielen bei all diesen Dingen auch soziale Faktoren eine Rolle. Doch kann der grund­legende Anstoß dazu schon aus dem sehr frühen Leben stammen.

Serotonin produzierende Zellen stellen eine Gegenkraft zu Dopamin dar. 

Serotonin schließt die Schleusen, die von Dopamin geöffnet werden. Durch eine Förderung der Endorphinproduktion trägt es zur Unterstützung der Verdrängung bei.7 Chronischer Streß senkt den Serotoninspiegel im Gehirn besonders an den Stellen, an denen schmerzvolle Erinnerungen gespeichert sind — in Kortex und Hippokampus.8

Das Serotoninsystem funktioniert im Gleichgewicht mit Katalysatoren wie zum Beispiel Noradrenalin und Dopamin. Ein niedriger Serotonin- und ein hoher Dopaminspiegel machen Tiere viel aggressiver. Menschen mit niedrigem Serotoninspiegel sind am ängstlichsten; oder vielleicht führt Ängstlichkeit bei Menschen zu niedrigem Serotoninspiegel.

Im gewöhnlichen Verlauf der Ereignisse sorgt das Endorphinsystem dafür, daß wir nicht bewußt werden.9

7)  Eine wichtige Studie der UCLA von Leibeskind dokumentiert diesen Sachverhalt. Eine neuere Untersuchung von Federigo Sicuteri, Universität von Florenz, ergab einen Serotoninmangel im Hirnstamm bei Migränepatienten.

8)  Es ist jetzt ausreichend nachgewiesen, daß der Migräne-Schmerz mit einem Abfall von L-Trytophan (dem Vorboten von Serotonin) verbunden ist und daß die Verabreichung von L-Tryptophan Kopfschmerzen mildert. Anders ausgedrückt heißt das, wenn der Druck der Urschmerzen überstark wird, kann es zu Kopfschmerzen kommen, denen mit chemischer Unterstützung des Verdrängungsprozesses abgeholfen werden kann.

9)  Tranquilizer wie Thorazin blockieren Dopamin und verringern damit Zwangsvorstellungen und Erregung. Eines der Zersetzungsprodukte des Alkohols ist eine morphinähnliche Substanz. Deshalb scheint es wahrscheinlich, daß Menschen mit unzulänglicher biologischer Schleusung trinken, um ihr Schleusungssystem zu verstärken. Der Blutkreislauf im Frontalbereich des Gehirns, der sich mit Hemmung befaßt, verringert sich. Auf diese Art senkt Alkohol sowohl Empfindung als auch Bewußtsein von Urschmerz. Es könnte sein, daß das Endorphinsystem ständig auf niedriger Stufe arbeitet, um uns unserer Urschmerzen unbewußt und uns irgendwie entspannt zu machen. Unter Streß erhöht sich der Ausstoß.

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Unter großem Streß ist es jedoch möglich, daß Urschmerz sich mit gespeicherten Urschmerzen verbindet und es da durch eine Überlastung des Endorphin­systems zu einem bewußten Angsterlebnis kommt. Wenn unser Reservoir gespeicherter Urschmerzen bereits einen hohen Stand erreicht hat, braucht es nicht viel, um das Endorphin­system zu überlasten.

Ein Urschmerz verursacht normalerweise noch keine Neurose. Es ist die Akkumulation vieler Urschmerzen, die schließlich die gewöhnlichen Kompensations­mechanismen überlastet und permanente Funktions­veränder­ungen hervorruft — vor allem daran können wir die Existenz der Neurose erkennen.

Beta-Endorphin, das als Schmerz-Killer achtundvierzigmal stärker ist als Morphium, wird gleichzeitig mit dem Streßhormon ACTH abgesondert. Die Bedeutung dieses Ausstoßes liegt darin, daß beide ungeachtet der Art von Streß gleichzeitig freigesetzt werden. Beta-Endorphin ist bei der Behandlung starker Krebsschmerzen erfolgreich eingesetzt worden und hat sich auch bei der Behandlung von Psychosen und Depressionen als nützlich erwiesen.

Eines der Verfahren zur Erzeugung von Beta-Endorphin ist die Gehirnimplantation. Elektroden schießen Strom in bestimmte Bereiche des Gehirns, was zur Beta-Endorphinproduktion anregt und den Urschmerz dämpft. Dieser Vorgang hilft uns zu verstehen, wie jemand, der von Urschmerz überschwemmt wird — elektrische Impulse —, den Eindruck erwecken kann, »tot« zu sein, nichts zu fühlen. Es ist, als ob gespeicherte Traumata fortwährend endogene Schmerz-Unterdrücker stimulieren, um uns nichts fühlen zu lassen.

Beta-Endorphin reguliert, wie auch andere Endorphine, die Körpertemperatur. Demerol, Percodan und andere ähnliche Urschmerz-Killer senken die Körpertemperatur. Fortgeschrittene Primärpatienten scheinen über eine ausreichende Endorphin­menge zu verfügen, die mit dem verringerten Maß an Urschmerzen im Organismus fertig wird und damit auch die Körpertemperatur senkt.10)

10)  Science News, 17. September 1977, S. 182; 25. November 1978, S. 135.

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Wir alle haben schon gehört, daß man zu einem Menschen, der sehr erregt ist, sagt: »Jetzt kühl dich mal ab!« Anscheinend kann man das im wahrsten Sinne des Wortes. Menschen mit Endorphinmangel sind heißer, haben eine höhere Körpertemperatur.

Genau aus diesem Grund haben Psychotiker fast immer eine erhöhte Körpertemperatur. Dies, zusammen mit der Tatsache, daß sie fast keine normalen Phasen des Tiefschlafs haben, läßt vermuten, daß der konstant niedrige Stand der zur Verdrängung führenden Endorphinreserven in Beziehung zum Ausmaß an Urschmerzen im Organismus steht. Menschen mit mangelhafter Endorphin­versorgung fühlen sich oft niedergedrückt und vernichtet, weil der Urschmerz durchbricht.11

Wenn wir unser Interesse nur auf eines der Endorphine richten, um die »Ursache« von Geisteskrankheiten herauszufinden, sehen wir in die Irre, weil Urschmerz ein organismisch verschlüsseltes Ereignis ist, das den ganzen Organismus, jedes Subsystem auf eigene Art und Weise verändert. Ich habe mich auf die Endorphine konzentriert, hätte aber ebenso gut andere Systeme in den Blickpunkt rücken und auffällige Veränderungen aufzeigen können. Die Veränderungen sind, so glaube ich, Begleit­erscheinungen, keine Ursachen.

Fast jeden Monat werden neue Endorphin-Arten entdeckt, jede spielt eine andere Rolle und hat eine andere Funktion; sie verdanken ihr Vorhandensein der Tatsache des Urschmerzes. Ihre Wichtigkeit liegt darin, daß sie uns die herausragende Rolle des Urschmerzes bei einer Vielzahl von Krankheiten mitteilen. Sie zeigen uns, daß die Auflösung von Urschmerz die unabdingbare Voraussetzung von Genesung und Gesundheit ist.

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11)  Vor kurzem hat S. Ehrenpreis von der <Chicago Medical School> eine Droge entwickelt, <DPA>, die bestimmte Enzyme daran hindert, Endorphine aufzuspalten. DPA verschafft, nach nur zwei Tagen der Verabreichung, eine deutliche Linderung der Urschmerzen, die bis zu einem Monat anhält. Ehrenpreis glaubt, daß die Langzeitwirkung das Resultat einer langfristigen Anhebung des Endorphinspiegels im Gehirn ist. DPA führt zur Entwicklung langfristiger Schmerzlosigkeit ohne Entzugs- oder Suchterscheinungen, weil es das körpereigene Morphinsystem manipuliert.

 

 

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