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2. Glaubensvorstellungen als Opiate

    Janov 1980

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Abwehr blockiert Urschmerz; dies geschieht durch das Endorphinsystem. Nimmt man die Abwehr weg, leidet der Patient unter Entzugs­erscheinungen seiner Neurose. In diesem Sinne ist der Neurotiker abwehr-süchtig. In der Primärtherapie eine Abwehr zu verhindern hat den gleichen biochemischen Effekt wie die Verabreichung einer Naloxon-Injektion. Beide rufen das sofortige Bewußtsein von Urschmerz hervor.

Der Grund, warum der Neurotiker von seinen Abwehrformen abhängig ist, liegt darin, daß sie dazu beitragen, ihn sich selbst gegenüber unbewußt zu halten, und daß seine Empfindungen denen gleichen, die er nach einer Morphiuminjektion hätte. Ein Mensch mit Urschmerzen bekommt eine Dosis Morphium — nur wird sie innerlich, von den hypothalamisch-hypophysären Strukturen injiziert. Wenn der Schmerz beträchtlich ist, wird Beta-Endorphin hergestellt und der Patient verabreicht sich eine große Dosis dieses Schmerz-Killers.

Bestimmte Drogen, wie Tranquilizer, verändern Vorstellungen radikal. Zum Beispiel können Schmerz-Killer bei psychotischen Zuständen innerhalb von Minuten aus einer bizarren Vorstellung einen ziemlich normalen Gedanken machen.

Das beste Beruhigungsmittel der Welt ist eine Glaubensvorstellung. 

Glaubensvorstellungen sind nicht wie Opiate — sie sind Opiate. Wenn jemand sagt: »Du bist wirklich gut«, »Wir kümmern uns um dich« oder »Wir stehen hinter dir«, ist das eine beruhigende Vorstellung. Sie gelangt ins Gehirn, erlangt Bedeutung, wird in einen biochemischen Prozeß umgewandelt (zweifelsohne der Endorphin-Morphium-Art) und unterdrückt schließlich den Urschmerz. Der Mensch mag subjektiv nicht glauben, daß er leidet — weil genau jene Vorstellungen es ihm erlauben, sich ein wenig besser zu fühlen.

Ein Mensch, der besänftigende Worte sagt, wird normalerweise geliebt und bewundert — er ist in der Tat der »Schuß«. Man kann von einem solchen Menschen genauso abhängig werden wie von jeder Substanz, die wirkungsvoll Schmerz stillt. Der Mensch, die Behag­lichkeit und Wärme, die er vermittelt, die Hoffnung, die er bietet und seine Vorstellungen werden am Ende alle zu physischen Schmerzmitteln.

Jede Vorstellung, die den Anschein erweckt, Bedürfnisse zu befriedigen, wirkt als Tranquilizer unbewußten Urschmerzes. Wenn jemand einem sagt: »Du bist total unfähig«, »Du bist wirklich allein in dieser Welt und keiner kümmert sich um dich«, wird genau das Gegenteil erreicht. Gespeicherter Urschmerz wird ausgelöst, dringt an die Oberfläche und der Mensch wird sich seines Leidens deutlich bewußt. Lob zu hören ist nicht nur Musik in den Ohren, sondern auch chemische Substanzen im Gehirn.

Lob und Ermutigung sind sehr präzise biochemische Instrumente. Darin liegt der Reiz von EST (Erhard Seminar Training) und anderer Methoden. Sie sprechen unbefriedigte Bedürfnisse an. Menschen mögen die Wahrheit über sich nicht hören, denn Wahrheit bedeutet normalerweise Urschmerz. Lügen sind viel angenehmer, und wenn man es nach der Popularität verschiedener (ur-)schmerzloser schneller Therapie­formen beurteilt, auch viel attraktiver.

Die Tatsache, daß Vorstellungen beruhigen, indem sie die Endorphinproduktion begünstigen, zeigt, wie geistige Abwehr funktioniert. Rationalisierungen wie »Das sind ja sowieso bescheuerte Leute«, »Gott wird mich schützen und über mich wachen«, »Ich wollte den Job ja sowieso nicht«, folgen den kortikalen Bahnen, wo sich Vorstellungen aufbauen, hinunter zur Hypothalamus-Hypophysen-Achse, wo der Urschmerz und seine Verdrängung organisiert werden, um dort die Verletzung zu unterdrücken. Die Vorstellungen begegnen den alten Qualen der Ablehnung, Erniedrigung oder der Kritik. Das heißt, sie blockieren die unteren Ebenen, auf denen diese Feelings organisiert sind und verarbeitet werden. Und wie mächtig Vorstellungen sein können!

Marx hatte nicht unrecht, als er sagte, Religion (eine Reihe von Glaubensvorstellungen) sei Opium für das Volk. Es gibt kaum einen Ersatz für eine gute religiöse oder mystische Vorstellung oder eine politische Philosophie als Betäubungsmittel. Ein Bewerber sagte mir: »Ich habe Angst, durch diese Therapie meine Religion zu verlieren. Wissen Sie, sie ist nicht nur eine Abwehr, sie enthält auch universelle Wahrheiten«. Ich erklärte ihm, daß das, was wahr sei, auch wahr bleiben würde. Wir lösen nur den Urschmerz heraus, und die Vorstellungen, die sich auf ihm aufbauen, zerbröckeln.

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Die Hinweise darauf, daß Vorstellungen und Glaubensansichten Betäubungsmittel sein können, häufen sich. 

Dr. Fields von der <University of California> in San Francisco führte Experimente mit Patienten in zahnärztlicher Behandlung durch, um zu zeigen, daß psychische Faktoren die Endorphinproduktion auslösen können.1) Eine Gruppe erhielt Zuckerpillen (Placebos), es wurde ihnen aber gesagt, es handele sich um starke Schmerztabletten. Ein Drittel der Patienten berichtete von einer Abnahme der Schmerzen. Doch nach einer Naloxoninjektion verschwanden die Auswirkungen der Placebos, was darauf hindeutet, daß es die damit verbundenen Vorstellungen waren, welche die Endorphinproduktion ausgelöst hatten. Patienten, die kein Nachlassen der Schmerzen berichtet hatten, blieben von dem Naloxon unbeeinflußt. Die Forscher versicherten, daß Endorphinproduktion die beste Erklärung für ihre Resultate sei. 

Diese höchst wichtige Untersuchung zeigt, daß psychische Faktoren, Erwartungen, Hoffnungen und Vorstellungen Urschmerz auf die gleich biochemische Art stillegen können, wie es bei injiziertem Morphium der Fall ist. Wir sehen hier auch, wie Hypnose funktionieren könnte. Jemand füttert den Organismus mit Vorstellungen, und der Mensch fühlt keinen Nadelstich oder die Hitze eines Streichholzes mehr.

Die neuere Forschung läßt darauf schließen, daß man mit einer Injektion Vorstellungen umkehren kann. Jemand, der das Gefühl hat: »Mir geht's super. Ich fühle mich entspannt. Mit meinem Leben stimmt alles«, braucht nur eine Naloxoninjektion, und schon denkt er: »Das ist doch eine Scheißwelt, ich fühle mich elend.« <1984> ist schon da.

Aus all dem Gesagten ergeben sich Folgerungen für Suggestions-Therapie, wie etwa direktives Tagträumen, Imagery-Therapie, Hypnose und auch direkte Suggestionen durch einen Therapeuten. In einigen dieser Therapieformen wird der Patient gebeten, sein Problem zu diskutieren und sich eine Lösung vorzustellen. Hinterher fühlt er sich häufig besser. Ihm wird nicht klar, daß es sich um eine vorgestellte, eingebildete Lösung eines realen Problems handelt, weil er sich ja wirklich besser fühlt; die Vorstellungen und Einbildungen sind zu biochemischen Agenten geworden, die den Urschmerz unterdrücken. 

1)  Report auf dem Second World Congress on Pain, Montreal, August 1978.

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Was mich bei all diesem ärgert, ist das Alice-im-Wunderland-Gefühl: Angesehene Therapeuten stellen imaginäre Lösungen zur Verfügung und glauben, sie würden dem Patienten damit helfen. Genau das kommt häufig in der Verhaltens- oder Konditionierungs­therapie vor, in die ein Patient mit, sagen wir, Höhenangst kommt. Er wird gebeten, sich Höhe vorzustellen, und ihm wird erklärt, daß es ja wirklich nichts zum Fürchten dabei gäbe. Es handelt sich um einen differenzierten Prozeß, der »Desensibilisierung« genannt wird, aber am Schluß steht auch hier die alte imaginäre Lösung. Vorstellungen und Einbildungen, die durch den desensibilisierenden Therapeuten zur Verfügung gestellt werden, wirken durch die Steigerung des Endorphinausstoßes der großen Angst des Patienten entgegen. Aber das ist natürlich nur ein zeitlich begrenztes Beruhigungs­mittel.

Biofeedback ist ein weiteres Beispiel dafür, wie Glaubensvorstellungen als Betäubungsmittel wirken können. Dabei wird der Patient gebeten, mit Hilfe entweder bestimmter Gedanken oder bestimmter Imaginationen seine Hirntätigkeit auf einem Bildschirm sichtbar zu machen. Wenn er sein Gehirn in die sogenannte »Entspannungs-Zone« bringt, meint er, sich besser zu fühlen. In diesem Sinne sollte sich der Patient »besser« fühlen. Aber auch hier verändern Vorstellung und Imagination die (Ur-) Schmerz­schwelle. Wenn der Patient ein bestimmtes Bild auf dem Schirm sieht, fängt sein Körper an, sich zu entspannen. Was tatsächlich passiert ist, daß er seine Hirnwellen auf eine bestimmte Ebene gebracht hat, auf der er Urschmerz wirksam unter­drücken kann.

Die Injektion von Glaubensvorstellungen geschieht aber nicht nur in der direktiven Suggestions-Therapie. Die Psychoanalyse bewerkstelligt mit ihren Einsichten das gleiche. Es ist nicht die Frage, was die Einsicht ist, sondern vielmehr, ob es sie als Tatsache überhaupt gibt und ob es nicht eine Annahme ist, die mit Wärme, Intelligenz und Bedeutsamkeit angeboten wird, um den Schmerz abzustellen. Jede rationale Erklärung führt dazu, daß man sich besser fühlt. Aus diesem Grund kann das Gehirn überhaupt rationalisieren. Die Fähigkeit zur Vernunft ist in sich hemmend oder verdrängend. Daher tragen die gutgemeinten Angebote von Einsichten und Erklärungen des Psychoanalytikers im wesentlichen zur Verdrängung bei. Und je besänftigender seine Worte sind, je mehr Gewicht und Autorität sie haben, desto eher können sie sich in Morphium verwandeln. Der Patient bekommt die Injektion nicht mit der Nadel, sondern mit dem Mund.

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Die Akupunkturforschung hat gezeigt, daß diejenigen, denen man am besten helfen kann, auch am besten zu beeinflussen sind. Im allgemeinen geht es ihnen aus zwei Gründen besser. Erstens bewirkt Akupunktur eine Überlastungssituation durch konstante und exakte Reizung von Nervenzellen auf großen Flächen des Körpers. Das steigert den Endorphinausstoß und führt zur Unterbrechung des Urschmerzes, was dem Organismus eine Ruhepause und eine Wiedererlangung der Kräfte erlaubt. Der zweite Grund ist die bloße Erwähnung einer Wunderkur: Jemanden mit Nadeln vollzustecken, um eine Krankheit zu beseitigen, ist ein Vorgang, der endogene Opiate produziert.2 Man muß die Nadeln nicht einmal an den klassischen Akupunktur­punkten ansetzen, um jemanden gesund werden zu lassen. Forschungen lassen erkennen, daß es nur erforderlich ist, jemanden ausreichend zu punktieren, um Verdrängungskräfte gegen Urschmerz zu beleben.3 Die sogenannten Akupunkturpunkte sind möglicherweise doch nicht so spezifisch.4

 

Glaubensvorstellungen werden nicht nur in der Psychotherapie als Schmerz-Killer eingesetzt. Vorstellungen können ebensogut auch politische oder religiöse sein. Der Inhalt ist nur insofern wichtig, als er tröstet und Rettung bietet. Hauptsache ist, daß man irgendeinen Glauben hat, an den man sich klammern kann. Der Mensch begreift in den seltensten Fällen, daß er sich an etwas klammert; er glaubt, daß er sich für das Thema, sei es philosophischer oder therapeutischer Natur, interessiert. Je mehr Hoffnung diese Glaubens­vorstellungen bieten, desto besser, Hoffnung macht sie zu noch stärkeren Schmerzmitteln.

Die Bedeutung irrealer Hoffnung erklärt sich aus ihrer Urschmerz-Unterdrückung. Dieses Phänomen kann die Heilungen durch Gesundbeter und Mystiker erklären. Es macht verständlich, warum »Handauflegen« tatsächlich eine Heilung von Symptomen bewirken kann. Die Hoffnung der Verzweifelten auf Hilfe ist die magische Zutat. Obwohl sie sich dessen nicht bewußt sind, sind sie es, die über die magische Kraft verfügen. Ihre Hoffnungen und ihre den Urschmerz stillenden Kräfte werden von den sogenannten Heilern mobilisiert.

2  Auswirkungen der Akupunktur können mit dem Morphin-Antagonisten Naxolon umgekehrt werden, was wiederum darauf hinweist, daß Akupunktur hauptsächlich über das Endorphinsystem wirksam ist.
3  Vgl. dazu Journal of Pain, Ghia, J. et al., »Acupuncture and Chronic Pain Mechanisms«, Bd. 3, September 1976, S. 285-99.
4  Vgl. Sdence News, 20. November 1976, S. 324. Siehe auch den Artikel von Solomon Snyder in Scentific American, März 1977, Bd. 236, Nr. 3.

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Deshalb erfreuen sich die Geschäftemacher mit der Hoffnung auch eines so außergewöhnlichen Einflusses auf andere. Wenn jemand hoffnungsvolle Glaubens­vorstellungen anzweifelt, wird man ihm selten Gehör schenken, denn die Schwächung der Hoffnung liefert den Menschen schutzlos seinem Urschmerz aus.

Hoffnung, Zuversicht und Glaube sind die grundlegenden Formen biochemischer Prozesse. Hoffnung trägt dazu bei, die biochemische Unversehrtheit des Organismus zu erhalten, und ermöglicht das Weiter­funktion­ieren.

 

Gehirnwäsche als Schmerzwäsche 

 

Die Gehirnwäsche ist ein weiterer Fall des Gebrauchs von Glaubensvorstellungen als Opiat, das heißt, bestimmte Vorstellungen, die einem Menschen injiziert werden, können ihn dazu bringen, sein Denken radikal und permanent zu ändern. Er mag dann an Sachen glauben, die er nicht wirklich glaubt und Überzeugungen annehmen, die seiner Erfahrung widersprechen. Gehirnwäsche kann viele Gesichter haben. Sie kann sich in der Kindertagesstätte, dem Kindergarten, der Kirche oder zu Hause abspielen — nur wird es nicht Gehirnwäsche genannt, sondern Erziehung, und zwar deshalb, weil die Vorstellungen als für den Menschen gut und in seinem eigenen Interesse liegend angesehen werden. Gehirnwäsche bleut Vorstellungen ein, die dem Interesse des Menschen zuwiderlaufen und nichtsdestoweniger blind angenommen werden.

Was ist so mächtig, daß es normale intelligente Menschen dazu bringt, ihre Urteilskraft aufzugeben und einer Aufforderung wie dem Horror von Jonestown blindlings zu folgen? 

Die gängige Auffassung ist, daß die Anhänger von Jim Jones einer »Gehirn­wäsche unterzogen« wurden. Das stimmt, doch selbst differenzierte Studien zur Gehirnwäsche gehen selten über Verhaltens­beschreib­ungen hinaus, so daß der Begriff immer noch eine unbestimmte, metaphorische Bedeutung hat. Gehirnwäsche hat in Wirklichkeit eine ganz präzise Bedeutung, ihr liegt ein spezifisches psychologisches Muster zugrunde.

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Um einen Menschen einer Gehirnwäsche unterziehen zu können, ist zweierlei nötig. Zuerst muß man den Menschen verletzlich machen, indem man seine Abwehr mildert, die ihn normalerweise vor seinem inneren Leiden schützt. Das heißt, man muß ihn gegenüber physischem oder psychischem Schmerz öffnen. Zweitens muß man ihm die Möglichkeit bieten, sein Leiden zu beenden, was gewöhnlich die Annahme eines bestimmten Bündels von Einstellungen, Werten und Verhaltensweisen einschließt, die den Führenden gefallen. Menschen, die sich Bewegungen wie Jonestown oder Hare Krishna anschließen, sind bereits bewußt oder unbewußt in einem Leidenszustand. Das Leben hat sie verletzlich und unglücklich gemacht.

Ein Modell für Gehirnwäsche finden wir in bestimmten Fällen von Hypnose. Hier wird mit dem freiwilligen Einverständnis des Menschen die dritte Ebene »weggeschwemmt« und neue Glaubensprogramme injiziert oder eingeflößt. Diese Vorstellungen werden dann wirksam und können das Verhalten für Wochen oder gar Monate lenken. Die Vorstellungen brauchen überhaupt nicht rational zu sein, so zum Beispiel die Vorstellung, daß jemandem beim Rauchen immer übel wird. Der Hypnose-Patient gibt freiwillig seine Einwilligung zu diesem Ablauf.

Paradox an einem Menschen, der sich einer »Gehirnwäsche-Bewegung« oder einem Kult anschließt, ist der Umstand, daß er eigentlich seiner inneren Realität sehr nahe ist. Unter völlig anderen, nicht-autoritären Umständen könnte er sich mehr auf seine Feelings einlassen, über sie weinen, ihnen Ausdruck geben und sie auflösen. Er könnte schrittweise mehr in Berührung mit sich selbst kommen, seine Einsichten und seine gegenwärtige Realität erleben.

Doch diese Art von Lösung streben Gehirnwäscher und andere autoritäre Gestalten nicht an. Sie wollen und erreichen das genaue Gegenteil. Ihre Reaktion auf einen leidenden Menschen ist, ihm ein Glaubens­bekenntnis, Bezeugungen von »Liebe« und ein vorgefertigtes Dogma zu geben und ihm eine Umwelt zu verschaffen, die ihm Erleichterung von den ihn bedrohenden Gefühlen der Deprivation verspricht. Der Mensch wird in die Nähe seines inneren Leidens geführt und erhält dann die »Lösung«, die ihm den Urschmerz nimmt. Für seine eigene bekommt er eine Ersatzrealität. Er ist froh darüber, die Ersatzrealität der Gruppe zu übernehmen. Das schreckliche Leiden ist aus seinem Gehirn gespült, doch auch die Wahrheit seines eigenen Lebens.

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Daß es sich wirklich um eine Urschmerz-Wäsche handelt, wird durch die oben erwähnte Tatsache nahegelegt, daß das durch Dialyse von Leu-Endorphin gereinigte Blut die Symptome emotionalen Leidens mildert.

Nicht nur emotionale Symptome werden gemildert, sondern auch Vorstellungen radikal verändert, ganz besonders bizarre und psychotische Vorstellungen. Diese Vorstellungen ändern sich mit der Senkung des Urschmerzpegels, und genau das bewerk­stelligt auch der Kult-Führer.

Das hervorstechende Merkmal des Führers ist seine offenbar vollkommene Sicherheit. Er scheint auf alle Fragen des Lebens Antworten zu haben und teilt sie unzweideutig allen mit, die zuhören. Er läßt die Tatsache völlig außer acht, daß niemand Lösungen für einen anderen hat. Jegliche Realität hat ihre Basis in unseren eigenen Feelings und Erfahrungen. Doch der Führer ist noch weiter von den Realitäten seiner Feelings entfernt als seine Anhänger. Er ist das eigentliche, das leicht beeinflußbare Opfer, das andere anzieht, die von ihren Feelings isoliert sind, und ihnen dadurch die Möglichkeit nimmt, auf ihre eigenen Erfahrungen auch eigene Antworten zu finden. Statt dessen werden den Anhängern Antworten gegeben, sie nehmen Doktrinen an und händigen sich dem Führer-Therapeuten-Elternteil aus, der wiederum nichts anderes tut als das, was Eltern schon immer getan haben: den Kindern zu sagen, wie sie zu leben haben.

Manche Kulte, Glaubensrichtungen und selbst autoritäre Psychotherapien haben eines gemeinsam: Sie winken mit der Erfüllung unbefriedigter Bedürfnisse. Ihre Macht liegt in der Fähigkeit, nahezu jegliches Bewußtsein von Urschmerz und lebenslanger Deprivation zu beseitigen. Bedürfnis, das vom ersten Lebenstag an nie befriedigt wurde, ist die Eintrittskarte des Anhängers. Er ist fest im Griff von etwas, das viel stärker und viel älter als sein Urteilsvermögen ist. Er befindet sich in einer Matrix unbewußter, nicht aufhörender Feelings von Bedürfnissen, die ihn so naiv und verletzlich machen, wie er es als Säugling war, als er Zuneigung von seiner Mutter wünschte.

Die Bedürfnisse der Anhänger nähren die des Führers; seine unbefriedigten Bedürfnisse sind wahrschein­lich noch stärker als die des niedrigsten Mitglieds seiner Schar. Es ist kein Zufall, daß die Führer, die Faschisten und Demagogen dieser Welt, typische Produkte einer zerstörten Kindheit sind, wie auch ihre fanatischsten Anhänger.

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Der Führer hebt die unerträglichen Urschmerzen seines Lebens durch Kontrolle und Manipulation auf; der Anhänger findet Erleichterung darin, kontrolliert zu werden. Die nackte Verzweiflung des Führers wird offenkundig, wenn seine Macht bedroht wird — Zeugnis dafür sind Hitlers Wütereien in seinen letzten Jahren oder das immer bizarrere Verhalten von Jones.

Was Jonestown angeht, so wurde immer wieder die Frage aufgeworfen, wie etwas so Humanitäres als dermaßen ungeschminkter Faschismus enden konnte. Man geht dabei von der Annahme aus, daß Jones und seine Gemeinschaft eigentlich normal und edel waren und dann »verrückt geworden« sind.

Die Problematik dieser Annahme liegt darin, daß die Aufgabe des Selbst, des Urteilsvermögens und des Fühlens schon lange stattgefunden hatte, ehe das äußere Erscheinungsbild des Kults sich ins Bizarre verwandelte. Die am Ende demonstrierte erstaunliche Kontrolle war möglich, weil man, wie bei jedem Führer-Anhänger-Pakt, das Selbst schon vorher aufgegeben hatte. Modell und Vorläufer dieser Preisgabe ist die Kind-Eltern-Beziehung.

Das Kind der Anhänger beabsichtigt nicht, das Selbst aufzugeben; seine Eltern beabsichtigen nicht, es wegzunehmen; doch auf die Versagung grundlegender Bedürfnisse folgt die Preisgabe. Das Kind verbringt sein ganzes Leben damit, etwas zu suchen, was den inneren Hunger stillt.

Obwohl der Ausgang unterschiedlich ist, die Dynamik ist die gleiche, ob es sich um Jonestown, die Mun-Sekte, Synanon, Hare Krishna, Wiedergeburts-Bekehrungen oder autoritäre Psychotherapien handelt. Ersetzt man diese Bewegungen und Führer durch das Wort »Gott«, wird die gleiche Dynamik sichtbar. Doch die Anziehungskraft des Kult-Führers liegt darin, daß er real ist, unter uns lebt, gesehen und berührt werden kann. Das Bedürfnis ist das gleiche wie das, das Religionen aufrechterhält, wenn man davon absieht, daß organisierte Religionen strukturierter sind und bei der Befriedigung von Bedürfnissen weniger wahnsinnig verfahren.

Um eine gründliche Kontrolle zu gewährleisten, muß sich der Kult oder die »gemeinsame Sache« einer der großen Lebensängste, des Todes, annehmen. Sie müssen einen außerhalb liegenden Sinn für Leben und Sterben anbieten; in den meisten Fällen muß ein »Leben« nach dem Tode in Aussicht gestellt werden, denn angenehmes künftiges Leben ist der Lohn für Leiden, Elend und Aufopferung. Jones hat diese Bedingung offensichtlich mit seinem Versprechen erfüllt, er werde seine Anhänger in einem imaginären künftigen Leben wiedertreffen.

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Es ist überraschend leicht, andere zu kontrollieren. 

Neue Patienten, die in die Therapie kommen, bitten häufig geradezu darum. Sie möchten, daß ihnen gesagt wird, was sie tun sollen. Sie würden sich eher Pseudo-Einsichten einer Autorität anhören, als ihre eigenen zu entwickeln. Ihr Verhalten schreit nach Manipulation — eine Versuchung, der zu widerstehen manchen Therapeuten mit eigenen unbefriedigten Bedürfnissen schwerfällt. Die Patienten führen jedoch nur ein Programm durch, das gleiche Programm, das Eltern aufgestellt haben, die auch Bedürfnisse hatten.

Faschismus läßt sich leicht erreichen. Man muß nur den Anschein erwecken, Bedürfnisse zu befriedigen, indem man den Leuten sagt, was sie hören wollen, um ihren Urschmerz unterdrücken zu können. Einen Führer, der so vorgeht, verlassen die Leute nur widerwillig, wie grausam und sadistisch er auch sein mag. Weil sie hoffen, sehen sie immer einen Hoffnungs­schimmer, genau wie in der ursprünglichen Familien­situation. Hoffnung aufzugeben ist nahezu unmöglich, denn dann würde die schmerzhafte Realität der Deprivation offenkundig. Aus diesem Grund ist ein unfähiger Staatsführer so schwer abzusetzen. Die Neigung, an ihm festzuhalten, hat ihren Ursprung in dem Verlangen, nicht den Urschmerz fühlen zu müssen, den Vati verursachte, als er uns enttäuschte. Niemand will einen Stiefvater.

Es haben nicht mehr Anhänger versucht, Jonestown zu verlassen, weil der Weggang eine erneute Konfrontation mit der primären Hoffnungs­losigkeit bedeutet hätte. Kein Mensch mit großen, unbefriedigten Bedürfnissen kann diesen Schritt vollziehen. Und wer sich freiwillig auf ein autoritäres Wagnis einläßt, neigt zum Bleiben. Bereitwillig machen sie sinnlose Dinge; sie geben ihr Geld her, trennen sich von ihren Familien oder lassen sich den Kopf kahlscheren. Solche Handlungen sind symbolisch. Sie sollen dem Führer versichern, daß er die Kontrolle besitzt. Niemand will diese Art von Macht, es sei denn, er ist neurotisch; deshalb ist es auch nicht so sehr eine Frage des Mißbrauchs von Macht, weil Macht an sich schon ein Mißbrauch ist. »Macht mißbrauchen« ist ein »weißer Schimmel«.

 

»Glaubensvorstellungen als Opiate« läßt uns verstehen, warum bestimmte therapeutische Methoden besser »funktionieren« als andere. Ihr Vorgehen steht im Gegensatz zur Primärtherapie. Solche Methoden verändern zeitweilig den biochemischen Haushalt und verengen so das Bewußtsein, und das ist die einzige Art, wie man sich in anderen Therapien, die sich nicht direkt mit Urschmerz beschäftigen, besser fühlen kann.

Der Patient muß die Therapie unbewußter beenden, als er sie begonnen hat, auch wenn er einen Prozeß durchlaufen hat, der als »Bewußtseins­erweiterung« angekündigt war. Mit all seinen »Einsichten« wird der Patient unbewußter; in gewissem Sinne wird er wegen seiner Einsichten unbewußter. Solche Auffassungen werden als Abwehrformen benutzt. Und abwehren heißt, unbewußt sein. Man kann mit den Einsichten sogar »richtig liegen«, und doch können sie bedeutungslos bleiben, weil sie nicht von Feelings und Bedürfnissen der tieferen Ebenen herrühren. Man kann erwarten, daß sich der Patient einer Einsichts-Therapie, wenn er in Schwierigkeiten gerät, auf seine Einsichten zurückzieht: »Ich weiß, warum ich dies oder jenes mache. Nämlich weil ...«

Die meisten Mitglieder der menschlichen Rasse sind bis zu einem gewissen Grad von chronischer Verzweiflung erfüllt. Es scheint, als hätte die Spezies den größten Teil ihrer Energie darauf verwandt, nach Möglichkeiten zu suchen, um ihre Angst abzuwehren, sei es durch Religion, Politik, Philosophie oder harte Arbeit. Wir können jetzt erkennen, warum die Menschen sich mit der Fähigkeit zu Vorstellungen entwickeln. Glaubensvorstellungen sind die mächtigste Kraft auf Erden, der letzte Schritt in der Evolution. Diese immateriellen, kurzlebigen, unsichtbaren Irrlichter können einen Menschen biologisch umwandeln.

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3. Die Ebenen des Bewußtseins  

 

 

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Der Begriff des Bewußtseins scheint von Mystikern und ihren Vorstellungen von der Macht der Pyramiden, von Supra-Bewußtsein, Drogenzuständen und kosmischem Bewußtsein vereinnahmt worden zu sein. Die Bewußtseins-Bewegung ist in Wirklichkeit zur Unbewußtseins-Bewegung geworden. Es sind Menschen, die nach einem Weg suchen, der sie aus ihrem eintönigen Leben auf eine Ebene hebt, die bisher nur einige Auserwählte erreicht haben. Sie haben das Wesentliche nicht begriffen. Sie haben einige biologische Gesetze und neurologische Tatsachen ignoriert. 

Die Möglichkeit, das »Bewußtsein zu erweitern«, besteht nicht in einer Transzendierung der Welt, sondern im Hinabsteigen in das Unbewußte. Unterhalb der Ebene des Bewußtseins sind ganze Welten tätig, ein Wirrwarr von Vorstellungen, Impulsen und körperlichen Befindlichkeiten befindet sich in Interaktion und tauscht Informationen aus. Mit dem richtigen Zugang ist diese Welt erfahrbar. Sie kann auf ihre eigene Art und in ihrer eigenen Begrifflichkeit bewußt gemacht werden.

Wir sind so sehr daran gewöhnt, die Ebenen unterhalb des Bewußtseins zu mißachten, daß wir zum Beispiel glauben, der entscheidende Vorgang des Erinnerns beschränke sich auf bewußte, intellektuelle Erinnerung. Der Körper erinnert sich jedoch auch auf seine eigene Weise, und es ist möglich, mit dieser Art der Erinnerung in Verbindung zu treten. Deshalb ist Bewußtsein nicht einfach nur ein intellektuelles Phänomen.

Sogar der Aufbau des Gehirns ist eine Erinnerung, eine kodierte Geschichte der Menschheit. Gäbe es nicht die vorausgegangenen Jahrmillionen der Evolution, wäre die Art des Aufbaus nicht so, wie sie ist.

Es gibt drei Bewußtseinsebenen. Der Experimentalist Paul Maclean vom National Institute of Mental Health hat sie das »drei­einige Gehirn« genannt und durch seine Untersuchungen wichtige biochemische Unterschiede zwischen den Ebenen entdeckt. Die einfachste Art, zum Verständnis dieser Ebenen zu gelangen, ist zu sehen, wie sie entstanden sind. Wir haben nicht immer unser heutiges, großartiges Bewußtsein besessen, dieses Bewußtsein, das sich mathematische Formeln ausdenken kann, Brücken baut und Maschinen erfindet.


Es gab eine Zeit, zu der wir eine primitive Lebensform hatten, die meist instinktiv handelte. Das Nerven­system des Fisches (eines unserer ältesten Vorfahren) reagiert zum Beispiel instinktiv. Im weiteren Verlauf der Evolution entwickelte sich das Gehirn und eine emotionale Ausdrucks­weise wurde möglich. Noch später entwickelte sich das menschliche Gehirn. Jede neue Evolutionsphase löschte die vorausgegangene nicht aus, sondern baute sich auf ihr auf. Jedes der alten Evolutionsgehirne ist als Teil unseres Nervensystems, mit einigen neuen Verbindungen und Funktionen, intakt geblieben; die grundlegende Struktur ist die gleiche.

Das Gehirn ist konzentrisch in drei Schichten aufgebaut, die auch als Neuropile bekannt sind.1  Dabei handelt es sich um miteinander in Beziehung stehende Netzwerke von Nervenzellen, von denen jedes ein eigenes Bewußtsein und einen eigenen Erinnerungsspeicher hat. Jedes ist für ein anderes Gebiet menschlicher Tätigkeit verantwortlich. Die dritte Ebene kann nicht die Aufgaben der zweiten übernehmen; der Intellekt kann keine Feelings auflösen. Sie sind verschiedene elektrochemische Systeme. Sie interagieren zwar, doch sind sie nicht austauschbar.

Zum Zeitpunkt der Geburt und einige Monate danach ist das innere Gehirn, das Gehirn, das viszerale Tätigkeit vermittelt, voll entwickelt; Mittel- und Außenhirn haben sich noch nicht so weit herausgebildet. Dies ist die »erste Ebene« des Bewußtseins. Sie befaßt sich mit den Reaktionen, die mit der Mittellinie des Körpers zu tun haben — Herztätigkeit, Atmung, Blase, Magen- und Darmfunktion und der Hormon­regulierung. Die erste Ebene ist verantwortlich für instinktive Reaktionen. Sie bestimmt zeitliche Abläufe, Rhythmus, Koordination und Gleichgewicht. Sie ist das Überlebens­bewußtsein. Diese Funktionen bedürfen keines höheren (kortikalen) Bewußtseins.

1)  Ein Schritt in der Gehirnreifung ist die Entwicklung einer Fettschicht, Myelin, die die Nerven umhüllt. Die Geschwindigkeit, mit der Nerven Impulse weiterleiten, hängt von der Myelinisierung ab. Myelinisierte Nerven befördern Impulse schneller als unmyelinisierte. Die Reihenfolge der Myelinisierung ist daher ein Hinweis auf die Reifung. Der innere Bereich des Gehirns (der sich als erster entwickelt) ist nie gut myelinisiert. Diese Zone geht mit den Körperreaktionen um. Wenn wir älter werden, werden unser Gehirn und unser Verhalten spezialisierter und differenzierter; die zunehmende Myelinisierung gestattet uns später schnelles Unterdrücken, was uns spezialisierte, selektive Reaktionen möglich macht. Der äußere Bereich ist sehr gut myelinisiert. Er wird als letzter eingehüllt.

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Die erste Ebene ist bis fast zum sechsten Lebensmonat vorherrschend. Dann entwickelt sich der zweite Bereich des Gehirns bis zu einem Grad, der es dem Säugling ermöglicht, emotional zu reagieren und emotionale Bindungen einzugehen. Das ist die zweite Ebene des Bewußtseins. Dieses Netzwerk speichert — im Limbischen System — während der Kindheit emotionale Traumata und emotionale Reaktionen auf die Geschehnisse. In den ersten Lebensmonaten befaßt sich das Gehirn zum größten Teil mit inneren, viszeralen Reaktionen und beginnt mit der Differenzierung von Muskelreaktionen, wie zum Beispiel die Bewegung von Fingern, Zehen, Armen und Beinen.

Die neuentwickelte zweite Ebene beschäftigt sich mit inneren Vorgängen und setzt sie in Beziehung zur Außenwelt. Gesichtsausdruck, Gang, Körperhaltung und Lautbildung sind Beispiele für tätiges Bewußtsein auf der zweiten Ebene. Dieses Bewußtsein ist das »Gefühls-Bewußtsein«. Während die erste Bewußtseins­ebene völlig nach innen gerichtet ist, ist die zweite nach außen gerichtet. Bewußtsein der ersten Ebene ist Körperbewußtsein. Die zweite Bewußtseinsebene hat mit Beziehungen zu anderen Menschen zu tun.

Auf der zweiten Ebene sind auch die Vorstellungen und somit auch die Kreativität zu finden. Auf dieser Ebene werden Drachen, Dämonen und Träume heraufbeschworen. Diese Ebene schlägt Brücken zur ersten und dritten Ebene, sie fügt den Erfahrungen emotionalen Gehalt hinzu.

Die Bilder der zweiten Ebene haben eine Klarheit, die nach dem Filtern auf der dritten Ebene verlorengeht. In Träumen kann man die Schärfe der Bilder jedoch wiedergewinnen. Ein Mensch, der etwas aus seiner Kindheit wiedererlebt, sieht, hört und riecht alles genau so, als befände er sich dort. Und mit Zugang zur zweiten Ebene befindet er sich in der Tat buchstäblich und neurologisch dort.

Die dritte Ebene entwickelt sich als letzte. Sie ist das integrierende Bewußtsein, das dafür zuständig ist, Ereignisse der ersten und zweiten Ebene zusammenzubringen. Sie rationalisiert, intellektualisiert und symbolisiert diese Geschehnisse. Sie ist das System der Logik, der Problemlösungen und des Speicherns von Fakten und Zahlen. Sie ist das »berechnende« System. Sie philosophiert, schafft mathematische Symbole und repariert Maschinen. Sie ist das System, das Religion und mystische Vorstellungen internalisiert. Sie ist jener Teil von uns, der versucht der Welt einen Sinn abzugewinnen. Sie ist das zuletzt erlangte Bewußtsein, sowohl hinsichtlich der Gattungsgeschichte (Phylogenese) wie auch der Entwicklung des Säuglings (Ontogenese).

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Es ist die dritte Ebene, die symbolisch wahrnimmt und mittels Sprache reflektiert. Sie hat Einsichten — ein Bewußtsein von Feelings und von Bewußtsein als solchem, während die zweite Ebene ein Gefühl von Bewußtsein hat.

Die Bewußtseinsebenen können mit einer elektronischen Sonde ermittelt werden. Plaziert man die Sonde am Schläfenlappen, ruft man einen symbolischen (kognitiven) Aspekt einer alten Erinnerung hervor (wird die Stelle direkt stimuliert, ist es der exakte, korrekte Symbolismus); führt man die Sonde tiefer, ruft sie eine alte Erinnerung und ihre Feelings hervor; das noch tiefere Einführen der Sonde setzt frühe körperliche Reaktionen frei wie zum Beispiel reine Angst, Gefühle bevorstehenden Todes, unerklärliche viszerale Reaktionen wie etwa Magenkrämpfe und Perspiration; der Herzschlag wird schneller, das Gesicht wird blaß — alles scheinbar »unerklärliche« Reaktionen, weil es Reaktionen auf präverbale Erinnerungen sind. Diese verschiedenen Bewußtseinselemente stehen anatomisch eng miteinander in Verbindung.

Jedes höhere Gehirnzentrum, das sich vom Kleinkindalter an entwickelt, enthält partielle Aspekte der im tieferen Gehirn eingeprägten Erinnerung. Tiefliegende Traumata haben am Ende ein Symbol oder eine Repräsentation auf der höchsten Ebene. Auf die Existenz unzugänglichen Urschmerzes können wir durch seine Auswirkungen auf höhere Zentren schließen. Es gibt keinen »reinen« höheren Geist, der den Folgen der Urschmerzen aus dem Babyalter entrinnen kann.

Durch die Beobachtung der Evidenz der Bewußtseinsebenen begreifen wir allmählich, was Bewußtsein ist, was mit dem Bewußtsein bei der Neurose geschieht und welche Rolle es bei der Heilung der Neurose spielt. Was die Erinnerung betrifft, brachte uns zum Beispiel die Psychologie in Verwirrung, weil wir die Erinnerung für eine intellektuelle Tätigkeit hielten. Doch Erinnerungen existieren auf verschiedenen Ebenen. Es gibt tatsächlich unterschiedliche Bewußtseins­schichten, jede mit ihren Eigen­tümlichkeiten und ihrer eigenen »Aufbereitungsanlage«. Emotionale Erinnerung ist ganz und gar nicht kognitiv, sondern sie existiert auf einer separaten Ebene. Die Hypnose demonstriert das überzeugend. Ganz gleich, wie sehr ein Mensch sich darum bemüht, bestimmte Schlüsselszenen aus dem fünften Lebensjahr ins Gedächtnis zurückzurufen, er schafft den Zugang zu diesen Erinnerungen nur, wenn man ihn unterhalb der Ebene des Intellekts führt.

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Wir träumen nicht auf der intellektuellen Ebene. Erst wenn wir unter die oberste Bewußtseinsebene gelangen, fangen die Träume an. Sie sind normalerweise direkt auf alte, persönliche Erinnerungen zurückzuführen. Doch bedenken wir die ganzen Vorgänge auf dieser tieferen Bewußtseinsebene. Bildhafte Vorstellungen, Szenarien, Dialoge — all das geht vor sich, während wir »bewußtlos« sind. Darüber hinaus hat diese Ebene ein eigenes charakteristisches Hirnwellenmuster und physiologische Begleiterscheinungen. Dies gilt auch für die frühe, körperliche Ebene. Schlaf auf der ersten Ebene (sehr tiefer Schlaf) hat zum Beispiel auch ein charakteristisches Hirnwellenmuster.

Sogar Pflanzen entfalten eine Art des Bewußtseins. Die Ranken einer lichtempfindlichen Pflanze rollen sich zusammen, wenn man sie streichelt. Ins Dunkle gebracht und gestreichelt, reagieren sie nicht. Wieder dem Licht ausgesetzt, »erinnern« sie sich des Streicheins und rollen sich wieder zusammen. Die Pflanze kann sich erinnern, die Erinnerung speichern und verschlüsseln und Reaktionen aufschieben — primitive Vorbedingungen einer Bewußtseinsform. Auf ihre eigene Art ist sie sich der Umwelt »bewußt« und paßt sich dementsprechend an.2

Die Bedingungen für Bewußtsein, Reaktion, Speicherung, Erinnerung und Re-Kreation sind im körperlichen System genauso vorhanden wie im Gehirn. Sogar ein chronisch hoher Pulsschlag ist eine Form körperlicher Erinnerung. Ein sehr frühes Ereignis kann die prototypische Reaktion des schnellen Herzschlags hervorrufen.

Einer der führenden Hypnoseforscher, Ernest Hilgard, fand heraus, daß hypnotisierte Menschen auf einer Ebene funktionieren, die mehr mit ihrem Hypnosealter übereinstimmt als mit ihrem realen Alter. Bei verschiedenen Aufgaben, die ihnen gestellt wurden, stimmte ihre Handlungsweise mehr mit der experimentellen Altersebene überein. Lasen oder schrieben sie, taten sie es als Fünf- oder Siebenjährige, während jene, die diese Altersstufe nur »simulierten« oder es sich nur vorstellten, nicht mit der gleichen Konsistenz als Fünf- oder Siebenjährige handelten.

2   Science News, Bd. 195, Januar 1977. S. 191 f.

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Mit anderen Worten, man kann nicht »versuchen«, ein bestimmtes Alter zu haben. Es ist notwendig, wie zum Beispiel in der Hypnose, auf diese Ebene hinabzusteigen, und folgerichtig wird diese Ebene dann all deine Reaktionen gestalten. In der Hypnose zu regredieren ist ein realer Zustand. Zu diesem Zeitpunkt arbeitet der Mensch auf einer anderen Ebene der Gehirnstruktur. Dies ist eine weitere Möglichkeit, Kenntnisse über die Bewußtseinsebenen zu erlangen.

Hypnotische Experimente illustrieren die Bewußtseinsstufen. Diese Experimente sind wegen ihrer Dramatik und der kurzen Zeitspanne, in der sie durchgeführt werden können, hilfreich. Hilgard hypnotisierte eine Person und plazierte ihre Hand in Eiswasser. Verbal berichtete sie nicht von Schmerzen, doch ihre andere, von der Hypnose »befreite« Hand brachte die Schmerzen zum Ausdruck. Auf einer Ebene war sie sich ihrer Schmerzen »bewußt«. Doch ist dies eine begrenzte Art von Bewußtsein und kann mit Bewußtsein nicht gleichgesetzt werden.

Wann immer ein hypnotisierter Patient, wie oben, keine Schmerzen anzeigt, kann man sicher sein, daß physiologische Messungen zeigen, daß sie auf tieferen Ebenen verarbeitet werden. Diese Experimente lassen uns erkennen, wie leistungsfähig Symbole und Glaubensvorstellungen bei der Ausschaltung von Schmerzen sind. Der Patient wird normalerweise berichten, daß da »ein verborgener Teil von ihm« war, der irgendwie Schmerz wahrgenommen hatte, aber daß sich der Intellekt auf andere Angelegen­heiten konzentriert hat — eine Reise, die Arbeit oder irgendeine Vorstellung. Bildhafte Vorstellungen und eine Reihe von Gedanken verdrängten die tatsächliche Erfahrung, so daß das Bewußtsein der Person von den wirklichen Vorgängen losgelöst ist. Der Patient in dem oben beschriebenen Experiment reagierte nicht mehr auf die Realität, er reagierte auf Vorstellungen, auch wenn diese Vorstellungen den tatsächlichen Vorgängen widersprachen. Er war von sich abgespalten, sich der Realität nicht bewußt und damit bewußtlos. Die Abspaltung von unserer Vergangenheit können wir nicht so ohne weiteres erkennen, es sei denn, wir haben sie aufgedeckt.

Jeder Neurotiker ist sein ganzes Leben lang in einem hypnotisierten Zustand. Er ist ein Opfer der unbewußten Kräfte, die ihn unerbittlich antreiben und für die er keine Erklärung hat. Bei unseren eigenen Experimenten stieg eine Patientin in ihr fünftes Lebensjahr hinab; damals hatte man ihr ihre Puppe weggenommen.

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Sie weinte und weinte. Als sie aus der Szene herauskam, hatte sie wieder ihr normales Selbst. Wo war die Erinnerung und wo waren die Tränen, die sie anstandslos jedesmal vergossen hatte, wenn der Hypnotiseur von ihr verlangt hatte, wieder zu dem Schauplatz zu regredieren? Es war ein unbewußter Prozeß, ein Prozeß, der immer noch auf einer anderen Bewußt­seinsebene stattfindet.

All ihre Tränen, die ganzen Qualen und das Elend existierten die ganze Zeit über. Die Einprägung ist eine starke Kraft. Das ist der Grund, warum jemand, der auf eine niedrigere Bewußtseinsstufe regrediert, frei drauflosweinen, lachen oder gar Qualen leiden kann. Dies ähnelt einem Plattenspieler, die »Geräusche« — Musik, Nebengeräusche, Stimmen — sind auf der Platte, man hört jedoch nichts, ehe man nicht die Nadel aufsetzt.

Als der Neurochirurg Wilder Penfield Patienten eine Sonde an bestimmte Hirnzellen führte, wurde die Abspaltung auf der Stelle erkennbar. Während der Patient eine frühe Szene wiedererlebte, unterhielt er sich mit seinem Arzt. Er hatte simultan zwei Erlebnisse. Es waren zwei Bewußtseinsebenen tätig; erstens die alte, eingeprägte Erinnerung, die wiedererlebt wurde, und zweitens die bewußte Gegenwärtigkeit, in der er mit dem Arzt kommunizierte.

Hinweise auf eine Zweiteilung des Bewußtseins erhielten wir erst vor kurzem von der Hirntrennungs-Chirurgie — einem Verfahren, bei dem in schwerwiegenden Fällen von Epilepsie die Verbindungs­fasern zwischen der linken und der rechten Hemisphäre durchgetrennt werden. Die linke Hemisphäre ist weit analytischer, logischer, folgerichtiger und intellektueller; die rechte (der Tätigkeit der zweiten Ebene ähnlich) ist intuitiver und beschäftigt sich mehr mit Feelings und Empfindungen.3

Hirn­trennungs­chirurgie erzeugt fast zwei getrennte Geistesverfassungen, die linke Seite bemerkt nicht, was die rechte Seite tut. Die Chirurgie konnte aufzeigen, wie verschiedene Bewußtseins­komponenten ein einziges menschliches Bewußtsein zusammenstellen. Der Neurochirurg Joseph Bogen, der auf diese Eingriffe spezialisiert ist, berichtete von der auffälligen Unfähigkeit seiner Patienten, Gefühle zu beschreiben, ganz so, als ob Bewußtseinsebenen mit der Abtrennung der Hirnhemisphären chirurgisch unterbrochen wären.4

3)   R. Ornstein, <The Psychology of Consciousness>, San Francisco 1972; deutsch: <Die Psychologie des Bewußtseins>, Fischer Verlag, 1977.

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Die nichtdominante Hirnhälfte kann keinen elaborierten Gebrauch von Sprache machen, aber sie kann emotional reagieren; sie kann fluchen und singen. Sie kann bildhaft träumen, aber sie braucht die dominante linke Hälfte, um sich über die Sprache der Träume zu erinnern. Die rechte, kleinere Hemisphäre kann erröten, kichern, angewidert sein und zurückzucken, doch wenn sie von der linken Hauptseite getrennt wird, kann sie nicht genau sagen, warum sie das tut.

Füttert man die abgetrennte linke Hemisphäre mit Ereignissen, die peinlich berühren, wird es beim Patienten ein Erröten hervorbringen. Wenn er gefragt wird, warum er errötet, erfindet der Mensch eine Geschichte, die sein Verhalten erklären soll. Genauso verhält es sich bei der Neurose. Dort sind Kräfte am Werk, für die der Neurotiker kein bewußtes Verständnis hat. Um sein Verhalten zu rationalisieren, muß er sich Gründe ausdenken, die nichts mit seiner wirklichen, verborgenen Motivation zu tun haben. Die Bewußtseins­spaltung macht ahistorisch. Sie macht einen zum Spielball verborgener Kräfte und verschütteter Motivationen.

Jede Art Gefühlserlebnis verändert die Hirnwellen-Amplituden mehr in der rechten als in der linken Hemisphäre. Ein Teil unseres Alltagsbewußtseins verschwindet, während man einen Orgasmus hat, und ein Orgasmus, wie auch andere ekstatische Zustände, ist überwiegend eine Funktion des rechten Hirns. Vorstellungen und Ideen, wie etwa der Glaube an den Teufel stellen sich als Funktion des linken Hirns heraus. Das rechte Hirn hat hauptsächlich mit der zweiten Bewußtseinsebene zu tun, das linke mit der dritten.

Das Bewußtsein auf der ersten Ebene kann sogar funktionieren, wenn wir auf den höheren Ebenen vollständig »bewußtlos« sind. Ein Mensch im Koma wird noch versuchen, einen schmerzhaften Reiz auf seiner Brust beiseite zu schieben. Massiert oder hält man die Hand eines Menschen, der im Koma liegt, hat das eindeutige physiologische Veränderungen zur Folge, so als ob man während der totalen Bewußtlosig­keit Bedürfnisse befriedigt. Menschen, die bewußtlos sind, unter Drogen stehen, betäubt oder komatös sind, reagieren auf physiologische Art unbewußt auf ihre Umgebung.

4   Brain-Mind Bulletin, 2, 18. August 1977.

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Zum Beispiel spornen chirurgische Traumata den Körper und das untere Hirn zu rasender Aktivität an, auch wenn der Geist vollständig beruhigt oder anästhesiert ist. Was weitaus schlimmer ist, das Trauma bleibt im Organismus.5 Es wäre keine schlechte Idee, jemanden, der operiert wird, zur gleichen Zeit zu streicheln, weil sowohl die Verletzung als auch die Liebkosung unbewußt verarbeitet werden.

Das Bewußtsein wird von der Zeit an geformt, zu der sich das Nervensystem herausbildet. Schon wenige Wochen nach der Befruchtung kann alles, was die Mutter streßt, auf den Fötus übertragen werden. Diese Traumata werden in dem noch sehr rudimentären Nervensystem gespeichert. Sie haben Auswirkungen auf das Erwachsenenbewußtsein.

Starker Urschmerz, der sich im Säuglingsalter und während der Schwangerschaft einstellt, wird von dem einzigen zur Verfügung stehenden, ausgereiften Bewußtsein — nämlich dem viszeralen — vermittelt. Spätere Ereignisse können diese frühen Traumata auslösen und sehr erregte viszerale Reaktionen sowie körperliche Erschöpfung zur Folge haben, deren Quelle unbekannt und unzugänglich bleibt. Kolitis kann sehr wohl durch diese frühen blockierten Erfahrungen ihren Anfang nehmen. Als Faustregel kann man sagen, daß je tiefer ein Symptom im Körper existiert, desto wahrscheinlicher ist es, daß es aus einem sehr frühen Trauma stammt.

Ein Neugeborenes, das unter Streß steht, reagiert nicht mit Intellektualisierungen und Begrifflichkeiten, sondern eher mit Mittel­linien-Reaktionen. Es reagiert mit Leibschmerzen, wird asthmatisch, hat ernsthafte Magenstörungen etc. Diese Reaktionen stehen im richtigen Verhältnis zur Gehirnentwicklung des Babys. Seine Reaktionen haben mit dem inneren Organsystem zu tun.

Vererbung spielt sicherlich auch eine Rolle bei der Determinierung von Schwachstellen im Organsystem. Doch können Störungen, die traditionellerweise als vererbt betrachtet werden, mehr mit den Verhältnissen zur Zeit der Befruchtung und der Schwangerschaft zu tun haben als mit vererbten Genen.

5)  Chirurgen sollten darauf achten, Patienten während der Operation nicht zu stark zu traumatisieren, in der falschen Annahme, daß der Patient nichts fühlen könne. Was sie während der Operation nicht fühlen, werden sie später fühlen müssen, oder sie leiden unter unerklärlichen Spannungs­zuständen.

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Ein beherrschendes Trauma, das die erste physiologische Bewußtseinsebene in Mitleidenschaft zieht, ist das der Geburt. Geburtstraumata bleiben im Nervensystem und im Körper bestehen und richten lebens­lange Verheerungen an.6

Verletzbarkeit und Anpassungsfähigkeit des Nervensystems während der ersten Lebenswochen bedeuten, daß Geschehnisse mit einer Dauerhaftigkeit eingeprägt werden können, die größer ist als die von später in der Kindheit eintretenden Ereignissen. Die Tatsache, daß Traumata auf der ersten Ebene häufig eine Frage von Leben und Tod sind, bedeutet, daß die Wertigkeit oder das Spannungsniveau der gespeicherten Erinnerung hoch ist. Aus genau diesem Grund ist prä- und perinatale Fürsorge für Kleinst­kinder von entscheidender Bedeutung.

Alle emotionalen Erlebnisse, die uns widerfahren, nachdem wir uns von unserer Umgebung unterscheiden und emotionale Beziehungen zu unseren Eltern entwickeln können, sind Ereignisse auf der zweiten Bewußtseinsebene oder Feeling-Ereignisse. Kritik, Demütigungen, Zurückweisungen, Schelte und Strafen werden auf dieser emotionalen Ebene »erinnert«.

Später wird die Herausbildung des symbolischen Intellekts oder der dritten Ebene diese zwei tieferen Ebenen nicht nur integrieren, sondern auch auseinanderhalten. Wenn Glaubensvorstellungen und Konzepte Urschmerz unterdrücken können, dann sind sie auch eher dazu imstande, gegen das Bewußtsein abzuschirmen, und sind keine für das Bewußtsein tätige Kraft.

Bewußtsein der dritten Ebene beginnt mit dem fünften bis siebten Lebensjahr Gestalt anzunehmen und wird nach dem dreizehnten Lebensjahr (wenn sich eine qualitative Verschiebung des Hirnwellenmusters vollzieht) gefestigt. Gleichzeitig mit dieser Verschiebung steigt die Fähigkeit, emotionale Reaktionen zu unterdrücken, zu reflektieren und zu blockieren. Zu diesem Zeitpunkt bekommt man die Möglichkeit, von der Emotionalität zur Intellektualität zu wechseln und im Sinne von Regeln, Vorschriften und Sitten zu reagieren. Zu diesem Zeitpunkt in den frühen Teenagerjahren werden Verbote internalisiert, werden Gebote der Kirche und Vorschriften der Schule übernommen und werden zu einem Teil der Psyche des Jugendlichen. Die Entwicklung des Gehirns läßt das Kind mehr auf der Ebene von Vorstellungen und Symbolen leben als auf der Triebebene.

6)  Diese Traumata steuern das spätere Bewußtsein und das bewußte Verhalten mit enormer Kraft. Wenn diese Traumata in das Bewußtsein einbrechen, haben sie auf Kognition, Logik und Problemlösungsverhalten dramatische Auswirkungen. Dies ist eine Möglichkeit, den großen Einfluß sehr früher Traumata auf das zu erkennen, was wir gewöhnlich als »Bewußtsein« betrachten.

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Wenn das Kind mit geringem Urschmerz aufwächst, wird sich die dritte Ebene normal entwickeln und Feelings direkt an das Bewußtsein übermitteln. Doch wenn von früher Zeit an zuviel Urschmerz vorhanden ist, wird die dritte Ebene umgewandelt. Sie muß Feelings und Motivationen jetzt fehlinterpretieren und mit der Vergangenheit im Sinne einer Vielzahl von Symbolen umgehen, von denen keines einen genauen Bezug zur Vergangenheit hat.

Reales Bewußtsein ist nicht das gleiche wie Bewußtheit. Es gibt viele Formen von Bewußtheit, doch nur ein Bewußtsein, das heißt nur ein vollkommenes Bewußtsein. Vollkommenes Bewußtsein ist ein anhaltender organismischer Zustand mit fließendem Zugang der verschiedenen Gehirnstrukturen untereinander.

Bewußtsein hat eine strukturelle Bedeutung. Bewußtheit hat sie nicht. Bewußtheit ist zusammenhanglos und von kurzer Dauer. Sie ist nur ein Aspekt des Bewußtseins. Es ist wichtig, nicht den Fehler zu begehen, ein Merkmal des Bewußtseins als das Bewußtsein selbst zu behandeln. Infolgedessen ist Geistes­krankheit nicht nur »geistig«. Sie ist eine grundlegende Veränderung des Bewußtseins; Bewußtsein ist die Summe aller Gehirnprozesse, weil sie den Körper in Mitleidenschaft ziehen und durch den Körper und die externe Realität in Mitleidenschaft gezogen werden. Es ist ein organischer, physiologischer Zustand.

Je mehr Verbindung jemand zwischen den drei Ebenen herstellen kann, desto objektiver kann er werden, das heißt, um so besser kann jemand das Selbst — und andere — realistisch und durch den Urschmerz der Vergangenheit unverzerrt beurteilen und wahrnehmen. Deshalb kann man durch ein Vertiefen des Bewußtseins die Bewußtheit steigern. Je mehr man dem Unbewußten nachgibt, desto bewußter wird man.

Das Problem bei Neurotikern ist, daß sie sich im besten Falle ihres Selbst nur gewahr werden können, doch nie ein Bewußtsein darüber erlangen. Je tiefer das Bewußtsein ist — je mehr Zugang man also zu den tieferen Ebenen hat —, desto mehr verändern sich Beziehungen strukturell. Man kann das bei Primals erkennen, wo sich Amplitude, Frequenz und hemisphärische Verbind­ungen ändern.

Mit dem Zugang, den ein Mensch zu seinem frühen Urschmerz gewinnt, stellt er wieder die Verbindungen her zwischen seinem Körper, seinen Feelings und seinem Intellekt, die er an die Verdrängung verloren hatte. Er hat eine Erklärung für die Intensität, Qualität und Richtung seines früheren Verhaltens. Er fängt an, das Bewußtsein wiederzuerlangen — nicht nur eine Bewußtheit, sondern ein organisches Ineinanderfließen von Gehirnebenen und -Strukturen, die sich viele Jahre lang fremd waren.

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