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5  Einsicht und Wandel  

Janov 1980

 

 

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MARCY: Ich habe geglaubt, viel zu wissen, aber je mehr ich fühlte und je mehr ich weinte, desto mehr mußte ich erkennen, daß ich nichts gewußt habe, weil ich vorher nicht gefühlt habe.

Einsichten sind neurale Botschaften — Verbindungsschaltungen zwischen der Speicherstelle eines Feelings im Unbewußten und einer anderen Stelle, die bewußte Wahrnehmung herstellt. Einsicht ist das endgültige Erkennen des Unbewußten — der Gedanke, von Feelings herrührend, der den Gehalt jener Feelings zum Ausdruck bringt.

Verständnis und Erkenntnisvermögen der Feelings traten in der Evolution erst Millionen Jahre nach dem Fühlen selbst auf. Einsichten und Feelings reflektieren zwei vollständig unterschiedliche Ebenen des neuralen Aufbaus. Der neurologische Unterschied zwischen Einsichten und Feelings liegt genau darin, daß man sich nicht gesund analysieren oder denken kann. Nur zu wissen, daß »dies was mit meinem Vater zu tun hat«, oder »Ich weiß, daß die Ursache meiner Zwanghaftigkeit in diesem oder jenem liegt«, kann niemals eine gründliche Veränderung schaffen. Gedanken über Feelings können nichts zu einer tiefen Veränderung beitragen, es sei denn, sie entstammen jenem Feeling.

Jemandem Einsichten als Ersatz für dessen eigene Feelings anzubieten, ist reine Zeitverschwendung. Deshalb spannt die Psycho­analyse den neurologischen Karren vor das Pferd. Und die Tatsache, daß die Einsicht aus den Feelings von jemand anderem kommt, ist ein doppelter Irrtum, weil die Einsichten höchstwahrscheinlich eher der Idiosynkrasie des Therapeuten als der des Patienten entspringen. Daher ist Erkenntnis als Teil der Einsichts-Therapie nur ein weiterer ausgeklügelter Teil des intellektuellen Abwehrsystems.

Die Neurose wird nicht durch »unbewußte Einsichten« aufrechterhalten, und Einsichten als solche werden die Neurose niemals ändern. Einzige Rechtfertigung für eine Einsicht ist, daß sie eine vorausgehende unbewußte Motivation erhellt. Offen gesagt, Einsichten sind so lange ohne Bedeutung, bis man das Unbewußte freilegt. Nicht die Einsicht ist unbewußt, sondern vielmehr die Feelings, die uns auf unbewußte Art und Weise handeln lassen.

Wenn ein Patient fühlt, wie er von seiner Mutter manipuliert wurde — eine Manipulation, deren er sich nicht bewußt war —, kann er zu Einsichten darüber gelangen, wie er sich von Frauen angezogen fühlt, die ihn beherrschen, manipulieren und ihm sagen, was er zu tun hat. Das Feeling, das jetzt bewußt ist, macht ihm sein ganzes vorhergehendes Verhalten allen Frauen gegenüber klar. Diese Klarheit ist eine Einsicht. Sobald jemand ein tiefgehendes Feeling gehabt hat, sind die daraus resultierenden Einsichten durch und durch seine eigenen. Sie sind nicht die Vorstellungen eines Psychoanalytikers von seinem Verhalten. Sie sind Erklärungen, die aus dem Selbst stammen und jetzt alle umgeleiteten und symbolischen früheren Verhaltensweisen beschreiben, die auf diesem versteckten Feeling basieren. Natürlich müssen Einsichten aus dem Innern kommen und nicht von jemand anderem. Alles, was ein Patient in seiner Therapie über sich erfährt, steckt bereits in ihm und wartet darauf herauszukommen.

Das Feeling »Ich möchte von dir gemocht werden, Mama« erklärt zum Beispiel alle früheren Tricks, mit denen der Mensch versucht hat, andere dazu zu bringen, ihn oder sie zu mögen.

DORIS: 

Ich habe meine Mutter weggestoßen, weil es nicht ich war, um die sie sich kümmerte. Es war ihr Wunschbild von mir. Sie betrachtete mich als ihre kleine Spielpuppe. Ich hatte keine andere Wahl, als das einzige wegzustoßen, das ich brauchte und mehr wollte als alles andere.

Tiere haben keine Einsichten über sich selbst, doch ändert sich ihr Verhalten gemäß ihren Erfahrungen. Eine Änderung ihrer Umgebung ändert ihr Verhalten, ihre Anatomie und ihre Physiologie. Für diesen Wandel brauchen sie keine Einsichten. Die Entwicklung des Kortex bei menschlichen Wesen gestattet uns ein Verständnis unserer Motivationen und eine gründliche Erforschung der Gründe für unser Verhalten; diese Einsichten an sich sind jedoch nicht verantwortlich für Veränderungen. In erster Linie kommen wir auf entwicklungsgemäße Art, in der Reihenfolge, in der sich unser Gehirn herausbildete, zu Einsichten.

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Zuerst haben wir eine Empfindung, um schließlich die emotionale Erfahrung zu verstehen. Es ist nicht möglich, diese evolutionäre Entwicklung umzukehren, um eine Veränderung herbeizuführen. In gewissem Sinne sprechen wir tatsächlich über drei verschiedene Gehirne in einem Schädel, obwohl sie in hohem Maße miteinander verkoppelt sind. Das Feeling zu fühlen läßt Einsichten und nicht ein Symptom, wie etwa Kopfschmerzen, in den Kopf kommen.

Weil Einsichten die Dienerinnen von Feelings sind, folgt daraus, daß je tiefergehend ein Feeling gefühlt wird, um so profunder die Einsicht ist. So wie es Ebenen von Feelings gibt, existieren auch Ebenen von Einsichten. Wenn ein Feeling seit der Geburt tief im Gehirn begraben ist, ist es dermaßen abgesondert, daß es fast unmöglich ist, die Ursachen für spätere Symptome und Verhaltensweisen, die damit verbunden sind, herauszufinden. Es ist sogar unmöglich, sie zu erraten, da diese Erinnerungen zum größten Teil Erinnerungen des Körpers sind. Lange vor dem Gebrauch von Worten und Vorstellungen haben sie sich dem System eingeprägt — Worte und Vorstellungen sind deshalb für die Rückerinnerung auch keine Hilfe. Die einzige Möglichkeit, eine Verbindung zwischen Gegenwart und Vergangenheit herzustellen, ist das körperliche Fühlen eines frühen Feelings. Die Einsichten, die daraus entspringen, sind aus dem Grund tiefgreifend, weil hinter Erwachsenenverhalten und Symptomen wie Kolitis und Magengeschwüre letztlich Ereignisse der Kleinkindzeit als Ursache erkannt werden können, eine Art von Ereignissen, die bisher unzugänglich war.

Wer würde schon annehmen, daß eine Migräne immer dann auftritt, wenn gegenwärtiger Streß eine physische Erinnerung an einen bei der Geburt aufgetretenen Druck auf den Kopf auslöst? Ich habe siebzehn Jahre lang eine konventionelle psychologische Praxis geführt und viele Patienten mit schwersten Kopfschmerzen gesehen. Eine Verbindung zwischen Geburtstrauma und Migräne lag weit jenseits meiner Vorstellungskraft. Doch zahlreiche Primärpatienten haben diese Verbindung hergestellt. Auch wenn man weiß, daß es sich um eine Tatsache handelt, nützt die bloße Einsicht, ohne Wiedererleben, nichts.

Keine Einsicht der Welt kann eine Neurose verändern, weil es keinen geistigen Vorgang gibt, der eine physiologisch eingeprägte Erfahrung ändern kann.

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Das Aufheben einer Verdrängung und ihrer Denkweisen läßt das Selbst sichtbar werden, wie es hätte sein sollen, das genetisch programmierte Selbst, das während seiner Entwicklung beseitigt wurde. Beweise dafür finden wir in der Tatsache, daß die Kiefer einiger Patienten wieder ihre alte Form angenommen haben, auch wenn vorher kieferorthopädische Eingriffe vorgenommen wurden. Einige Patienten bekamen sogar noch in den späten Dreißigern Weisheitszähne. Andere Patienten bemerkten ein Wachsen der Füße und eine Zunahme des Brustumfangs, auch wenn sie schon älter waren.

Wie wir später sehen werden, ist die Wiedergewinnung des realen Selbst ein biochemisches, neuro-elektrisches Geschehen, durch das sich der Körper in seiner Struktur und Physiologie verändert, wenn die Abspaltung aufgehoben ist.

Das Wiedererlangen des realen Selbst hat auch psychische Auswirkungen. Es bedeutet, wieder sanft, freundlich und großzügig zu werden. So zu sein, wie das kleine Mädchen oder der kleine Junge hätten sein können, doch nie sein konnten.

Die Wiedergewinnung des realen Selbst bedeutet, wieder etwas von der frühen Schönheit zu erlangen, die unser Geburtsrecht war. Kinder sind viel schöner als Erwachsene. Schönheit hat sehr viel damit zu tun, natürlich zu sein. Wenn das unnatürliche Selbst unser Gesicht und unsere Haltung verzerrt, wenn es unsere Lippen zusammenpreßt, unsere Augen verkneift, die Stirn in Falten legt, heißt das, daß die Neurose uns unserer Schönheit beraubt hat. Was uns paranoid, mißtrauisch, skeptisch, zynisch und mißgestaltet macht, ist das irreale Selbst.

Aber es gibt noch weitere Veränderungen als nur die physischen. Wenn das System den Schmerz aufgibt, verringern sich die unbewußten Motivationen, was dem Menschen neue Entscheidungen erlaubt. Die Sequenz kann wie folgt verlaufen: »Ich habe mein Feeling gehabt, jetzt bin ich mir bewußt, was ich getan habe, und das bringt mich nicht weiter. Ich werde nicht so weiterhandeln, weil es ein verrücktes Gefühl schafft. Ich muß auch nicht mehr so handeln. So werde ich statt dessen dies tun.«

Mit der Wiederherstellung des Selbst wird man bewußter, ist beherrschter und menschlicher. Humanität entwickelt sich mit dem Fühlen von Urschmerz, weil uns die Verdrängung in mancher Hinsicht unmenschlich gemacht hat. Nicht absichtlich inhuman, sondern unbewußt. Aus dieser Unbewußtheit heraus können wir schlimme Dinge mit unseren Kindern und Freunden anstellen und gleichzeitig Grausamkeiten verabscheuen. Wir sind in dem Maße unmenschlich, in dem wir nicht fühlen können.

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Die Realisierung

Eine der universellen Charakteristika neurotischer Menschen ist ihre Unfähigkeit, sich zu ändern. Die Neurose ist im wesentlichen etwas Stagnierendes und macht Verhalten vorhersagbar und konsistent: Es ist, als ob man im Auto sitzt, den Fuß auf dem Gaspedal, und keinen Gang reinschiebt. Man fährt mit großer Zielstrebigkeit nirgendwohin.

Wenn wir in der Primärtherapie von »Heilung« sprechen, sagen wir damit nur, daß wir es Menschen ermöglichen, die unbewußten, neurotisches Verhalten erzeugenden Kräfte aufzulösen. Die Krankheit ist das Verdrängen und der blockierte Zugang. Ein Patient gewinnt Zugang zu sich selbst; das ist die Heilung.

ROBERT: 

Neulich kam mir der Gedanke, daß die Vergangenheit aus Lücken besteht, die ich nicht erlebt habe, die ich verdrängte, und daß das, was ich jetzt mache, darin besteht, daß ich diese Lücken ausfülle und sie an die Oberfläche bringe, so daß ich die Vergangen­heit der Vergangenheit überlassen kann, um sie nicht mehr mit mir herumzuschleppen.

Ein Mensch, der in der Lage ist zu fühlen, wird nicht zum absoluten Gegenteil dessen, was einmal seine Persönlichkeit ausmachte. Er kann sich aber in den Bereichen, die am meisten vom Urschmerz in Mitleidenschaft gezogen waren, radikal verändern. Wenn er vorher überproduktiv war und vom Schmerz getrieben, wird er weit weniger Druck haben. Wenn ihm früher der Urschmerz den Antrieb genommen hatte, wenn er Passivität als Form der Abwehr eingesetzt hat, kann er weit produktiver werden. Es gibt keine Regel dafür, was aus Patienten wird. Es hängt alles von den früheren Formen der Abwehr ab.

Können Menschen durch Feeling wirklich geändert werden? Wenn sie sich dadurch verändern, daß sie nicht fühlen, dann können sie sich auch durch Fühlen ändern. Wenn ein süßes, naives, vertrauensvolles Kind sich in einen mißtrauischen, wütenden, bitteren, zynischen erwachsenen Neurotiker verwandeln kann, spricht sehr viel für eine große Veränderung.

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Wir haben entdeckt, daß der Prozeß der Gesundung dem der Neurotisierung entspricht. Er ist langsam, beständig, unbewußt und unausweichlich. Ich habe nie erlebt, daß ein Mensch anhaltend fühlte und nicht gesund wurde. Es gibt nur zwei Dinge, die ihn davon abhalten können: Wenn der Mensch eine kathartische Erfahrung irrtümlicherweise für ein Feeling hält oder wenn der Mensch mitten in seinen Feelings aufhört und viele gravierende Feelings und Bedürfnisse ungefühlt läßt. Feelings und Neurose sind antithetisch. Entweder fühlt man oder man ist neurotisch — es gibt nichts dazwischen.

Die Freiheit kommt mit der vollständigen Erkenntnis und Erfahrung der Bedürfnisse. Ohne dieses Erkennen kann Freiheit nur symbolisch sein.

Ein Mann zog, bevor er in die Therapie kam, andauernd um, er wollte jedesmal eine größere Wohnung. Er liebte »Raum«. Er dachte, er sei völlig frei, weil er keine Angst vor einer Entwurzelung hatte und jedes Jahr umzog; es war nur eine Frage des Ortswechsels. In der Primärtherapie hatte er das Feeling, in seinem ganzen früheren Leben ein kleines Haus gehabt zu haben, immer eingeengt und allein gewesen zu sein. Unbewußt wollte er ein großes Haus, um Versäumtes aus der Vergangenheit nachzuholen. Aber noch wichtiger war seine Phantasie, daß mit einem großen Haus auch Freunde kommen würden. Er brauchte Freunde, um sich nicht allein zu fühlen (in der Vergangenheit). Er wußte es nur nicht, bis er es fühlte. Danach brauchte er nicht mehr die »Freiheit« des jährlichen Umzugs.

Vor der Therapie mußte Janet einen Mann nach dem anderen haben. Sie dachte, sie liebe die Freiheit des Herumspielens. In der Primärtherapie erkannte sie ihr Bedürfnis nach einem Vater, den sie nie gehabt hatte. Doch was sie für Freiheit hielt, war in Wirklichkeit Einengung. Ehe sie ihr reales Bedürfnis fühlte, hatte sie keine andere Wahl, als viele Männer haben zu müssen. Dann erst konnte sie sich auf einen Menschen einlassen, und ihn tief lieben.

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ELIZABETH:

Als ich Beziehungen zu Männern aufnahm, nachdem ich von zu Hause weggegangen war, gab es einen Typ, den ich mir immer heraussuchte. Es mußte jemand sein, der schwächer war als ich, jemand, den ich total kontrollieren konnte — nun, nicht total, aber jemand, der nicht mich beherrschte. Es waren immer sehr unbefriedigende Beziehungen, weil ich am Ende alles im Griff hatte, ich habe alles erledigt, hab unser ganzes Leben bestimmt. Es war eher so, als hätte ich ein Kind und keinen Gefährten. Das war nur deshalb so, weil ich Angst vor meinem Vater hatte. Ich wollte immer stärker und klüger sein. Wenn es um irgendwas in einer Unterhaltung ging, mußte ich immer gewinnen, und ich mußte mir immer die Art von schwachen Männern aussuchen, die mir keine Angst machten.

Ich fühlte mich nie von jemand angezogen, der mir Angst machte, und ich hatte vor den meisten Männern Angst. Ich mußte sie haben, und wenn ich sie erst hatte, kamen all die anderen Bedürfnisse. Ich brauchte jemand, der mein Partner war und nicht mein Baby. Auf eine Art ermüdet das, obwohl ich diese Situationen irgendwie selbst herbeiführte und mich darin verwickelte. Aber ich begann mehr zu wollen. Die Beziehung verschlechterte sich dann immer, weil ich versuchte, den Menschen zu dem zu machen, was ich wollte, aber das hat natürlich nie geklappt, weil sie als Menschen ihre Grenzen hatten. Normalerweise hörte es damit auf, daß ich ihnen sagte, ich wolle nicht mehr mit ihnen zusammen sein. Diese schlechten Beziehungen waren schmerzhaft ... aber ich kam mit jeder etwas weiter, weil ich jedesmal jemand heraussuchte, der dem Menschen näherkam, mit dem ich Zusammensein wollte. Der Grund, aus dem es mir möglich wurde, mit Männern zusammenzusein, die es auch wert waren, war der, daß ich begann, meine Feelings über meinen Vater zu fühlen. Damit begann ich, den Männern gegenüber weniger Angst zu haben, mit denen ich in der Gegenwart zusammen bin.

*

Die sich automatisch ergebende Veränderung war bei dieser Patientin total. Ihre Angst in den Augen, der Haltung und im Gang verschwand. Die Angst war als physische Erinnerung gespeichert und hatte physiologische und anatomische Auswirkungen. Mit Sicherheit kann niemand »versuchen« hormonale Veränderungen herbeizuführen. Das ist ein Ergebnis der Dekodierung der organischen Erinnerungskraft.

Die Wiederherstellung des Fühlens bringt Veränderungen auf allen Ebenen mit sich. Es normalisiert den Hormonausstoß, so daß körperliche Veränderungen auftreten und sich tatsächlich körperliches Wachstum ergibt.1

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Es senkt die Spannungsebene, so daß der Mensch wieder klar denken kann; er kann sich konzentrieren und seine Aufmerksamkeit über längere Zeiträume auf etwas richten. Die Wiederherstellung des Fühlens bedeutet normalerweise auch eine Veränderung der sozialen Anschauungen. Das kann heißen, daß jemand instinktiv besser weiß, was mit Kindern zu tun ist. Häufig resultiert daraus eine physische Gesundung, man ißt und schläft besser, nimmt angemessenere Nahrung zu sich, sowohl qualitativ als auch quantitativ.

Was geschieht mit der Energie neurotischer Spannung nach der Primärtherapie? Die überschüssige Energie, die in den Kreisläufen des Gehirns gefangen ist, verläßt den Organismus, Ergebnis der Verbindung des gespeicherten Urschmerzes mit dem Bewußtsein. Wenn der Organismus nicht mehr gegen eine innere Bedrohung zum Handeln angespornt wird, kann er endlich zur Ruhe kommen. Diese Energietransformation kann ziemlich genau gemessen werden.

Wenn wir die Ursachen der überschüssigen Energie begreifen, wird klar, daß nichts anderes als interneurale Verknüpfung sie auflösen kann. Physische Manipulation kann dazu beitragen, zeitweilig den Überfluß gefangener Energie abzubauen. Aber die Beschäftigung mit Auswirkungen behebt nicht die Ursachen.

Ob Energie an Glaubenssystemen oder körperlichen Systemen — wie etwa Muskelverspannungen — festgemacht wird, bleibt von geringer Bedeutung; Glaube und Verspannung bleiben immer noch Auswirkungen. Und beides sind physische Auswirkungen. Glaubensvorstellungen spielen sich nicht irgendwo außerhalb des Gehirns ab. Sie sind Manifestationen des tätigen Gehirns. Man kann Vorstellungen und Muskeln manipulieren, aber nicht gespeicherte Erinnerung. Bewußtsein ist die einzige Freiheit.

Auf allen Ebenen real zu sein, bedeutet intelligent zu sein. Es existieren Intelligenzebenen, und wenn ein Mensch Zugang zu diesen Ebenen hat, kann er sein ganzes Gehirn dafür einsetzen, zu leben. Es gibt den alten Mythos, daß wir nur zehn Prozent unserer Gehirnkapazität benutzen, und daß wir, wenn wir es nur versuchten, viel mehr erreichen könnten. Genau das Gegenteil ist der Fall. Unsere Forschungsergebnisse legen den Schluß nahe, daß wir unser Gehirn viel zu viel beanspruchen.2

1  Siehe dazu: Teil IV, Kapitel 2, »Das Messen von Krankheit und Heilung«
2  Siehe dazu: Teil IV, Kapitel 2, »Das Messen von Krankheit und Heilung«

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Das Gehirn des Neurotikers ist im Dienste der Verdrängung überbeansprucht. Nach der Primärtherapie ist die Hirnwellenaktivität radikal herabgesetzt. Deshalb würde ein wirklich gesunder Mensch sein Hirn weniger beanspruchen und nicht mehr. Laßt uns den »Zehn Prozent«-Mythos begraben. In Wirklichkeit beanspruchen wir zuviel unserer Gehirnkapazität, um nur zehn Prozent ihres Potentials zu erreichen.

Das Nachlassen der Hirntätigkeit bei Primärpatienten hat verschiedene Implikationen. Wenn sich weniger an unbewußten Kräften einmischen und das Urteilsvermögen verzerren, kann man reflektiver sein, weniger überhastet und weniger rigide in seinen Einstellungen. Urteilsvermögen heißt zu wissen, was sowohl angemessen als auch gut für dich ist. Weniger Primär-Rückstände werden zu einem besseren Urteils­vermögen führen. Man kann Alternativen im Leben wählen. Wenn der Geist nicht durch eine Überlastung mit Urschmerz ständig auf Hochtouren läuft, ist es ihm möglich, sich zu erinnern und das Erinnerte festzuhalten. Wenn du ein Leben in deinem Interesse führen kannst, ist das ein Maß deiner Intelligenz.

Die Intelligenz des Neurotikers ist aufgeteilt. Er kann mit den offensichtlichsten Täuschungen wie etwa Wochenend-Wunder­heilkuren und mystischen Ideen hintergangen werden. Wenn er verzweifelt ist, kann man ihn mit Lob übers Ohr hauen, und es kann sein, daß er nie erkennt, daß er getäuscht wurde.

Teil der Intelligenzerneuerung, die wir feststellen, ist simple Logik. Jemand, der seine Feelings versteht, ist der logischste und unkomplizierteste Mensch, den man sich vorstellen kann. Seine Urteilskraft und seine Intuition können selten getäuscht werden. Ein fühlender Mensch hat eine innere Logik, die ihm nicht nur hilft, sein Verhalten zu verstehen, sondern auch das anderer Menschen.

Enttäuschung oder Desillusionierung ist nahezu eine Konstante im Leben des Neurotikers. Sie ist die Hand­langerin des Auftretens irrealer Erwartungen, des Wunsches, daß Menschen sich wie Eltern aufführen, der Vorstellung, daß symbolische Errungen­schaften wirklich lohnend sind. Solange jemand Bedürfnisse hat, muß er Wunschvorstellungen hegen. Diese Phantasien bilden die Grundlage der Desillusionierung im Erwachsenenalter, weil niemand auftauchen wird, der dich so behandelt, wie du es brauchtest. Es gibt keine Zauberei, ganz besonders nicht in einer Welt, in der fast jeder unter Urschmerzen leidet und depriviert ist.

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Der Grund, aus dem sich so viele Menschen in der Ehe im Stich gelassen fühlen und die Bedürfnisse ihrer Partner nicht befriedigen, liegt darin, daß sie unbewußt noch Kinder sind, die sich (ebenfalls unbewußt) einbilden, daß, ganz gleich, wie sie sich verhalten oder was auch immer sie tun, der Partner (Elternteil) sie lieben wird. Sie sind entsetzt, wenn der Ehemann/die Ehefrau die Beziehung beenden oder ihn/sie verlassen will. Sie können sich nicht vorstellen, daß sie alles getan haben, um das zu provozieren. Sie sind verbittert und wütend, weil sie immer noch Kinder voller Bedürfnisse sind, die von jemandem verlassen werden, der/die sie lieben sollte.

Der Ehemann oder die Frau, der/die ihren Körper vernachlässigt, sich schlampig kleidet oder sich schlecht benimmt, hat einen unbewußten Pakt geschlossen ... Ich werde geliebt, was ich auch mache. In dialektischer Ironie brauchen sie so viel, daß sie zum Schluß nichts haben.

Natürlich können Partner relativ gute Kameraden sein und sich trotzdem gegenseitig enttäuschen. Wenn du dich seit deiner Kindheit ungeliebt fühlst, brauchst du in der Gegenwart die ständige Versicherung, geliebt zu werden, um das Gefühl unten zu halten. Niemand kann diese Leere ausfüllen.

Eine weitere Enttäuschung ist, daß der Partner »mir nicht das Gefühl gab, eine Frau oder ein Mann zu sein«. Als ob das jemand könnte. In gewisser Weise wollen sie keine gleichberechtigte Beziehung. Die Frau wünscht sich einen »Mann«, der rangeht, aggressiv ist und die Probleme anpackt. Sie braucht ihn dominierend und stark; dann wird sie sich wie eine Frau fühlen, glaubt sie. In Wirklichkeit wünscht sie sich einen Papa, der ihr nicht das Gefühl vermittelt, eine Frau zu sein, sondern ein Kind. Und der Ehemann oder Mann in einer Beziehung möchte, daß die Frau ihn stützt, ihm schmeichelt, aufmerksam und besorgt ist, ihn beschützt und freundlich ist; die ihm seine Mahlzeiten kocht, seine Kleidung in Ordnung hält und sogar seine Garderobe aussucht. Er wünscht sich eine Mutter, aber er weiß nichts davon. All diese Aktivitäten werden ihm nicht das Gefühl vermitteln, ein Mann zu sein, auch wenn er das glaubt. Sie werden dafür sorgen, daß er das Kind bleibt. Er will alles, was er von seiner Mutter nicht bekommen hat. Wenn er es bekommen hätte, würde er das alles nicht von seiner Frau oder Partnerin erwarten, die schließlich nicht seine Mutter ist.

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Jeder, dem es erlaubt wurde, er/sie selbst zu sein, kann sich als das fühlen, was er/sie ist. Wenn man dir als Kind gestattete, du selbst zu sein, wirst du maskulin, wenn du ein Junge bist — unabhängig davon, wer es dir erlaubte. Du wirst dich nicht mit einem Mann »identifizieren« müssen, das heißt männliche Sachen zu imitieren. Du wirst genau das sein, was du bist. Das geschieht durch die Befriedigung von Bedürfnissen, nicht durch »Ident­ifikation«.

Wenn du dir nie ganz gehört, nie wichtige Bedürfnisse erfüllt bekommen hast, wirst du Ereignisse interpretieren und manipulieren, so daß sie dich und deine Bedürfnisse widerspiegeln. Konsequenterweise sind daher die meisten Neurotiker definitionsgemäß narzißtisch. Darin liegt eine Möglichkeit, ein beschädigtes und depriviertes Selbst zu »befriedigen«. Der Neurotiker muß selbst-bezogen sein. Er gibt, um zu bekommen. Er kann nicht wirklich zuhören und sich einfühlen, wenn er aus jeder Situation etwas herausziehen will.

Die meisten Neurotiker möchten an Zauberei glauben. Sie möchten an irgendeine Zauber-Diät, Klinik oder eine Zaubermethode glauben, die sie vollständig und ohne das geringste Zutun ihrerseits verändert. Die Ursache dafür finden wir in ihrem Leben, das von unsichtbaren, »magischen«, unbewußten Kräften gelenkt wird. Da ihr Verhalten von dieser Magie diktiert wird, ist es kein Wunder, daß sie annehmen, es könne auf die gleiche magische Weise geändert werden. In der Tat ist für die meisten Menschen das Unbewußte ein magischer Ort ... sie haben keine Vorstellung von dem, was da »unten« vor sich geht. Alle großen Therapieformen und philosophischen Ansätze gingen jahrhundertelang von der Vorstellung aus, der Mensch sei an sich böse und müsse sein Inneres kontrollieren. Sein Unbewußtes, so glaubte man, sei von irgendeinem Dämonen bewohnt. Der skeptischste Neurotiker kann hereingelegt werden, wenn seine Bedürfnisse und seine unbewußten Feelings ins Spiel kommen.

Vieles von dem, was ich im Urschrei über Beziehungen zu den Eltern gesagt habe, stimmt noch. Wenn jemand seine primäre Wut, seinen Haß und seine Bedürfnisse aufgelöst hat, kann er erkennen, daß den Eltern durch ihre Neurose Grenzen gesetzt sind und daß sie unter diesen Bedingungen das Bestmögliche getan haben. Er versteht wahrscheinlich, daß Eltern auch nur Menschen mit Bedürfnissen sind. Unglücklicherweise hatten sie Kinder, auf die sie sich nicht einlassen konnten.

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Das ist die Tragödie; sie haben Menschen gezeugt, die Bedürfnisse haben, und doch ist der Grund, aus dem heraus sie gezeugt wurden, der, daß sie die Bedürfnisse der Eltern erfüllen sollten. Der Zusammenstoß war vorprogrammiert, bevor der Fötus das Licht der Welt erblickte.

Primärmenschen versuchen nicht mehr, ihre Eltern zu dem umzuformen, was sie brauchen, denn sie wissen, daß es eine aussichtslose Sache ist. Sie können die Eltern so lassen, wie sie sind — neurotisch. Das Verlangen, sich mit ihnen über ihre Exzentrizitäten, Ängste und Vorurteile zu streiten, läßt nach. Jeder zwanghafte Versuch, sie zu ändern, ist der alte Kampf. Es ist der Versuch, sie wieder zu den guten, liebenden, freundlichen und starken Eltern zu machen, die sie nie gewesen sind.

 

ELIZABETH:

Bevor ich in die Therapie kam und auch noch lange Zeit nach Beginn, haßte ich meine Eltern. Ich haßte sie für alles, was sie mir angetan hatten, und die vielen Male, bei denen ich das Gefühl hatte, von ihnen verletzt und im Stich gelassen worden zu sein. Eine Beziehung zu ihnen gab es praktisch gar nicht mehr. In den letzten zwei Jahren habe ich angefangen, mich ihnen näher zu fühlen.

Ich glaube, das liegt daran, daß ich die vielen Male, als sie mich verletzt haben, als ich klein war, fühlen konnte. Ich schleppe diese Feelings nicht mehr mit mir herum. Deswegen ist es mir wohl auch eher möglich, in der Gegenwart eine Beziehung zu ihnen herzustellen, als durch den Nebel alter Verletzungen und Schmerzen. Einige der schmerzhafteren Feelings, die ich hatte, kamen erst hoch, als ich sie nicht mehr haßte. Ich konnte auch die Male erkennen, als sie gut zu mir waren, die Zeiten, in denen sie versuchten, mir zu helfen. Das war für mich schmerzhafter als einige der schlimmen Sachen, die passiert sind.

*

Der Grund, warum es ihr möglich ist, mit den Eltern auszukommen, ist nicht nur darin zu suchen, daß sie ihre Grenzen »versteht«. Das wäre keine große Hilfe. Er liegt darin, daß sie ihre Kindheitsbedürfnisse gefühlt hat, was ihr jetzt gestattet, objektiver zu sein. Sie begreift sie besser, weil sie in der Primärtherapie genau gesehen hat, wie sie waren und sind, ohne irgendwelche Projektionen, die die Wahrnehmung trüben. Eins der Probleme der Eltern-Kind-Beziehung tritt normalerweise auf, weil das Kind (das, obwohl sie schon lange erwachsen sein kann, immer noch das »Kind« ist) eine Art Bedürfnisbefriedigung für die Eltern repräsentiert.

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Die Eltern versuchen sie so zu behalten, wie sie war, oder sie versuchen sie wieder dahingehend zu ändern. Wenn das Kind nicht mehr wie erwartet handelt, gibt es einen Zusammenstoß. Das Kind hat in seinem früheren Leben Zusammenstöße dadurch vermieden, daß es nachgab, indem es neurotisch wurde. Neurotiker brauchen Neurotiker, um Beziehungen einzugehen. Auf Eltern trifft das genauso zu. Sie ertragen reale Menschen nicht sonderlich gut, selbst wenn es ihre eigenen Kinder sind.

Was ist, nachdem Urschmerz gefühlt wurde? Reales Vergnügen — und keins, das man sich vormacht. Es macht wirklich Freude, sich entspannt und wohl zu fühlen. Es macht Spaß, nicht mehr von einer Krankheit nach der anderen geplagt zu werden. Es ist ein Genuß, Liebe akzeptieren zu können und sich nicht mehr von ihr abwenden zu müssen. Es macht Spaß, nicht mehr jeden Morgen mit Angst und bedrückender Sorge aufzuwachen. Es ist eine Lust, nachts schlafen zu können. Es ist wunderbar, Spaß an Sexualität zu haben und mit deinem Körper zu tun, was du tun möchtest. Es ist ein Vergnügen, von zu Hause ohne Phobien und Ängste wegzufahren. Es macht Freude, nicht mehr unter unerklärlichen Depressionen zu leiden, die scheinbar ohne Ursache auftreten. Es macht Freude, fähig zu sein, deine Kinder zu lieben und von ihnen geliebt zu werden. Es macht Freude, nicht mehr unter Zwängen zu leiden, die dein Leben zerstören. Es macht Spaß, du selbst zu sein.

 

 

Randy ist der älteste von vier Brüdern; er wurde in Los Angeles in Kalifornien geboren. Obwohl Randy chronisch unter einer schweren Form von Epilepsie litt, hatten seine bewußten Gründe, in die Therapie zu kommen, mehr mit seinen ständigen Ängsten, ständigen körperlichen Schmerzen und seiner Unfähigkeit zu einer sexuellen Beziehung zu tun. Nachdem Randy mit der Primärtherapie begonnen hatte, bekam er keine Anfälle mehr; wie er in nachfolgendem Beitrag berichtet, verschwanden, etwa im April 1978, auch die Symptome der Epilepsie. Randy verließ ungefähr zu dieser Zeit das Primal Institute als aktiver Patient und hat weiter Primals, wenn nötig mit einem Freund. Nachstehend sein Bericht:

 

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RANDY

Vor der Primärtherapie war ich Epileptiker. Ich hatte Hunderte von Anfällen, die im Alter von sieben Jahren begannen, bis ich mit 21 die Therapie anfing. Ich habe in Schulklassen, bei der Arbeit, beim Spiel, vor Freunden und der Familie, am Mittagstisch und während des Schlafs das Bewußtsein verloren.

Ich wußte immer sehr genau, wann ich das Bewußtsein verlieren würde, weil ich mich elend und unglücklich fühlte. Wenn ich das nicht in den Griff bekam, verlor ich das Bewußtsein. In meinem Lebenskontext ergaben die Anfälle einen Sinn, und ich habe sie gerade erst Schritt für Schritt akzeptiert. Um die Zeit, als ich zum Primal Institute kam, fragte ich mich, warum alle soviel Aufhebens davon machten, daß ich so oft »weg« war. Gleich bei der ersten Sitzung entdeckte ich, daß ich kaum über meine Familie und meine Feelings reden konnte, ohne daß ein Anfall begann. Ich bekam ein kränkliches, unheilvolles Gefühl mit einer schrecklichen Empfindung in meinen Eingeweiden. Dieser Schrecken wurde von einem elektrisierenden Summen oder einer prickelnden Empfindung abgelöst, das in meinen Genitalien und im Darm anfing und von dort aufstieg. Dieses Summen durchzog meine Eingeweide und stieg mir in die Kehle. Ich habe oft versucht, es zu unterdrücken, aber jede Bemühung schien zum Scheitern verurteilt. Das Gefühl mußte real sein; es war schließlich da. Mit dieser Erkenntnis stieg das Summen weiter an. Vor der Therapie wurde das Summen zu etwas Allgemeinem, nachdem es meine Kehle erreicht hatte. Ich sah alles nur noch schwarz-weiß, dann nur noch schwarz, wenn ich das Bewußtsein verlor. Wenn das Summen in den Sitzungen meine Kehle erreichte, konnte ich das Feeling beschreiben, mich in den Schrecken fallenlassen und mich besser fühlen. Ließ ich mich auf das Feeling ein, dann löste sich das Summen (der Anfall) auf.

In den ersten anderthalb Jahren meiner Therapie muß das mindestens hundertmal passiert sein. Es gibt einige Unterschiede zwischen Primais und Anfällen. Nach einem Primal »bekomme« ich ein relativ klares Gefühl von dem, was vor sich ging. Ich sehe mein Leben auf eine neue, deutlichere Weise. Nach den Anfällen habe ich mich immer gefragt, wo ich bin. Ein kräftiges Summen in meiner Zunge und ein schlechtes Gefühl in meinen Eingeweiden blieben zurück. Ich fühlte mich, als ob da irgend etwas war, das ich irgendwie vergessen hatte. Das Nachdenken über meine Feelings führt zu konkreten, sinnvollen Veränderungen in meinem Leben. Das Nachdenken über meine Anfälle führte dazu, daß ich immer wieder das Bewußtsein verlor. Während meiner Feelings bin ich bei Bewußtsein.

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Meine Primals haben einen kumulativen, wohltuenden Einfluß auf mich. Nach fast zwei Jahren Therapie ist mein Leben nicht wiederzuerkennen. Mit dem Fortschreiten der Therapie nehmen die anfallähnlichen Symptome vor den Feelings deutlich ab. Vor einigen Monaten hatte ich vor einem starken Feeling ein leichtes Prickeln in meinem Bauch. Seitdem hat das Summen ganz aufgehört. Alles, was noch von meiner Epilepsie übrig zu sein scheint, ist, daß ich häufig weine, wenn meine Feelings schnell und fast ohne Warnzeichen einsetzen. Es fällt mir oft schwer, ein hochkommendes Feeling zu unterdrücken, sogar wenn es ungelegen kommt. Aber sogar das ändert sich. Ich weiß jetzt genau, warum und wie ich zum Epileptiker wurde. Ich bekam Anfälle, weil ich massive Urschmerzen hatte. Ich befand mich fast immer in Angstzuständen. Täglich hatte ich Migräne — für die Dauer von drei Jahren tat mir fast immer der Kopf weh. Mein ganzer Körper war von Schmerzen zerrüttet. Nichts war meiner verrückten Mutter gut genug oder trug dazu bei, den Schmerz zu lindern. Vor kurzem erinnerte ich mich daran, mit neun Jahren in der Garage gelegen zu haben und so zu tun, als ob ich ein Baby sei. Und plötzlich sah ich die alten Szenen aus meiner Säuglingszeit. Das war nicht atypisch. Ich hatte andauernd Alpträume, manchmal mehrere in einer Nacht. Ich wachte dann auf und fühlte Fleisch auf meinem Gesicht. Einmal, zwei Jahre vor Therapiebeginn, hatte ich ein vollständiges Geburts-Feeling. Mein Leben verlief ohne die Selbsttäuschung, daß, wäre ich nur klug oder sportlich, ich mich auch gut fühlen würde. Alles tat weh. Der Tod schien immer nahe zu sein.

Aber viele leidende Menschen werden gewalttätig und/oder verrückt, statt Anfälle zu bekommen. Meine Anfälle waren die Folge meines spezifischen Urschmerzes. Ich hatte Dutzende von Primals über meine Anfälle. Der erste Anfall, an den ich mich erinnern kann, passierte, als ich mir am Eßtisch den Musikantenknochen gestoßen hatte und meine Mutter mich anschrie. Als ich wieder zu mir kam — ich konnte immer noch nichts sehen —, hörte ich meine Mutter sagen: »Hör auf da unten rumzuspielen und iß dein Mittagessen.« Ich versuchte zu sagen, ich sei »bewußtlos geworden«, aber sie schnitt mir das Wort ab. Deshalb habe ich weitergegessen.

Später war ich häufig im Klassenzimmer »weg«, wo die Dozenten regelmäßig Unsinn über mich äußerten und meiner Agonie gegenüber blind waren. Die nächste Serie von Anfällen ereignete sich, als ich mir beim Schnitzen einer Kürbiskopflaterne in den Finger schnitt.

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Ich stand im Flur, hielt meiner Mutter die blutende Hand hin und hoffte, sie würde mir helfen. Sie sah entsetzt und wütend aus. Sie sagte, ich solle ins Badezimmer gehen. Ob ich denn nicht sehen würde, was das Blut auf ihrem Fußboden anrichtet? Ich ging zwei Schritte ins Badezimmer, sah mein aschfahles Gesicht und meinen blutigen Finger vor dem Hintergrund der krankenhausweißen Wand und plumpste aufs Linoleum. Als ich gerade wieder zu mir kam, half mir meine Mutter hoch und sagte: »Jetzt bleib da stehen, ich hole ein paar Papierhandtücher.« Kaum war sie weg, fiel ich um. Das wiederholte sich einige Male. Ich fühlte mich, als ob ich sterben müsse. In einer Reihe von Primals lag ich auf dem Boden und bat um Hilfe. Meistens rief ich: »Mami, nimm mich in die Arme!« Es schien, als ob das einzige, was mir jemals gut getan hätte, die warme Gegenwart meiner Mutter gewesen wäre. Wie an dem Tag im Badezimmer hat sie mich verlassen und ich »starb«. Sie ließ mich im Stich und ich »starb« wieder und wieder. Folglich verlor ich immer dann das Bewußtsein, wenn es zu offensichtlich wurde, daß ich verletzt war und sich niemand um mich kümmerte. Fast jeder Urschmerz konfrontierte mich mit der Realität, daß mich niemand richtig liebte.

Hätte ich ein passenderes Ventil für meine Urschmerzen gehabt, ich hätte es mit Sicherheit benutzt. Meine Brüder haben alle gegen meine Mutter angekämpft, jeder auf seine Weise, und keiner hatte Anfälle. Warum ich?

Die Antwort ist in den schrecklichen Erlebnissen zu finden, die ich als Baby hatte. Ich hatte das Gefühl zu sterben und erlebte das physische Äquivalent von »Warum dagegen ankämpfen?« Ich habe endlose Zeiten bis zur Erschöpfung geweint und bin dann eingeschlafen. Ich habe die Hoffnung aufgegeben, daß meine Mutter kommen würde. Das Bedürfnis nach Ruhe besiegte die Hoffnung, doch noch gefüttert zu werden. Dann kam sie, weckte mich auf und gab mir zu essen. Warum dagegen ankämpfen? Zweimal hatte ich jetzt bei Feelings das Gefühl, ich würde ganz sicher ertrinken. Und gab auf. Ein anderes Mal hatte ich das Gefühl, in einem weißen (Krankenhaus-) Zimmer mit weißen Wänden zu liegen, mit einem juckenden Verband über meinem brennenden Penis, und kein Mensch, der in der Nähe war. Ich hatte Angst zu weinen, denn das letzte Mal, als ich das tat, kamen sie und schnitten mich. Warum um Hilfe rufen?

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Bei all den Ereignissen hatte ich das Gefühl, daß es keine Hoffnung gab, daß ich sterben würde und daß es mir besser ginge, wenn ich es nur geschehen lassen würde. Das erste Mal, als ich solche Empfindungen hatte, war bei meiner Geburt. Als die Kontraktionen anfingen, haben sie mir fast den Schädel eingedrückt. Irgend etwas mußte mit der Nabelschnur sein, denn bald darauf bekam ich keine Luft mehr. Der Schoß bewegte sich nicht mehr und vibrierte, statt sich zusammenzuziehen. Ich versuchte, Luft zu holen, aber mein Gesicht war gegen Fleisch gedrückt. Ich war vollkommen hilflos. Ich versuchte um mich zu schlagen, irgend etwas zu verändern, aber die Wände waren wahnsinnig stark. Es verlangte mich danach, noch einmal die Behaglichkeit des nährenden Schoßes zu fühlen. (In späteren Jahren lag ich in meinem Zimmer, die Bässe der Stereoanlage aufgedreht, in eine Decke gewickelt und wiegte mich. Aber das Gefühl war nicht mehr zu finden.) Ich gab das Atmen auf und begann zu sterben. Es ist anzunehmen, daß ich gleich darauf geboren wurde.

Man hat mir erzählt, der ganze Prozeß hätte weniger als eine Stunde gedauert. Man hat es als »leichte Geburt« bezeichnet. Ich frage mich für wen. Ich hatte das Gefühl zu sterben; daß der Prozeß des Sterbens angefangen hätte. Der Prozeß führte das Gefühl des Sterbens mit sich, das Gefühl, das Bewußtsein zu verlieren, das später zu meinen Anfällen führte. Es schuf auch die Muster für meine Kopfschmerzen und die wiederholten Mißerfolge in meinem ganzen Leben. Es liebte mich ja doch niemand, also was soll's? Mein Organismus wollte sich ruhig verhalten, nichts tun und mehr oder weniger den Urschmerz angreifen lassen.

Ich erkenne jetzt, daß viele Gedanken und Empfindungen, die ich vor einem Anfall hatte, buchstäblich fast vollständige infantile oder fötale Erinnerungen waren. Als ich ein Kind war, wurden aufgeschobene und unausweichliche natale Erinnerungen einige Male von einem anfallartigen Prickeln begleitet.

Der lebenswichtige Teil des hier Beschriebenen heißt für mich, daß kaum verdrängte Feelings meine Symptome hervorriefen und daß ich mich durch das Fühlen der Symptome entledigen kann. Ich lebe jetzt wirklich, statt andauernd zu sterben.

Eine letzte Bemerkung. 

Zum größten Teil wurden meine Anfälle durch mein Leid verursacht und nicht andersherum. Ich frage mich, wie vielen Epileptikern man mit medikamentöser Behandlung einen Dienst erweist. Natürlich, es gibt gesellschaftliche Vorteile, wenn Krämpfe verhindert werden. Die sozialen Einstellungen gegenüber Epileptikern sind ganz schön negativ. Ich kriege große Angst, wenn ich daran denke, das Bewußtsein zu verlieren. Aber ich kann mir nicht vorstellen, wohin der ganze Urschmerz gegangen wäre, hätte ich nicht die Anfälle gehabt. Es ist eine Schande, daß der größte Teil der Mediziner jemandem, der Anfälle hat, nur helfen kann, sich gut zu benehmen, statt ihm zum Feeling zu verhelfen und den Urschmerz zu integrieren, der die Anfälle verursacht.

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Der folgende Bericht wurde von einer jungen Frau in primärtherapeutischer Behandlung geschrieben, die unter chronischen Symptomen von Anorexie gelitten hat.

BETTY:

In den letzten sechs oder sieben Jahren habe ich mich mehr oder weniger systematisch ausgehungert. Meine Rationalisierung dafür, daß ich fast nichts mehr aß, war, daß ich dünn sein wollte — ich wollte tatsächlich abgezehrt aussehen, mit hervorstehenden Hüftknochen und hohlen Wangen. Ich habe die Menschen beneidet, die so krank waren, daß man sie intravenös ernähren mußte. Mann, wie hätte ich da abnehmen können! Ich war nie dick, aber ich konnte auch nie dünn genug sein. Mehr als das, ich wollte mich immer leer fühlen — ich wurde verrückt, wenn ich mich voll fühlte.

In meinem Kopf erkannte ich schon, daß das eine merkwürdige Art von Gefühlen war. Die meisten Menschen, die ich kenne, geraten außer sich, wenn sie nichts zu essen haben, und das ist offensichtlich eine natürliche Reaktion. Alles, was ich vor Beginn der Primärtherapie wußte, war, daß meine Gefühle zur Nahrung verzerrt, aber auch tiefgründig waren; daß meine Aversion gegen ein Völlegefühl mehr war als die Angst, dick zu werden, daß sie organisch bedingt war. Ich »wußte« diese Sachen, aber innerlich war ich davon nicht überzeugt. Ich hatte wirklich das Gefühl, so sein zu müssen, wie ich war. Wenn ich zuviel aß, wurde mir schwindlig, ich wurde gereizt und erregt und hatte Schmerzen im Hals und Rücken. Das wandelte sich in das dringende Bedürfnis, mich zu übergeben, um das Gefühl eines enormen Druckes loszuwerden. Und obwohl ich meine Wahnvorstellungen in bezug auf Essen haßte — denn bewußtes Hungern heißt, immer daran zu denken, was man nicht ißt —, konnte ich es von meiner Seite aus nicht ändern.

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Vor kurzem habe ich auf Anraten des Medizinischen Direktors des Primal Institutes bewußt angefangen, während des ganzen Tages kleine Mengen zu mir zu nehmen. Diese Regel zog bei mir große Veränderungen nach sich. Mein Essen hatte ich immer auf eine sehr karge Mahlzeit am Tag beschränkt, die ich so spät wie möglich zu mir nahm. Oder ich stopfte mich voll und mußte mich übergeben.

Ich fing jetzt also an zu essen — ein kleines Frühstück, ein kleiner Snack, dann einen großen Pfirsich, dann ein spätes Mittagessen, für mich ungewohnte Essenszeiten. Nach einiger Zeit begann eine merkwürdige Sache. Ich fühlte mich zunehmend schwächer, je mehr ich aß, desto weniger Lust hatte ich, irgend etwas zu machen. Im Laufe der nächsten Tage aß ich ununterbrochen und war unfähig, etwas zu tun. Ich weinte viel und erkannte, daß sich das Weinen völlig von dem üblichen unterschied — es ging tiefer und war körperlicher —, aber es besserte weder die Schwäche noch das physische Leiden. Es war nur frustrierte Hilflosigkeit.

Dann fing ich an, nachts stöhnend vor Schmerzen im Rücken aufzuwachen. Es war, als ob ich eine Kurbel im Kreuz hätte, die mir die Beine und das Rückgrat festzurrte, was Krämpfe hervorrief und mir Atem­schwierig­keiten bereitete. Das ging so weit, daß ich mich überhaupt nicht mehr beugen konnte. Mein Rücken und meine Beine wurden fast völlig steif, und tagelang hatte ich das Gefühl, weinen zu müssen. Was noch schlimmer war, ich fühlte mich völlig desorientiert. Ich wußte kaum noch, wo ich war, wer ich war und in welcher Zeit ich mich befand. Das Feeling läßt sich nicht mit Begriffen wie »Einsamkeit«, »Unwürdigkeit«, »Hilflosigkeit« beschreiben. Alles, was ich artikulieren konnte, war, »Ich weiß nicht, was es ist«, und das unklare Gefühl üblen Unbehagens. Es tat weh, wenn ich meinen Kopf neigte. Es tat weh, sich zu beugen.

Deshalb mußte ich mich hinlegen und versuchen, es zu fühlen. Ich lag da im Zimmer, es war noch jemand anwesend, und versuchte zu erklären, was vor sich ging — »Ich fühle mich leer ...«, »Ich möchte überhaupt nichts tun ...«, »Mein Rücken tut weh, ich bin einsam ...«. Es half alles nichts, Tatsache war, daß ich nicht wußte, was los war. Daher kam ein »Ich weiß nicht, ich weiß nicht, ich weiß nicht« aus mir heraus. Ich lag nur da und weinte über die Schmerzen und meine Hilflosigkeit, daran nichts ändern zu können. Ich dachte, mir bricht das Rückgrat, und es tat so weh, den Kopf zu bewegen, also lag ich ausgestreckt und stocksteif da.

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Dann kam nur ein Bild hoch: Ich stand als Baby in meinem Bettchen und lächelte. Darüber weinte ich noch mehr. Das Bild machte dem Feeling Platz, sehr klein und unbeweglich zu sein. Ich lag mit offenen Augen auf dem Bauch in meinem Bettchen, konnte meinen Kopf nicht heben, und es entstand folgende Verknüpfung: Irgendwie hat mir meine Mutter schon als Säugling klargemacht, daß ich ihr nicht lästig werden darf.

Ich durfte nicht weinen, ich hatte keine Schmerzen zu haben. Statt also das Risiko einzugehen, ihre wütenden Augen über mir zu sehen — ganz zu schweigen von der Wärme, die ich gebraucht hätte, spannte ich meinen ganzen Körper an und verharrte schweigend. Die Zeit schien endlos zu sein, Minute um Minute voller Schmerzen, Minute um Minute wartete ich, daß sie wieder mal nach mir schauen würde ... Die übrige Zeit spielte ich das lächelnde, problemlose Puppenbaby, das sie sich wünschte. 

Das Warten war natürlich vergeblich, aber der springende Punkt ist, daß ich noch nicht einmal als Baby auf direkte Art und Weise nach dem verlangen konnte, was ich brauchte. Ich wurde angeschrien und, wenn ich später weinte, »Nichtsnutz« genannt. Es war für mich einfacher, es innerlich auszuhalten, als mich durch Auflehnung zusätzlichen Schmerzen auszusetzen. Mein Körper stand hochgradig unter Druck, und mein Geist hörte auf, den Bedürfnis-Botschaften wie Hunger oder dem schmerzlichen Verlangen, auf den Arm genommen zu werden, Beachtung zu schenken. Nach genügend Bedürfnisverleugnungen machte mein Körper keine Anzeichen mehr, die Bedürfnisse mitzuteilen. Es war wie ein endloser Schockzustand. Steifheit wurde zu meinem Überlebens­modus.

Mein ganzes Leben habe ich still damit zugebracht, darauf zu warten, daß meine Mutter hereinkäme, mich anschaute und bemerkte, wie sehr ich litt. Ich war nie fähig, sie zu rufen, obwohl ich es versuchte. Ich erinnere mich daran, wie ich nach einem schrecklichen Alptraum in ihrer Schlafzimmertür stand, sah, wie sie schlief, und das Wort »Mama« formte. Unfähig, sie zu wecken, ging ich auf Zehenspitzen durch den Flur wieder in mein Zimmer. Diese Nacht verbrachte ich starr vor Entsetzen und bildete mir ein, den Schatten einer riesigen Klaue auf meinem Kopfkissen zu sehen. Vielleicht käme sie doch noch ...

Später war ich »kalt wie ein Fisch«, »zurückhaltend« und »kühl«. Ich war nicht liebevoll, ich entzog mich Umarmungen und wischte mir Küsse aus dem Gesicht und zog mich in mich zurück. Was körperliche Bedürfnisse wie Hunger anbelangt, aß ich viel Süßigkeiten, ansonsten war ich ein mäkeliger Esser.

Die wichtigste Einsicht, die ich durch das Feeling und meine neue Ernährungsweise hatte, ist, daß ein bedeutender Teil dieser Therapie darin besteht zu lernen, auf sich acht zu geben. Je besser ich mich behandele, desto mehr kann ich fühlen und um so besser fühle ich mich. Es fällt mir schwer, mir etwas zu schenken, denn nett zu mir zu sein heißt, daß ich die frühere Vernach­lässigung fühlen werde, aber es fällt mir noch schwerer, mir zu versagen, was ich brauche. 

Früher habe ich mich aus der Welt zurückgezogen und mich ausgehungert. Es war eine Möglichkeit, den Urschmerz in Schach zu halten, und außerdem gab es ja noch eine kleine Chance, daß meine Mutter bemerkte, daß ich sterbe, und sich dann um mich sorgt. Leer zu sein, beschützt mich nicht mehr. Mein Körper fängt tatsächlich an, Nahrung zu fordern, und das Beste daran ist, daß ich es hören kann.

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