Teil 2 von Janov     Start     Weiter

8. Die Natur der Abwehrmechanismen bei Neurose

Teil 1 von Michael Holden 

 

 

   1. Historischer Hintergrund 

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In früheren Zeiten, ja bis hinein in unsere Tage, haben sich Menschen dualistisch verstanden, aufgespalten in Körper und Geist. Eine solche Einstellung förderte das subjektive Empfinden von Körper und Geist als zwei getrennte, eigenständige Größen. Im frühen 18. Jahrhundert meinte man, verrückte oder gestörte Menschen seien von Dämonen oder Geistern besessen. 

Unter dem Einfluß von Physiologen wie J. Charcot entwickelte sich allmählich ein medizinisches Modell der <Geistes­krankheit>, das - wenn auch voller innerer Widersprüche - bis auf den heutigen Tag beibehalten wurde. Die Beobachtung, daß Gehirntumoren, Tollwut, Enzephalitis, Syphilis und andere zerebrale Störungen den Menschen verrückt machen konnten, bekräftigte für die Theoretiker die Dualität von Körper und Geist und unterstützte das medizinische Modell der Geisteskrankheiten. Zur gleichen Zeit machten frühe Arbeiten auf dem Gebiet der Embryologie deutlich, daß Körper und Gehirn eine integrierte Einheit sind, aber diese Erkenntnis wurde größtenteils übersehen.

Sigmund Freud war von Haus aus Physiologe und kannte das medizinische Modell der Geisteskrankheiten sehr wohl, wenngleich die Theorien der Psycho­analyse sich allenfalls indirekt darauf beziehen.* Freud postulierte die Existenz innerseelischer libidinöser Triebregungen und ein Es mit primitiven Triebimpulsen, gegen die man sich mit psychischen Abwehrmechanismen verteidigen mußte. Diese Auffassung bekräftigte nicht nur erneut die Dualität von Körper und Geist; sie ging auch mit einer Aufsplitterung des Geistes einher. Anna Freud gab dieser Auffassung Form und kategorisierte die Abwehr­mechanismen in ihrem Buch, Das Ich und die Abwehrmechanismen.

* Ausführlich behandelt von Dr. Torrey in seinem kürzlich erschienenen Buch <The Death of Psychiatry>, Chilton Press. 


Die Anwendung dieses theoretischen Modells gibt den Patienten andere Worte für ihre Gefühle (durch die Psychoanalyse), hat jedoch wenig umfassende Auswirkung auf sie. Sie verlassen die Therapie mit den Ansichten ihres Therapeuten über ihre Probleme; sie »verstehen« mehr, ihre Gefühle sind aber für gewöhnlich noch die gleichen.

 

2.  Ein biologisches Neurosenmodell 

 

a)  Die primärtheoretische These lautet,, daß Menschen nicht neurotisch geboren oder von mystischen Kräften getrieben werden, sie werden einfach geboren. Biologisch steht mit Sicherheit fest, daß Körper und Gehirn als eine einzige integrierte Einheit funktionieren, mithin gibt es keinen Grund anzunehmen, der Mensch wehre Schmerz nur mit psychischen Prozessen ab. Im Gegenteil, man würde vermuten, daß der gesamte Organismus an der Schmerzabwehr beteiligt ist. Wir haben das bei unseren wissenschaftlichen Untersuchungen bestätigt gefunden. Auf diese Untersuchungen und deren Interpretationen wird weiter unten eingegangen.

b)  Die primärtheoretische Prämisse lautet, daß sich Neurose in Verbindung mit physischen und »psychischen« Schmerzen bei der Geburt, im Säuglingsalter und in der frühen Kindheit entwickelt. Das ist keine theoretische Abstraktion des »Geistes«. Diese Prämisse basiert auf Beobachtungen an Hunderten von Patienten, die sich im Primärinstitut in Los Angeles der Primärtherapie unterzogen haben. Ein weiteres beredtes Indiz dafür, daß Neurotiker Menschen sind, die unter Schmerz stehen, ist der bei Neurotikern ständig zunehmende Konsum schmerzdämpfender Mittel. Alkohol, Nikotin, Opiate und Benzodiazepin-Tranquilizer (Valium, Librium, Serax) werden in immer stärkerem Maße konsumiert und mißbraucht. 

 

Was gemeinhin » Verdrängung« genannt wurde, ist keine psychische Operation gegen psychische »Kräfte«, sondern genauer eine Reihe physiologischer Reaktionen, die verhindern, daß alter Schmerz wieder in Erscheinung tritt. Die primärtheoretische Prämisse impliziert, daß Körper und Geist (als eine Einheit) Schmerz registrieren, und daß er später potentiell wieder auftreten und erinnert werden kann. Auch das ist keine theoretische Abstraktion, sondern eine biologische, verifizierbare Erkenntnis, die auf Beobachtungen an Primärpatienten basiert.

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3. Die Natur der Abwehr

 

Die Physiologie des Abwehrsystems läßt sich messen und quantifizieren, wenn man während eines Primals Zugang zu Urschmerz gewinnt.

Methoden

Wir messen Puls, Blutdruck, Körperinnentemperatur und das Integral der okzipitalen Alpha-Aktivität (8-14 Hz) des Elektroencephalo-gramms (EEG) vor, während und nach einem Primal.* Primärpatienten sind Männer und Frauen im Alter zwischen 25 und 50 Jahren. Es wurden Kontrolluntersuchungen an Patienten der gleichen Altersstufen (die »Schein-Primals« machten) durchgeführt. Die Messungen wurden vorgenommen, während die Patienten die Augen geschlossen hielten.

Beobachtungen

Die bei Primals beobachteten physiologischen Veränderungen sind auffallend einheitlich und kennzeichnen Primals als ein Reaktionsmuster, das sich vom Abreagieren eindeutig abhebt. Wir geben auf den folgenden Seiten zwei Graphiken wieder, die für die physiologischen Veränderungen, die bei einem Primal auftreten, repräsentativ sind. Die erste Graphik gibt die Primalsitzung eines 36 Jahre alten, zuvor unter Hypertension leidenden Mannes 16 Monate nach Beginn der primär­therapeutischen Behandlung wieder. (Ehe er sich in die Primärtherapie begab, hatte er eine ausführlich belegte systolische Hypertension, mit einem systolischen Blutdruck bis zu 215 mm mercury.) Er wurde wegen akuter psychotischer Schübe dreimal in eine Nervenheilanstalt eingewiesen und hatte hohe Dosen Thorazin und mehrere Elektroschock-Behandlungen erhalten.

Während der hier wiedergegebenen Sitzung weinte er wiederholt wie ein neugeborenes Kind. Anfangs, als er allmählich Zugang zu Schmerz gewann, erlebte er ein Gefühl des Schreckens, das die einem Primal unmittelbar vorangehende Phase unweigerlich begleitet. Der konventionelle Terminus für eine derartige präprimäre Phase ist ein »akuter Angstanfall«. Das ist die äußere Manifestation einer Krise des sympathischen Nervensystems, analog der »Kampf oder Flucht«-Reaktion, erstmalig beschrieben von W. B. Cannon (s. weiter unten). Es ist aufschlußreich, daß eine solche Reaktion im Zusammenhang mit einem Primal in einem Augenblick auftritt, da der Patient entspannt daliegt. Die »Krise« ist persönlich, sie bezieht sich auf alten Schmerz.

*  Polygraph: »Physiograph Six« - Narco BioSystems Electronic Sphygmoma-nometer - PE 300 - Narco BioSystems Electronic Thermometer - Yellow Springs Instr. Co., Model 43TA - EEG Filter: Model NB-121 - Narco BioSystems - EEG Integrator: Model GPA-10 - Narco BioSystems - Goldplattenelektroden: Grass Instrument Co. (mit Kollodium und Gaze befestigt).

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Wie man der ersten Graphik entnehmen kann, zeigt sich die physiologische Reaktion auf Zugang zu Urschmerz in einem Ansteigen von Pulsfrequenz, Blutdruck und der Amplitude der Alpha-Aktivität im EEG. Bei diesem Patienten war es nur möglich, die Körpertemperatur vor der Sitzung (99,8° Fahrenheit) und nach der Sitzung (99,0° Fahrenheit) zu messen. (Wie der zweiten Graphik zu entnehmen ist, steigt die Körpertemperatur an, unmittelbar bevor voller Zugang zum Schmerz erlangt wird.)

Der Teil des Nervensystems, der sich mit der internen, viszeralen Regulierung befaßt, wird das autonome Nervensystem genannt. Es hat zwei Subsysteme, das »sympathische« und das »parasympathische«, die beide spezifische Funktionen haben. Der Hypothalamus ist das eigentliche Kontrollzentrum beider. Reaktionen des sympathischen Nervensystems mobilisieren den Organismus zu »Kampf oder Flucht« und dominieren in streßbeladenen Situationen. Reaktionen des parasympathischen Nervensystems neigen dazu, eine wiederherstellende oder Erholungsphase zu vermitteln, und dominieren insbesondere bei Schlaf oder Ruhe, wenn der Organismus weniger unter Streß steht. Sympathische Reaktionen sind Reaktionen mit hohem Energieverbrauch, die den Organismus zu hohen Leistungen »treiben«, oft bis an die Grenze des noch Erträglichen. Parasympathische Reaktionen hingegen konservieren Energie und vermehren durch ihre Tätigkeit die Energiereserven des Körpers und regenerieren Gewebe im Anschluß an Streßphasen. 

 

Bei Säugern findet ein ständiger Wechsel dieser beiden Modi statt, wenn auch selten bis an die Grenzen des jeweiligen Systems. In Notsituationen oder lebensbedrohenden Situationen geraten wir plötzlich unter sympathische Dominanz. Das sympathische Nervensystem vermittelt die Alarmreaktion mit einem plötzlichen Ansteigen von Herzfrequenz, Blutdruck, Körpertemperatur und Blutversorgung der Körpermuskulatur. Von der Leber wird mehr Zucker mobilisiert, um für diese »Energiekrise« Brennstoff zu liefern. 

Währenddessen wird das parasympathische System vorübergehend unterjocht, und regenerierende und aufbauende Aktivitäten werden merklich herabgesetzt. Säuger können außerordentliche Aufgaben bewältigen, wenn sie derart mobilisiert sind. Das sind die Momente, in denen der Körper seine absoluten Höchstleistungen vollbringt: der Körper setzt seine sämtlichen Reserven voll ein. Die Alarmreaktion verbraucht so viel Energie, daß sie ein typisch kurzlebiges Phänomen ist, das allenfalls einige Minuten dauert. Die sympathische Krise tritt in allen lebensbedrohenden Situationen oder anderen Notsituationen ein. Die Mobilisierung der Körperreserven gilt dem Prinzip » Kampf oder Flucht« und hat die Erhaltung des Organismus zum Ziel; es wird ein enormer Energieaufwand geleistet, um das Überleben sicherzustellen. Oft mit Erfolg — zum Beispiel wenn sich jemand aus einem brennenden Gebäude rettet —, manchmal allerdings auch vergeblich — wenn man zum Beispiel versucht, einem Tiger oder einem fahrenden Zug davonzulaufen.

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Bei einem Versagen in derart extremen Situationen geschieht es nicht selten, daß man vor Qual schreit und das Bewußtsein verliert, kurz bevor die Krise ihren Höhepunkt erreicht. Dieses »Versagen« ist eine segensreiche Gnade, es erspart dem Menschen, »Zeuge« des Todes oder überwältigender Qualen zu sein.

Wenn die sympathische Krise eine erfolgreiche Überlebensreaktion vermittelt hat, hört sie bald darauf auf und wird von einer para sympathischen Erholungsphase abgelöst. In der Erholungsphase kommt es oft zu Weinen und zu extremer Müdigkeit und Erschöpfung. Die Sekretionen von Nase, Tränendrüsen, Bronchien und Verdauungstrakt steigen enorm an. Das Blut wird wieder den »konservativen« Aufgaben der Verdauung und anderer Viszeration zugeführt. Oft stellt sich ein starkes Schlafbedürfnis ein. Ein weniger extremer, gleichwohl eindeutiger Wechsel zwischen der Dominanz zunächst sympathischer und anschließend parasympathischer Reaktionen tritt auf: 1. vor/nach einem epileptischen Anfall; 2. vor sexuellem Kontakt / nach einem Orgasmus; 3. unmittelbar vor extremem Schmerz / nach dessen Auflösung.

Die Meßwerte der vitalen Körperfunktionen eines Menschen während und nach einem Primal zeugen, als Reaktion auf den alten Schmerz und dessen Auflösung, von diesem gleichen Zyklus einer sympathischen Krise, der sich eine parasympathische Erholungsphase anschließt. Das Wiedererleben des alten schmerzhaften Gefühls tritt genau dann ein, wenn die parasympathische Phase einsetzt. Das ist die Phase der Heilung und des Regenerierens.

In der Primärtherapie stellt sich im Laufe der Zeit eine stetige, wenn auch allmähliche Abnahme der Meßwerte der vitalen Körperfunktionen1,2 und der EEG-Amplitude ein. Wir interpretieren das dahingehend, daß Neurose ein Zustand unangemessen starker sympathischer Dominanz in der Reaktion auf alten Schmerz ist und daß die Primärtherapie heilt und regeneriert, indem sie den frühen Schmerz auflöst und die sympathischen und parasympathischen Modi wieder in ein angemessenes metaboles Gleichgewicht zurückbringt. 

Wenn die präprimäre (parasympathische) Phase ihr Maximum erreicht, beginnt ein Patient ganz plötzlich, ein altes schmerzhaftes Geschehen mit ungemein lebhafter, intensiver Erinnerung wiederzuerleben. In diesem Augenblick hört auch das subjektive Gefühl des Schreckens und der Panik auf, und ebenso abrupt, wie die sympathische Krise aufhört, betritt man dann eine Phase parasympathischer (cholinergischer) Dominanz. 

Letztere zeichnet sich aus durch eine plötzliche Senkung von Pulsfrequenz, Blutdruck und der Amplitude der Alpha-Aktivität im EEG, des weiteren durch Bronchhorrhoea [übermäßige Absonderung von Schleim aus den Luftröhrenästen], vermehrte Speichelbildung, heftiges, tränenreiches Weinen, Pupillenverengung und plötzliches heftiges Schwitzen.

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Dieser »Zyklus« einer sympathischen Krise, gefolgt von einer parasympathischen Erholungsphase ähnelt seiner Art und vermutlich auch seinen Mechanismen nach dem, der bei einem Anfall zu beobachten ist.4 Primals und Anfälle haben bestimmte physiologische Mechanismen gemein, sind aber nicht identisch. Ein ausführlicherer Vergleich erfolgt später. 

Bei einer einzigen Primärsitzung kann ein Patient mehrere, mitunter viele präprimäre Höhepunkte haben, jeweils mit einem Wechsel von sympathischer zu parasympathischer Dominanz. Im Verlauf einer Primärsitzung fallen die Meßwerte der vitalen Körperfunktionen allmählich ab; bei einigen Sitzungen kommt es gelegentlich zu periodischen Anstiegen und dann gegen Ende der Sitzung zu einem drastischen Abfall der Werte. In beiden Fällen liegen die Werte am Ende der Sitzung unter den jeweiligen Ausgangs- oder Grundwerten. Bei dem Patienten, dessen Meßwerte in der Graphik wiedergegeben sind, waren alle gemessenen Parameter bei Ende der Sitzung niedriger als zu Beginn. Der Puls sank von 87 auf 78 Schläge pro Minute; der Blutdruck von 125/66 auf 99/54; die Körpertemperatur von 99,8° Fahrenheit auf 99,0° Fahrenheit; das Integral der Alpha-Aktivität von 350 auf 168 Mikrovolt/Sek. pro 20 Sekunden Intervall.

Dieser Patient war im Anschluß an seine Sitzung völlig entspannt und gelöst, und das manifestiert sich in den niedrigeren Meßwerten der vitalen Körperfunktionen am Ende der Sitzung. Es ist von erheblicher therapeutischer Bedeutung, daß das EEG-Korrelat dieses Zustands tiefster Entspannung im Anschluß an ein Primal eine niedrig-aplitudige und keine hochamplitudige Alphaaktivität ist. 

 

Graphik 2 gibt die Meßwerte einer fünfundzwanzigjährigen Frau nach einem Jahr Primärtherapie wieder. Sie hatte als Kind eine abnormale Struktur und Funktion der Nieren (drei Nieren, abnormale Harnleiter) und hatte im Alter zwischen anderthalb und sieben Jahren diverse Operationen mit oft monatelangen Krankenhausaufenthalten durchgemacht. Bei der primärtherapeutischen Sitzung, bei der die hier wiedergegebenen Meßwerte ihrer vitalen Körperfunktionen aufgezeichnet wurden, erlebte sie schmerzhafte Begebenheiten wieder, die mit ihren frühen Krankenhausaufenthalten im Zusammenhang standen. Der Zusammenhang zwischen ihren vitalen Körperfunktionen und präprimären Höhepunkten ist deutlich zu erkennen. Mit Schmerzzugang tritt ein plötzlicher Anstieg von Pulsfrequenz, Blutdruck und dem Integral der Alpha-Aktivität in ihrem EEG auf. Normalerweise, wenn es sich bei der Variablen nicht um Schmerz, sondern um kognitive Wahrnehmungen im Wachzustand handelt, ist man gewohnt, daß Wachheit im EEG mit einer Abnahme der Alpha-Amplitude einhergeht, und unaufmerksame Benommenheit mit erhöhter Alpha-Amplitude. Hier werden jedoch eindeutig Veränderungen im EEG nachgewiesen, die mit Schmerzzugang in Beziehung stehen; Veränderungen, die die »Umkehrung« der Veränderungen sind, die bei kognitiven Aufgaben auftreten.

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In der präprimären Phase des Schreckens ist man maximal wachsam, und das EEG-Korrelat des Schreckens ist ein auffallender Anstieg der Alpha-Amplitude, oft auf Werte, die ein Fünffaches über den Werten im Ruhestand liegen, manchmal sogar noch darüber. Die Amplitude der EEG-Aktivität steigt rapide an, bis die parasympathische Erholungsphase einsetzt, dann kommt es zu einem plötzlichen Abfall, klinisch verbunden mit dem Augenblick, in dem der Patient ein altes, schmerzhaftes Gefühl unmittelbar und lebhaft wiederzuerleben beginnt.

 

Interpretation

 

Wir interpretieren den plötzlichen Anstieg der Alpha-Amplitude bei Schrecken dahingehend, daß das Gehirn dann elektromechanisch stärker arbeitet, um sich dem Schmerz zu widersetzen. Wir glauben also, daß die erhöhte Amplitude im EEG der präprimären Phase eine Manifestation der Abwehr gegen vollen Schmerzzugang ist. Die Mechanismen des plötzlichen Wechsels von sympathischer Krise zu parasympathischer Erholung sind noch nicht vollends bekannt, aber analog der gleichen Sequenz bei Anfällen müßten sie durch den Hypothalamus vermittelt werden.4) Unsere Hypothese lautet, wenn das »Abwehrsystem« dabei versagt, den alten Schmerz in Schach zu halten, dann erlebt man unmittelbar und total den alten Gefühlszustand wieder.

Kurz vor dem Versagen der Abwehr befindet man sich in dem übermobilisierten Zustand des Schreckens, der durch die sympathische Krise vermittelt wird — klinisch ein akuter Angstanfall. Dieser Angriff löst sich selbst auf, wenn die Abwehr hinreichend geschwächt ist, so daß es zur Lösung des frühen Schmerzes durch das Wiedererleben kommt. Mit der Lösung tritt eine parasympathische Erholungsphase ein. Ein erfolgreicher Primärtherapeut hilft seinem Patienten eine Neurose aufzulösen, indem er ihm wiederholt hilft, jenseits der Grenze der Abwehr Zugang zu Schmerz zu gewinnen. Alles was vor diesem Punkt haltmacht, ist ein überwältigender Streß ohne Auflösung. Im Alltagsleben kann ein Mensch mit einem akuten Angstanfall sich diesen Grenzen der Abwehr nähern, er erreicht sie aber nur höchst selten, und so werden der Schmerz und der Schrecken amorph erlebt, ohne letztlich eine Auflösung zu finden.

 

Diskussion

 

Der entscheidende Punkt ist der, daß ein »Abwehrsystem« sich nur in Verbindung mit Schmerz entwickelt. Was ursprünglich ein das Leben »unterstützendes« System ist, wird gezwungenermaßen zu einem »lebensrettenden« System. Die höheren Meßwerte der vitalen Körperfunktionen bei Neurotikern sind beredte Indikatoren einer im Gehirn stattfindenden »Umlenkoperation«. 

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Grafik:  Kontrollsitzung  / Übung: gespieltes Weinen    281

Grafik:  Kontrollsitzung  Übung und Weinen ohne Primal   282

Grafik:  J.H., 4 Monate, weiblich   283


Das Reaktionssystem eines Menschen wird in den Dienst des Körpers gestellt, um Schmerz entgegenzu­wirken, und wird so zu einem Abwehrsystem. Ich habe bereits dargelegt, daß das Gehirn eines Säuglings über die hinreichende, nicht aber notwendige Fähigkeit verfügt, Neurosen zu entwickeln.5 Wir reagieren auf unsere Lebensumstände. Wenn die Umstände schmerzhaft sind, schützen wir uns gegen sie. Es gibt keinen Grund, warum ein Kind a priori in der Umwelt Schmerz antizipieren sollte (wenngleich die Gehirnfunktion es in den Äonen der Evolution getan haben mag); deshalb ist Neurose für einen Säugling eine mögliche Alternative, nicht eine vorherbestimmte, unvermeidliche Gewißheit.

 

Körpertemperatur

Säugetiere regulieren ihre Körpertemperatur innerhalb enger Grenzen unabhängig von Temperatur­schwank­ungen der äußeren Umwelt. Ein Unvermögen, das zu tun, führt zu Krankheit und/oder Tod. Für die Enzymsysteme von Säugetieren, die deren Biochemie bestimmen, gibt es eine optimale Temperatur, unterhalb derer Enzymreaktionen langsamer als normal und oberhalb derer sie schneller als normal stattfinden. Faktoren, die die Körpertemperatur anheben, erhöhen auch den Energieverbrauch und erfordern vermehrte physiko-chemische Arbeit vom Organismus. 

Hyperthyreoidismus [Überfunktion der Schilddrüse] und fibröse Erkrankungen veranschaulichen dieses Prinzip gleichfalls: Man braucht mehr Nahrung, neigt zu Gewichtsabnahme, einem Schwund von Fett- und Muskelgewebe, beschleunigtem Herzschlag und vermehrtem Sauerstoffbedarf. Der bei Primals auftretende leichte Anstieg der Körpertemperatur spiegelt eine Regulierung der Körpertemperatur selbst bei Zugang zu altem Schmerz wider. Wenn die Körpertemperatur um 10 oder 15 Grad Fahrenheit anstiege, würde man bei einem Primal an Hyperthermie [Wärmestauung im Körper, führt zu Hitzschlag] sterben. Derartige Extreme sind nicht beobachtet worden, und bei Ende einer Primärsitzung ist die Temperatur in der Regel niedriger als vorher.

 

Puls und Blutdruck

Die Arbeit des Herzens ist eine unabdingbare Überlebensfunktion; sie liefert allem Gewebe Nahrung und Sauerstoff und beeinflußt letztlich auch die Beseitigung der beim Stoffwechsel entstehenden Abfallprodukte. Das vaskuläre System ist ein lebenserhaltendes System, das, wenn man Schmerz ausgesetzt ist, zu einem entscheidenden Teil des Abwehrsystems wird. Das ist der Fall bei chronischer Hypertension und bei Menschen, die auf starken Schmerz konstant mit schnellem Herzschlag reagieren; desgleichen bei einer akuten Reaktion auf aufsteigenden alten Schmerz, die sich durch erhöhten Puls und Blutdruck bemerkbar macht.

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In dem rechtzeitigen Versagen des kariovaskulären Systems, Schmerz abzuwehren, zeigt sich erneut die Klugheit des Körpers. Wenn der Blutdruck auf 300/160 oder der Puls auf 280/min anstiege, wäre die Gefahr groß, bei einem Primal zu sterben. Derartige Extreme sind jedoch nicht aufgetreten; die vaskuläre Reaktion auf Schmerz hört auf, ehe Puls und Blutdruck derart bedenkliche Höhen erreichen. Man könnte per Analogie an das Sicherheitsventil eines Dampfdruck-Kochtopfs denken: wenn der Druck zu hoch ist, öffnet sich das Sicherheitsventil und verhindert so, daß sich ein Druck anstaut, der, wenn er weiterhin anstiege, den Topf in eine Granate verwandeln würde. Wenn bei einem Menschen im Alltagsleben unter starkem Blutdruck mit Extremwerten wie 250/160 ein zerebrales Blutgefäß zerreißt, so ist das ein Versagen der »Versagens­mechanismen« im vaskulären Abwehrsystem. Wäre man bei einem niedrigeren Blutdruck, der unter derartig hohen Werten liegt, in der Lage, in eine parasympathische Erholungsphase überzuwechseln, so würde das diese Art des Schlaganfalls verhindern. Kurz gesagt, ein Primal würde die Auswüchse, die zu einem solchen Zusammenbruch führen, verhindern.

 

EEG-Alpha-Amplitude

Gibt es eine klinische Störung der EEG-Aktivität, bei der einem massiven Anstieg der Amplitude des EEG ein Versagen dieses Systems folgt? Ja, bei dieser Störung handelt es sich um idiopathische Epilepsie. Einem Anfall geht eine Alarmreaktion des gesamten Organismus voraus, die durch eine Krise des sympathischen Nervensystems vermittelt wird (die Puls, Blutdruck und Körpertemperatur hochschnellen läßt).4 Sie spitzt sich zu einem Höhepunkt zu, der sich von dem bei einem Primal zu beobachtenden nur graduell unterscheidet.* 

Während die Amplitude bei einem Urerlebnis in der Regel auf 150-200 Mikrovolt ansteigt, kommt es bei einem Anfall zu einer sehr viel höheren Amplitude, zu der sogenannten »Krampfwelle«, der »spike and wave«-Aktivität. Bei einem Primal wird die kortikale Gehirnfunktion in jedem Augenblick beibehalten. Ein Primal ist ein bewußtes Erlebnis. Bei einem Anfall wird die kortikale Gehirnfunktion beeinträchtigt, und es kommt zu partiellem oder totalem Stupor. Ein Anfall ist normalerweise kein bewußtes Erlebnis.

* Vermutlich ist ein Primal in der Tat ein partieller Anfall von eigenständigem Typus, charakterisiert durch weitreichende subkortikale Depolarisation (elektrische Aktivierung), in der präprimären Phase, der aber eine starke Einbeziehung des Kortex ausschließt. Wenn man jedoch das alte schmerzhafte Gefühl unmittelbar wiedererlebt, liegt mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auch eine Aktivierung des sensorischen und assoziativen Kortex vor, in dem Erinnerungen ihre topographische neurale Repräsentation haben.

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Nach einem Primal erlebt man postprimäre Gedankenklarheit und Weitsicht. Nach einem Anfall erlebt man Konfusion und Gedankenstörung. Beide, Primals und Anfälle, weisen eine sympathische Krise auf, gefolgt von einer parasympathischen Erholungsphase. Auf beide Ereignisse erfolgt eine tiefgreifende Muskelentspannung. Es gibt keinen Grund anzunehmen, das Wiedererleben eines alten Gefühls in der Primärtherapie unterscheide sich erheblich von dem Wiedererleben eines alten Gefühls, wie es für gewöhnlich als Aura bei Schläfenlappenepilepsie oder in der Neurochirurgie durch eine Reizung des Schläfenlappens bei wachen Patienten auftritt.

Der andere Punkt, auf den hinzuweisen wäre, ist der, daß wir nur vier der »vitalen Körperfunktionen« messen. Wie steht es mit dem Glukosespiegel des Blutes, mit dem elektrolytischen Gleichgewicht (Sodium, Kalium etc.), mit dem Insulinspiegel und dem sonstigen Hormonspiegel? Wahrscheinlich sind bei Neurotikern alle »lebenserhaltenden Systeme« Komponenten des gegen Schmerz gerichteten »Abwehrsystems«. Wir sehen, wie Patienten in der Primärtherapie ihre Allergien für immer verlieren. Bedeutet das, daß immune Lymphozyten ebenfalls an der Schmerzabwehr beteiligt sind? Wir halten das durchaus für möglich.

Gegenwärtig untersuchen wir bei Primals nur einige der wichtigsten vitalen Körperfunktionen. In Zukunft werden wir darüber hinaus vielleicht auch andere vitale Körperfunktionen genauer untersuchen, wie zum Beispiel Hormonspiegel, Leberenzyme, Salzsäurehaushalt etc. Es sollte möglich sein, das Abwehrsystem mit einiger Präzision rein physiologisch zu definieren. Neurose ist eine Störung des gesamten Körpers, die sich im Zusammenhang mit Schmerz entwickelt. Die lebenserhaltenden Systeme werden als Abwehrsysteme gegen frühen Schmerz eingesetzt. Diese Abwehr an ihre Grenzen zu treiben, ermöglicht es, alten Schmerz unmittelbar wiederzuerleben. Und wenn das wiederholt geschieht, läßt sich eine Neurose dadurch beheben.

 

  

Teil 2 von Arthur Janov 

 

 

Es ist kein Zufall, daß die Art der Behandlung, die eine Krankheit erfährt, zum großen Teil davon abhängt, welches Konzept man von dieser Krankheit hat. Seit den Tagen Freuds haben wir uns psychische Störungen und Geisteskrankheit als eine Sache der »Seele« vorgestellt und gemeint, ein abweichendes Abwehrsystem, das einen abnormalen Zustand charakterisiert, sei ein Problem psychischer Abweichung. So umfaßte das von Sigmund und Anna Freud umrissene Abwehrsystem nur psychische Mechanismen wie Rationalisierung, Projektion, Verleugnung etc. Die Behandlung mußte mithin eine Manipulation dieser Systeme sein, und die Methode war ebenfalls eine psychische, nämlich Psychotherapie.

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Wir sind zu anderen Ergebnissen gekommen. Wir verstehen Neurose als ein psychophysiologisches Phänomen, und alle geistigen Manipulationen der Welt reichen nicht aus, um das grundlegend zu verändern. Unsere Behandlung muß unserem Konzept entsprechen; Primärtherapie ist deshalb eine psychophysiologische Therapie. Nicht, daß wir einfach beschlossen hätten, Neurose sei auch eine Sache des Körpers. Es war in vieler Hinsicht offensichtlich, und unsere biologischen Messungen haben es dann verifiziert. 

Hätten die frühen Therapeuten an ihren Patienten sorgfältige Messungen vorgenommen, hätten auch sie gewußt, daß Neurose ein psychophysiologisches Phänomen ist, und sie hätten Freud nicht nur dahingehend weiterentwickelt, daß sie seine Theorien auf biologische Bereiche ausgeweitet hätten, sondern sie wären auch gezwungen, eine Therapie zu entwickeln, die diesem Konzept der Neurose entspricht. Statt dessen entstand ein Kreislauf, in dem psychische Krankheiten als Phänomene der Seele definiert wurden; es wurden Theorien über Abwehrverhalten entwickelt, therapeutische Techniken erarbeitet, die nur auf den Geist oder die Psyche bezogen waren. Fortschritt wurde im Hinblick auf Veränderungen psychischer Einstellungen bemessen, die ihrerseits die Theorie und die Techniken validierten. Harte Daten hätten allen eine Menge Ärger und Mühe erspart.

Wilhelm Reich wußte es fraglos besser, und er wurde aus der Gemeinde der Therapeuten verstoßen. Er wandte sich so stark gegen die psychisch orientierte Auffassung, daß er sich nur noch mit dem Körper befaßte und Techniken entwickelte, die sich in erster Linie mit dem sogenannten Körperpanzer auseinandersetzten. Sein Konzept vernachlässigte das Gehirn — ein nicht unbedeutendes Organ. Aber er versuchte seinen Kollegen etwas zu sagen — etwas so Offensichtliches, daß man nur staunen kann, wie es hatte übersehen werden können —, nämlich daß wir neben unserem Gehirn auch einen Körper haben, der ebenfalls auf das reagiert, was sich in unserem Leben abspielt. 

Ein noch schwerwiegenderer Fehler war die Vorstellung, die Abwehrmechanismen seien irgendwie eigenständige psychische Entitäten, ausgestattet mit jeweils besonderen Eigenschaften, die von dem, was sich im Gehirn abspielt, unabhängig seien. Und in diesem Sinne wurden die Manifestationen psychischer Abwehr erforscht und untersucht. 

Es wurden psychologische Tests entwickelt, wie zum Beispiel der Rorschach-Test, um Vorgänge wie Projektionen zu messen. Und man ging davon aus, daß die so erfaßten Projektionen die innere Struktur der Neurose dieses Menschen offenlegten. Diese Projektionen wurden dann innerhalb eines theoretischen Rahmens — meistens Jungscher, manchmal Freudscher Prägung — interpretiert. In jedem Falle aber wurden Projektionen mit Projektionen vermischt — die der Patienten mit denen der Therapeuten —, und man erwartete, daß sich daraus ein gültiges Resultat ergebe. Was dann im weiteren geschah, war self-ful-filling prophecy [eine sich selbst erfüllende Vorhersage].

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Die Projektionen der Patienten wurden so hingedreht, daß sie zu den Projektionen des Therapeuten paßten, wobei letzterer sich auf seine Theorie bezog (und »psychologische« Theorien sind nichts anderes als geistige Vorstellungen über das Verhalten eines anderen). Wenn der Patient zum Beispiel aus einigen Rorschach-Karten Weichheit heraussah, »bedeutete« das Abhängigkeit. 

 

Dieses Ergebnis validierte den Test, so meint man; in Wirklichkeit aber hatte es keinen meßbaren Effekt auf die eigentliche Behandlung des Betreffenden. Da wir alle abhängig sind, ist ein solches Ergebnis ein sicherer Tip. Aber das Warum der Abhängigkeit, die eigentlichen Gründe wurden und konnten durch den Test nicht herausgefunden werden. Er konnte nicht in die Lebensgeschichte eines Menschen hineinschauen er war an die Gegenwart gebunden. Die Testergebnisse mußten ebenso oberflächlich sein wie die geistigen Diagnosen eines Psychiaters, weil beide von dem Konzept der Geisteskrankheit ausgingen. Der Körper wurde nicht in die Rechnung mit einbezogen. Und das Gehirn ebensowenig! 

Kaum irgendwo werden neurologische Prozesse auf psychisches Geschehen bezogen. Keine der bedeutenderen psychologischen Theorien berücksichtigt in nennenswertem Maße die Neurologie. Das Gehirn läuft sozusagen einfach mit eine Art Ärgernis, das toleriert werden muß, wenn man eine Verhaltenstheorie entwickelt. Und wenn Gehirn und Körper ausgeschaltet werden, dann verbleibt eine entkörperlichte Theorie mit den entsprechenden Techniken, die auf entkörperlichte psychische Prozesse angewandt werden.

Wenn man bei der Bewertung therapeutischer Fortschritte Körper und Gehirn weiterhin außer acht läßt, wäre es zum Beispiel durchaus vorstellbar, daß alle erdenklichen Arten von Veränderungen und Fortschritte möglich wären, die in Wirklichkeit überhaupt nicht stattfinden. Anders gesagt, wenn man einfach verbale Veränderungen (ich fühle mich großartig; ich habe mich zur Scheidung entschlossen; ich werde wieder zur Universität gehen und mein Examen machen; ich werde meine Depressionen bekämpfen) als Evangelium oder Realität nimmt, wird man notgedrungen in die Irre gehen. Denn Worte und Gedanken sind kurzlebig und lassen sich sehr leicht beliebig verändern. Für Hirnströme oder Blutdruck trifft das nicht zu. Sie sind Zeugen tiefgreifender, gründlicher Veränderungen, wie sie durch Gedanken allein nicht zustande kommen können. Eine andere Art, das auszudrücken, wäre die, daß man durch eine Psychotherapie Bewußtheit verändern kann; durch die Primärtherapie jedoch verändern wir Bewußtseinsstrukturen, und die sind definiert als die Art, wie Gehirn und Körper strukturell operieren.

Dr. Holden hat einige Kernargumente genannt. 

Zunächst einmal werden wir nicht mit einem Abwehrsystem geboren. Wir werden einfach mit einem funktionierenden biologischen System geboren, das bei der Reaktion auf Schmerz zu einer Abwehrstruktur umgewandelt wird.

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Unter dem Einfluß von Urschmerz hört das System auf, sich zu entwickeln, und beschäftigt sich statt dessen damit, Manöver zu kompensieren, um uns abgeblockt und unsere Verdrängung intakt zu halten. In der therapeutischen Situation wissen wir, daß Abwehrverhalten vorliegt, und wir wissen ebenfalls, daß wir Abwehr effektiv und ökonomisch abbauen können, denn wir können einen Patienten innerhalb weniger Minuten mit Hilfe spezieller Techniken über seine Abwehr hinaus in seinen frühen Schmerz versetzen: Wenn wir das machen, ist zunächst das gesamte Abwehrsystem aufs äußerste angespannt. Der Patient ist bis in die letzte Faser seines Seins aktiviert, um die Verdrängung aufrechtzuerhalten und um das Erleben des Schmerzes zu verhindern. Nebenbei bemerkt, verhindert das gleichzeitig die Fähigkeit, überhaupt etwas voll zu erleben.

Das Abwehrsystem beginnt das Leben zunächst als beschützendes System. Später macht der Körper zwischen Vergangenheit und Zukunft erstaunlicherweise keinen Unterschied mehr. Wenn Schmerz aufsteigt, reagiert der erwachsene Patient, als würde er tatsächlich sterben. Und dazu kommt es nicht etwa, weil er sich das vorgenommen hat. Es geschieht einfach. Es ist ein unwillkürlicher Prozeß. Bei dem dabei aufsteigenden Gefühl kann es sich um ein Gefühl aus der frühesten Kindheit handeln, aber für das System ist dieses Gefühl jetzt katastrophal und vielleicht sogar tödlich. Deshalb laufen alle Systeme auf »vollen Touren«, um es zurückzudrängen. Auf einer bestimmten Ebene dann versagt das Abwehrsystem, und der Patient fällt in das Gefühl hinein. 

Dieses Versagen des Abwehrsystems ist - bei Licht betrachtet - auch wieder nur ein Abwehrmechanismus. Denn wenn der Körper dieses Tempo beibehielte, Herzfrequenz und Blutdruck weiterhin beschleunigte, dann könnte das leicht zum Tod führen. Ehe es dazu kommt, treten Gefühle in Erscheinung, und das Fühlen kennzeichnet das Ende der Abwehrbemühungen. Das ist keine Theorie mehr — es ist eine biologische Tatsache! Wir sehen, mit welcher unglaublichen Anstrengung das Abwehrsystem tätig ist, und wir sehen auch die gleichermaßen unglaubliche Entspannung nach dem Fühlen (ein Puls von vierzig oder fünfzig ist dann keine Seltenheit). Fühlen ist das Ende der Abwehr, und wenn wir in unserem Leben von Anfang an fühlen könnten, gäbe es keinen katastrophalen Schmerz zu bewältigen, dann gäbe es von vornherein auch keine Abwehr.

Der Wechsel von einem Zustand extremer Abwehr zu einem fühlenden, entspannten Zustand ist im wesentlichen ein Wechsel der Dominanz des sympathischen Nervensystems zu der des parasympathischen Nervensystems. Dr. Holden hat erklärt, was das genauer bedeutet; unter anderem nämlich, daß sich in den Jahrmillionen der Entwicklungsgeschichte besondere Aspekte des Nervensystems entwickelt haben, um sowohl Abwehr als auch Fühlen zu regulieren; und diese beiden Aspekte oder Systeme arbeiten Hand in Hand als Teil des autonomen Nervensystems.

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Sie kontrollieren die automatischen Funktionen des Körpers, sowohl für Abwehr als auch für Fühlen. Das Ergebnis der sympathischen Dominanz ist meßbar, und diese Meßwerte können uns im großen und ganzen sagen, wie abgewehrt (im Gegensatz zu fühlend) ein Mensch ist. Zwischen beiden Systemen besteht ein feines Gleichgewicht, und Schmerz ist der Faktor, der eine Dominanz des einen Systems über das andere auslöst. Schmerz veranlaßt eines dieser Systeme (das sympathische), zu hart zu arbeiten, was letztlich dazu führt, daß diverse Systeme des Körpers, die in die Abwehr einbezogen werden, zusammenbrechen. Das System unterstützt nun nicht mehr das Leben, sondern die Neurose. Es wird in den Dienst der Verdrängung gestellt und dient nicht mehr dem Ausdruck. Das wirkt sich störend auf die Beziehung zwischen den Neurotransmittern und dem Hormonsystem aus. Die Adrenalin-Noradrenalin-Balance verändert sich, und zwar meßbar. Menschen, die unfähig sind, ihren Ärger auszudrücken, weisen ein anderes Adrenalin-Noradrenalin-Verhältnis auf als Menschen, die fähig sind, ihrem Ärger Ausdruck zu geben. 

Es bleibt nichts unbeeinträchtigt, denn Neurose ist ein totaler Seinszustand; und das ist der eigentlich entscheidende Punkt. Verdrängung ist nicht nur ein psychischer Zustand. Sie ist mit Sicherheit genauso ein biochemischer und nervaler Zustand, wie sie ein psychischer Zustand ist. Ja, die psychischen Manifestationen spiegeln lediglich die sich im Innern abspielenden Veränderungen wider. Ein hochgradig verdrängender Mensch nimmt auch psychisch nicht besonders gut wahr, weil sein Gehirn geschleust wird, und das ist auch mit neurochemischen Begleiterscheinungen verbunden. Sein Serotoninspiegel könnte anders als normal sein (allerdings sind diesbezügliche Messungen bei unseren Patienten noch nicht durchgeführt worden, denn wer macht schon eine Rückenmarkspunktur nur der Forschung wegen).

Es ist kaum mehr eine Frage, daß das Gehirn Teil des Abwehrsystems ist. Auch es reagiert auf Schmerz, und zwar ebenfalls meßbar; auch es verändert sich mit Fühlen. Es ist offensichtlich, daß neurologische Prozesse aus der Diskussion psychologischer Theorien nicht ausgeklammert werden können. Das Gehirn arbeitet gegen Schmerz an, und diese Arbeit spiegelt auf Systeme zurück, die von diesem Gehirn kontrolliert werden. Blutdruck ist nicht nur ein Meßwert des Blutkreislaufsystems, er spiegelt ebenso Gehirnprozesse wider. Sie sind ein integriertes, einheitliches Ganzes. Eine Aussage über psychische Prozesse machen, bedeutet, über Gehirn und Körper sprechen. Es ist völlig legitim, psychologische Beurteilungen von sich zu geben, solange man im Biologischen verankert bleibt. Kappt man diesen Anker jedoch, so bedeutet das, daß man das Ufer der Realität für immer verläßt. All das soll in keiner Weise besagen, daß es so etwas wie psychische Abwehrmechanismen nicht gibt. Ich bin überzeugt, daß es sie gibt, nur sind sie keine isolierten Entitäten.

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Ich gehe davon aus, daß jede Bewußtseinsebene ihr eigenes Abwehrsystem hat. Die erste Ebene wehrt mit den Viszera ab, und Druck erster Ebene wird von dem inneren Organsystem bewältigt. Abwehr der zweiten Ebene würde die Körperwand betreffen; so ist ein unbewegliches Gesicht, dem keinerlei Gefühle abzulesen sind, eine Abwehr zweiter Ebene. Nervöses Augenzucken wäre ebenfalls ein Abwehrverhalten zweiter Ebene, und zwar insofern, als mit dem Aufsteigen eines Gefühls anstelle von Fühlen Augenzucken einsetzt. Abwehr dritter Ebene wären sogenannte psychische Abwehrmechanismen. Hier würden wir rationalisieren oder anderen die Schuld für unsere eigenen Fehler zuschieben. Hier leugnen wir unsere eigenen Fehler und erklären sie so geschickt, daß sie nicht mehr wie Fehler erscheinen. Die dritte Ebene benutzt elaborierte Sprache als Abwehr.

Normalerweise benutzen wir auf die eine oder andere Art alle drei Abwehrsysteme, aber unter Umständen kann bei einem Menschen die eine oder andere dominieren. Ein unbewegliches Gesicht und eine starre Körperhaltung können Teil eines umfassenden körperlichen Abwehrsystems sein, das heißt, ein solcher Mensch spannt unter Druck seine Muskulatur an. Andere gehören dem psychosomatischen Typus an; sie wehren mit dem inneren System ab und somatisieren den Schmerz innerlich.

Abwehrmechanismen entwickeln sich mit der Entwicklung des Gehirns. Ein Neugeborenes kann seinen Schmerz nicht auf einen anderen Menschen projizieren; dafür hat es einfach nicht das zerebrale Rüstzeug. Ein Dreijähriger hingegen ist dazu bereits in der Lage. Er kann seinem Kindergartenfreund die Schuld geben und wird es tun, wenn er von seinen Eltern bereits für so vieles beschuldigt wurde, daß er sich selbst keine weiteren Fehler eingestehen kann. Ein kleines Kind, das noch Zugang zur zweiten Ebene hat, wird zu Abwehrmechanismen auf der zweiten Ebene tendieren. Es wird seine Emotionen umlenken, indem es beispielsweise seine kleine Schwester anstelle seiner Eltern verprügelt oder bei jeder Kleinigkeit weint. Mit der Entwicklung der dritten Ebene stellt sich dann die Fähigkeit zum Agieren ein. Mit fünf oder sechs Jahren beginnt er vielleicht heimlich Kleider zu tragen, mit zwölf zu rauchen und zu masturbieren. Später dann wird sein Agieren komplexer, so wie es sein Gehirn auch geworden ist. Es wird symbolischer und subtiler sein, so daß nicht einmal er selbst mehr weiß, daß er ein Gefühl agiert. Das Agieren wird zu einem automatischen Mechanismus.

Unter gewöhnlichen Umständen funktionieren die Schleusen- und Abwehrmechanismen des Körpers recht gut. Wenn aber ein neuer Reiz auftritt, der verdrängten Schmerz aufsteigen läßt, dann bedarf es neuer Abwehrmechanismen. Das heißt, wenn die Kurve ansteigt, wenn der Schmerz hochkommt, ist es erforderlich, neue Abwehrmechanismen einzusetzen.

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Wenn man den primären Höhepunkt erreicht (erlebt als akuter Angstanfall), sind alle Abwehrsysteme voll in Aktion. Der Betreffende kann dann beginnen, endlos zu reden, zu essen, zu rauchen und zu trinken, und das alles mehr oder weniger gleichzeitig. Der Magen dreht sich, die Nackenmuskulatur verkrampft sich - die Arten des Agierens sind Legion. Der eine hängt sich vielleicht ans Telefon und erzählt seine Probleme allen, die er erreichen kann. Ein anderer mag sich in Bücher flüchten. Wieder ein anderer agiert sexuell. Man kann wirklich alles, was ein Neurotiker unter der Wucht von Urschmerz macht, als Abwehrverhalten betrachten. Wenn wir einem Menschen das nehmen und ihn zum Beispiel zwingen, leise zu reden, dann kann er in ein Gefühl fallen.

Zwanghaftes Handeln jeglicher Art — ob Lesen oder Masturbieren — ist immer ein Abwehrverhalten. Einige Abwehrmechanismen sind offensichtlich, andere nicht. Tagein, tagaus hart arbeiten mag als Notwendigkeit erscheinen (ist es vielleicht auch) und nicht als Abwehr angesehen werden. Wenn aber ein Patient ein Gefühl hat, das ihm sagt, daß er sich aus bestimmten Gründen der Abwehr so überarbeitet, dann sieht die Sache doch etwas anders aus.

In der Regel lösen Situationen oder Reize, die Schmerz reaktivieren, auch Abwehrverhalten aus. Die jeweilige Art der Abwehr wird im großen und ganzen bestimmt durch den Spannungsgehalt des Schmerzes und durch den Zeitpunkt, zu dem er sich in unserem Leben ereignet hat. Ein Säugling kann Schlaf als Abwehr benutzen. Wenn er oft in der Wiege allein gelassen wird, man ihn ungerührt sich ausschreien läßt, dann ist Schlaf eine der wenigen möglichen Alternativen. Dieses Abwehrverhalten kann prototypisch und für den Rest des Lebens beibehalten werden. Mit zunehmender Entwicklung wird uns eine Vielzahl anderer Abwehrmechanismen verfügbar, die jeweils von der frühen Lebenssituation abhängen. 

In einem repressiven Elternhaus aufwachsen, auf eine repressive Schule geschickt werden — zum Beispiel auf ein strenges Internat —, sind Umstände, die die Möglichkeiten des Agierens einschränken können; das führt zu einem Verhalten des <Einagierens> (im Gegensatz zu acting out - agieren; A.d. Red.) — Dinge für sich behalten, sich innerlich zurückziehen und lernen, völlig selbständig und selbstgenügsam zu sein. Wenn diese Selbständigkeit und Selbstgenügsamkeit den Beifall der Eltern findet, die ihrem Kind im Grunde ablehnend und gleichgültig gegenüberstehen, dann kann sich das zu einem stabilen Abwehr­verhalten verfestigen. 

»Abwehr« heißt »Abwehr gegen Schmerz«. Abwehr soll uns daran hindern, zu fühlen; ein gut abgewehrter Mensch fühlt keinen Schmerz, allerdings fühlt er auch sonst kaum etwas. Er ist abgetötet, und was immer er tun mag, sein Leben erscheint düster, grau und fad. Und doch fährt er fort, genau das zu tun, was ihn am Fühlen hindert. Und normalerweise weiß er nicht einmal, daß er abwehrt.

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Wenn Gefühle aufsteigen — zum Beispiel aufgrund einer feindseligen Konfrontation oder weil man gezwungen wird, eine öffentliche Rede zu halten oder aufgrund einer Auseinandersetzung mit einem Freund —, werden sie auf jede erdenkliche Art abgeschmettert. Die Art, in der das geschieht, ist jeweils für den einzelnen Menschen charakteristisch und verwebt sich zu einem »Persönlichkeitstypus«. So können einige von uns Humor als Abwehr benutzen — der Schmerz wird sozusagen einfach weggelacht. Diese Abwehr kann so ausgefeilt werden, daß der Betreffende daraus einen Beruf macht und Komiker wird. 

Nun dient die Abwehr nicht mehr nur dazu, Gefühle im Schach zu halten, sondern auch dazu, den Lebens­unterhalt zu bestreiten. Sie wird zu einer Lebensart. Der Betreffende wird aufgrund seiner Persönlichkeit und seiner Abwehr gelobt, und so wird sie bekräftigt. 

Ja, er mag sich sogar einbilden, er werde seiner Abwehr wegen geliebt — als der Lichtblick jeder Party, als amüsanter Unterhalter und dergleichen. Und so wird er jetzt statt seiner selbst und seines fühlenden Selbst willen wegen seines ausgefeilten Abwehrsystems geliebt. Wenn wir einen solchen Menschen in der Primärtherapie haben, sind wir gezwungen, ihm seinen Humor und seine Fähigkeit zur amüsanten Plauderei zu nehmen. Wir lassen ihn keine Witze machen, und das Ergebnis ist immer das gleiche — Schmerz.

Wenn wir es mit Abwehrverhalten der zweiten Ebene, also mit Abwehrverhalten der Körperwand zu tun haben, bringen wir den Patienten dazu, sich viel zu bewegen oder Grimassen zu schneiden, damit er lernt, sich auszudrücken. Wir hindern ihn daran, zuviel zu reden, oder umgekehrt veranlassen wir ihn, sehr viel mehr zu reden, als er es sonst gewohnt ist. Wir beobachten, wie er atmet, denn ein flacher Atem ist einer der vielen tausend automatischen Abwehrmechanismen. Die Beseitigung der Abwehr erfolgt jedoch sehr behutsam und steht immer im Einklang mit dem jeweiligen Befinden und Standort des Patienten. Es gibt Zeiten, in denen ein Patient bestimmte Abwehrmechanismen braucht, besonders wenn er von Schmerz überwältigt wird. In einem solchen Fall ermutigen wir den Patienten, sich aufzusetzen und ausführlich über sein Leben zu sprechen, seine Probleme zu beschreiben, damit er sich selbst verstehen lernt. Bei einem Menschen dritter Ebene, der gut abgewehrt ist, würde man dadurch das Problem nur noch verstärken.

Wenn ein Mensch zu fühlen lernt, weiß er mit der Zeit, wann er abwehrt, und weiß dann, was zu tun ist. Der Punkt, an dem es kein Zurück mehr gibt, ist in dieser Therapie erreicht, wenn die Abwehrstruktur und die für die Persönlichkeit charakteristischen Reaktionen nicht mehr automatisch sind, wenn der Patient ein fühlender Mensch ist. Solange wir nicht fühlen, sind wir gezwungen, abzuwehren und zu agieren, auch wenn wir uns unseres Abwehrverhaltens noch so bewußt sein mögen. Wenn wir lernen, unsere Abwehrmechanismen zu kontrollieren — zum Beispiel Rauchen, Trinken, Promiskuität —, dann haben wir lediglich einen neuen Abwehrmechanismus, nämlich die Kontrolle über das Agieren.

Das verstärkt das Problem, es löst es nicht. Der Fehlschluß bei Einsichtstherapien liegt darin, daß die Kontrolle des Agierens mit der Lösung gleichgesetzt wird. Doch nichts könnte der Wahrheit ferner sein. Auflösung der Abwehr bedeutet, den Schmerz aufzulösen, der sie ins Leben gerufen hat.

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Literaturverzeichnis

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www.detopia.de    ^^^^