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9. Auf dem Wege zu einer sinnvollen Psychotherapie

Teil 1 von Michael Holden 

 

 

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In der gegenwärtigen Forschung wird allgemein davon ausgegangen, daß Methoden wie Biofeedback oder Meditation, die eine erhöhte Alpha-Amplitude im EEG zur Folge haben, den Menschen und das Gehirn entspannen. Barbara Brown schrieb unlängst »Alphawellen sind die gigantischen rhythmischen Hirnstrom­begleiter entspannter Gefühlszustände« (Psychology Today, August 1974).

Unsere weiter unten wiedergegebenen Daten belegen das genaue Gegenteil dieser Auffassung. Ein Mensch, dessen EEG-Alpha-Amplitude zunimmt, erlebt oft ein subjektives Gefühl der Entspannung. Wir glauben jedoch, daß eine solche Empfindung das Ergebnis einer neurophysiologischen Veränderung ist, die auf Verdrängung und Abwehr beruht. Wie wir weiter unten belegen werden, ist eine Zunahme der Alpha-Amplitude eine Oberflächenmanifestation vermehrter Gehirnaktivität. 

Wir haben festgestellt, daß eine erhöhte Alpha-Amplitude eine Komponente der Abwehr ist, und zwar der Abwehr gegen aufsteigenden Urschmerz. Wenn sich der Zugang zu Urschmerz verringert, erlebt man das subjektive Empfinden von Entspannung, und wenn der Zugang zu Urschmerz größer wird, erlebt man einen Anstieg von Spannung, Angst und Furcht. Das charakteristische klinische Bild eines Menschen mit vermehrtem Zugang zu Urschmerz ist ein akuter Angstanfall, mit oder ohne Begleitung »psychosomatischer« Symptome. 

Wir haben im Primärinstitut in Los Angeles kürzlich bei einigen Patienten während der Behandlung mehrere physiologische Parameter mit Monitoren aufgezeichnet. Wie bereits früher berichtet und anschließend durch zwei getrennt durchgeführte Untersuchungen an der UCLA 2,3 bestätigt wurde, kommt es in der Primärtherapie zu einem kontinuierlichen Abfall der Alpha-Amplitude im Wachzustand. Diese bedeutende physiologische Veränderung geht einher mit einem bei der Primärtherapie ebenfalls vorhersagbar eintretenden kontinuierlichen Abfall von Puls, Blutdruck und Körpertemperatur. 


Der Schwerpunkt unserer gegenwärtigen Untersuchungen liegt auf der Physiologie des Primals. Wir stellen im Verlauf eines Primals regelmäßig Messungen von Pulsfrequenz, Blutdruck und Körpertemperatur an sowie vom Integral der okzipitalen Alpha-Aktivität. Die psychologischen Aspekte eines Primals sind bereits ausführlich diskutiert worden1,4), unser Hauptinteresse gilt jetzt den physiologischen Aspekten.

 

Da Primals dem Erfahrungsbereich der meisten Mediziner, Psychiater und Psychologen fern sind, könnte die folgende Analogie eine Hilfe darstellen. Dr. W. Penfield und andere haben nachgewiesen, daß eine Reizung im Schläfenlappen (bei operativen Eingriffen) bei Patienten im Wachzustand bewirkte, daß sie den mit einer frühen Erinnerung verbundenen Gefühlszustand, den emotionalen Zustand und die kognitiven Aspekte intensiv wiedererlebten. Eine derartige Erinnerung stellt einen kleinen Ausschnitt aus einem totalen Erlebnis in der Vergangenheit dar. Bei einem Primal tritt ein sehr ähnliches, wenn nicht identisches Phänomen auf (allerdings ohne chirurgischen Eingriff), nur daß hierbei der »Ausschnitt« aus dem frühen Erlebnis wesentlich größer ist. Dieses Wiedererleben ist total, organismisch und ungemein intensiv. Primals sind dadurch gekennzeichnet, daß sie sich nur mit schmerzhaften Erinnerungen (die zur Zeit ihres Entstehens körperlich oder psychisch schmerzhaft waren) befassen.

Die Verfahrensweise dieser Untersuchungen an Primärpatienten wurde bereits im vorangegangenen Kapitel dargelegt.

 

Ergebnisse

 

Auf der folgenden Seite legen wir zwei Graphiken vor; die eine gibt die Aufzeichnung einer Primärsitzung einer jungen Frau (23) nach dreiwöchiger Primärtherapie wieder; die andere die Aufzeichnungen von der Sitzung einer Frau (26) nach einem Jahr Primärtherapie. Die Sitzung der ersten Patientin dauerte Sechsundsechzig Minuten und hatte zwei präprimäre Höhepunkte, die Sitzung der zweiten Patientin dauerte hundertzwanzig Minuten und hatte sieben präprimäre Höhepunkte. Im Prinzip sind die Graphiken einander recht ähnlich. (Das subjektive Erleben alter Erinnerungen setzt immer unmittelbar nach einem Höhepunkt der Angst ein.)

In dem Maße, wie die Abwehr an Wirksamkeit verliert, bildet sich vermehrter Zugang zu Urschmerz, begleitet von einem kontinuierlichen Anstieg von Puls, Blutdruck und Alphaaktivität. Die Körpertemperatur steigt als Reaktion auf den Schmerz, wenn auch wesentlich langsamer als die anderen Parameter. Dabei sollte berücksichtigt werden, daß diese Veränderungen innerhalb weniger Minuten auftreten, und das bei Menschen in entspannter Rückenlage. Wie beide Abbildungen zeigen, steigt der Blutdruck oft in den Bereich der Hypertension, und der Puls kann ohne weiteres auf das Doppelte oder Dreifache des Ausgangswertes hochschnellen.

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Abbildung 1

Abbildung 2

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Ebenfalls charakteristisch für diese präprimäre Phase ist, daß die Alpha-Amplitude beachtlich ansteigt, oft auf das Fünf- oder Zehnfache der Werte im Ruhezustand, und sie erreicht ihr Maximum auf dem Höhepunkt des Zugangs zu Schmerz. Uns ist für diesen Befund kein historischer Präzedenzfall bekannt.

Die Bedeutung dieses Anstiegs der Alphaaktivität läßt sich verdeutlichen, indem man ihn prozentual in Relation zu den Puls- und Blutdruckwerten setzt. Wenn der prozentuale Anstieg der gleiche wäre, müßte der Puls bei über 250 Schlägen pro Minute liegen, und der Blutdruck müßte auf Werte über 350/200 ansteigen. Unmittelbar nach dem präprimären Höhepunkt fallen Puls, Blutdruck und Alpha-Amplitude auf tiefere Werte ab. 

Abbildung 2 zeigt in etwa folgende prozentuale Senkungen der Werte zwischen Höhepunkt und Ende: systolischer Blutdruck 33 %, Pulsfrequenz 40 % und Körpertemperatur 1 %. Diese Ergebnisse weisen in unseren Augen eindeutig einen Zusammenhang zwischen Schmerz und Auflösung des Schmerzes einerseits und der Veränderung der Meßwerte der vitalen Körperfunktionen andererseits nach. Wir gehen davon aus, daß auch die Spannung der Hirnströme als eine der vitalen Körperfunktionen betrachtet werden muß. 

Für die Temperatur ist kennzeichnend, daß sie bis kurz vor Ende der Sitzung — normalerweise bis zum letzten präprimären Höhepunkt — erhöht bleibt. Nach dem letzten Primal (in einer Sitzung) ergeben sich bei den Messungen all dieser physiologischen Parameter Werte, die unter den Anfangswerten liegen. Nach einem Primal — einer totalen, organismischen Reaktion des Fühlens auf Schmerz — sind Gehirn und Körper des Patienten wirklich entspannt, und das physiologische Korrelat dieses wirklich entspannten Zustands ist eine unter den Ausgangswerten liegende Amplitude der Alphaaktivität (in Abb. 2 nach 115 Minuten um 670 % niedriger als beim präprimären Höhepunkt), und das demonstriert eindeutig den Zusammenhang zwischen Alphaaktivität und Urschmerz.

 

Diskussion

Aus diesen Untersuchungen lassen sich drei äußerst bedeutsame Schlußfolgerungen ziehen:

  1. Die »Abwehrmechanismen« psychischer Krankheit sind totale, organismische Abwehrmechanismen und nicht, wie so viele glauben, einfach »psychische« Phänomene; sie stellen eine integrierte Einheit dar.

  2. Einer der entscheidendsten Abwehrmechanismen ist erhöhte Gehirnaktivität, dadurch wird Zugang zu Urschmerz abgewehrt.

  3. In Untersuchungen über Biofeedback oder Meditation spiegelt ein Anstieg der Alpha-Amplitude nicht ein physiologisches Korrelat der Entspannung und Schmerzfreiheit wider, sondern eine Mobilisierung erhöhter Hirnaktivität, die lediglich den äußeren Anschein von Entspannung und die subjektive Selbsttäuschung der Entspannung vermittelt.

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Therapien, durch die Körperentspannung mit erhöhter Hirnaktivität erzielt werden, haben die Abwehr einfach verlagert, und diese Verlagerung wird, wie wir glauben, durch eine selektive Schmerzschleusung auf zerebraler Ebene vollzogen. Ein Postprimärpatient ist frei von Abwehr, hat freien, ungeschleusten Zugang zu Schmerz und ist wirklich bar jeder Spannung. Sein Puls liegt bei 50 bis 60, der Blutdruck im Umkreis von 100/60, die Körpertemperatur 2 bis 3 Grad Fahrenheit unter »normal«, und das EEG weist eine niedrig-amplitudige Alpha-Aktivität nach.

Man könnte zu Recht fragen: »Warum hat ein völliges Wiedererleben früher Schmerzen eine heilende Wirkung?« Die Antwort lautet, daß partiell gefühlter Schmerz im Säuglingsalter und in der Kindheit aufgrund von Blockierung »partiell« ist — und diese Blockierung ist eine Schleusenoperation (ein höherer Schwellenwert), die den Organismus vor übermäßigem Schmerz schützt. Die Energie dieses Schmerzes verschwindet nicht. Sie bleibt abgesondert im System erhalten und ist der Ursprung neurotischen Agierens nach außen wie nach innen; ersteres zeigt sich durch ein Ansteigen der EEG-Amplitude und durch psychosomatische Symptome (alle). Wenn der Schmerz in einem Primal voll und ganz gefühlt wird, ist Blockieren nicht mehr erforderlich, und die Neurose löst sich auf. Nicht primärtherapeutische Kontrollen, wie Schein- oder Pseudoprimals, lassen die Werte der von uns gemessenen Parameter einschließlich der Alpha-Amplitude ansteigen, und am Ende derartiger Sitzungen liegen die Werte über den Anfangswerten. Unseres Wissens bewirkt nur die Primärtherapie eine permanente Senkung all dieser Meßwerte der vitalen Körperfunktionen und der EEG-Aktivität.

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Teil 2 von Arthur Janov 

 

Die Ergebnisse unserer Untersuchungen, vor allem unserer Langzeituntersuchungen, weisen darauf hin, daß wir tiefgreifende Veränderungen des Bewußtseins bewirken, und nicht nur Bewußtheit verändern. 

Die Struktur des Bewußtseins ist organisch und ändert sich nicht je nach sensorischer Reizzufuhr von einem Augenblick zum anderen. Erst Neurose unterbricht die organische Integrität des Bewußtseins und erzeugt das »Unbewußte«. Im primärtheoretischen Kontext gibt es das Unbewußte nicht in dem Sinne, wie wir es uns vorzustellen gewohnt waren.

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Es gibt nur blockiertes Bewußtsein. Und im Grunde gibt es dreierlei Bewußtsein — oder drei verschiedene Bewußtseinsebenen. Schmerz spaltet das Bewußtsein und erzeugt Unbewußtheit, und zwar auf jeder der einzelnen Ebenen. Diese Unbewußtheit nimmt jedoch keine bestimmten Eigenschaften und Funktionen an, wie es die Freudianer oder Jungianer vom »Unbewußten« glauben. Es ist und bleibt Teil eines Bewußtseinssystems; nur ist es nicht verknüpft. Deshalb führt Verknüpfung zu einer Lösung und zu einer Fülle von Einsichten. Verknüpfung hat Bewußtsein zur Folge — Bewußtsein auf der jeweiligen Ebene. Wir können auf verschiedenen Ebenen bewußt sein, und das erklärt auch, warum Operationspatienten sich später an die Unterhaltung des Chirurgen mit seinen Kollegen erinnern können, obwohl sie betäubt und »unbewußt« waren.

Dr. David Cheek berichtete kürzlich (Februar 1975) von seinen Untersuchungen übe Anästhesie und Hypnose (UCLA neuroscience lecture). Er erwähnt die Operation einer Frau, bei der der Verdacht auf Karzinom bestand. Während der Operation rief der Chirurg aus »Herrje, es ist bösartig«, ein Befund, der sich später als nicht richtig erwies. Diese Frau erholte sich anschließend überhaupt nicht, der Heilungsprozeß war ungewöhnlich langwierig. Um herauszufinden warum, wurde sie hypnotisiert. Das Ergebnis der ersten Sitzung war die Erinnerung an eine vor kurzem stattgefundene Operation. Die zweite Sitzung brachte die Erinnerung an den Ausruf des Chirurgen bei der Operation zutage. »Nachdem sie einmal Zugang zu dieser unbewußten Information hatte, nachdem sie ihr zum Bewußtsein gebracht wurde, setzte der Heilungsprozeß unverzüglich ein« (Dr. Cheek).

Auch hier wieder sehen wir anhand von Informationen, die mit der Primärtheorie nichts zu tun haben, eine Bestätigung der Tatsache, daß unbewußte Faktoren somatische Leiden, insbesondere aber den Heilungsprozeß, beeinflussen. Eine Einprägung auf der zweiten Ebene wirkte sich auf das Befinden dieser Frau in einem solchen Maße aus, daß ihre Genesung dadurch verhindert wurde. Und genau das entspricht der primärtheoretischen Auffassung, daß nämlich bei Neurose eine konstante Aktivierung der unteren Ebenen stattfindet, die sich nicht nur darauf auswirkt, ob man krank wird, sondern auch darauf, wie schnell man wieder gesund wird. Mangelnde Verknüpfung ließ bei dieser Patientin ein Leiden fortbestehen, und erst die Verknüpfung führte zur Heilung.

Unsere Untersuchungen weisen einen entscheidenden Punkt nach: Ein Abfall der von uns gemessenen physiologischen Parameter wird nicht einfach durch das Schreien erzeugt, sondern durch die Verknüpfung. Kontrollgruppen, die Primals ohne Verknüpfung simulierten, erreichten nicht die niedrigen Werte der Primärpatienten. Es besteht ein Unterschied zwischen einem Primal und einer durch Abreagieren erzielten Spannungsabfuhr. Ja, wir können anhand der bei Patienten vorher und hinterher erhobenen Meßwerte ablesen, wer ein Primal hatte und wer nicht, und auch wer ein vollständiges Primal hatte und wer nicht.

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Verknüpfung ist der Schlüssel zur Primärtherapie. Mit Verknüpfung meine ich Zugang — das exakte Bindeglied zu einem frühen Geschehen oder Gefühl, das ich als Primal bezeichne. Die Verknüpfung erzeugt Einsichten, die nichts anderes sind als ein Verstehen all der Verhaltensweisen, die auf dem unbewußten Gefühl basierten. Die Einsichten vertiefen sich, je tiefer der Zugang wird. Das Gefühl zu fühlen ist sich selbst Erklärung genug, und niemand braucht einem fühlenden Menschen Einsichten zu vermitteln.

Wenn die tausend und abertausend Beobachtungen über die Existenz von gespeichertem Schmerz, die wir angestellt haben, zutreffen, wenn all die neurologischen Nachweise über kodierte Erinnerungen von Penfield und anderen zutreffen, wenn all die Hypnoseuntersuchungen über Altersregression akzeptiert werden können, dann müßte es schon schwerfallen, die Existenz verdrängter Urschmerzen zu leugnen. Und wie könnten wir dann leugnen, daß wir uns mit diesem Schmerz auseinandersetzen müssen? Urschmerz ist offensichtlich keine Vorstellung, die aus der Luft gegriffen und in eine ausgeklügelte Theorie gekleidet wurde. Er ist eine Realität; und jede Methode, die ihn ignoriert, geht an der Realität vorbei.

 

Was geschieht mit einem Herzpatienten, dessen Puls und Blutdruck durch Biofeedback-Techniken vorübergehend gesenkt werden? Wo ist der Schmerz geblieben, der sie überhaupt erst hat ansteigen lassen? 

Zunächst einmal müssen wir verstehen, daß Biofeedback einfach eine elektronische Art der Konditionierung ist, die sich mit gegenwärtigen Symptomen befaßt. Dabei war es ja gerade die elterliche Konditionierung, die die meisten von uns hatte neurotisch werden lassen, und Biofeedback ist lediglich eine subtilere Methode, den Körper erneut zu manipulieren. Es »diktiert«, wie wir auf bestimmte Situationen zu reagieren haben. Biofeedback hat zum Ziel, die Art, wie der Körper funktioniert, zu verdrehen, wobei von der Grundannahme ausgegangen wird, der Therapeut tue etwas zum Besten des Patienten. 

Jede Methode, die eine Kontrolle und Umlenkung des Systems beinhaltet, neigt dazu, den Patienten von seinem Normalzustand nur noch weiter zu entfernen. So gesehen, können Biofeedback und Konditionierung dazu beitragen, eine Neurose zu bekräftigen oder gar zu verschlimmern, anstatt sie abzubauen. Der Patient kann lernen, Puls und Blutdruck zu kontrollieren, so daß ein bestimmtes farbiges Licht (blau) aufleuchtet, wenn er diese Werte willensmäßig senkt. Später können sich Puls und Blutdruck als Reaktion auf blaues Licht automatisch senken, und daraus wird die Schlußfolgerung gezogen, es sei ein Durchbruch auf dem Gebiet der Herzkrankheit oder der Hypertension gelungen. Was aber ist mit dem Schmerz geschehen, der diese Werte überhaupt erst in die Höhe schnellen ließ und sie lange Zeit erhöht hielt?

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Er ist noch immer da. Er hat sich jetzt lediglich einen anderen Weg der Spannungsabfuhr gesucht. Es sei hier noch einmal daran erinnert, daß Körper und Gehirn Teile eines einheitlichen Abwehrsystems sind. Das heißt, daß eine artifizielle Veränderung eines Teils dieses Systems — sei es durch Konditionierung, Biofeedback, Meditation, Drogen etc. — dazu führen wird, daß andere Aspekte des Abwehrsystems die Zügel übernehmen und die Störung seiner (neurotischen) Integrität kompensieren werden. Während wir den Blutdruck senken, kann die Alphaaktivität im EEG ansteigen; oder wenn wir den Puls senken, steigt vielleicht die Körper­temperatur. Es führt kein Weg daran vorbei: Ist der Schmerz einmal da, muß man sich mit ihm auseinandersetzen.

Was genau geschieht bei Biofeedback oder verhaltenstherapeutischer Konditionierung, wenn der Therapeut Vasokonstriktionen erzeugt, indem er ein bestimmtes farbiges Licht aufleuchten oder einen bestimmten Glockenton erklingen läßt? Die genauen Mechanismen all dessen müssen äußerst komplex sein, sind bislang aber noch nicht erschöpfend erforscht. Aber wir wissen immerhin soviel, daß die Methode irgendwie direkt zu einer tieferen Bewußtseinsebene »spricht«. Der Therapeut hat im Falle der Vasokonstriktion (oder Vasodilatation) eine Technik gefunden, vorübergehend Funktionen erster Ebene zu verändern. Tatsächlich konditioniert er den Hypothalamus, der diese Funktionen vermittelt. Und diese Ergebnisse sind deshalb so kurzlebig, weil es zu keiner Verknüpfung zwischen den einzelnen Ebenen kommt. Da Schmerz nicht konditioniert (oder hypnotisiert oder unter Drogen gesetzt oder analysiert) werden kann, sind Ergebnisse, die ihn nicht mit einbeziehen, immer kurzlebig.

Es ist möglich, jede Bewußtseinsebene zu konditionieren oder zu verändern. Biofeedback-Techniken zum Beispiel können Funktionen zweiter Ebene verändern, so daß Patienten lernen können, sich auf bestimmte Nackenmuskeln einzustimmen, die sich verkrampft haben und zu Kopfschmerzen führen. Dadurch, daß man lernt, diese Muskeln als Reaktion auf bestimmte Signale (ein Ton oder Licht) zu entspannen, können Kopfschmerzen vorübergehend ausgeschaltet werden. Der Therapeut mag glauben, er verdränge das Unbewußte des Patienten, doch im Grunde wendet er sich lediglich an eine andere Bewußtseinsebene, die, würden keine Schleusenoperationen stattfinden, keineswegs unbewußt wäre und deshalb von vornherein gar nicht erst konditioniert werden müßte. Erst Neurose verwandelt eine tiefere Ebene des Bewußtseins zu »Unbewußtheit«. Tiefere Bewußtseinsebenen sind keine unbewußten Zustände. Sie sind bewußte Zustände, die nur andere Funktionen haben und andere Aspekte unseres Systems vermitteln. Ohne Schmerz und Schleusen wären diese unteren Ebenen erkennbar, erst Neurose läßt sie uns als unbewußte Zustände sehen. Wenn wir irgendeine Bewußtseinsebene konditionieren, zwingen wir uns zur Lüge. 

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Wenn wir Muskelspannung unterdrücken, ist es das gleiche, als würde der Körper sagen, »es ist kein Schmerz da«. Da diese Muskeln normalerweise als Reaktion auf alten Schmerz angespannt sind, haben wir dem System des Patienten eine Lüge aufgezwungen. Dadurch vergrößern wir das Leiden des Patienten, auch wenn es nicht unmittelbar ersichtlich ist. Die Wahrheit überlebt, und solange Schmerz unsere innere Wahrheit und die Ursache unserer Symptome ist, wird sich immer ein Teil von uns damit befassen und neue Symptome erzeugen, einerlei welche. Es ist durchaus möglich, daß die Konditionierung einer höheren Bewußtseinsebene das Ventil oder Symptom auf eine tiefere Ebene zwingt. So könnte eine Verdrängung der Muskelspannung durch Biofeedback das System durchaus in die unterste Bewußtseinsebene (erste Ebene) treiben, in der sich Symptome bilden, die dann nur noch schwerer zugänglich sein werden. So gesehen, verschlechtern diese Techniken das Befinden eines Patienten unter dem Vorwand, Besserung herbeizuführen.

Unsere Untersuchungen zeigen recht deutlich, daß die vitalen Körperfunktionen und die Alphaaktivität im EEG auf Schmerz reagieren. Sie steigen an, wenn sie Schmerz antizipieren, und fallen ab, wenn er aufgelöst wird; und dabei handelt es sich nicht um vorübergehende, sondern um dauerhafte Veränderungen.

Wir sehen, daß Schmerz die Gehirnaktivität steigert, und zwar gewaltig. Da Aktivität etwas mit der Entwicklung, mit dem Größerwerden des Gehirns zu tun hat, wäre es durchaus denkbar, daß Schmerz eine Doppelfunktion hatte; einerseits trug er zur Entwicklung unserer Menschlichkeit bei — unseres Neokortex und der höheren Gedankenprozesse —, und andererseits nahm er auf bestimmten kritischen Ebenen eben diese Menschlichkeit wieder fort, indem er uns daran hinderte, zu fühlen. Aber Schmerzbewältigung ist nicht nur räumlich im Gehirn eine sehr umfangreiche, sondern phylogenetisch auch eine sehr alte Funktion. So haben Zellen fast von Anbeginn an diese Überlebensfähigkeit gehabt, sich mit Schmerz auseinanderzusetzen und sich davon abzuwenden. Ohne Schmerz wäre der Mensch vielleicht heute nicht der, der er ist, und hätte nicht all die höheren geistigen Fähigkeiten entwickelt.

Es ist möglich, unter Schmerz zu stehen, ohne zu leiden. Das ist die Situation eines Patienten mit frontaler Lobotomie. Er fühlt den Schmerz, leidet aber nicht. Seine Haltung ist die: »Ich weiß, daß ich Schmerzen habe, aber sie machen mir nichts aus.« Das ist die gleiche Situation wie bei Neurosen, nur daß der Mensch bei einer Neurose, je nach dem Maß der Schleusung, Schmerz weder fühlen noch erleiden kann. Sein Gesicht kann Leid ausdrücken, ohne daß er sich dessen bewußt wäre; sein Körper kann extrem angespannt sein, ohne daß er auch nur im geringsten wüßte, warum. Gleichwohl haben wir herausgefunden, daß die Gehirnstrukturen, die Alphaaktivität vermitteln, ebenfalls Schmerz vermitteln, und das ist ein bedeutsamer Befund.

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Er weist — abgesehen von den Erkenntnissen, die sich aus unseren Forschungsarbeiten ergeben haben — unter anderem nach, daß eine hohe Alpha-Amplitude nicht, wie man bislang annahm, mit einem entspannten fühlenden Zustand verbunden ist.

Die Unterscheidung zwischen Schmerz und Leiden ist ganz besonders wichtig, wenn es zu verstehen gilt, was ein Gefühl ist. Der Lobotomie-patient kann den Schmerz wahrnehmen, ohne dabei Leiden zu fühlen. Er kann nicht fühlen, weil ihm der fließende Zugang zwischen den Ebenen, der ein totales menschliches Fühlen erzeugt, fehlt. Er ist für immer an seine Wahrnehmungen gebunden. Fühlen bedeutet, ein total offenes System zu haben; nicht im Sinne des Encounter-Konzepts, daß man verbal offen ist und alles, was einem durch den Kopf geht, auch sagt, sondern insofern, als daß fließender Zugang von und zu allen Ebenen herrscht, so daß alles Geschehen wirklich erlebt und nicht blockiert und umgelenkt wird. Wenn man fühlen kann, kann man aus Erlebtem lernen. Wenn man nicht fühlen kann, erlebt man auch nicht richtig und kann deshalb auch nicht wirklich lernen. Man fährt fort, die gleichen neurotischen Entscheidungen zu treffen, die gleichen neurotischen Zwänge zu haben; und keine Bestrafung oder Erziehung der Welt wird daran etwas ändern können.

Wir arbeiten gegenwärtig an der Entwicklung eines Verdrängungsindex, der auf den von Dr. Holden diskutierten Parametern fußt. Wenn wir alle Meßwerte zusammentragen, müßten sich ein Profil und ein numerischer Indikator für das Maß des vorhandenen Schmerzes und der Verdrängung ergeben. Wir können diesen Index dann benutzen, um eine Vielzahl von Fakten vorherzusagen — den genauen Fortschritt in der Therapie, Leichtigkeit des Zugangs zu Gefühlen und viele weitere Faktoren wie beispielsweise die Menge des in einer bestimmten Nacht zu erwartenden Traumschlafs. Unsere bislang noch vorläufigen Arbeiten haben zu ermutigenden Ergebnissen geführt. Wir glauben sagen zu können, wann jemand ein vollständiges Primal gehabt und wann jemand nur abreagiert hat.* Wir können die Schlaf- und Traummuster in etwa voraussagen; einem unvollständigen Primal folgt mehr REM-Schlaf.

* Abreagieren ist eine emotionale Spannungsabfuhr ohne Primärverknüpfung. Es kann in sich selbst oft ein intensives (oft desintegrierendes) Erlebnis sein. Weil es wie ein Primal aussieht, können Patienten und Therapeuten dahingehend getäuscht werden, daß sie meinen, es fänden Primals statt, auch wenn das gar nicht der Fall ist. Es gibt Patienten von Schein- oder Pseudo-Therapeuten, die glauben, die Therapie bringe nichts ein, und für sie trifft das tatsächlich zu, weil sie nur abreagieren und keine Primals haben. Das kann sich oft über Monate erstrecken, ohne daß der Betreffende den Unterschied bemerkt. Unsere Messungen sagen uns früh genug, was los ist; und wenn wir diese Messungen mit unserer klinischen Beurteilung verbinden, haben wir ein genaues Bild vom Zustand des Patienten bezüglich seiner Therapie und seiner Gefühle. Ein Primal ist ein totales Gefühl mit einer Erinnerung. Abreagieren ist eine Erinnerung an ein Gefühl, ohne Verknüpfung.

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Wir planen, bestimmte psychosomatische Gruppen entsprechend ihren Verdrängungswerten zusammen­zufassen, und hoffen, über diese Krankheiten, die in enger Beziehung zu Verdrängung stehen, mehr zu erfahren, zum Beispiel, wie hoch der Index von Diabetikern im Gegensatz zu dem von Epileptikern ist etc. Wir werden dann über einen objektiven Maßstab hinsichtlich der Fortschritte eines Patienten verfügen. Der Index könnte für vergleichende Untersuchungen zwischen der Primärtherapie und anderen therapeutischen Methoden eingesetzt werden. 

Wir hoffen herauszufinden, ob und wann eine Besserung des Befindens nur vorübergehend ist, so daß wir beispielsweise bei Drogensucht in etwa vorhersagen können, wann mit einem Rückfall zu rechnen wäre. Das gibt uns möglicherweise auch einen Maßstab für den Kriminellen an die Hand, der um frühzeitige Haftentlassung bittet; und wir könnten mit einer gewissen Sicherheit herausfinden, welcher Art Risiko er sein wird. Das gleiche trifft für Menschen in Nervenheilanstalten zu, die ihre endgültige oder eine vorübergehende Entlassung fordern.

Wir haben bereits anhand blinder Beurteilungen aufgrund der Meßwerte vor Beginn der Therapie mit einiger Genauigkeit vorhersagen können, mit welcher Leichtigkeit ein neuer Patient zu seinen Gefühlen gelangen wird. Kurzum, dieser Index wird sich auf vielfältige Weise benutzen lassen. Letztlich sind wir dadurch auch hinsichtlich der Beziehung zwischen Schmerzerleben und therapeutischer Effizienz nicht mehr auf reine Vermutungen angewiesen. Ich wiederhole noch einmal die ursprüngliche primärtheoretische Prämisse: Verdrängung von Schmerz führt zu Neurose, und das Erleben von Schmerz führt zur Heilung.

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Literaturverzeichnis

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