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C.  Unser duales Bewußtsein

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Es gibt Beweise, daß wir tatsächlich zwei innere Welten haben — zwei Bewußtseinsströme und nicht einen, wie William James annahm. Diese getrennten Ströme betreffen die beiden Hemisphären des Gehirns. Die dominierende oder übergeordnete Seite (bei Rechtshändern die linke Seite) befaßt sich mit intellektuellen und begrifflichen Abläufen, während die untergeordnete Seite mehr mit dem Bewußtsein von Gefühlen beschäftigt ist. 

Offenbar hat jede der Hemisphären Erinnerungen eigener Art, und vielleicht hängt es vom Inhalt einer Erinnerung ab, auf welcher Seite sie gespeichert wird. Daten und Orte werden auf der dominierenden Seite gespeichert, wohingegen Feeling und Schmerz auf der untergeordneten Seite gespeichert werden. Ein gutes intellektuelles Gedächtnis muß keineswegs mit einem guten emotionalen Gedächtnis einhergehen.

Die untergeordnete Seite kann sich nicht-verbal ausdrücken, während die dominierende Seite diesen Ausdruck intellektualisieren und möglicherweise unterdrücken kann.

Versuche von R. W. Sperry mit Menschen, bei denen die Verbindung zwischen den Hemisphären durch einen operativen Eingriff (durch eine sogenannte Kommissurotomie) durchgetrennt wurde, haben nachgewiesen, daß ohne die Tätigkeit der dominierenden Hemisphäre emotionale Ausbrüche weniger Hemmungen unterlagen. Die untergeordnete Seite kann zwar nicht sprechen, aber sie kann singen und fluchen, und das sind Funktionen des Feelings. Ich erinnere mich, wie ich vor Jahren bei der Behandlung stotternder Kinder (psychogenes Stottern) herausfand, daß sie nie stotterten, wenn sie sangen, sondern nur, wenn sie sprachen. 

Ich glaube, wenn diese Kinder von Feeling getragene Menschen mit nur geringer unterbrechender Einmischung seitens der dominierenden Hemisphäre gewesen wären, dann hätten sie nicht gestottert. Stottern war meiner Auffassung nach das symptomatische Ergebnis widerstreitender Impulse, die zwei Bewußtseins­strömen entsprangen, die nicht miteinander zu vereinbaren waren. Ich habe beobachtet, wie Politiker stammelten und stotterten, sobald sie aus dem Stegreif sprachen. Vielleicht hätten sie sehr viel flüssiger reden können, wenn sie nicht so damit beschäftigt gewesen wären, die Wahrheit zu unterdrücken.

Die untergeordnete Seite verarbeitet Musik, ein Feeling auslösender Reiz. Es ist nicht erstaunlich, daß meine Patienten nicht stotterten, wenn sie sangen, denn das Sprechen wird von der dominierenden Seite besorgt, während die untergeordnete Seite die Melodie hält.

Die untergeordnete Seite arbeitet mehr rational als analytisch. Sie ist in ihren Funktionen eher global und in ihren Wahr­nehmungen weniger spezifisch. Sie ist geeigneter, eine Vielzahl von Reizzuströmen (inputs) allgemein zu verarbeiten. 


Das kann bedeuten, daß diese Seite zu größerer Einsicht fähig ist, weil sie die Verbindungen zwischen den Dingen sieht, und weil sie koordinieren und integrieren kann, im Gegensatz zu der Fähigkeit, zu sezieren und zu analysieren. Die untergeordnete Seite scheint Feeling zu bevorzugen, weil es die empirische Seite ist, die in nicht-linearer simultaner Weise arbeitet, und Feeling ist letztlich nichts anderes als eben das. Die untergeordnete Hemisphäre ist so gesehen zeitlos, sie verfolgt nicht den Ablauf der Zeit.*

Freud sah das voraus, als er das Unbewußte als zeitlos beschrieb. In seiner Traumdeutung (Kapitel VII, D., »Die Funktion des Traumes«) schreibt er:

»Es ist ganz richtig, daß die unbewußten Wünsche immer rege bleiben. Sie stellen Wege dar, die immer gangbar sind, sooft ein Erregungsquantum sich ihrer bedient. Es ist sogar eine hervorragende Besonderheit unbewußter Vorgänge, daß sie unzerstörbar bleiben. Im Unbewußten ist nichts zu Ende zu bringen, ist nichts vergangen oder vergessen ..  Die Kränkung, die vor dreißig Jahren vorgefallen ist, wirkt, nachdem sie sich den Zugang zu den unbewußten Affektquellen verschafft hat, alle die dreißig Jahre wie eine frische.«**

Auch ich sehe es als zeitlos, allerdings auf andere Weise, denn Schmerz ist auf einer unbewußten Ebene grenzenlos und kontinuierlich, einerlei was die höheren Fähigkeiten machen. Er verbleibt unverändert (und ist in diesem Sinne zeitlos), ungeachtet dessen, was mit dem Organismus geschieht. Interessant ist, daß bei LSD-Erlebnissen wie bei Primals (beides gefühlsbezogene Ereignisse) die gleiche Art zeitlosen Feelings vorliegt. Einer der Gründe dafür ist, daß ein Mensch, der gerade ein altes Kindheits-Feeling wiedererlebt, sich nicht in der »Jetzt-Zeit« befindet, sondern in der Vergangenheit. Ein Feeling ist nichts, was wir durch die Uhr kennzeichnen; es ist ein allesumfassender Zustand des Gesamtorganismus.

Man muß sich fragen, ob die bessere Integration, die meiner Ansicht nach in der Primärtherapie eintritt, nicht eine verbesserte körperliche Koordination zur Folge hat. Ein Tennisspieler (Berufssportler) zum Beispiel stellte fest, daß er nach der Therapie mit Leichtigkeit Spiele gewinnen konnte, an die er sich früher kaum herangewagt hätte. Er sagte, er fühle sich körperlich besser koordiniert (und viele unserer Patienten berichten ähnliches) und könne seither instinktiv reagieren, und müsse vor einem Schlag nicht mehr lange überlegen. Er konnte auch besser tanzen, was für mich besagt, daß sein Körper als Einheit oder Gesamtheit auf gefühlsauslösende Reize reagieren konnte.

*  Es gibt einiges Beweismaterial, das dafür spricht, daß auch die rechte Hemisphäre den Ablauf der Zeit verfolgen kann, aber offensichtlich nicht so gut wie die linke Gehirnhälfte.
**  Sigmund Freud, Studienausgabe, Band II, »Die Traumdeutung«, S. Fischer Verlag, 1972, S. 550; (Gesammelte Werke, G. W.), Bd. II/III, S. 583 f.

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Die dominierende Seite ist nicht nur für unsere mathematischen Kalkulationen zuständig, sie liefert auch die Sprachsymbole für unsere Träume. Ferner liefert sie die Begründungen oder Grundprinzipien (wiederum Sprache) für unsere neurotischen Handlungen. Visuelle Bildhaftigkeit scheint der untergeordneten Seite anzugehören (der Terminus »Seite« bezieht sich immer auf das Gehirn).

Unsere neurotischen Handlungen erscheinen uns als rational, weil die dominierende Seite sie dazu macht. Das ist bei Neurose ihre Funktion. Bei einer Untersuchung über Hirnspaltung (ein Großteil dieser Arbeiten sind von R. W. Sperry und J. E. Bogen) zum Beispiel sprach eine männliche Versuchsperson laut von irgendeiner belanglosen Angelegenheit, während seiner visuell isolierten untergeordneten Seite die Fotografie einer nackten Frau dargeboten wurde. Er fuhr fort zu reden, allerdings mit mehrfachen Unterbrechungen, während derer er kicherte und errötete. 

Auf die Frage, warum er kichere, antwortete er: »Oh, diese Maschine, die Sie da haben!« Er hatte offensichtlich Gefühle, aber die dominierende Seite mißinterpretierte sie, weil kein fließender Zugang mehr bestand. Durch Hypnose — in meinen Augen eine aufgepfropfte Neurose — können wir das gleiche Phänomen erzeugen. Wir können einer Versuchsperson eine posthypnotische Suggestion verabreichen, daß eine bestimmte Frau nackt auftreten wird, daß er aber so tun müsse, als bemerke er das nicht. Später wird er dann auf das entsprechende Signal hin kichern und erröten, wenn die Frau den Raum betritt, ohne daß er wüßte warum. Er wird sein Kichern auf die eine oder andere Art rationaliseren. 

Vielleicht hat der Hypnotiseur an der Versuchsperson eine nicht operative Kommissurotomie vorgenommen, so daß die eine Seite des Gehirns nicht weiß, was die andere tut (wir werden auf Hypnose später noch ausführlicher eingehen). Dieser Effekt zeigt sich auch bei Neurotikern, wenn ein Mensch entsprechend einem Feeling agiert, beispielsweise indem er sich in der Öffentlichkeit exhibiert, ohne im geringsten zu wissen, was ihn dazu veranlaßt, oder wenn er in bestimmten Streßsituationen regelmäßig »Spalt«-Kopfschmerzen bekommt.

Der Umstand, daß sich die untergeordnete Seite mit Bildern befaßt und die übergeordnete mit Sprache, kann uns unter Umständen helfen, die verschiedenen Formen der Psychose zu verstehen. Vielleicht leiden Menschen mit Halluzinationen unter frühen psychischen Schlüsseltraumata — beispielsweise Ereignisse, die mit der Geburt im Zusammenhang stehen —, während Menschen, die Wahnvorstellungen entwickeln, auf irgendeine Weise psychisch überlastet waren — zum Beispiel ständig gedemütigt oder lächerlich gemacht wurden. Das ist zugegebenermaßen äußerst spekulativ. Aber es hat den Anschein, wenn körperlich traumatische Ereignisse ins Bewußtsein aufzusteigen beginnen — beispielsweise ausgelöst durch LSD —, daß es dann eher zu einem (wenn auch symbolischen) Bild des Ereignisses kommt als zu einer gedanklichen Vorstellung davon. In jedem Fall jedoch würde das Symbol aufgrund der Überlastung unzutreffend sein. Als Beispiel dafür werde ich später einen Patienten anführen, der fliegende Untertassen sah, als Symbol dafür, daß er bei der Geburt von grellem Neonlicht geblendet wurde.

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Wenn meine Annahme stimmt, daß Halluzinationen frühere Traumata widerspiegeln als dies Wahnideen tun, dann können wir davon ausgehen, daß Halluzinationen Anzeichen einer tieferen Psychose sind, weil die Überlastung und die Blockierung in einem früheren, präverbalen Zustand stattfand, in dem der Organismus generell schwächer und gegenüber Streß verletzlicher war. Ein unter Wahnvorstellungen stehender Mensch benutzt Ideenbildung als Abwehr. Seine Äußerungen erscheinen absonderlicher als die eines Neurotikers, weil sie vom realen Feeling weiter entfernt sind. 

Es gibt einige, wenn auch nicht überprüfte Anhaltspunkte dafür, daß eine Kommissurotomie Symbolbildung in Träumen entweder reduziert oder gar eleminiert. Vielleicht träumt ein solcher Mensch auch, nur daß er nicht darüber sprechen kann. Wichtig dabei ist, daß Träume weitgehend eine Sache von Bildern (eine Funktion der rechten Hemisphäre) sind, ohne daß viel in ihnen geredet würde, und daß Bilder unmittelbare Sprößlinge von Gefühlen sein können, die auf die gleiche Seite des Gehirns ausgerichtet sind. Für einen Menschen, der Ideenbildung als Abwehr benutzt, werden Worte zu eigenständigen, unverknüpften Symbolen. Sie haben ihre eigene Realität, so daß beispielsweise »Charlestown« für einen solchen Menschen »Chaos« bedeuten kann. Er würde dann auf das Symbol reagieren und diese Stadt deswegen meiden — ein recht absonderliches Verhalten. Auf weniger absonderlicher Ebene finden wir den Intellektuellen, der Worte losgelöst von Gefühlen benutzt, der sich über Definitionen den Kopf zerbricht und Kommunikation und Begegnungen zu einer Sache von Worten und Redewendungen macht.

Sperry stellte fest, daß die untergeordnete Seite diejenige ist, die den Menschen veranlaßt, Mißfallen zu zeigen und zurück­zuschrecken. Wenn eine Versuchsperson einen dummen Fehler gemacht hat, ist es die untergeordnete Seite, die ihn Ärger oder Unwillen zeigen läßt. Sperry ist der Auffassung, daß Einsicht nicht eine Funktion der dominierenden Seite ist, wie wir vermuten könnten, sondern von der untergeordneten Seite herzuleiten ist. Ich vermute, daß Einsicht das unmittelbare Bewußtsein von Feeling ist und seinem fühlenden Gegenpart auf derselben Gehirnseite zugeordnet werden kann. Pseudoeinsicht, die in einigen konventionellen Therapien erworbene Einsicht, wäre demnach ein unverknüpftes Phänomen der dominierenden Seite (mangelnde vertikale Verknüpfung sei im Augenblick noch unberücksichtigt), das die fühlende Seite weder beeinflußt noch verändert. Pseudoeinsicht ist meiner Auffassung nach eine neurotische Symbolisierung von Gefühlen, die sich bildet, wenn zu diesen Gefühlen kein unmittelbarer integrierter Zugang vorhanden ist.

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Auch wenn die linke Hemisphäre allgemeines Verhalten von beiden Hemisphären zu beherrschen und zu koordinieren scheint, so ist es doch die untergeordnete Seite, die die Dinge in einer breiteren Perspektive sieht. Sie sieht den Kontext und betrachtet die Teile eines Ereignisses in ihrer Gesamtheit, in ihrer Gesamtgestalt. Die rechte Seite nimmt die von der linken Seite wahrgenommenen Fakten und kann aus ihnen die angemessenen Schlußfolgerungen (Verknüpfungen) herstellen. Sie macht Fakten »sinnvoll«. Wenn wir sagen, die einzige Art, ein Urerlebnis wirklich zu verstehen, bestehe darin, daß man eines erlebt, dann meinen wir, daß derlei Ereignisse nur mit Hilfe der rechten Hirnhälfte validiert werden können, eine Validierung, die auch durch das umfassendste »Wissen« nicht erzielt werden könnte.

Bei einem Patienten mit Hirnspaltung, und wichtiger noch, bei dem Neurotiker scheint das »Linkshirn« die Gefühle der anderen Seite nicht wahrzunehmen oder zu registrieren. Wenn volle Bewußtheit vorhanden ist, spreche ich von »Bewußtsein«. Einem hirngespaltenen Menschen fehlt meines Erachtens gerade dieses Bewußtsein. Er kann durchaus weinen und beispielsweise den Schmerz fühlen, den ein Nadelstich verursacht, eine ganz andere Frage ist jedoch, ob er »fühlen« und »verknüpfen« kann. Weinen ist kurz gesagt nicht gleichbedeutend mit Feeling. Wir haben großes Interesse zu erfahren, und wir beabsichtigen, entsprechende Untersuchungen durchzuführen, ob ein hirngespaltener Patient fähig ist. Primais zu haben. Das heißt, ist er fähig, zutiefst zu weinen und die Verknüpfung zu dem Ursprung seiner Schmerzen herzustellen?

Gerade der Neurotiker weiß oft gar nicht, daß er verdrängt und entscheidende Verknüpfungen nicht herstellt. Meiner Ansicht nach bedeutet es für einen Neurotiker einen Schritt vorwärts, wenn er den eigenen Zustand der Verdrängung zumindest »wahrnimmt«.

An dieser Stelle wäre es durchaus angebracht, die Frage zu stellen, ob wir Beweise haben, daß die rechte Hemisphäre tatsächlich die fühlende ist. Die Antwort lautet nein, wir haben keine Beweise. Bislang ist es noch eine auf unzulängliches Beweismaterial gestützte Vermutung (daß zum Beispiel musikalische Erlebnisse, die der rechten Seite zuzuordnen sind, mehr fühlender Art sind als das Lösen mathematischer Probleme). Die Informationen, die wir gegenwärtig bei unseren neuro-physiologischen Unter­suchungen sammeln, können dazu beitragen, die Frage über die Beziehung von Gefühlen zur rechten Hemisphäre zu erhellen. Die Erinnerung an emotionale Szenen der Vergangenheit scheint diese Seite in Aktion zu versetzen.

Wichtig für das Verständnis unseres dualen Bewußtseins ist, daß es möglich ist, Gedanken zu haben, die nichts damit zu tun haben, was man im jeweiligen Augenblick gerade fühlt, und daß der Versuch, einen Menschen allein durch seine Gedanken und durch seinen intellektuellen Apparat zu erreichen und therapeutisch zu verändern, ein vergebliches Unterfangen ist, solange man die Notwendigkeit für Verknüpfungen nicht mit einbezieht. Das Linkshirn kann durchaus wissen, daß Rauchen Krebs erzeugt, und dennoch greift der Raucher zur Zigarette. Er verfügt über Bewußtheit, nicht aber über Bewußtsein.

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  D. Implikationen der Hirnspaltung  

 

Das Wort »Dominanz« spiegelt die Tatsache wider, daß Sprache, als ein Produkt der dominierenden Hemisphäre, die Basis für begriffliches Denken ist — ein ausschließlich dem Homo sapiens eigenes Charakteristikum. Möglicherweise ist der neurotische Intellektuelle jemand, der seine Gefühle sorgfältig symbolisiert hat, so daß die dominierende Seite das Übergewicht hat, während bei einem normal integrierten Menschen ein ausgeglichenes Verhältnis zwischen den beiden Hemisphären bestünde.

Norman Geschwind hat festgestellt, daß die dominierende Seite im Schnitt fünf bis zehn Prozent schwerer ist als die untergeordnete Seite; es wäre zu überlegen, ob dieses Mehrgewicht nicht eine Folge der übermäßigen Aktivierung ist, mit der Neurotiker diese Seite belasten; demnach wäre dieses Mehrgewicht das anatomische Ergebnis einer Überwucherung sprachlicher Symbolisierung.

Sprache ist unser Symbolsystem. Ich bin der Überzeugung, daß die Symbole bei einem Neurotiker oft nicht mit den dazugehörigen fühlenden Wurzeln verknüpft sind und daß bewußte Aktivierung eine scheinbar unbegrenzte Expansion dieses symbolischen Prozesses hervorrufen kann, die beispielsweise zu einer langen, weitschweifigen philosophischen Diskussion über Belanglosigkeiten führen kann. So wird Sprache zum Symbolsystem für die Spaltung. Doch die Spaltung kann fraglos noch vor der Sprachentwicklung eintreten. Sie würde dann körperlich erlebt werden; zum Beispiel als eine Übersekretion von Salzsäure durch den Magen - Körpersprache. Es bedarf nicht der Sprache, um neurotisch zu werden, aber Neurotiker benutzen Sprache oft als Teil ihres Abwehrsystems.

Geschwinds Befunde stehen im Einklang mit der Beobachtung, daß Gehirnentwicklung auf Reizzufuhr und die durch diese Reizzufuhr bewirkte Aktivierung anspricht. Das heißt nichts anderes, als daß Reizung Wachstum erzeugt, und daß ungleiches Wachstum der Hemisphären des Gehirns auf Unterschiede in dem Ausmaß neuraler Aktivität der beiden Seiten zurückzuführen sein könnte — auch das ist wieder nur eine Vermutung. Es stellt sich dann allerdings die Frage, ob zerebrale einseitige Dominanz beim Menschen aufgrund menschlicher Neurose auftrat, oder war es Neurose, die in der Phylogenese des Menschen eine einseitige Dominanz erzeugte? Es hat den Anschein, als spiele die Spaltung in rechts-links ausschließlich beim Menschen eine wesentliche Rolle. Affen zum Beispiel zeigen kaum Präferenzen für den Gebrauch der einen oder der anderen Hand, sie benutzen beide Seiten mit der gleichen Geschicklichkeit.

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Ich halte es für möglich, daß wir Menschen eine evolutionäre Entwicklung in Richtung der nicht fühlenden Seite des Gehirns durchmachen; das liefe parallel mit unserem zunehmenden Mangel an gegenseitiger Humanität. In einer Art Wechselbildung unterstützt unsere Inhumanität vielleicht diese bilaterale Spezialisierung des Gehirns, und umgekehrt intensiviert diese physische Aufspaltung unsere Inhumanität. Sie ermöglicht es uns, uns in unserem Verhalten gegen andere zu richten, ohne daß wir dabei ein von Feeling getragenes Bewußtsein von dem haben, was wir tun.

 

Wir stellen bei unseren gegenwärtigen wissenschaftlichen Untersuchungen fest, daß sich bei Postprimär­patienten ein Trend abzeichnet, der sich in Richtung eines mehr ausgeglichenen Gehirns entwickelt, fort von einseitiger Dominanz. Diese tatsächlich in den Gehirnen von Postprimärpatienten auftretenden strukturell-funktionellen Veränderungen unterstützen die Vermutung, daß der Weg der Zivilisation zu der Spezialisierung der Hemisphären beigetragen hat, die dann ihrerseits wieder unzivilisierte Menschen zur Folge hat. Wir glauben, daß die Primärtherapie dazu beitragen kann, diesen destruktiven evolutionären Prozeß umzukehren. 

Untersuchungen eines Wissenschaftlers vom Brain Research Institute an der University of California (UCLA) weisen in den EEG-Aufzeichnungen unserer Patienten eine Verlagerung in Richtung der fühlenden Seite nach; das heißt, es liegen Beweise für die größere verarbeitende Aktivität des Rechtshirns vor. EEG-Messungen, die in Abständen von drei Wochen, drei Monaten und sechs Monaten vorgenommen wurden, liefern Beweise für eine zunehmende Verlagerung zur fühlenden Seite des Gehirns innerhalb dieser Zeitabschnitte. Aus seinen Untersuchungen geht hervor, daß Patienten, jeweils während sie gefühlsgeladene Szenen erinnern, nach ihrer Vergangenheit befragt, mit fortschreitender Therapie ihre Augenbewegungen von der dominierenden Seite zur untergeordneten Seite verlagern. Bei Versuchen, in denen Patienten an ihren Fingern abzählen mußten, gab es einige Fälle, bei denen anfangs von links nach rechts und später dann von rechts nach links gezählt wurde.

Es ist interessant, daß die alten Handschriften des Nahen Orients von rechts nach links führten (Anzeichen von Linkshändigkeit) und daß die alte chinesische Schrift von oben nach unten ging, also keine Präferenz für eine der beiden Seiten ausdrückte. Neugeborene zeigen noch keine Dominanz der einen oder anderen Seite. Sie stellt sich erst mit der weiteren Entwicklung ein. Es ist, als wiederhole unsere erste Lebensphase eine weit zurückliegende phylogenetische Vergangenheit, in der es eine solche einseitige Dominanz möglicherweise nicht gegeben hat. Das könnte heißen, daß einseitige Dominanz eine Sache späterer Entwicklung ist.

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Einseitige Dominanz, als Zeichen unseres dualen Bewußtseins, mag sich entwickelt haben, als der Mensch vom einfachen Nahrung sammelnden Wesen zu einem Wesen wurde, das töten mußte, um zu überleben — das andere töten mußte, die sein Überleben bedrohten. Der Mensch mußte sich dann, um leben zu können, in Horden organisieren. Er mußte einen Teil seiner selbst aufgeben, eigene Bedürfnisse zugunsten von Bedürfnissen seiner Gesellschaft leugnen. Um Tiere und andere Menschen zu töten, bedurfte es eines Blockierungsmechanismus, der derartige Handlungsweisen ermöglichte. Neurose genügte diesen Ansprüchen. Sie ermöglichte es, daß Töten ein annehmbarer Teil des Lebens wurde, und diejenigen, die dazu nicht in der Lage waren, waren am wenigsten überlebensfähig. So waren es die Neurotiker, die überlebten. Es ist kein Zufall, daß Dominanz (duales Bewußtsein) bei Raubtieren eher anzutreffen ist.*

Mit zunehmender Organisierung der Gesellschaft kam es zu einer Arbeitsteilung zwischen den Klassen. Auf der einen Seite gab es die Geistesarbeiter, auf der anderen die körperlich Arbeitenden. Und vielleicht entsprach unsere Spaltung des Bewußtseins in gewisser Weise diesem Prozeß, so daß sich eine Arbeitsteilung zwischen den Hemisphären entwickelte, in Denken einerseits und in Feeling andererseits. Mit dieser Entzweiung des Gehirns konnte man eine Sache denken und eine andere tun. Gefühle konnten in symbolische Form umgewandelt werden — wobei die weitere Ausarbeitung des rituellen und symbolischen Lebens dem Maß an Selbstverlust unmittelbar entsprach.

Der Mensch konnte nun für seine Symbole töten. Er konnte andere beseitigen, um seinen Göttern zu gefallen, oder aus religiösen Gründen Morde begehen. Er konnte andere töten, wenn der Staat (die Flagge) — eine Abstraktion —, nicht er selbst bedroht war. Das ist ein Schlüsselpunkt in der Beziehung zwischen Feeling und Bewußtsein. Kein Postprimärpatient käme auch nur auf den Gedanken, ein Tier zu töten, mag es auch noch so niederer Ordnung sein.

Als der Mensch dahin gelangt war, sich höherer Autorität zu beugen, wurde seine symbolisierende und verdrängende Hemisphäre aktiver (desgleichen sein frontaler Kortex). Er entwickelte alle möglichen Vorstellungen und Grundprinzipien, die mit seinem Feeling nicht mehr im Einklang standen. Seine Vorstellungen liefen seinem Körper gewissermaßen davon, so daß er sich auf Ideologien anstatt auf sich selbst beziehen konnte. Die verstärkte Entwicklung des symbolischen und falschen Bewußtseins begünstigten sein Überleben.

Ich vertrete folgende These: wo eine derartige Umbildung des Feelings früh im Leben stattfindet, noch während das Gehirn sich im Stadium der Entwicklung befindet, und wo anhaltende Verdrängung für das Überleben wichtig ist, da werden Struktur und Funktionen des Gehirns verändert, sowohl phylogenetisch als auch ontogenetisch.

*  Ausführlicheres darüber vgl. S. Gooch, Total Man, Holt, Rinehart and Winston, N. Y., 1972.

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Es hat den Anschein, als erlebten wir für einige wenige kurze Augenblicke unseres Lebens auf dieser Erde eine normale ontogenetische Periode, und als paßte sich unser Gehirn dann an die Möglichkeit der Neurose an. Neurose ist zu einem überlieferten Erbe geworden, das der Spezies überleben hilft.

Wenn ich von »fließendem Zugang« spreche, dann habe ich genau diese Art der Beziehungen zwischen linker und rechter Hemisphäre im Sinn. Man kann Neurose, so gesehen, gewissermaßen als funktionale Kommissurotomie betrachten, bei der die integrierenden Mechanismen des Corpus callosum (die verbindenden Fasern zwischen den beiden Hemisphären) beeinträchtigt sind. Das führt zu folgender Schlüsselhypothese: Eine Überlastung an Urschmerz unterbricht die normalerweise vereinigenden Funktionen innerhalb des Gehirns und erzeugt im wahrsten Sinne des Wortes eine gespaltene Persönlichkeit — einen Menschen mit einem nicht integrierten, dualen Bewußtsein, dessen Teile jeweils als eigenständiges, unabhängiges Ganzes handeln. Diese Spaltung vollzieht sich sowohl vertikal als auch horizontal (auf die vertikale Spaltung werde ich weiter unten ausführlicher eingehen).

Wichtig an der Spaltung ist, daß eine Seite unseres Gehirns etwas fühlen kann, während die andere Seite etwas völlig anderes denkt. Der gespaltene Mensch kann einen anderen anschreien, ohne zu wissen, warum er das macht, allerdings wird er seine Handlungsweisen rationalisieren und die Schuld jeweils anderen zuschieben.

Die neurale Überlastung wurde in der Arbeit von Laitinen* nachgewiesen. Laitinen führte bei Patienten, die unter permanenter Spannung standen, einer Sektion des Corpus callosum hochfrequente Reize zu. Die Spannung war auf der Stelle beseitigt. Die Überlastung rief offenbar eine temporäre Kommissurotomie hervor. Laitinen sagt: »Es ist anzunehmen, daß die interhemisphärischen transkallösen Bahnen unter Spannung hyperaktiv sind« (S. 472).

Wenn die Bahnen aufgrund von Spannung bereits hyperaktiv sind, warum sollte dann eine noch stärkere Reizung die Spannung beseitigen? Noch einmal, ich glaube, daß Blockierungen infolge von Überlastung ein Schlüsselprozeß im menschlichen Gehirn sind. Interessant ist, daß die vordem unter Spannung stehenden Patienten nach der Reizung von einem Gefühl des Gelöstseins und des Wohlbefindens berichten. Dieses Gelöstsein ist zugegebenermaßen ein vorübergehender Zustand; es ist das gleiche subjektive Phänomen, das auch bei Meditation auftritt, nämlich daß sich ein Gefühl des Wohlbefindens einstellt, wenn Verdrängung in Aktion tritt.

* L. V. Laitinen, »Stereotactic Lesions in the Knee of the Corpus Callosum in (he Treatment of Emitional Disorders«, in Lancet, 26. Februar 1972, S. 472-75.

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Sowohl A als auch B stellen entscheidende Faserbündelverbindungen zwischen der linken und der rechten Seite des Gehirns dar. Sie spielen vermutlich ausschlaggebende Rollen in der Entwicklung horizontaler neurotischer Spaltung. Wie aus der Abbildung ersichtlich, verbindet der Corpus callosum hauptsächlich frontale und parietale Teile des Gehirns, während die darunter gelegene Commissura anterior temporale limbische Strukturen im Bereich der Amygdala und des Hippocampus verbindet.
Der Corpus callosum ist mehr als eine Anzahl Verbindungen oder Verknüpfungen herstellender Faserbündel. Er hat auch hemmende und verstärkende Funktionen. Die Spaltung im Bewußtsein tritt nicht nur zwischen höher und niedriger gelegenen Gehirnzentren auf, sondern auch zwischen den beiden Seiten des Gehirns. Der Corpus callosum umfaßt mehr als zwei Milliarden Nervenzellen und ist eine wichtige Struktur in der Integration des Bewußtseins. Blockierungen in diesem Bereich können zur Folge haben, daß die eine Seite nicht weiß, was die andere tut, und dazu beitragen, daß wir uns unserer Gefühle nicht bewußt sind.

 

Die Versuchsperson jedoch kann nicht unterscheiden zwischen einem wahren Zustand des Gelöstseins und einem, der durch Überlastung hervorgerufen wird. Darum auch kann man so leicht durch die verschiedenen psychotherapeutischen Methoden irregeleitet werden, die behaupten, sie beseitigten Ängste und Spannungen — wie zum Beispiel die Verhaltenstherapie.

Überlastung blockiert Schmerz. Offenbar ist Spannung ein Ergebnis der Überanstrengung zwischen getrennten Bewußt­seins­bereichen, die nicht integriert sind. Oder umgekehrt ist Bewußtsein aufgrund von Schmerz aufgespalten. Ist diese Dualität einmal vorhanden, leidet ein Mensch unter unerklärlichen Symptomen und Träumen. Seine wahren Gefühle werden zu einem Anathema, und er kann sich selbst nicht mehr als Ganzes erfahren.

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Mein Standpunkt ist, daß es zwei eigenständige geistige Sphären gibt, die in ein und demselben Körper angesiedelt sind; jede von ihnen hat ihre eigenen Wahrnehmungen und Erinnerungen und ihre eigenen Erlebnisse. Bei Neurose ist die Kluft zwischen den beiden so tief, daß dieses Bewußtsein des anderen jeweils nicht bewußt ist, und darin liegt der Grund für Bewußtheit ohne integriertes Primärbewußtsein. Ich glaube, daß der Zustand neurotischer Unbewußtheit unmittelbar auf gespeicherten Schmerz zurückzuführen ist. Bei einem psychisch gesunden Menschen ist fließender Zugang nicht nur von links nach rechts, sondern auch von höher zu niedriger gelegenen Bereichen des Gehirns vorhanden.

Die Bedeutung dieser unterschiedlichen Arbeitsverteilung zwischen den Hemisphären ist die, daß sie es dem Menschen ermöglicht, sich äußerer Reize bewußt zu sein (in dem Sinne, wie Tiere bewußt sind), aber auch sich bewußt zu sein, daß er bewußt ist — das heißt, sich seiner selbst bewußt zu sein. Und diese Fähigkeit zur Introspektion ist das, was den Menschen vom Tier unterscheidet. Der Mensch kann sich seiner selbst bewußt sein und sich selbst als Objekt sehen. Aber er kann dieses Selbst nur objektiv sehen, wenn er von ihm und seinen Emotionen nicht getrennt ist, das heißt, wenn er wirklich integriert ist. 

Ich sehe den Tag kommen, da wir in der Lage sein werden zu sagen, ob zum Beispiel ein Richter gegenüber den Angeklagten zu Objektivität fähig ist. indem wir überprüfen, ob er ein integriertes Gehirn hat. Meine Vermutung geht dahin, daß übermäßig hochfrequente und unregelmäßige Alphawellen ein Zeichen mangelnder Integration und mithin mangelnder Objektivität sind. Wir haben bereits einige Untersuchungen an einem Kandidaten für die primärtherapeutische Ausbildung unternommen, der behauptete, er habe bereits im Alleingang Monate zuvor Primais gehabt. Er war sehr darauf aus, seine Behandlung zu beschleunigen, um dann um so eher mit der Ausbildung beginnen zu können. Unsere Tests wiesen nach, daß er keineswegs fühlte. Dem widersprach er zunächst, aber schon nach kurzer Zeit der Therapie erkannte er, wie weit er davon entfernt gewesen war, wirklich zu fühlen. Unsere Tests waren bessere Indikatoren als seine subjektiven Einschätzungen, einfach weil er nicht integriert war.

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Die Übertragung zugrunde liegenden Schmerzes ins Bewußtsein ist durch Hemmung des Hippocampus blockiert worden. Die erweckten Gefühle haben weiterhin Zugang zu niedriger gelegenen Gehirnzentren, die Körper und Gehirn auf allgemeine Weise reizen. Das schmerzhafte Gefühl wird zu anderen Gehirnzentren umgeleitet, wird dort projiziert, rationalisiert und/oder fehlinterpretiert und hat beschränkte Bewußtheit ohne Primär­bewußtsein zur Folge.

   

   E.  Das Limbische System und der frontale Kortex  —  Die vertikale Spaltung  

 

Ich habe in früheren Arbeiten dargelegt, wie möglicherweise auch eine Spaltung des Bewußtseins zwischen höheren und niederen Hirnzentren entstehen konnte — also zwischen dem alten Reptiliengehirn, heute Limbisches System genannt, und dem Neokortex. Die Aufgabe des Limbischen Systems scheint im wesentlichen darin zu liegen, höhere und niedere Zentren zu integrieren und Schmerzen herauszufiltern, die kortikal nicht integriert werden können. Das Limbische System — insbesondere der Hippocampus und die Amygdala mit ihrem direkten Zugang zum frontalen Kortex — arbeitet als »Schleuse zum Bewußtsein«. Dieses System leitet blockierten Schmerz um, zerstreut dessen Energie und lenkt sie in eine Vielzahl anderer kortikaler Bahnen. Und auf dieses Umlenken ist falsches Bewußtsein zurückzuführen. So kann ein Mensch beispielsweise, um sich von der Realität zurückzuziehen, ein Mathematiker werden, der in seiner symbolischen Welt aufgeht. Oder er kann bei hinreichend großem Schmerz Wahn­vorstellungen entwickeln und sich in seinen Symbolen verlieren.

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Auch wenn er seine Umgebung noch wahrnimmt, so ist er doch unbewußt (und deshalb ver-rückt). Er sieht eine Realität — einen Mann an der Straßenecke, fehlinterpretiert diese Realität aber dahingehend, daß er glaubt, der andere lache über ihn, weil unbewußte gespeicherte Gefühle seine Wahrnehmungen überlagern. Das Limbische System ist der zentrale Speicher und das verarbeitende Zentrum für Gefühle.

   

   F. Das retikuläre Aktivierungssystem  

 

Das Limbische Sytem leitet seine ausgehenden Informationen (output) in eine unten am Hirnstamm gelegene Struktur, die das retikuläre Aktivierungssystem genannt wird. Dieses System erzeugt dann eine allgemeine Aktivierung des gesamten Vorderhirns. Es erregt den Kortex auf allgemeine, nicht spezifische Weise. Es hat viele Nervenfasern, die zum Thalamus (einer Relaisstation) rühren und von dort direkt zum Neokortex. Gespeicherter Schmerz aktiviert also dieses System, das dann seinerseits den Kortex in Aktion versetzt.

Das Limbische System empfängt auch Impulse aus dem retikulären System und kann Aktivierung modifizierende Informationen zurücksenden. Das Limbische System integriert eingehende Informationen vom retikulären System und vom frontalen Kortex. Das retikuläre System kann zwar den Grad der Aktivität des Kortex »kontrollieren«, doch umgekehrt gibt es nur wenige Areale des Kortex, die ihrerseits auch nur eine gewisse Kontrolle über die Aktivität des retikulären Systems ausüben können. Eines davon ist der frontale Kortex (der im folgenden noch ausführlicher behandelt wird). Weil zwischen frontalem Kortex und Limbischem System eine sehr starke Verbindung besteht, kann eine intakte Verknüpfung zwischen diesen beiden die retikuläre Aktivierung beenden. Das heißt, wenn uns ein unterhalb der Bewußtseinsschwelle liegendes Gefühl erregt hält, besteht die einzige Möglichkeit, diese Aktivierung dauerhaft zu beenden, darin, die richtige Verknüpfung zu dem unterbewußten Gefühl herzustellen.

Es kann sein, daß der frontale Kortex auf die durch das Limbische System führende chronische Aktivierung einwirkt, während andere Areale des Kortex auf die momentane Erregung des retikulären Systems einwirken. Anders gesagt, können einige kortikale Areale nur auf gegenwärtige Situationen einwirken (Erregung hemmen oder stimulieren, je nachdem wie es der Augenblick verlangt), während im Limbischen System gespeicherter Kindheitsschmerz nur durch eine frontale Verknüpfung aufgelöst werden kann. Das bedeutet, daß ein Wiederherstellen eines symbolischen (nicht frontalen Bewußtseins) in einer Therapie keine wirklichen Auswirkungen auf chronische unterbewußte Aktivierung durch Urschmerz hat.

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Folglich kann man einem männlichen Homosexuellen zwar beibringen, daß er nicht mehr ausagiert und sich sagt, er habe kein echtes Bedürfnis nach Männern, doch das Bedürfnis nach einem Vater (ein aufgrund von Deprivationsüberlastung und Verdrängung als Schmerz gespeichertes Bedürfnis) würde auch weiterhin permanente unterbewußte Aktivierung erzeugen. Ein solcher Mensch würde dann doppelt soviel rauchen oder essen und wäre noch genau so krank. Ein Drogen- oder Tablettensüchtiger könnte durch gewaltsame Maßnahmen entwöhnt werden, doch die Aktivierung des retikulären Systems würde ihn weiterhin unter Spannung halten und das Bedürfnis nach einem Tranquilizer, der die Spannung reduziert, aufrechterhalten. Das retikuläre System liefert die »Energie« des Feelings, und diese Energie wird ohne Verknüpfung mit höheren Zentren als amorphe Spannung erlebt. Es liegt in der Natur des retikulären Systems, seine Ausgangsinformationen zu vermischen.

Die These, daß nur der frontale Kortex auf chronische Daueraktivierung einwirkt, hat Implikationen für die Kontrolle triebhafter Impulse — mag es sich dabei um Trinken, Exhibitionismus, sexuelle Gewalttätigkeit oder anderes handeln. Ein von triebhaften Impulsen geleiteter Mensch kann eine Vielzahl früher Kindheitsschmerzen ausagieren. Diese Schmerzen verhindern eine Kontrolle über sein Verhalten — das heißt eine Kontrolle durch den frontalen Kortex. Welche Gedanken sich ein solcher Mensch über die Konsequenzen seines Tuns auch macht — »Ich werde an Zirrhose sterben«, »Ich werde ins Gefängnis kommen« und so weiter —, sie werden in jedem Falle nur vorübergehend unterdrückende Auswirkungen auf das impulshafte Verhalten haben.

Ohne frontale Verknüpfung zum Schmerz ist eine tiefgreifende Kontrolle für Impulse, die zu impulsivem Verhalten führen, nicht möglich. Kontrolle über Gefühle entwickelt und entfaltet sich »von unten nach oben« und nicht »von oben nach unten«. Erst wenn Gefühle aufsteigen, um frontal bewußt gemacht zu werden, kann man wirklich von Kontrolle sprechen.

Auf subkortikaler Ebene spielt sich dabei folgendes ab: das retikuläre System ist permanent aktiviert, um die Bedrohungen erschütternder Schmerzen vom Limbischen System abzuwehren. Es aktiviert den Neokortex, damit er in eigener Verteidigung unterstützend eingreift. Absonderliche Vorstellungen und Philosophien wären dann Teil des umfassenden Abwehrsystems, das vom Limbischen System aufgebaut wurde, um den Schmerz erfolgreich zu blockieren. Erst wenn der Schmerz akzeptiert und gefühlt werden kann, besteht kein Bedarf mehr für symbolische Umlenkungen, und dann können direkte frontale Verknüpfungen hergestellt werden.

Aber nicht nur das Gehirn wird durch das retikuläre System aktiviert. Es hat auch Verbindung zu anderen Strukturen, wie beispielsweise zum Hypothalamus, der auf Körperfunktionen einwirkt. 

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Mithin führt gespeicherter Schmerz zu retikulärer Erregung, die dann Ausgangsinformationen des Hypo­thala­mus stimuliert oder hemmt sowie unser hormonelles Gleichgewicht und organische Systeme tiefgreifend ver­ändert. Blockierte Schilddrüsenabsonderung zum Beispiel kann zu einer allgemeinen Erschöpfung und Bewußt­seinsveränderung führen, derart, daß der Betreffende sich schon bei der geringsten Streßsituation über­fordert fühlt und sich rationalisierend sagt: »Ich bin nun mal ein schlechter Kämpfer.« Seine Schwäche wird von anderen ausgenutzt, und er selbst produziert Gedanken, um sich solcherlei Erlebnisse annehmbar zu machen.

Die Tatsache, daß limbischer Schmerz das retikuläre System permanent aktiviert heißt, daß das Herz unter ständigem Streß steht, und ohne die richtigen Verknüpfungen kann nichts diese Aktivierung beenden. Keine intellektuelle Einsicht wird sie auch nur um einen Deut ändern. Sie kann den Zugang zu dem Feeling und zu der Verknüpfung nur noch zusätzlich erschweren. Wir haben diese Aktivierung bei Untersuchungen an Primärpatienten feststellen können (Ausführlicheres darüber später), bei denen die einsetzende Befreiung von Urschmerz den Puls bis zu 240 Schlägen pro Minute beschleunigt hat. Nach Beendigung eines Primais kann der Abfall bis zu einer Differenz von 160 Schlägen pro Minute betragen. Unsere Untersuchungen weisen eine permanente Senkung der Pulsfrequenz bei unseren Patienten nach.

   

   G. Der frontale Kortex  

 

Auch wenn Gefühle ihr Leben im Zwischenhirn beginnen, so ist es doch der frontale Kortex (genauer noch der fronto-limbische Kortex), der diese Gefühle in symbolischer Form repräsentiert - korrekt symbolisch repräsentiert, sofern der Betreffende psychisch gesund ist. Ohne Beteiligung des Frontallappens gibt es aus primärtheoretischer Sicht kein menschliches Feeling. Genau so wie das Limbische System nicht als »Sitz« des Feelings gesehen werden kann, kann der Frontallappen nicht als »Sitz« des Bewußtseins angesehen werden. Es gibt keinen »Sitz« als solchen; ein volles Bewußtsein bedarf vielmehr fließender wechselseitiger Verknüpfungen zwischen den verschiedenen Ebenen des Gehirns, d.h. zwischen retikulären, limbischen und frontalen Strukturen. Dennoch ist der frontale Kortex eine Schlüsselstruktur, wenn es darum geht, unbewußtes Material zu vollem Bewußtsein zu bringen.

Der Frontalbereich integriert die Reaktionen auf die wesentlichen sensorischen Modalitäten (wie Geruch, Berührung und Sehen) mit Informationen aus unserer inneren Welt. Er empfängt Informationen von außen und vom Limbischen System und koordiniert diese Informationen, indem er durch äußere Begebenheiten stimulierte Schmerzerinnerungen in bewußt verknüpfte Reaktionen übersetzt.

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Schmerz hebt die Schwelle des frontalen Kortex gegenüber sensorischer Reizzufuhr an und macht uns somit der Realität unbewußt. Eine erhöhte Schwelle wehrt sowohl innere als auch äußere Realität ab. Sie blockt alles von außen Kommende ab, was erschütternden inneren Schmerz auslösen könnte. Folglich muß der Neurotiker in bestimmten Bereichen seines Lebens falsch interpretieren, um den Schmerz im Schach halten zu können. Oder er muß so rationalisieren, daß er mögliche Verletzungen mildert. Heute zum Beispiel war im Fernsehen ein Interview mit einer Frau, deren Mann der letzte gefallene Amerikaner vor dem Waffenstillstand in Vietnam war. Sie erzählte dem Reporter, ihr Mann sei zum Tode »auserwählt« gewesen, damit die »Nachricht« verbreitet werde. Sie fand einen Weg, das Grauen der ganzen Sache nicht zu fühlen.

Feeling verdrängen heißt, sowohl von außen Kommendes als auch Inneres zu verdrängen. Verdrängung muß notgedrungen zu falscher oder verzerrter Wahrnehmung führen, denn was wir hören und sehen, wird durch unseren unbewußten Speicher geprägt. Das Gehirn »selektiert Eingangsinformationen«, das wurde von einer Reihe von Untersuchungen nachgewiesen, unter anderem auch von Pribram und Spinelli.*

Weil Verdrängung sowohl das innere als auch das äußere Milieu beeinträchtigt, kann ein Mensch, der ein Bedürfnis nach mütterlicher Liebe und Fürsorge verleugnet hat, später eine Philosophie entwickeln, der-zufolge man auf seinen eigenen Füßen zu stehen hat. Die Einstellung eines solchen Menschen gegenüber Empfängern von Sozialfürsorge beispielsweise wird durch seinen frühen Schmerz geprägt sein. Er wird sich der Bedürfnisse anderer nicht bewußt sein, weil er sich seiner eigenen Bedürfnisse nicht bewußt ist.

Für ein Kind ist es überwältigend, wahrzunehmen, daß seine Eltern seine Gegenwart nicht wünschen; folglich wird das Kind diesen Umstand falsch wahrnehmen, um nicht von innerem Schmerz überwältigt zu werden. Ein Patient drückte das einmal folgendermaßen aus: »Ich mußte einfach so tun, als hinge meine Mutter an mir, damit ich an ihr hängen konnte. Wie hätte ich an jemandem hängen können, von dem ich wußte, daß er mich haßte?«

Ein wichtiger Faktor ist, daß das Limbische System wesentlich älter ist als der darübergestülpte Neokortex; so gesehen können wir sagen, daß Gefühle dem Intellekt vorangehen. Der Intellekt wurde erst später Teil des menschlichen Lebens, folglich muß er als Teil der Gefühlskette angesehen werden — als eine sich aus Feeling entwickelnde Funktion; so und nicht anders ist Bewußt­sein zu verstehen — als etwas, das sich aus unserem Feeling heraus entwickelt.

*  Nach R. E. Ornstein, The Psychology of Consciousness, W. H. Freeman Co., San Francisco, 1972, S. 35.

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Wenn man fühlt, »verliert« man nicht einfach den Kopf, im Gegenteil, man »findet« ihn gewissermaßen. indem man die richtigen Verknüpfungen findet. Bewußtsein ist mithin durch horizontalen Zugang und durch fließende Verbindungen Verknüpfungen) zwischen dem Limbischen System und dem Frontallappen bestimmt. Je geringer der Schmerz, um so niedriger die Schwelle gegenüber eingehender Information und um so höher der Bewußtseinsstand. Es gibt keinen höheren Bewußtseinsstand, kein Hyperbewußtsein, das sich durch Methoden wie Meditation realisieren ließe. das jenseits wechselseitiger neuraler Verknüpfungen liegt.

Die Bedeutung der frontalen Hirnrinde für Gefühle wird besonders deutlich, wenn bei einem Menschen eine frontale Lobotomie vorgekommen wird, ein operativer Eingriff, bei dem die Verbindungen zwischen dem orbito-frontalen Kortex und tiefer gelegenen Zentren durchtrennt werden. Ein solcher Mensch kann zwar noch denken, erweckt aber den Anschein, als habe er seine »Seele« verloren. Er hat «in menschliches Bewußtsein verloren.

Obwohl der Frontalbereich Reaktionen vermittelt, um die Verbindungen wesentlicher sensorischer Modalitäten herzustellen, und zudem für die höchsten Bewußtseinsebenen im Menschen, das heißt für seine Fähigkeit zu abstrahieren und in begriffliches Denken zu übertragen, ausschlaggebend ist, so hat er doch keine wirkliche Bedeutung, solange wir ihn nicht in seiner Beziehung zu anderen Strukturen des Gehirns sehen. Es gibt in der Tat Neurophysiologen, die der Auffassung sind, daß der Frontalbereich Teil des Limbischen Systems ist — ein Endpunkt, an den Primärerinnerungen ihren Zusammenschluß mit ihren bewußten Gegenstücken eingehen. Wenn die frontale Hirnrinde damit beschäftigt ist, jene aufsteigenden Impulse zu unterdrücken anstatt sie zu verknüpfen, so hat das notgedrungen ein gewisses Maß an Unbewußtheit zur Folge. Nicht, daß der Betreffende dann einfach nicht »wahrnimmt«. Es sind dann vielmehr strukturelle Veränderungen eingetreten, die bewußte Anstrengungen, Bewußtheit zu erlangen, unmöglich machen — wie zum Beispiel den Versuch, sich an Begebenheiten zu erinnern, die man als Ein- oder Zweijähriger erlebt hat.

Der frontale Kortex arbeitet ähnlich einem Schaltbrett, das Gefühle hemmt und nichtverknüpfte Schmerzen zu anderen Assoziationsfeldern des Kortex umleitet und dadurch symbolisches Bewußtsein erzeugt. Läsionen in diesem Bereich bewirken, daß Menschen stärker auf ihre Gefühle reagieren und weniger auf erlernte Verbote. Konventionelle Einsichtstherapien befassen sich normalerweise damit, das symbolische Bewußtsein aufzubauen; ich bin jedoch der Auffassung, daß ohne frontale Verknüpfung keine grundlegende Veränderung möglich ist. Allein der Frontalbereich hat entscheidende Bahnen, die unmittelbar zum Hypothalamus (und zum Limbischen System) führen, so daß bei fließendem Zugang automatisch Kontrolle über die vom Hypothalamus regulierten Hormonsekretionen besteht.

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Ein Wiederherstellen symbolischen Bewußtseins erzeugt keine Kontrolle, weil das nichtverknüpfte Segment von Primärgefühlen verbleibt und auf Ausgangs­informationen des Hypothalamus einwirkt. Es muß eine Wiederverknüpfung via frontalen Kortex zu niedriger gelegenen Zentren hergestellt werden. Ist diese richtige frontale Verknüpfung erst einmal vorhanden, wird neurotisches symbolisches Bewußtsein ausgeschaltet. Das heißt, wenn ein solcher Mensch dann ein Gefühl hat, wie beispielsweise: »Ich bin allein und verlassen auf der Welt«, so wird er es in den konkreten Lebenssituationen fühlen, in denen er tatsächlich allein gelassen wurde; und nicht an den Eisschrank gehen und seine Gefühle »wegessen«. Solange diese Gefühle unverknüpft bleiben, wird er an Essen denken, statt an das zu denken, was er fühlt.

Nehmen wir ein Beispiel, um symbolisches Bewußtsein zu veranschaulichen: Statt zu fühlen: »Mutter war nie für mich da«, denkt ein Mensch: »Frauen sind unnütze Geschöpfe, die man am besten übersieht.« Wie absonderlich die Symbolbildung im Einzelfall sein wird, hängt jeweils von dem Spannungsgehalt des Schmerzes ab, der Zugang zum frontalen Kortex zu erlangen trachtet. Bei größerem unterschwelligem Schmerz (und Bedürfnis) entsteht ein stärkerer elektrischer »Druck«, der eine größere Überlastung erzeugt, die den Impuls von seiner eigentlichen Koppelungsstelle entsprechend weiter forttreibt. Anstatt also wieder zu fühlen: »Mutter war nie für mich da«, kann der Betreffende bei hinreichend großer Deprivation durchaus dahin kommen, daß er Frauen haßt und ihnen gegenüber generell feindlich und mißtrauisch ist. Er hat ein spezifisches Bewußtsein verloren und auf eine Gruppe von Menschen generalisiert. Für ihn sind Frauen dann Symbole, auf die eine Vergangenheit projiziert wird — verlorenes Bewußtsein.

Penfields Arbeit weist auf die Möglichkeit hin, daß das Ausmaß der Symbolisierung tatsächlich eine Funktion der räumlichen Entfernung vom »Sitz des Feelings« im Gehirn ist. (Ausführlicheres darüber in »Anatomie der Neurose«.) Penfield berichtet von einer Gehirnoperation, bei der er bei einem Patienten am Schläfenlappen eine Elektrode anbrachte und von dem Patienten die Aussage erhielt: »Ich habe das Gefühl, als seien Räuber hinter mir her.« Als er die Elektrode am Sitz des Feelings anbrachte, wurde folgende Erinnerung ausgelöst: »Ich erinnere mich daran, wie mein Bruder eine Pistole auf mich richtete.« Es hat für mich den Anschein, als blieben Neurotiker einen Schritt von tatsächlichen Gefühlsbereichen entfernt stecken und produzieren dann abgeleitete symbolische Bilder.

Einige Aspekte der Arbeiten Penfields sind für unsere Betrachtungen von Belang. Er arbeitete bei seinen Operationen hauptsächlich mit defekten Gehirnen, vor allem mit solchen, die Abnormalitäten im Temporal­lappen [Schläfenlappen] aufwiesen. 

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Er fand heraus, daß eine Reizung in diesem Bereich eine mit Erlebnissen verbundene Reaktion auslöst, wobei der Patient (der sich im Wachzustand befindet, da die Operation unter örtlicher Betäubung stattfindet) jedoch erkennt, daß die dann ablaufende Erinnerung seiner Vergangenheit entstammt. Das heißt, daß der Patient zu dem Zeitpunkt ein duales Bewußtsein hat — er wiedererlebt eine vergangene Begebenheit und realisiert gleichzeitig die Tatsache, daß er auf einem Operationstisch liegt und diese Begebenheit wiedererlebt. Nach Elektroschock-Reizung war der Patient in der Lage, »seine doppelte Bewußtheit zu diskutieren und seinem Erstaunen Ausdruck zu geben, denn ihm schien, als sei er im Hause seiner Vettern ... Sehen, Geräusche und persönliche Interpretation — all das wurde durch die Elektrode für ihn wieder neu erschaffen«.*

Penfield betont, daß seine Patienten diese mit früheren Erlebnissen verbundene Reaktion nie als ein »Erinnern« im üblichen Sinne betrachten, sondern vielmehr als ein »Erleben von Augenblicken der Vergangenheit«.** Penfield weist nachdrücklich darauf hin, daß eine Rückblende in gespeicherte Lebensgeschichte durch Reizung mit Elektroden bewußt gemacht wird. Und genau darum geht es auch in der Primärtherapie — Abwehrmechanismen werden außer Kraft gesetzt, und Verschlossenes wird mit Hilfe vielfältiger Methoden gereizt. Es ist kein Zufall, daß Penfield berichtet, Angst sei die durch Elektrodenreizung am häufigsten ausgelöste Emotion. Epileptiker erleben das als Aura***, das heißt stimulierter Schmerz wird in ein dem Anfall vorangehendes Signal umgewandelt.

Penfield schreibt: »Der Patient hat ein doppeltes Bewußtsein. Er betritt den Strom der Vergangenheit, und es ist alles genau so, wie es in der Vergangenheit war, doch wenn er an die Ufer des Stromes blickt, nimmt er gleichfalls die Gegenwart wahr.«4)

Abschließend die Zusammenfassung Penfields: 

»Jedes Individuum bildet eine neurale Aufzeichnung seines eigenen Bewußt­seinsstroms. Da eine spätere künstliche Reaktivierung der Aufzeichnung offenbar all jene Dinge, die in seinem Aufmerksamkeitsbereich lagen, wiedererschafft, muß man annehmen, daß die reaktivierte Aufzeichnung und die ursprüngliche neurale Aktivität identisch sind. Mithin kann das aufgezeichnete Muster als sehr viel mehr angesehen werden als eine Aufzeichnung, denn sie wurde einst benutzt als die letzte Stufe zur Integration, um das Bewußtsein zu dem zu machen, was es war.«5)

Meine These lautet, daß Neurose in jene gespeicherten Erinnerungen eingebettet und Motor gegenwärtigen Verhaltens ist. Solange ungelöste schmerzhafte Erinnerungs­schaltkreise (und vergangene Gefühle sind Erinnerungen) nicht integriert werden, ist Neurose nicht zu heilen. Nehmen wir ein anderes Beispiel falschen Bewußtseins: 

Ich hatte einen Patienten, der glaubte, er sehe Lichter von UFOs am Himmel, und an dieser Auffassung hielt er mehrere Monate lang beharrlich fest. Solange bis er ein Geburtsprimal hatte, in dem er aus dem Mutterleib in das blendend grelle Licht des Entbindungsraums gelangte. Dieses Trauma blieb unbewußt, wurde später aber durch eine Halluzination über Lichter von UFOs lebendig. Nach dem Primal glaubte er nicht mehr an diese Lichter. Das heißt, nachdem der Schmerz richtig mit dem Bewußtsein verknüpft war, bestand für symbolische Ableitungen kein Bedürfnis mehr. Er konnte dieses frühe Trauma nicht bewußt machen, ehe nicht eine Anzahl anderer Traumata verknüpft worden war. Als die Schmerzüberlastung reduziert war, wurde es möglich, eine direkte bewußte Verknüpfung zu diesem Geburtsprimal herzustellen.

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1)  Penfield und Roberts: <Speech and Brain Mechanisms>, Princeton (N. J.), L. Press, 1959, S. 50 f.
2)  Penfield  S.52 
3)  Vorstufe des großen epileptischen Anfalls, Auftreten von subjektiven optischen und akustischen Wahrnehmungen, auch von Geruchs- und Geschmackshalluzinationen; AdÜ.
4)  Penfield  S.45 
5)  Penfield  S.54 

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