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Einleitung 

 

 

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Der Postprimärpatient hat die Primärtherapie und die Primärtheorie weit über ihre im Buch <Urschrei> umrissenen Anfangs­gründe hinaus­getragen. Alle neuen Entwicklungen brauchen Zeit, um ausreifen zu können, und werden mit wachsender Erfahrung und Gedankenarbeit zunehmend komplexer. Auf die Primärtheorie trifft das allemal zu; sie ist, wie wir zu zeigen hoffen, weit mehr als nur eine allgemeine Theorie über einen »Schrei«.

Der Postprimärpatient verkörpert die bislang höchste Entwicklungsstufe in der Primärtheorie; ich bin jedoch sicher, daß es im Laufe der Jahre noch zu weiteren Differenzierungen kommen wird. Ich sehe Bücher über die Primärtheorie und -therapie als Fortschrittsberichte an; nichts hat ein für alle Male Gültigkeit. Uns ist daran gelegen, die Öffentlichkeit, und zwar Laien und Fachleute gleichermaßen, kontinuierlich an unseren Überlegungen und Forschungsergebnissen teilhaben zu lassen.

Dieses Buch ist das Ergebnis von Beobachtungen an Primärpatienten, die sich über gut sieben Jahre erstreckten, und es ist gleichzeitig der Versuch, diese Beobachtungen mit den jüngsten Erkenntnissen der neurologischen Forschung zu verbinden. Ich halte diese Verbindung für wesentlich, weil, wie ich an anderer Stelle noch näher erläutern werde, keine psychologische Theorie ernst zu nehmen ist, die letztlich nicht mit den Erkenntnissen übereinstimmt, die uns über die Funktionen des Gehirns vorliegen.

Ich bin deshalb der Auffassung, daß jede Diagnose psychischer Störungen Aussagen über psychische und über neurologische Prozesse beinhalten muß. Auch die Neurologie muß letztlich die Beziehung zu menschlichen Funktionsweisen herstellen und nicht nur zu zerebralen Funktionen. Eine Auseinandersetzung mit der Neurologie führt in meinen Augen zu einem besseren Verständnis menschlichen Verhaltens sowie kognitiver und sensorischer Wahrnehmung des Menschen.

Ein wichtiger Beitrag dieses Buches liegt meiner Ansicht nach in der Erforschung unterschiedlicher Bewußt­seins­ebenen: darin, wie der Mensch in drei Bewußtseins­systemen Schmerz produziert, und in welcher Beziehung dieser Prozeß zu Neurose und Psychose steht.

Diese Sicht der Primärtherapie im Hinblick auf drei Bewußt­seins­ebenen hat uns einen Schlüssel an die Hand gegeben, der uns verstehen und erklären hilft, was die Patienten durchmachen; er hat unser Verständnis dafür vertieft, wo und ob ein Patient sich auf dem Weg zur Besserung befindet. 

Die Entdeckung der drei Bewußtseinsebenen ist ein Resultat der oben erwähnten Kombination von Beobachtung und neurologischem Fachwissen. Wir wußten bereits, daß Patienten durchaus auf unterschiedlichen Bewußtseinsebenen Primais (Urerlebnisse) haben können, denn das hatten wir viele Male beobachtet. Wichtig ist jedoch, daß neurologische Forschungsergebnisse der jüngsten Zeit ebenfalls auf drei unterscheidbare Ebenen der Schmerzerzeugung hinweisen. Wir haben diesen Prozeß der Schmerz­erzeugung nun zu spezifischen Bewußtseinssystemen in Beziehung gesetzt.

Unser primäres Interesse gilt nicht einer Theorie. Doch wir verbessern und differenzieren die Theorie aus zweierlei Gründen: zum einen, um zu überprüf­baren Hypothesen zu gelangen, die dann mit wissenschaftlichen Methoden überprüft werden können, und zum anderen, und das ist der wichtigere Aspekt, um die therapeutischen Methoden zu verfeinern, und so bei der Behandlung von Patienten eine größtmögliche Effektivität zu erzielen. Das hat zu dem Ergebnis geführt, daß unsere Therapie sich im Laufe der Jahre drastisch verändert hat. Wir verfügen heute über eine ganze Reihe neuer Techniken, und viele der anfänglichen, in Der Urschrei (1970) beschriebenen Techniken wurden inzwischen verworfen.

Dennoch ist die Primärtherapie in meinen Augen nach wie vor unverändert das, was ich Jahre zuvor in ihr gesehen habe, nämlich die einzig lebensfähige, effektive Behandlungsmethode psycho-physischer Störungen. Meine an Hunderten von Patienten und an Tausenden von Urerlebnissen gemachten Beobachtungen haben mich in meiner Auffassung nur bekräftigt, daß die Primärtherapie die Heilmethode für psychische Krankheiten ist, sofern man »Heilung« nicht als eine Zauberei versteht, mit Hilfe derer man einen hochgradig gestörten Menschen in ein Musterexemplar seiner Art verwandelt, sondern als ein System, Menschen zu machen, die von Feeling* getragen sind, so daß sie nicht länger unter neurotischen Spannungen, unerklärlichen psycho­somatischen Symptomen, unkontrollierbaren Zwängen, Alpträumen und was der neurotischen Verhaltens­weisen mehr sind, zu leiden haben.

Ich bin nach wie vor der Auffassung, daß es kein anderes wirklichkeits-bezogenes psychotherapeutisches System gibt, und unsere Forschungsarbeiten sind auf dem besten Wege, das zu belegen. Wir haben in Lang­zeit­untersuchungen eine anhaltende Senkung von Blutdruck, Pulsschlag und Körpertemperatur festgestellt, und das führt mich zu der Annahme, daß wir bleibende Veränderungen erzielen und nicht nur vorübergehende Anpassungs­leistungen.

* Der Autor ist der Auffassung, daß das deutsche Wort »Gefühl« die Bedeutungsbreite des englischen »Feeling« nicht abdeckt. A.d.Red.

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Unsere Untersuchungen der Hirnströme führen uns zu der gleichen Schlußfolgerung. Um von vornherein dem möglichen Vorwurf der mangelnden Vorurteilsfreiheit und der Unbefangenheit entgegenzutreten, lassen wir unter anderem unsere Forschungs- und Labor­untersuchungen von Außenstehenden durchführen. Diese Forschungsarbeiten werden über Jahre hinaus weiterlaufen, und meiner Ansicht nach stehen wir erst am Anfang unserer Entdeckungen, welche realen Veränderungen im Gesamtkörpersystem unserer Patienten stattfinden. Wir werden unsere Forschungsergebnisse auch künftig in Büchern oder in unserer Zeitschrift <The Journal of Primal Therapy> veröffentlichen. 

Dieses Buch richtet sich an Fachleute, Studenten und interessierte Laien. Ein oder zwei Kapitel werden vielleicht nur Fachleuten oder Studenten höherer Semester vollends verständlich sein; die restlichen Kapitel sind jedoch ohne Schwierigkeiten auch dem Laien zugänglich, insbesondere wenn er über einige psychologische oder gar primär­theoretische Vorkenntnisse verfügt.

Das vorliegende Buch unterscheidet sich von den vorhergegangenen insofern, als daß zwischen einigen Kapiteln ein zeitlicher Abstand von nahezu drei Jahren liegt. Ich habe die früher geschriebenen Kapitel an den Anfang gestellt und die zeitliche Reihenfolge beibehalten, um so die Entwicklung unserer Überlegungen im Laufe der Jahre zu zeigen. Ich hoffe damit zu veranschaulichen, wie sich unsere Theorienbildung entwickelt und wie wir unsere Auffassungen angesichts neuer Forschungs­ergebnisse revidieren. Der Leser wird im Verlauf der Lektüre die Entdeckungen und Veränderungen gewissermaßen mit uns mit vollziehen. Vielleicht gelingt es uns auf diese Weise, ein wenig von dem Erregenden unserer Entdeckungen zu vermitteln.

Jedesmal wenn wir einen neurotischen Patienten dazu bringen, sich aufzuschließen, stoßen wir auf Schmerz; wir machen immer wieder die Beobachtung, daß Schmerz ein zentraler Bestandteil von Neurosen ist. Selbst bei Patienten, die von sich aus überhaupt nicht wußten, daß sie unter Schmerz standen, war der Befund der gleiche. Wir haben die Erfahrung gemacht, daß ein Wiedererleben früher Kindheitstraumata — körperliche Schäden, mangelnde Bedürfnisbefriedigung oder Unterdrückung von Feeling — Urschmerzen und Spannung auflösen und dauerhaft beseitigen.

Das Paradigma ist wirklich äußerst einfach: Urschmerz erzeugt Neurosen und Psychosen, und das Wieder­erleben des Schmerzes bedeutet deren Auflösung. Alles, was Sie an Theoretischem und Wissen­schaftlichem lesen werden, kreist um dieses einfache Paradigma; in all den Jahren seit Bestehen der Primärtherapie hat sich das nicht geändert. Der Leser wird ein neues Konzept des Bewußtseins vorfinden, und zwar eines, das wenig mit Bewußtheit oder den vielen geläufigen Auffassungen von Bewußtsein gemein hat.

Ich glaube, daß wir eine neue Qualität des Bewußtseins geschaffen haben, die dem Menschen uneinge­schränkt­en Zugang zu seinen innersten zerebralen Prozessen erlaubt, so daß ihm sein Feeling, seine Symptome, Träume und symbolischen Verhaltensweisen nicht länger ein Geheimnis sind. Der Postprimär­patient oder der Primärmensch, wie wir ihn nennen, ist frei und gelöst, eben weil die einzige Freiheit im Bewußtsein liegt, und weil das Bewußtsein durch Befreiung von Schmerz Freiheit erlangt. Der Primärmensch ist intelligenter, weil er bewußt ist und ein bewußt gelenktes intelligentes Leben führen kann. Sein Wahrnehmungsvermögen ist offen und seine kognitiven Fähigkeiten sind erweitert. Meiner Ansicht nach ist er eine neue Art Erdenbürger.

Eine Sache ist sicher: Primärtheorie ist nicht statisch. Sie ist ein offenes, dynamisches, sich ständig wandelndes System. Sie ist kein Dogma, das man sich zu eigen macht, um es dann in die Praxis umzusetzen. Sie ist kein Katechismus, keine Litanei, die von den Patienten in dem Bestreben, gesund zu werden, herunter­gebetet wird. Sie ist ein wissenschaftliches System, das von Tag zu Tag verbessert und ausgefeilt wird, um den von Schmerzen – von Urschmerzen – gequälten Menschen besser helfen zu können.

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Arthur Janov, 

The Primal Institute, Los Angeles, California

 

 

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