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5.  Zeitgenössische Denklandschaft mit Eingeborenen 

Über die philosophische Tundra im allgemeinen — und einen Ausflug in die Blumenberge im besonderen 

Neufassung eines ZEIT-Artikels vom 8.1.1988

 

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Die sieben mageren Jahre der deutschen Philosophie dauern nun schon ein halbes Menschenleben, und die geistige Not will sich nicht wenden, wie Florian Rötzer unlängst und eher wider Willen mit seinem Interview­band <Denken, das an der Zeit ist> hat dokumentieren müssen. 

Was tun am Ende eines ausgepowerten Milleniums, das immer ein sokratisches Gesicht [?] ersehnte, es aber nur bis zum hippokratischen gebracht hat? Wie sich über Wasser halten, wenn die intellektuelle Inflation alles entwertet, Nahrhaftes nicht einmal mehr auf UB-Karte und Oberseminarschein zu haben ist und statt dessen die Surrogatproduktion, die Erzeugung von Ideen-, Denk-, Problem- und Sinnersatz, die Bücher und Buchregale bläht und auftreibt wie die Bäuche unterernährter Kinder? 

  wikipedia  Sokratische_Methode       wikipedia  Sokratisches_Gespräch      wikipedia  Florian_Rötzer  

Es gibt auf diese Frage mehrere, offenbar altersabhängige Antworten. Die jüngere Generation, die es nie anders kennengelernt hat, reagiert auf die fortschreitende Verknappung geistiger Nahrung wie ihr bekanntester Vertreter Peter Sloterdijk. Der nämlich philosophiert aus dem hohlen Bauch, tänzelt mit und ohne Nietzsche über die Bühne, läßt Zauberbäume sich aus dem Fleisch erheben, lädt nach der kopernikanischen Mobil­machung zur ptolemäischen Friedenspfeife — und bringt uns so immerhin dazu, das nagende Hungergefühl eine Lektüre lang zu vergessen, wenn auch das Knurren nach der letzten Zeile wieder einsetzt und die Hirnkoliken der zynischen Vernunft nicht minder.

Die Gruppe der Älteren, der Väter, wendet naturgemäß andere, wenn auch nicht wesentlich effizientere Über­lebenstechniken an, zum Beispiel die Glorifizierung der verbliebenen Brosamen zu philosophischer Vollwertkost — ein Verfahren, das als »Diätetik der Sinnerwartung« bekannt ist. Ihre Wortführer verwahren sich gegen die Zumutung, die Welt zu erklären und uns die Frage zu beantworten, was wir darauf zu suchen haben. Weil sie, belesen wie sie sind, die Hals- und Beinbrüche der tollkühnen Prinzipienreiter der Philosophiegeschichte vor Augen haben, möchten sie lieber gar nicht erst satteln und aufsitzen. 

Das Turnier der Wahrheit wird abgeblasen: Abschied vom Prinzipiellen.

Odo Marquard findet im <Lob des Polytheismus> alle Schlachtrosse gleich schön, wie sie da mit gefesselten Vorderläufen auf der Koppel der »unvermeidlichen Geisteswissenschaften« vor sich hin weiden, lammfromm und ebenso unfähig, ihre Muskeln spielen zu lassen, wie ihre ehemaligen Reiter, die sich nebenan voll der süßen Inkompetenz­kompensations­kompetenz in den Armen liegen. 

Wenn sie am nächsten Morgen verkatert erwachen, möchten sie — wie ihr Gastgeber — als <Defektflüchter> zumindest bis zum nächsten Reclam-Bändchen entlastet werden. Und bei der gemeinsamen Morgenandacht unter der Losung <Ende des Schicksals?> einigt man sich auf das Nachbeten des ersten Satzes aus Marquards <Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie>: »Die Philosophen haben die Welt nur verschieden verändert; es kommt darauf an, sie zu verschonen.«

Odo Marquards Antwort auf die haarigen Zeitläufe: der Philosoph als vollmundiger Hungerkünstler und Verzichts­artist, ist allerdings in dieser Altersgruppe nicht konkurrenzlos. Zumindest ein dritter Weg steht dem Hilfesuchenden noch offen — der in die Blumenberge, wo vor unseren Augen gerade zwei neue literarische Erhebungen am Horizont aufgetaucht sind.

Im Gegensatz zu Marquard, dem skeptischen Sinn- und Seitenasketen, hat Blumenberg einen ausgeprägten Hang zur Völlerei — eine Leidenschaft, der er in der siebenhundertseitigen <Arbeit am Mythos> ebenso frönte wie in der noch umfangreicheren Verteidigung der Legitimität der Neuzeit. Woher aber die nötigen Speisemengen nehmen, wenn die Zeitgenossen alle samt und sonders am Hungertuch nagen? 

*d-2015:    P.Sloterdijk bei Detopia     F.Nietzsche bei Detopia     wikipedia  Hans Blumenberg  1920-1996, 76    wikipedia  Odo_Marquard  1928-2015

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Blumenberg begibt sich wie Heerscharen akademischer Zunftgenossen vor ihm in die Kornkammern der Tradition, um hier, die Getreide­aufschüttungen sichtend und siebend, die Spreu vom Weizen zu trennen und sich aus dem Mehl jener Körnchen Wahrheit, die trotz aller Widrigkeiten auf uns gekommen sind, sein Brot zu backen.

Auch die »Urgeschichte der Theorie«, die er unter dem Titel <Das Lachen der Thrakerin> veröffentlicht hat, ist an diesem Ort entstanden, und ihr geistesgeschichtliches Anliegen läßt sich in wenigen Sätzen umreißen. Ausgehend von der Fremdheits- und Exzentrizitätserfahrung des Theoretikers, der auch heute gegen das Verlachtwerden durch Menschen, die angeblich mit beiden Beinen im Leben stehen, nur im modernen Priestergewand des Naturwissenschaftlers gefeit ist, sucht Blumenberg nach der ersten literarischen Manifestation dieses von der <Normalität> betriebenen sozialen Ausgrenzungsprozesses.

Er findet sie in jener äsopischen Fabel, die Plato im Dialog <Theaetet> aufgreift und zu der bekannten Thales-Anekdote verdichtet: 

»So erzählt man sich von Thales, er sei, während er sich mit dem Himmelsgewölbe beschäftigte und nach oben blickte, in einen Brunnen gefallen. Darüber habe ihn eine witzige und hübsche thrakische Dienstmagd ausgelacht und gesagt, er wolle da mit aller Leidenschaft die Dinge am Himmel zu wissen bekommen, während ihm doch schon das, was ihm vor der Nase und den Füßen läge, verborgen bleibe.«

Was wird nun, so das Anschlußproblem, in den nächsten zwei Jahrtausenden aus dieser Geschichte, d.h. welche Transformationen, Variationen, Verzerrungen erlebt sie, und was läßt sich aus solchen Metamor­phosen des Wieder- und Weitererzählens lernen? Schon der erste Teil dieser Doppelfrage löst im vorliegenden Band jene Materiallawine aus, die sich bei unvorsichtigem Verhalten früher schon in jedem gutsortierten Zettelkasten lostreten ließ, inzwischen aber dank der Segnungen der Datenverarbeitung Forscherhirne gleich reihenweise und auf Nimmerwiedersehen unter sich begräbt.

Aristoteles, Bion von Borysthenes, Eusebius, Tertullian, Augustinus, Chaucer, Agrippa von Nettesheim, Montaigne, Bayle, der erste deutsche Philosophiehistoriker Jakob Brucker, der uns ebenso teure Christoph August Heumann, Kant, Feuerbach, Humboldt, Nietzsche, Heidegger, sie alle und noch etliche mehr kommen mit ihrer Fassung der Anekdote zu Wort — auf dem Papier fein einer nach dem anderen, im Kopf des Lesers in einem unaufhaltsam zunehmenden Tohuwabohu.

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Den möchte ich sehen, der sich nach der Lektüre erinnern kann, ob es Kant war, der Thales gegen Tycho Brahe austauschte, oder Feuerbach, ob erst Montaigne die lachende Magd positiv besetzte oder schon Bion, ob Tertullian statt ihrer den Ägypter einführte oder Agrippa.

Und meldete sich solch ein der Gnade des Vergessens nicht mehr teilhaftiger, volldigitaler Savant, so müßte man ihn an ein Unterhaltungsquiz des ZDF weiterempfehlen, es sei denn, er könnte uns klarmachen, warum wir das, was uns im Kopf durcheinander­schwirrt und dann hast-du-nicht-gesehen in einer Gedächtnislücke verschwindet, auseinander­sortieren und behalten sollen.

 

Wie anders die <Hol-über>-Technik des fast gleichzeitig erschienenen Bändchens <Die Sorge geht über den Fluß>. Es ist ein Produkt des Nebenher und Nebenbei, der erschöpften Pausen und des momentanen sich Wegstehlens von den Hauptsachen. Und was dabei zu Buche schlug, war eine Fülle von Notaten, Glossen, Essays, die zwar thematisch gebündelt werden, ihre Vielfalt und Heterogenität aber zu keinem Zeitpunkt leugnen. Die Texte verdanken sich samt und sonders dem Mut zum »kleinen Wurf«, dessen Resultate sich fast schon zu einem großen addieren ließen. Denn ein aus dem Handgelenk geworfenes Ideen-Steinchen fliegt oft genug weiter als die mit aller Gewalt aus dem Ring gewuchtete Wissenskugel des universitären Problemathleten.

»Drei Grad über dem Nichts« beispielsweise läßt die Kränkungen Revue passieren, mit denen die exakte Forsch­ung diejenigen belohnt hat, die sie aufopferungs­voll betreiben oder ergeben bezahlen: die kopernik­anische Vertreibung aus dem Mittelpunkt der Welt, die darwinistische aus der Gotteskindschaft, die Freudsche aus der Souveränität des Ich und als neueste und schlimmste von allen die Vertreibung aus der, wenn auch nur noch kollektiven Unsterblichkeit durch die Einsicht in die Normalität von Gattungstod und Faunenschnitt und in die Endlichkeit des Kosmos selbst, der seinem entropischen Mega- und Metatod entgegenexpandiert. 

»Die Astrophysik und die Anwendung des zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik auf das Ganze des Weltalls war die Zerstörung des verbliebenen Restes der Illusionen.«

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Zusammenbrüche wie dieser charakterisierten schon immer die ökologische Nische der Philosophie, und nirgend­wo kann und konnte das Nachdenken kräftiger Wurzeln schlagen als auf Trümmerhaufen und in Ruinenfeldern. Und weil das »trostbedürftige Wesen« Mensch den Teufel mit Beelzebub austreiben muß, exerziert Blumenberg vor, wie man derselben Wissenschaft, die alle Geborgenheit zersetzt, doch noch den Trost abpreßt, ohne den wir nicht zu existieren vermögen. Das Universum ist teilnahmslos und eiskalt, gut, aber es geht doch nicht so lausig zu in den Tiefen des Raums, wie es zugehen könnte. Die Hintergrund­strahlung hält alles drei Grad über dem absoluten Nullpunkt. 

»Diese drei Grad sind freilich noch kalt genug, aber sie sind eben nicht das Äußerste. Sie sind wie ein symbolisches Zugeständnis ans Gemüt. Und von dieser Art sind ja wohl alle Tröstungen.«

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Eine andere bemerkenswerte Gelegenheitsarbeit befaßt sich mit dem »wachsenden Überdruß an der Wissen­schaft«. Blumenberg führt den schwindenden Enthusiasmus dabei nicht nur auf die zu Nebenwirkungen verniedlichten Folgelasten technokratischer Menschheitsbeglückung zurück, sondern bringt ihn interessanter­weise auch mit der Ausrottung des Widerparts und altbösen Feindes der Wahrheit, des Irrtums nämlich, zusammen. Wissenschaft ist längst in Bereiche wie den der subatomaren Physik vorgestoßen, in denen mangels Anschaulichkeit und Lebensnähe gar keine Vorurteile mehr existierten, gegen die die Wissenschaft hätte Sturm laufen können. Aber ohne Gegner macht das ganze Duellieren keinen Spaß — es sei denn, man erfindet sich einen, wenn es nicht anders geht, auch einen aus dem eigenen Lager der Wahrheitssucher.

 

Ein drittes Thema, das im <Sorge>-Buch mehrfach auftaucht und das uns zu der Ödnis, dem hochtourenden Leerlauf und der spekulativen Magersucht zeitgenössischen Philosophierens zurückführt, ist das des »Sinnlosigkeits­verdachts«, der Mangelerfahrung, des Hungergefühls. Blumenberg umkreist es wie eine Katze den heißen Brei. Er ist sich dabei einerseits für aphoristisch drapierte Kalauer wie die Vermutung: »Es könnte der Sinn des Sinnverlustes sein, uns zu beschäftigen« nicht zu schade und folgt getreulich der Gesund- bzw. Sattbeterpraxis begütigenden Handauflegens und Besprechens.

Dabei wird aus der Tatsache, daß wir keinen Boden mehr unter den Füßen spüren, das Fundament unserer »Kontingenzkultur«, und das flüsternde Eingeständnis, weder aus noch ein zu wissen und jede Zielrichtung verloren zu haben, übertönt er mit einem Lobgesang auf den Umweg, der uns wundermild doch endlich irgendwo ankommen lasse.

 

Andererseits formuliert sein Buch aber auch einen schlagenden Einwand gegen die Utopie der Sinnerfüllung und die durch ihre ständige Vertagung in den Enttäuschten aufsteigende »Wut auf die Welt, mit der das Jahrtausend zu Ende zu gehen scheint«. Eine heile, vollkommene, sinnträchtige Wirklichkeit wäre nämlich ein Alptraum, weil es nichts mehr zu bewirken gäbe und R.P. Warrens kategorischer Imperativ außer Kraft gesetzt wäre: »Du sollst aus Bösem Gutes machen, denn es gibt nichts, woraus man es sonst erschaffen könnte.« Gegen die Hoffnung auf das ganz Andere setzt Blumenberg, weil das Heil sich zementieren muß und folglich alle Vitalität erstickt, »die Furcht der Möglichkeit, die Welt könnte eines Tages voller Sinn sein«.

Aus solchen Einsprüchen und Widerreden, wie sie im <Sorge>-Band wieder und wieder aufflackern und aufblitzen, aus den Abgründen zwischen den Wahrheiten, aus der Kluft zwischen gnostischem Nein und anstaunendem Ja, aus dem Gegeneinander der beiden Hirnhälften des Demiurgen kommt immer von neuem die Philosophie zur Welt. 

Keine fußnotenbehängte, staubgraue, von dem Gewicht endloser Datenschleppen zu pompöser Immobilität verurteilte Pallas Athene, sondern eine naseweise, frühreife und, wenn es sein muß, rotzfreche Göre, die sich von den Hunger­betäubungs­methoden ihrer amtierenden Vormünder die Lust am Stoffwechsel nicht verbieten läßt und es mit den Zähnen festhält, das Sein und das Nichts, die Ultima ratio und die ihr über den Weg laufende tausendunderste letzte Antwort auf ihr weltverschlingendes, unersättliches Warum.

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 Ansichten vom Großen Umsonst Essays 1984-1990