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Vorwort    von Gaetano Benedetti

7-9-13

Die Wurzeln des Bösen, des Negativen, des Psychopathologischen sind mannigfaltig. Der Autor dieses Buches, ein bewährter Psychotherapeut, untersucht sie von einem bestimmten, höchst bedeutsamen Gesichtspunkt aus: von der Blockierung der Autonomie im Sozialisierungsprozeß.

»Die Art der persönlichen Integration«, heißt es schon auf der ersten Seite der Einleitung, »ist eine Folge der Entwicklungsmöglichkeiten für Autonomie, welche in der Lebenssituation enthalten sind. Die Fehlentwicklung der Autonomie wird dadurch zum Kern des Pathologischen und letzten Endes des Bösen im Menschen.«

Der Terminus »Autonomie« stammt bekanntlich von Erik Erikson, in dessen Denken dieser - mit Recht - nur eine Dimension, wenn auch eine sehr wichtige, des seelischen Wachstums ist. Ihr zugrunde liegt das »Urvertrauen«.

Was uns aber heute not tut, ist eine Untersuchung der entwicklungsgeschichtlichen Zerrformen eines entsprechenden verpaßten Wachstums. Zu einer solchen Untersuchung leistet das Buch von Arno Gruen einen bedeutenden Beitrag, der die ganze Spannweite zwischen Pathologischem im engeren psychiatrischen Sinne und soziopsychologisch Abnormem im Rahmen der Norm (»Wahnsinn der geistigen Gesundheit«, wie der Autor formuliert) umfaßt.

Die vorliegende Arbeit ist die Frucht einer ganzen psychotherapeutischen Lebenserfahrung des Autors, die ich in ihren Vorstufen als einzelne Aufsätze seit Jahren zu verfolgen die Gelegenheit hatte. Die Grundachse dieser Erfahrung stimmt mit wesentlichen Aspekten meiner Psychotherapie bei psychotischen Menschen überein — deren Behandlung übrigens auch eine Quelle der Erkenntnisse Gruens bildet.

Was mich mit den Ausführungen des Autors besonders verbindet, ist die psychotherapeutische Erfahrung, daß das, was wir als Psycho­pathologie beschreiben, sowohl als der Verlust von Autonomie als einer Grunddimension mitmenschlichen Daseins erscheint; wie auch als die abnorme Vertretung einer solchen in der Gestalt des Leidens angesehen werden kann. Ein tiefes Bedürfnis unserer Patienten, das während der Kindheit im Sozialisierungsprozeß nicht integriert wurde, kann so »in den Untergrund gehen« (Gruen) und sich zum Beispiel durch eine Wahnvorstellung in der Psychose ausdrücken, die uns dann als Symbol dafür erscheint, daß es in der »Realität« keinen Platz gibt für die soziale Selbstverwirklichung des Anliegens, des Triebes, des entsprechenden Ich-Vollzuges.

Wo aber das Leiden nicht entsteht, wo die Anpassung an eine die Möglichkeiten der Kreativität und Autonomie opfernden Realität der Macht stattfindet, sehen wir die eigentlichste Perversion des Menschseins, des Menschen, der sich biopsychisch durchsetzt, weil er andere Menschen geistig, als Identität und Schöpferkraft, verkümmern läßt.

Das Leiden des Patienten erscheint uns hingegen nicht mehr nur als ein Minuszeichen des Daseins, nicht bloß (wie freilich auch) ein »Verrat am Selbst« durch den einzelnen und seine Gesellschaft, sondern auch als der verzweifelte Versuch des so Verratenen und Mitverratenden, das verpaßte und bewußt nicht einmal erkannte Anliegen der Autonomie in seiner unmündigen Zerrform der Psychopathologie dennoch zu vertreten, ja, es so in die Welt hinaus zu schreien. Ein solches Anliegen kann eben nicht anders als dennoch verkündet werden, weil Grundmenschliches sich nie völlig auslöschen läßt.

Diese Sicht bedeutet aber, daß wir bei aller Psychopathologie der Autonomie lernen, Symptome und Minuszeichen auch als Symbole des verpaßten und doch unüberhörbaren Lebensanliegens zu empfangen. Gerade jenes Lautwerden, das aller Psychopathologie als Negation der Norm eigen ist, stiftet das Unüberhörbare. Haben wir es vernommen — nicht nur als Psychotherapeuten, sondern auch als Mitmenschen —, dann haben wir dem Symptom jenen Empfang (Siirala) geschaffen, der es ändern könnte. Wir haben dem Autonomieverlust jene bewußte Dimension des Erlebens zurückgegeben, die wir als tragisches Dasein erkannten. Wir haben unserem leidenden Partner das mitempfindende Spiegelbild geschaffen, in dem er zu sich selber kommen kann. Wir haben für ihn und aus ihm zu hoffen begonnen. »Es ist Mitgefühl und Liebe, die die Wandlung zu einem wahren Selbst möglich machen.« (Gruen)

Durch solche Intentionen situiert sich dieses bedeutsame Buch an einem Knotenpunkt der geistigen Situation des heutigen Menschen und freilich auch der psychotherapeutischen Literatur. Ist es ein Zufall, wenn heute die Frage der Autonomie auf verschiedensten Gebieten — sowohl der politischen Emanzipation wie auch des psychotherapeutischen Strebens — diskutiert wird? Denken wir daran, um nur ein Beispiel zu erwähnen, daß sogar die Hypnose, jene Form einer alten psychiatrischen Therapie, welche allen Autonomiebestrebungen der Person entgegengesetzt zu sein schien (man drängte dem passiven Patienten Heilsuggestionen auf, um ihn von seinen Symptomen wegzubringen), seit Milton Erikson eine Revolution erfahren hat: Sie wird als eine Situation aufgefaßt, wo neues, autonomes, kreatives Lernen möglich wird. Sogar der Trancezustand ist in dieser Sicht zu dem Ort geworden, wo psychische Potentialitäten und Fähigkeiten entwickelt werden.

Das Buch geht, wie etwa auch die Schriften von Fromm, weit über die Grenze der Psychiatrie hinaus, weil es auch das Menschsein in der heutigen Gesellschaft zum Gegenstand hat und es die Psychopathologie schildert, die sich hinter der »Maske der geistigen Gesundheit« verbirgt. Es denunziert den Verrat am Selbst, an dem einzelne und ganze Gruppen untergehen. »Es ist«, sagt uns der Autor, »unser Schicksal, daß, wenn wir nie die Chance hatten, uns aufzulehnen, wir die Absurdität durchleben müssen, nie ein eigenes Selbst gelebt zu haben.«

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Gaetano Benedetti


  

Einleitung    von Arno Gruen

11-13

Diese Arbeit vermittelt dem Leser eine Theorie über Autonomie, in der das Autonom-Sein sich nicht aus Ideen über die eigene Bedeutung oder der Notwendigkeit für Unabhängigkeit entwickelt, sondern aus den Möglichkeiten des ungehinderten Erlebens der eigenen Wahrnehmungen, Gefühle und Bedürfnisse. Solch eine Erfahrung bestimmt die Einheit oder die Spaltung einer Persönlichkeitsentwicklung.

Die Art der persönlichen Integration — oder ihr eigentlicher Mangel — ist eine Folge der Entwicklungsmöglichkeiten für Autonomie, die in der Lebenssituation enthalten sind. Eine Fehlentwicklung der Autonomie wird dadurch zum Kern des Pathologischen und letzten Endes des Bösen im Menschen.

Das Ringen um Autonomie fördert die Lebendigkeit. In dem Grad, in dem der gesellschaftliche Sozialisierungsprozeß aber Autonomie blockiert, wird dieser Prozeß selbst Erzeuger des Bösen, das er zu verhindern sucht. Wenn die Liebe der Eltern sich so entstellt, daß sie Unterwerfung und Abhängigkeit fordert, um sich bestätigt zu fühlen, dann wird gesellschaftliche Anpassung zu einer Probe der Gehorsamkeitsleistung. Das daraus resultierende Streben bringt den Verlust der wahren Gefühle mit sich. Der Mensch wird zur eigenen Quelle des Bösen. Das Paradoxe unseres Seins jedoch ist, daß das Versagen der Autonomie auch ein Nicht-Versagen darstellen kann. Autonomie kann nämlich in den Untergrund gehen und sich durch Unterwerfung und Unterwürfigkeit, durch das Sich-dem-Willen-eines-anderen-Ausliefern, verstecken. Darin liegt Hoffnung.

Im ersten Kapitel dieses Buches stelle ich den Sachverhalt der Autonomie dar; im zweiten versuche ich zu zeigen, wie unser Hang zur Abstraktion den natürlichen Drang zur Autonomie verschleiert und verkümmert; im dritten ist es mein Ziel auszuführen, wie dies zur Quelle des männlichen Bedürfnisses, die Frau zu unterdrücken, führt, aber auch zu seiner eigenen Entmenschlichung. 

Das vierte Kapitel handelt davon, wie all dieses wiederum dem Menschen seinen Zugang zur eigenen Vergangenheit reduziert, wodurch er immer mehr der willkürlichen Stimulation ausgeliefert ist — er wird stimulusgebunden und roboterähnlich. Im fünften Kapitel untersuche ich, wie die Vereitelung der Autonomie zur seelischen »Pathologie« führt und gleichzeitig unserer Sicht den Wahnsinn des Machtstrebens verhüllt. Das sechste Kapitel letztlich handelt von der Vorstellung, mit der wir aus Moralität eine Frage der Konzeptionsbegriffe machen, während wir das Böse als direkt aus der menschlichen Natur hervorgehen sehen. Dieser Sachverhalt fördert die Flucht ins Image und in verfälschte Gefühle, führt zum Mangel an einem autonomen Selbst und erzeugt Menschen, die das Leben zerstören.

Dieses Buch ist in der Hoffnung geschrieben, diejenigen, deren Sicht in einer Welt der Konformität und Anpassung immer noch für andere menschliche Welten offen ist, in ihrem Sein zu stärken. Ich möchte damit etwas dazu beitragen, der gefühlsbetonten Welt — im Gegensatz zum Denken und Verstehen, das vom Fühlen abgespalten ist — ihren rechtmäßigen Platz in unserer wissenschaftlichen Welt zurückzugeben.

Ich habe dieses Buch aus meiner 35jährigen Erfahrung mit der Psychotherapie geschrieben. Deswegen möchte ich hier denen meinen Dank ausdrücken, die ein Teil meines Erlebens und Lernens waren und noch immer sind: Meine Patienten und Studenten hier und in den USA; meine Lehrer und Freunde, insbesondere G. Bychowski, T. Jenkins, T. Schneirla und Henry Miller. Das Unverfälschte und die Lebendigkeit des letzteren waren mir zu meiner menschlichen Reife besonders wichtig, wie auch der Scharfsinn und die Originalität des Denkens von Schneirla. 

Von meinen Töchtern Margaret und Constance, mit ihrem kämpferischen und lieben Geist, habe ich viel gelernt. Sie sind mir ein Vorbild für das Ringen um Autonomie. Für die erste Ausgabe hatte ich Hilfe von Ruth Blarer. Ihre Einfühlungsgabe für mein Anliegen und ihr Gefühl für die Bedürfnisse des Lesers machten die Arbeit mit ihr zu einer anregenden Erfahrung. Für die sprachliche Durchsicht der dtv-Ausgabe bin ich meiner Lektorin Ulrike sehr verbunden. Der Text wurde klarer.

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Arno Gruen

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