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1. Autonomie und Anpassung:  

Der grundlegende Widerspruch in der Entstehung des Selbst  

Gruen-1984

 

Das Problem der Autonomie: die Lernerfahrung der Leere 

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Die menschliche Entwicklung bietet zwei Möglichkeiten, die der Liebe und die der Macht. Der Weg der Macht, der den meisten Kulturen zugrunde liegt, führt zu einem Selbst, das die Ideologie des Herrschens widerspiegelt. Es ist ein Selbst, das auf einem Gespaltensein beruht, nämlich jener Abspaltung im Selbst, welche Leiden und Hilflosigkeit als eigentliche Schwäche ablehnt und Macht und Herrschaft als Mittel, Hilflosigkeit zu verneinen, in den Vordergrund stellt. Ein so beschaffenes Selbst ist das Prinzip dessen, was als Erfolg in unserem Leben gilt. Darin liegt auch die Antithese zur Autonomie, der ich mich zuerst zuwenden werde.

Autonomie ist derjenige Zustand der Integration, in dem ein Mensch in voller Übereinstimmung mit seinen eigenen Gefühlen und Bedürfnissen ist. Im allgemeinen verstehen wir unter Autonomie etwas anderes, nämlich etwas, was mit der Behauptung der eigenen Wichtigkeit und Unabhängigkeit zu tun hat. Das gilt insbesondere für ein Selbst, das, bewußt oder unbewußt, der Ideologie des Herrschens entspricht. Deswegen dient das, was wir meistens als autonom beschreiben, einer auf Abstraktionen aufgebauten Idee des Selbst. Trotz der Rebellion, die von einem solchen Selbst ausgehen kann, reflektiert dieses nur die einschränkenden, entstellenden, selbstsüchtigen Kategorien von Eigenschaften, in welche Eltern, Schule und Gesellschaft uns gepreßt haben.

Was dann mit Autonomie bezeichnet wird, ist die Freiheit, sich und anderen ständig Beweise der Stärke und Überlegenheit liefern zu müssen. Ob es ein Beweisen für oder gegen die bestehenden Normen ist, macht keinen Unterschied. Das Wichtige ist das ständige Beweisen-Müssen; es ist ein kriegerischer Zustand, weit entfernt von der Fähigkeit, das Leben zu bejahen. Demgegenüber ist es der Zugang zum Lebensbejahenden, zu den Gefühlen der Freude, des Leids, des Schmerzes, kurz des Lebendigseins, aus dem die Autonomie, die ich meine, sich entwickelt.

Unsere Kulturgeschichte ist über weite Strecken hin eine Geschichte des Vermeidens, des Verneinens, der Unterdrückung des Zugangs zu diesen Gefühlen und den daraus erwachsenden Bedürfnissen. Die Unterdrückung der Frau kann als ein paralleler Ausdruck dieses Vorgangs in unserer Geschichte angesehen werden: Der Zugang der Frauen zu Leid und Schmerz und das daraus entstehende Engagement zur echten Lebendigkeit ist es, das in ihnen und gleichgesinnten Männern bekämpft werden muß. Was daraus entstanden ist, ist ein noch immer weiter fortschreitender Prozeß, durch den die Männer, weit mehr als die unterdrückten Frauen, in ihrer Menschlichkeit geschädigt werden.

Autonomie beinhaltet die Fähigkeit, ein Selbst zu haben, das auf dem Zugang zu eigenen Gefühlen und Bedürfnissen gründet. Da bei einer Fehlentwicklung der Autonomie Gefühle und Bedürfnisse Ausdruck der Ideologie des Herrschens und nicht einer inneren Integration sein können, müssen wir erkennen, daß die Bedürfnisse und Gefühle selbst nicht mit Autonomie gleichzusetzen sind. Es ist wichtig, sie im Rahmen ihrer Entwicklung zu differenzieren.

Man kann sagen, daß wir uns im Spiegel der Augen unserer Mutter erkennen lernen. Friedrich Hebbel prägte es poetisch:

So dir im Auge wundersam 
Sah ich mich selbst entstehen.

Das bedeutet, daß das Bewußtsein der Mutter und ihre Selbstachtung zum bestimmenden Anteil der Entwicklung unseres eigenen Selbst werden.

Insofern ihre eigene Entwicklung eine Fehlentwicklung der Autonomie darstellt, muß die Selbstachtung der Mutter auf Gefühlen und Bedürfnissen basieren, die weit entfernt sind von einer wirklich autonomen Position. Dadurch muß die Anerkennung des eigenen Kindes — also wie das Kind sich später in ihrem Auge sieht — jene Beschränkungen widerspiegeln. In diesem Vorgang finden wir auch die Quellen jener Formen des Hasses und der Wut, die in unserer Welt oft als Liebe oder Selbstaufopferung ausgegeben werden.

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Ein Beispiel dafür aus Jean Liedloffs <Auf der Suche nach dem verlorenen Glück>* (1980):1) Die Autorin beschreibt die Situation eines Säuglings, der vor kurzem von der Entbindungsstation nach Hause kam. Seine Mutter 

»liebt ihn mit einer bis dahin nicht gekannten Zärtlichkeit. Anfangs fällt es ihr schwer, ihn nach dem Füttern wieder hinzulegen, besonders weil er so verzweifelt dabei schreit. Aber sie ist überzeugt davon, daß sie es tun muß, denn ihre Mutter hat ihr gesagt (und sie muß es ja wissen), daß er später einmal verzogen sein und Schwierigkeiten machen wird, wenn sie ihm jetzt nachgibt.... Sie zögert. Ihr Herz wird zu ihm hingezogen, doch sie widersteht und geht weiter. Er ist soeben frisch gewickelt und gefüttert worden. Deshalb ist sie sicher, daß ihm in Wirklichkeit nichts fehlt; und sie läßt ihn weinen, bis er erschöpft ist.«

Wir sehen hier eine Mutter, die das Verlangen ihres Kindes nach Kontakt und Berührung nicht richtig erkennt und deshalb nicht angemessen darauf reagieren kann. Das kann nur passieren, weil in ihrer Entwicklung ihr eigenes Verlangen abgewürgt wurde. Solch ein Ablauf der Entwicklung führt dazu, daß eine Mutter keinen Zugang zur eigenen Autonomie hat und deswegen auch nicht zu der ihres Kindes. In dieser Begebenheit geschieht etwas Unausgesprochenes: Die Mutter läßt den Säugling leiden, ohne daß sie sich dessen bewußt werden müßte oder sich gar eine Absicht dahinter eingestehen müßte. Das Ungeheure, auf das Liedloff uns hinweist, ist die Art und Weise, wie unser Verhältnis zur Realität als Waffe gebraucht wird, um das Kind zu peinigen. Wir haben es hier mit einer verleugneten Feindseligkeit zu tun, die uns von Geburt an umgibt und deswegen weder vom Opfer noch von dem, der Unterwerfung fordert, anerkannt wird. In Wirklichkeit fehlt dem Kind ja nichts!

Auf diese Weise brauchen wir uns nicht damit auseinanderzusetzen, daß wir nicht nur daran sind, unsere eigene Lebensgeschichte, unsere eigenen Erfahrungen von Unterdrückung und Vergewaltigung zu wiederholen, sondern daß wir in einer solchen Vorgehensweise auch unsere eigenen Bedürfnisse abtöten. Das Schreien eines Kindes weckt in uns unsere eigene Verzweiflung von damals und damit quälende Gefühle der Wut und der Ohnmacht. Diese können wir aber nicht zulassen, denn sie widersprechen unserer erlernten »Wirklichkeit« und der ganzen Struktur unseres Selbst, die auf ihr basiert. Das Schreien eines Kindes als Verzweiflung wahrzunehmen, würde uns mit der Auflösung unseres psychischen Gefüges bedrohen. 

* (d-2008:)  J.Liedloff bei detopia 

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Deswegen bestehen wir auf der Perspektive unserer Eltern. Sie beruhigen und besänftigen uns gerade da, wo wir unser Selbst verraten. Und so foltern wir das Kind, das unsere eigenen Entbehrungen wiedererweckt; bringen es auf die vielfältigste Art zum Schweigen. Wir sind ja in der »Realität« fest verankert und vertreten die »Wirklichkeit«. Außerdem trägt die Unterwerfung des hilflosen Kindes dazu bei, unser Selbstgefühl, unsere Selbstachtung aufzublasen. Macht, Herrschaft und Kontrolle über den anderen, auch über unser Kind, sind der Sinn unseres Selbst.2)

Wenn wir die Situation des Säuglings auf diese Weise betrachten und uns fragen, worin seine erste Lernerfahrung besteht, so kommen wir zu einer unausweichlichen Folgerung: Er lernt, daß nichts zu lernen ist. Das Kind lernt, seine eigenen Reaktionen nicht zum Ausgangspunkt der Entwicklung seines eigenen Wesens zu machen. Diese Erfahrung des Lernens, daß nichts zu lernen ist, wird zum entscheidenden Punkt der Fehlentwicklung der Autonomie. Es ist der Anfang des Abbruchs der Autonomie, der Anfang einer Fehlentwicklung, in der wir nur noch lernen, die eigenen Bedürfnisse eher als etwas Gefährliches, ja Feindliches zu erleben. Autonomie und all das, was zu ihr führen könnte, erweckt dann bald einmal Angst.

Dieses Phänomen der Lernerfahrung der Leere ist für uns verdeckt, da die herrschenden Denkweisen (und auch Lerntheorien) das Lernen als einen im wesentlichen von außen her bestimmten Prozeß darstellen. Lernen — so das allgemeine Denken — geschieht, weil wir dieses oder jenes, nämlich Stimuli von außen, unter solchen oder anderen Bedingungen dem Organismus antun. Daß der Anlaß des Lernens auch ein anderer sein könnte, einer, der aus inneren Vorgängen hervorgeht, die ihren Sinn durch ein vom Organismus her gesehenes positives Entgegenkommen der Umwelt entwickeln, steht der gängigen Denkorientierung fern. Wenn aber unsere Sicht des Lernens das Verhältnis eines Lebewesens zu seiner Umwelt als ein meshing (eine Vernetzung, ein Ineinandergreifen, ein Miteinanderverbinden von zueinander passenden Teilen) sieht, und nicht als einen mechanischen Prozeß, der ihm aufgezwungen ist, dann wird Lernen nicht lediglich Reaktion auf einen Stimulus, sondern ein Suchen seitens der Reaktion (und der ihr zugrunde liegenden Bedürfnisse) nach geeigneten Stimuli, die die Reaktion auslösen. Lernen ist dann nicht nur ein von außen aufgesetzter Vorgang, sondern ein Netz ineinander verflochtener Verbindungen.

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Der Gegensatz zu diesem Verständnis des Lernvorgangs basiert auf einer kybernetisch inspirierten Vereinfachung des Menschen in einen mechanischen Input- und Output-Vorgang, wie er zum Beispiel von Skinner und seiner Schule gefördert wird (1973). Leider ist das die Art des Denkens, der wir in weiten Teilen der Sozialwissenschaften ausgesetzt sind.3) Deswegen wird das Lernen, daß es nichts zu lernen gibt, erst sichtbar, wenn man bereit ist, Autonomie als grundsätzliche Möglichkeit zu erkennen.

 

     Der eigentliche Weg der Autonomie  

 

In einer Forschungsarbeit zeigen A. DeCasper und W. Fifer (1980), daß Säuglinge schon in den ersten drei Tagen ihres Lebens die Fähigkeit haben, nicht nur die Stimme der eigenen Mutter von anderen Stimmen zu unterscheiden, sondern auch versuchen, durch den Druck ihrer Mundbewegung während des Saugens die Mutter wieder zurückzuholen. Dies zeigt, daß der Möglichkeit, etwas aus dem eigenen Sein zu erzeugen, schon von Beginn des Lebens an, eine integrierende Rolle zukommt. Was passiert aber, wenn die Mutter nicht adäquat reagiert? Wenn sie nicht antwortet, nicht liebkosend auf die Herausforderung des Kindes eingeht? Das kann nur bedeuten, daß die Möglichkeiten eines Ansatzes zum eigenen unteilbaren Sein wegfallen. Das Kind hat überhaupt keine Möglichkeit mehr, über sein eigenes Sein etwas zu lernen.

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Das Ausbleiben einer adäquaten Reaktion der Mutter braucht nicht ein bewußter Vorgang zu sein. V. Vuorenkoski und Mitarbeiter (1969) beobachteten die Folgen des Schreiens der Säuglinge auf den Milchzufluß in der Brust erstgebärender Mütter. Das Schreien dauerte sieben Minuten. Von vierzig Müttern reagierten sechzehn innerhalb von vier Minuten nach Beginn des Schreiens; sechzehn innerhalb von sieben Minuten; vier erst eine Minute nach Beendigung des Schreiens; und vier Mütter überhaupt nicht. Wenn eine Mutter von ihren ursprünglichen Gefühlen faktisch abgeschnitten ist, wird sie nicht auf ihr Kind eingehen können. Es wird ihr nicht möglich sein, seine Bedürfnisse und seine Suche nach Kommunikation mit ihr adäquat wahrzunehmen. Wenn dieser Vorgang schon dem Ernähren des Kindes Schwierigkeiten in den Weg stellt, dann können wir uns vorstellen, daß das vermehrt der Fall sein wird, wenn die Mutter durch die Bedürfnisse des Kindes — gesteuert durch seine Autonomie-Prozesse — herausgefordert wird, ihre und seine Autonomie zu unterdrücken.

Erst wenn wir uns vorstellen können, daß solche Vorgänge in vielfältigsten Variationen schon in den ersten Wochen des Lebens das eigene Sein eines Menschen entfalten oder verhindern können, werden wir auch erkennen, daß die Entstehung des Selbst auf der Basis eigener Reaktionen schon sehr früh entschieden wird. Wenn solch ein Selbst nicht durch sich selbst zustande kommt, wird es statt dessen durch den Willen der mütterlichen Person geprägt. Eltern, die nicht auf die Bedürfnisse eingehen können, die ein Kind von sich aus entwickelt, bewirken, daß das Kind für seine angehende Integration von der Außenwelt abhängig sein wird. Die Entscheidung, ob die Entwicklung des Selbst — die Organisation seiner Persönlichkeit — durch inneren oder durch äußeren Anlaß geprägt sein wird, mit anderen Worten, ob es in Autonomie oder in Abhängigkeit von der Umwelt-Stimulation lebt, wird früh erzwungen.

Auf diese Weise kann Autonomie zerstört werden. Aber es geschieht im Grunde noch mehr. Das Lernen, daß nichts aus Eigenem kommt, wird zum positiven Verstärker (reinforcement) einer negativen Situation. Man lernt, seine eigenen Bedürfnisse und Beweggründe nicht zu erkennen. Der Mensch kann sein Eigenstes nicht erkennen, weil er sich seines eigenen Zentrums, seines Mittelpunktes, nicht bewußt ist. Und dazu kommt die Angst vor der Lebendigkeit der eigenen Bedürfnisse, die als bedrohliche Feinde erlebt werden.

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Dies letztere geschieht, weil die Leere ein psychologischer Abgrund ist. Die damit verbundene Hilflosigkeit sowie daraus entstehender Schrecken und Wut werden von der Umwelt vehement abgelehnt. Die Wut, die ja ein direkter Ausdruck der Lebendigkeit selbst ist, wandelt sich in Apathie und Depression um. Weil ihr der direkte Ausdruck verwehrt ist, wird ein Kind seinen Drang nach Leben aufgeben und innerlich absterben. Öfters jedoch lernt das Kind, seine Wut gegen den Drang zur eigenen Autonomie zu richten. Durch diese Verkehrung schafft es die Voraussetzungen, um von der Umwelt belohnt zu werden. Wenn es sich auf diese Weise dem Willen der anderen, zum Beispiel der Eltern, fügt, verbleibt ihm nur noch die Möglichkeit, seine Wut gegen alles zu richten, was den Drang zur eigenen Autonomie auch nur wecken könnte.

Je stärker solch ein Vorgang einer Entwicklungssituation entspricht, desto stärker wird ein Kind gegen alles in sich selbst und außerhalb seines Selbst schlagen, was Lebendigkeit wecken könnte. Das heißt, das Kind wendet sich zunächst gegen andere Kinder und später, wenn es selbst erwachsen ist, gegen die Jugend im allgemeinen. Durch solch einen Vorgang wird die eigene Perzeption, die eigene Wirklichkeit in den Untergrund gedrängt, und die Grenzen des eigenen Selbst werden aufgegeben. Paradoxerweise sind es dann gerade die Ansätze zu den eigenen Gefühlen und Bedürfnissen — also das zutiefst Eigene eines Menschen —, die sein Leben scheinbar unmöglich machen. Die eigene Menschlichkeit, die Fähigkeit, eigenes und fremdes Leid zu erspüren, wird unter solchen Voraussetzungen bedrohlich. Menschen, die auf diese Weise aufgewachsen sind, können weder erkennen noch würdigen, was E. Erikson (1964) einmal als die Eigenschaft beschrieben hat, Schmerz auszuhalten, Leiden zu verstehen und zu mildern und als einen grundsätzlichen Aspekt allgemeiner menschlicher Erfahrung zu erkennen.

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    Die Empathie als Katalysator der Autonomie   

 

Wie kommt diese menschliche Fähigkeit, Empathie, zustande? Die tiefste und ursprünglichste Art, in der wir kommunizieren, ist eine empathische. Die Verbindung des Säuglings mit seiner Umwelt ist durch das Gehalten-, Getragen- und Berührtwerden gekennzeichnet. Die kinästhetischen Nervenbahnen sind die Tragfläche unserer unmittelbaren Perzeptionen des anderen; wechselseitig moduliert durch visuelle, akustische, taktile und Geruchs-Sinne.4) Erikson spricht in seinem Buch >Der junge Luther< (1958) poetisch davon, wie »eine Mutter« ihrem Kinde an der Brust »beibrachte, mit seinem forschenden Munde und prüfenden Sinnen, seine Welt zu ertasten«. Dadurch, daß das Kind die Zuwendung seiner Mutter empathisch erfühlen kann, wird es ihm möglich, seine eigenen Gefühle im Spiegelbild der Mutter zu erspüren und somit zu gestalten. Die komplementäre Kleinkind-Mutter-Beziehung wird ständig modifiziert durch den wechselnden Zustand des gegenseitigen Erkennens zwischen Mutter und Kind.

So beobachteten zum Beispiel W. Condon und L. Sander (1974), daß Säuglinge nicht nur Stimmen folgen, sondern sich auch im Rhythmus dazu bewegen. Dies geschieht innerhalb der ersten sechzehn Stunden ihres Lebens. Dieser Tanz des Kindes ist für die Mutter — wenn sie darauf reagiert — ein sie belebender Moment. Für solch eine Mutter bedeutet dies, daß das Kind reagiert, sich seinerseits ihr zuwendet! Und so verändern und anerkennen sich beide, um sich miteinander gegenseitig weiterzuentwickeln. (Eine brillante Analyse solcher Synchronisation bei subprimaten Säugetieren legte J. S. Rosenblatt, 1978, vor. Der Akzent in dieser theoretischen und experimentellen Studie liegt auf der wechselnden Bedürfnissituation des Kindes und seiner Mutter und wird ontogenetisch gedeutet.)

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Die Lernerfahrungen, die hier gemacht werden, sind eng verbunden mit der Qualität der Stimuluswerte, die in dem Beziehungsgefüge zwischen Mutter und Säugling vorherrschen. Um die Welt empathisch zu erproben, muß es dem Säugling zunächst ermöglicht werden, sich der Umwelt nachhaltig zuzuwenden. Dies kann nur dann geschehen, wenn seine Beziehung zur stimulierenden Umwelt durch niedrige Intensitätswerte gekennzeichnet ist. T. Schneirla betont in einer langen Folge von Arbeiten, die in der zusammenfassenden Schrift >Eine evolutionäre und entwicklungsorientierte Theorie der biphasischen Prozesse, die dem Zuwendungs- und Vermeidungsverhalten zugrunde liegen< (1959), daß schon bei der Geburt eine primitive, zweigabelige organische Basis für spätere emotionelle Sinnesstimulation existiert. Niedrige (im relativen Sinn) Stimulusintensitäten lösen Reaktionen der Annäherung aus; hohe Stimulusintensitäten bewirken dagegen das Zurückziehen. Das Differential (Unterschied) im Schwellenreiz für die Muskeln, die diese Bewegungen steuern, wird damit zur Grundlage dieser Verhaltensmuster.

Was dadurch entsteht, ist eine Förderung der empathischen Vorgänge, vorausgesetzt, daß zwischen Säugling und Mutter Zuwendung existiert. Nur dadurch, daß die Mutter dem Kind entgegenkommt, ist die Zufuhr der niedrigen Stimulusintensitäten gesichert. Das ist es, was dem Kind nicht nur sein Leben erhält,5 sondern ihm auch die Basis für seine empathische Sinnesentwicklung gibt.

Dieses Entgegenkommen sichert dem Kind, daß es nicht von einem Übermaß an Stimulation überwältigt wird. J. Fuller (1967) zeigt zum Beispiel in seiner Arbeit über Reizverminderung, daß ein Lebewesen nichts lernen kann, wenn es ihm unmöglich wird, sich in einer Stimulussituation auf wichtige Bestandteile dieser Situation zu konzentrieren, indem es andere Elemente ignoriert.6) Hier haben wir die wesentliche Substanz des Lernens des Eigenen. Damit es geschehen kann, ist eine Unterscheidung notwendig. Diese kann nicht Zustandekommen, wenn die innere Reaktionsbereitschaft ihren entsprechenden auslösenden Stimulus nicht finden kann.7)

Eine Mutter, die ihr Kind intuitiv vor Reizüberflutung beschützt, legt in ihm den Grundstock, aus dem eigenen Selbst heraus lernen zu können. Wenn die Mutter dazu nicht in der Lage ist, wird sein Bewußtsein entweder von der Erfahrung der Hilflosigkeit beherrscht, die es zu einem Versager macht, oder das Gefühl des Ausgeliefertseins wird verdrängt und vom sich bildenden Selbst gespalten. 

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Mit solch einer Lösung muß alles, was an die Situation erinnert, in der die Erfahrung der Hilflosigkeit gemacht wurde (wie zum Beispiel die empathische Erfahrung des Kindes und damit sein Menschlichsein), ausgeschaltet werden. Auf diese Weise werden ganze Teile seines angehenden Seins vom Bewußtsein abgespalten. Um diese Spaltung dann aufrechtzuerhalten, muß Hilflosigkeit zum Objekt der Ablehnung und des Hasses werden. Sie ist es, die einen bedroht, und nicht die Situation, die sie verursacht hat. So rächt man sich dauernd an allem, was die eigene Hilflosigkeit hervorrufen könnte. Deswegen verachtet man Hilflosigkeit bei anderen. Dieses Verachten verbirgt die dahinter stehende eigene Angst und fördert zugleich die Haltung des Verachtens und die Notwendigkeit einer kompensierenden Ideologie der Macht und des Herrschens. Auf diese Weise treten die Opfer auf die Seite ihrer Unterdrücker, um neue Opfer zu finden: ein endloser Prozeß, durch den der Mensch verunmenschlicht wird.

Und so wird alles, was zu einem eigenen Ansatz zur Autonomie führen könnte, gehaßt. Der unablässige Drang nach Erfolg und Leistung tritt an die Stelle der Autonomie. Aber Autonomiebestrebungen werden nicht nur abgelehnt, weil sie solche Menschen an ihre eigene Unterwerfung erinnern könnten. Vielmehr ist es so, daß wirkliche Autonomie die Machtspiele entlarvt, an die man sich, um der Hilflosigkeit zu entkommen, angepaßt hat. Da wir alle bis zu einem gewissen Grad solchen Vorgängen unterworfen sind, ist das Resultat eine allgemeine Tendenz zur Verunmenschlichung, auch wenn wir sie als solche gar nicht wollen. Unsere eigene Empathie wird täglich überrumpelt, und zwar — wie in Liedloffs Beispiel — unter dem Deckmantel der Fürsorge. Wir merken dann nicht, daß wir selbst dabei sind, unsere eigenen empathischen Wahrnehmungen der wirklichen Vorgänge im anderen zu verzerren und zu verfälschen.

Ein dafür typisches Beispiel aus dem Leben des Gründers der Psychoanalyse: Es ist bekannt, daß Freud zornig und empört reagierte, als er erfuhr, daß seine Umgebung zögerte, ihm die Wahrheit über seine Krebserkrankung zu sagen. Immer wieder findet man deswegen in der Literatur Anspielungen auf Schwächen in Freuds Charakter. So meint zum Beispiel H. Kohut in seinem Buch >Die Heilung des Selbst< (1977), daß es Freud nicht möglich war zu erkennen, daß hinter dem Zögern, ihm die volle Wahrheit zu sagen, Güte und Besorgnis gewesen sein könnten. Kohut kommt zu dem Schluß, daß Freud in seinem »nuklearen ... Selbst. .. bedroht war«. Gestörter Narzißmus!

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Es ist bemerkenswert, wie in dieser Interpretation die Anwendung der Psychoanalyse in den Händen vieler ihrer Praktiker die Ideologie des Herrschens widerspiegelt. »Natürlich« besteht kein Recht zur Empörung, wenn die Fürsorge selbst zum Machtmittel wird. Wenn man sich dagegen auflehnt, erschüttert man das Gebäude, in dem Güte und Anteilnahme die Mittel sind, andere in Abhängigkeit zu halten. Indem man für Sorge und Anteilnahme noch bestätigt wird, wird der wahre Sachverhalt verdeckt. Freuds Recht auf Selbstachtung und Autonomie muß relativiert werden, denn es legt jenes Rollenspiel bloß, das so häufig für Therapie und Menschlichkeit gehalten wird. Der Patient soll sich dankbar und abhängig verhalten. Damit erkauft er die wohlwollende Gesinnung des Therapeuten; und die Abhängigkeit des Patienten — sogar wenn sie sich aggressiv und widerborstig äußert — bestätigt die Überlegenheit dessen, der die Quelle der »Güte« ist.

Freuds Empörung wird mißbilligt, stellt sie doch eine Haltung in Frage, die innerhalb der therapeutischen und der allgemein menschlichen Beziehungen geradezu gezüchtet wird. Das Bewußtsein, das die Mutter in Liedloffs Beispiel und die Interpretation Kohuts erzeugt, ist das institutionalisierte Verhaltensmuster des Herrschens und des Beherrschtwerdens. Der Haß, der dadurch entsteht, zerstört die Autonomie des Menschen.

Wir alle sind bis zu einem gewissen Grad in diesen Vorgängen gefangen. Wir alle haben Hilflosigkeit erfahren, und je mehr sie zum Störfaktor unserer Welt wurde, da eine neue, der Welt entgegenkommende Integration nicht stattfinden konnte, desto mehr haben wir sie gefürchtet, weil sie auch uns zur Unterwerfung trieb. Aber nicht alle Menschen geben ihre Möglichkeiten zur Autonomie auf. Dem Wandel dieses Vorgangs werde ich mich jetzt zuwenden.

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      Die Verschleierung der Autonomie    

 

Es ist ein Paradox, daß der innere Kampf zur Erhaltung der eigenen Autonomie sich durch verzweifelte Anpassung, Unterwerfung und selbstzerstörerisches Verhalten ausdrücken kann. Deswegen kann die Form, durch welche sich Autonomie ausdrückt, ihre Existenz und ihr Wesen als grundsätzliche Lebenskraft vor dem Beobachter verbergen. Das ist überall dort der Fall, wo man sich der Existenz der Autonomie nicht bewußt ist, wo ihr gegenüber Gleichgültigkeit herrscht und wo sie explizit abgelehnt wird. In Gesellschaften, in denen als Preis für die Liebe Gehorsam, Konformität und Abhängigkeit gefordert werden, darf es nicht erstaunen, daß Autonomie als wesentlichster Integrationsfaktor der Entwicklung verneint oder zumindest verschleiert wird.

Ein Patient sagte mir einmal: »Sie können nicht an mich herankommen, wenn ich so bin, wie Sie es wünschen.« (A. Gruen, 1974, 1976) Mit ungewöhnlicher Wahrnehmungsfähigkeit konnte er das Denken und die Wünsche anderer erahnen. Und indem er fremden Wünschen entgegenkam, schützte er sich davor, sich selbst zu öffnen oder festzulegen. Er führte ja nur aus, was andere von ihm erwarteten, er selbst war an seinen Handlungen nicht beteiligt! Weil er nie seinen eigenen Willen offenbarte, hielt er sich für unverletzlich und fühlte sich »frei«. Aber er war natürlich nur in einem potentiellen Sinne frei, da er seine eigenen Vorstellungen niemals in Taten umsetzte. Auf diese Weise existierte seine Autonomie nur in seiner Phantasie.

Hier haben wir den Fall, wo die Autonomie sozusagen in den Untergrund gegangen ist, um unverwundbar zu bleiben, und zwar durch eine allumfassende Bereitschaft zur Unterwerfung. In ähnlicher Weise drückte ein anderer Patient durch eine spezifische Entwicklung seines Schuldbewußtseins seinen Kampf gegen Manipulation aus. Er wurde dadurch genau zu dem, was von ihm erwartet wurde. Er sagte mir eines Tages: »Wenn ich mich schuldbewußt fühle, bin ich beruhigt. Man fühlt sich dann sicher, denn man ist nicht frei, man selbst zu sein. Dein Verhalten wird dir vorgeschrieben, jemand anders sagt dir, wie du dich zu verhalten hast. Dadurch versteckt man sich und bleibt in Sicherheit. Du kannst deine Überlegenheit und Verachtung für dich selbst behalten.«

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Sein Schuldbewußtsein, das selber zur letzten möglichen Verbindung zu einer sonst unfaßbaren Mutter wurde, diente aber auch dazu, sein potentielles Selbst aus ihrer Reichweite zu halten. Indem er durch sein Schuldbewußtsein zum Objekt ihres Willens wurde, konnte er seinen eigenen Willen ihrer Manipulation entziehen. Es war ein ohnmächtiger Versuch — und schrecklich für die Entwicklung seines Lebens —, seine autonome Stellung durch eine phantasierte Unverwundbarkeit zu erhalten. Wenn wir darin aber die verdeckte Natur dieses Strebens nach Autonomie übersehen, indem wir sie lediglich als Ausdruck primärer Abhängigkeit deuten, werden wir weder den Kampf eines solchen Menschen um Autonomie verstehen noch die Validität der Autonomie-Triebe anerkennen können, die, selbst wenn sie unterdrückt werden, noch wirksam sind.

Auch in der Tierforschung hat das Verneinen dieser Autonomietriebe zu verzerrten und falschen Ergebnissen geführt. 1967 zeigte der amerikanische Zoologe J. L. Kavanau in einer methodenkritischen Studie, daß experimentelle Situationen oft eher arrangiert werden, um vorgefaßte Ideen der Forscher zu bestätigen, als daß sie über die tatsächlichen Reaktionen der Versuchstiere (und ihren bedeutungsmäßigen Hintergrund) Aufschluß geben. Tiere zum Beispiel, die (aus Gründen der Anordnung) zum Zweck des Experimentierens in eine ihre Lebensbedingungen einschränkende Situation gezwungen werden, zeigen Reaktionen, die vom Beobachter als fehlerhaft eingestuft werden. Aus der Perspektive des Verhaltens der entsprechenden Tiere jedoch stellen diese »fehlerhaften« Verhaltensweisen bereichernde Variationen innerhalb ihrer für das Experiment einförmig gehaltenen Umgebung dar. Was für das Tier eine adaptive Reaktion gegenüber einschränkenden Lebensbedingungen ist, die zum Beispiel im Labyrinthlernen seinen Lebensbereich durch Abweichung und Änderung erweitern, ist für den Beobachter »fehlerhaftes« Verhalten, das über Lernprozesse oder biologische Bedürfnisse des Tieres Auskunft geben soll. 

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Der Forscher muß ja das Verhalten des Tieres vom Standpunkt seines theoretischen Bezugsrahmens aus sehen — das Leben und die Lebendigkeit des Tieres als solche interessieren ihn nicht. Die »Fehler« des Tieres sind hier Artefakte einer mehr forscherspezifischen als tierspezifischen Versuchsanordnung. Was Kavanau illustriert und was die meisten Tierforscher ihrer eigenen Vorurteile wegen verneinen müssen, ist der unabweisbare Sachverhalt, daß im Leben Kräfte auftreten, die sich dem Auferlegen zwangsmäßiger Bedingungen entgegenstellen.

Viele Facetten unserer menschlichen Entwicklung, die Ausdruck des Autonomiestrebens sind, bleiben uns verborgen, weil sich noch in der Konformität die Autonomie verschieden verbirgt. Unsere vor allem Anpassungsleistungen züchtende Kultur schafft ihrerseits verhüllte Motivationen der Autonomie. Das wiederum verbirgt den Vorgang der menschlichen Entwicklung als den eigentlichen Ausdruck der Autonomie.

Freud, dessen revolutionärer und kühner Geist unsere Lebensanschauung erweiterte und ihr eine neue Richtung gab, blieb selbst in diesem Zustand einer zwiespältigen Auffassung befangen. Für ihn war die menschliche Entwicklung ein Vorgang, der die Triebe durch Repression, Beherrschung oder Sublimierung bindet. Fehlentwicklungen wurden deswegen als Versagen im Anpassungsvermögen erkannt. Triebe wurden als unveränderliche und im Grunde bösartige Instinkte angesehen, die nur durch den Sozialisierungsprozeß zurückgehalten werden können (A. Gruen und M. Hertzman, 1972). Nicht nur wurde die Anpassung an die gegebene Realität zum Ziel der Entwicklung, sondern das Pathologische wurde als ein Versagen verstanden, sich der Realität anzupassen. Die Validität dieser Realität wurde nicht in Frage gestellt. Die Schuld am Kranksein trug der Kranke selbst. Daß das Pathologische angesichts pseudo-sozialer Realitäten manchmal d le einzige Art sein könnte, Autonomie überhaupt aufrechtzuerhalten, lag völlig außerhalb des Rahmens solch einer Denkweise.

Einer anderen Sicht der Dinge begegnen wir, wenn wir uns Erfahrungen von Künstlern wie zum Beispiel Anton Tschechow zuwenden, die ihre eigene Entwicklung als inneren Kampf um Authentizität ansahen. Tschechow schrieb einem jungen Schriftsteller:

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»Schreibe eine Geschichte über einen jungen Mann, den Sohn eines Leibeigenen, einen ehemaligen Gehilfen in einem Lebensmittelladen, einen Chorknaben, einen Gymnasiasten und Universitätsstudenten, erzogen, Klassenunterschiede zu respektieren, die Hände der Priester zu küssen, sich den Ideen anderer zu unterwerfen — einen jungen Mann, der sich für jedes Stückchen Brot bedankte, der oft gepeitscht worden ist, der ohne Galoschen herumlief, um Privatstunden zu geben, der seine Fäuste gebrauchte, Tiere quälte, der gerne zum Abendessen reicher Verwandter kam, der ein Heuchler gegen Gott un'd Menschen war, unnötigerweise, und nur aus der Erkenntnis seiner Bedeutungslosigkeit — schreibe, wie dieser junge Mann den Sklaven aus sich herausdrückt, Tropfen um Tropfen, und wie er, eines schönen Morgens erwachend, merkt, daß das Blut, das in seinen Adern fließt, nicht mehr das eines Sklaven, sondern das eines echten Menschen ist.« (A. Yarmolinsky, 1973; übersetzt von A. Gruen)

Tschechow verstand, daß Feindseligkeit, Bösartigkeit und Sadismus das Ergebnis von Hilflosigkeit und Selbstverachtung sind; daß sie alle durch Anpassung an eine hyperkritische soziale Realität erzeugt werden und nicht einer angeborenen Aggression zuzuschreiben sind.

Eine schizoide Patientin erklärte mir nach einiger Zeit der Therapie (A. Gruen, 1968), daß sie erst jetzt sehe, wie sie ihr ganzes Leben lang versucht habe, ein Nichts zu sein, innerlich leer, lediglich Erdnußschalen in ihrer Tasche. Das bedeutete, sollte jemand etwas von ihr verlangen, so würde sie ihre Taschen ausleeren und sagen: »Seht doch, ich habe nichts.« Hier haben wir den Ausdruck einer äußersten Abwehr gegen Manipulation, wenn auch in einer höchst verzweifelten und selbstlähmenden Form. Die Patientin weigerte sich, ein konventionelles Verhalten an den Tag zu legen, aus dem man hätte schließen können, daß sie eine ungestörte Erziehung genossen hätte und daß ihre Mutter liebevoll mit ihr umgegangen wäre. Sie wehrte sich dagegen, durch ihr Benehmen das Image ihrer Mutter als einer »liebenden und guten Mutter« zu bestätigen. Indem sie sich so verhielt, als ob alle ihre Entscheidungen sich nur um die Wünsche der anderen drehten, die sie dann aber dauernd negierte, blieb sie leider ihr Leben lang tatsächlich leer. Die Folge dieser Haltung war eine umfassende psychische Kraftlosigkeit und Pseudodebilität.

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Solange wir das Ausmaß, in dem Konventionen akzeptiert werden, zum Maßstab seelischer Gesundheit machen, übersehen wir, daß Konventionen unter Umständen Forderungen dienen, sich Irrtümern und Lügen zu unterwerfen. Der Sinn des anscheinend nicht nachfühlbaren Erlebens von Schizophrenen kann sich uns nur dann erschließen, wenn wir seine schmerzhafte Sensitivität als Wegweiser für die Entdeckung nehmen, daß sich unter Konventionen die Forderung verstekken könnte, Formen der Gewalttätigkeit als Wohlwollen, Fürsorge oder gar Liebe anzuerkennen — zum Beispiel das Bestreben, uns in unseren Wesensäußerungen einzuschränken.

Leslie Farber, ein amerikanischer Psychoanalytiker, Mitarbeiter von Frieda Fromm-Reichman, beschreibt in seinem Buch >Die Wege des Willens< (1966) eine Begegnung zwischen einem hospitalisierten schizophrenen Patienten und seinem Therapeuten, die abgelenkte Autonomiebestrebungen widerspiegelt. Sie zeigt auch, wie solche Patienten uns immer wieder über die Verzerrungen der sozialen Realität zu informieren versuchen.

Der erwähnte Therapeut besaß einen Füllfederhalter, den er von seinem Vater bekommen hatte und an dem er sehr hing. Im Verlauf einer therapeutischen Sitzung weckte diese Feder das Interesse seines sonst nicht sehr mitteilsamen Patienten. Als der Therapeut das bemerkte, legte er die Feder in die Hand des Patienten und schlug ihm vor, sie auszuprobieren. Ermutigt durch die Reaktion des Patienten sagte er ihm, er möge den Füllfederhalter bis zum nächsten Tag behalten. In den folgenden Sitzungen wurde die Feder nicht erwähnt. Nach einigen Wochen fragte der Therapeut danach und sagte, er hätte die Feder gerne wieder. Der Patient antwortete nicht. Nach etwa sechs Wochen erklärte der Therapeut, daß dieser Füllfederhalter ihm viel bedeute, ein Geschenk seines Vaters sei und daß er ihn zurückhaben wolle. Er forderte den Patienten auf, mit ihm über diese Angelegenheit zu diskutieren. Dieser murmelte, die Feder sei verlorengegangen, und verhielt sich dann für den Rest der Stunde absolut schweigend, während der Therapeut zunehmend die Haltung verlor und den Patienten schließlich anschrie. Die Sitzung endete in diesem unfreundlichen Ton, und der Patient kehrte auf sein Zimmer zurück. 

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Kurz darauf stürmten der Therapeut und zwei Pfleger in das Zimmer des Patienten: Während die Pfleger den Patienten am Boden festhielten, suchte der Therapeut nach seinem Füllfederhalter. Natürlich wurde er gefunden, und als der Therapeut das Zimmer verließ, schrie ihm der Patient vom Fußboden her nach: »Mein Gott, was für ein Irrenhaus! Dieses ganze Getue wegen eines kleinen Füllfederhalters!«

Farber will uns durch seinen Bericht klarmachen, daß, obwohl es sich bei dem Therapeuten um einen höflichen, zivilisierten Mann handelte, es ihm dennoch mißlang, sich über den eigenen Beweggrund seines gewalttätigen Vorgehens klarzuwerden, indem er sein eigenes Verhalten dem bekannten psychoanalytischen Sachverhalt der Übertragung zuschrieb. (Das heißt, die Gegenübertragung bestand darin, daß der Therapeut wütend wurde, weil er aus seinem Wunsch heraus, den Patienten gesund zu machen, ihn bemutterte, aber, als der Patient nicht positiv darauf reagierte, eben wütend wurde.) Farber gibt dem Vorfall eine andere Deutung, indem er diese Begegnung als das Aufeinanderprallen zweier Willen interpretiert. Meines Erachtens wird weder diese Interpretation noch die Deutung des Vorfalls als ein Übertragungsgeschehen dem Gehalt dieser Begegnung gerecht.

Nun trifft es zwar zu, daß das Verhalten des Patienten provozierend war. Aber erwartete der Therapeut nicht von seinem Patienten, daß er ein etabliertes Rollenspiel mit festen, aber unausgesprochenen Regeln mitspiele? Sollte er nicht, indem er sich seinerseits »nett« aufführte, das Image des Therapeuten von sich selbst als das eines netten Menschen bestätigen? Das Bild eines gütigen, milden und liebevollen Mannes? Mißbrauchte der Therapeut den Patienten nicht, so wie wir einander tagein, tagaus mißbrauchen, um seine Tugend bestätigt zu sehen? Es scheint, daß er nicht nur die gute Mutter sein wollte; seine Großzügigkeit war auch ein Schachspiel der allgemeinen gegenseitigen Bestätigung, in dessen Verlauf der eine sich mächtig und bedeutend fühlt und der andere beweist, wie gehorsam er sein kann.

Hätte der Patient mitgemacht, hätte er dann nicht auch durch »anständiges« Benehmen bewiesen, was für ein guter, sich also auf dem Weg der Besserung befindlicher Patient er geworden sei?

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All dies spürte natürlich der Patient und sagte Nein. Der Schizophrene8) ist oft so unkooperativ, weil er das Rollenspiel durch seine »Hilflosigkeit« bloßstellt. Durch das Hilflossein stellt er sich gegen die Heuchelei des Rollenspiels. Das irritiert uns, weil wir Gefangene in unserem eigenen Spiel sind. Wer darf schon offen wütend sein, wenn man, der Rolle gemäß, solcher »Hilflosigkeit« doch nur mit Güte gegenübertreten darf. Das Verhalten des Patienten zwingt uns, in unserem eigenen Spiel zu ersticken. Dafür rächen wir uns, indem wir darauf bestehen, ihm zu »helfen«. Und wenn das nicht wirkt, geraten die Helfer in eine ernsthafte seelische Krise, die sich häufig in psychosomatischen Symptomen, wie zum Beispiel Migränen, niederschlägt.

Es stimmt, daß dieser Patient sich der humanen Seite des Therapeuten, seinen freundlichen, fördernden Absichten verschloß. Dennoch lassen uns solche Patienten — in ihrer unbeirrbaren Demaskierung einer einschränkenden Liebe als Heuchelei — einen Blick auf die Wahrheit erhaschen, eine Wahrheit, die wir täglich negieren. Wir alle spielen vielerlei Rollen, die dazu dienen, Systeme der Imagepflege zu stützen, die ihrerseits auf Macht basieren. Und indem wir dazu beitragen, diese Systeme zu festigen, beweisen wir, ohne es zu merken, wie oft die Ideologie der Macht auf keinen Widerspruch stößt. (Macht mag Widerstand auslösen, aber nicht ihre Ideologie.) Es ist ein Kreislauf, der sich dauernd selbst in Gang hält. Dadurch werden wir zunehmend uns selbst entfremdet und wissen nicht, was wir anderen und uns selbst antun. In unserer Welt gelten die als die Erfolgreichsten, die sich dieser Pseudo-Realität am besten anpassen. Und die, die sich am besten anpassen, sind wiederum jene, die am meisten von ihren Gefühlen abgeschnitten sind. Auf diese paradoxe Art verbirgt hier Erfolg den Irrsinn einer abgetrennten Gefühlswelt.

Das Resultat ist eine Realität, von der Marcel Proust bemerkte: »Wie haben wir den Mut, in einer Welt zu leben, in der die Liebe durch eine Lüge provoziert wird, die aus dem Bedürfnis besteht, unsere Leiden von denen mildern zu lassen, die uns zum Leiden brachten?« Die Widerspenstigkeit des Patienten war Prüfstein und zugleich Weigerung, an diesem gemeinsamen Betrug teilzunehmen. Als hilfloser Schizophrener kann sich das ein Mensch erlauben! Leider führt es zum totalen Verlust der persönlichen und gesellschaftlichen Beziehungen, zum seelischen Selbstmord, da die gesellschaftlichen Konventionen das Nicht-Teilnehmen als sozialen Verrat brandmarken.

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Die Weigerung des Patienten beleuchtet genau das, was uns üblicherweise vom Bewußtsein ferngehalten wird. Herrscher und Beherrschter, Unterdrücker und Unterdrückter sind in einen gemeinsamen Machtaustausch verwickelt, in dem Fürsorge zur Einschränkung der tatsächlichen Freiheit führt; das Ganze wird dann noch Liebe genannt. Der Preis der Anpassung an diesen Vorgang ist die Furcht vor der eigenen Freiheit und Lebendigkeit, und dies trotz aller eventuell zur Schau getragenen Rebellion. Man kann sich kritisch gegen die Normen einer Gesellschaft auflehnen, ohne sich dieser Furcht bewußt zu sein. Ohne es zu bemerken, haben wir uns bereits ergeben. Da, wo wir es weder bemerken noch wissen, haben wir uns mit der Macht selbst identifiziert. Die Furcht vor der eigenen Autonomie und vor der Lebendigkeit, zu der sie führt, wird zum unbewußten Angelpunkt unseres Lebens. Diese Zerstückelung unserer autonomen Möglichkeiten ist so umfassend, daß wir sie gar nicht bemerken.

 

    Die Angst vor der Autonomie und vor der Freiheit, ein eigenes Selbst zu haben   

 

Ein Beispiel für die umfassende Zerstückelung der Autonomie und das sie begleitende Unbewußtsein läßt sich in unserem Laufen, Gehen, Stehen, also in unseren alltäglichen körperlichen Bewegungen beobachten. (In diesem Zusammenhang ist es interessant, daß die Bewegungen vieler Schizophrener wie eine Parodie auf unsere Art, uns zu bewegen, erscheinen. Sie basieren auf der Ablehnung der gesellschaftlichen Regeln für unsere Körperhaltung.)

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In seiner Rede zur Verleihung des Nobelpreises 1973 analysierte Nikolaas Tinbergen (1974) unsere Körperhaltung und Bewegung. Er beschrieb, wie die meisten von uns mit verkrampften Nackenmuskeln, hochgezogenen Schultern und angespannten Gesäßmuskeln umhergehen. Wir sitzen mit einem gebeugten Rücken, den wir entweder zu weit nach vorne oder zu weit nach hinten verlagern. Wir haben feste Vorstellungen vom Sitzen, Stehen und Gehen und wollen ihnen entsprechen. Unsere bewußten Vorstellungen von Haltung und Bewegung spiegeln eher einen statischen Begriff des Gleichgewichts wider als dessen eigentliche dynamische Eigenart. Hat man ein harmonisches Körpergefühl, dann ist der Übergang von einer Körperhaltung in die andere fließend, ob es nun Sitzen, Stehen oder Gehen ist. Sobald wir aber versuchen, unsere Bewegung bewußt zu machen, werden die meisten von uns bemerken, daß wir uns innerlich vorbereiten müssen, um von einer Bewegung in die andere überzugehen.

Was Tinbergen tief beeindruckte, als er sich einer körperlichen Rehabilitationsmethode unterzog (es handelte sich um die Alexander-Methode),9 war, wie schnell sich seine Körperbeherrschung verbesserte. Offensichtlich sind wir in der Lage, mit der richtigen Methode die Zwänge unserer Vergangenheit abzuschütteln.

Moshe Feldenkrais (1949, 1972, 1977), der sich ebenfalls vierzig Jahre lang mit der menschlichen Körperbewegung befaßt hat, hat ähnliche Beobachtungen über die Lernfähigkeit der Großhirnrinde gemacht. (Diese ist das Organ, durch welches unser Körperverhalten gesteuert wird.) Offenbar besitzen wir die Fähigkeit, rasch umzulernen, und können daher fehlerhafte Bewegungsabläufe durch besser integrierte ersetzen, wenn wir Gelegenheit haben, neue Erfahrungen zu machen.

»Falscher Gebrauch mit all seinen psychosomatischen oder somatopsychischen Folgen«, sagt Tinbergen, »muß deshalb als Resultat ... eines kulturell bedingten Stresses betrachtet werden.« Offensichtlich funktioniert das Gehirn im Sinn einer »korrekten« Vorstellung von Leistung, so formulieren es E. von Holst und H. Mittelstaedt (1950). Wahrscheinlich werden Ergebnisse unserer Körperbewegung in bildhafter Form an das Gehirn zurückgegeben, wo sie mit den in der Großhirnrinde bereitgestellten Erwartungen verglichen werden. Tinbergen und Feldenkrais betonen, daß die Grundlagen dieser Erwartungen nicht genetischer, sondern phänotypischer Art sind, das heißt, daß sie durch die frühen Lern- und Sozialisierungsprozesse bestimmt werden.

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Ich verweise auf diese Zusammenhänge, weil es sich hier meines Erachtens nicht nur um ein falsch gelerntes Bewegungsmuster handelt. Es geht vielmehr darum, daß die durch schädliche Kultureinflüsse bedingte Art zu gehen und zu stehen, nur ein Teil eines viel umfassenderen Phänomens ist: das Ersetzen des eigenen Willens durch einen fremden. Also der Verlust autonomer Funktionen. Die Folgen eines solchen universalen Vertauschens werden anschaulich anhand einer persönlichen Erfahrung während einer Arbeitstagung. Sie zeigte mir nicht nur, daß dieser ganze Vorgang aus unserem Bewußtsein verdrängt wird, sondern auch, wie sehr wir selber uns scheuen, ihn als solchen zu erkennen.

Diese Tagung über funktionelle Therapie wurde im Kinderzentrum der Münchner Universitätsklinik 1979 unter der Leitung von Feldenkrais abgehalten (Gruen, 1980 a). In seiner Arbeit über die Bewegungsabläufe kam Feldenkrais schon früh zu der Erkenntnis, daß der Zwang zur Sozialisierung sich hemmend und einengend auf unsere Lernfähigkeit auswirkt. Bei der Rehabilitation von Patienten, die an zerebralen Lähmungen, multipler Sklerose und anderen Krankheiten litten, zeigte sich, daß oft bestimmte Denkmuster und falsche Erfahrungen mit unserem Körper Ursache des Funktionsverlustes waren. Durch den Sozialisierungsprozeß vermittelt, basieren die Denkmuster über unseren Körper auf Anpassung, denn diese verspricht soziale und damit affektive Sicherheit. Diese Art des Denkens führt unvermeidlich zu Phänomenen der Abspaltung von unseren Körperempfindungen. Und diese Art der Trennung, die eine Spaltung der Gefühle mit sich bringt, erschwert es uns ungemein, unser Selbst auf eigenen Erfahrungen aufzubauen. Ziel der erwähnten Arbeitstagung war es, den Teilnehmern eine auf neuen Körpererfahrungen basierende Integration zu vermitteln.

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In zwei Tagen brachte Feldenkrais eine Gruppe von rund hundert Spezialisten (Ärzten, Psychologen, Physiotherapeuten) dazu, über ihre Beweglichkeit so weit zu verfügen, daß sie, zum Beispiel am Boden sitzend und sich in nur einer Richtung um die eigene Achse drehend, einen Blickwinkel von dreihundertsechzig Grad umfassen konnten. Er machte es uns möglich, mit unserem Körper so verbunden zu sein, daß wir unsere Bewegungen, die auf abstrakten Vorstellungen der uns möglichen Handlungen beruhen, in dem Augenblick umwandeln konnten, in dem Feldenkrais uns mit dem von uns getrennten Körper-Selbst zusammenbrachte.

Ich berichte über diese Erfahrungen und N. Tinbergens Ideen, weil gleich nach dieser Erfahrung der Befreiung ein allgemeines Unbehagen in der erwähnten Gruppe ausbrach. Teilnehmer wurden auf Feldenkrais wütend, aggressiv und kritisch. Es war, als ob die plötzliche Freiheitserfahrung selbst Unruhe und Angst auslöste.

Das Bedenkliche an unserer Anpassung ist nicht nur, daß wir alle bis zu einem gewissen Grad unfreiwillig nach dem Willen anderer leben. Das Gefährliche ist vielmehr, daß wir in dem Moment, in dem wir sozusagen außerhalb unserer Körperlichkeit leben, anfangen, die Freiheit zu fürchten, die durch den Durchbruch unserer ursprünglichen Selbstgefühle plötzlich erwacht ist. Wir sehnen uns zwar alle nach Freiheit, sind aber gleichzeitig auf vielfältige Art an die Macht gebunden, von der wir Anerkennung und Lob verlangen. Das verurteilt uns zur ewigen Suche nach Bestätigung ausgerechnet bei denjenigen, die unsere wirklichen Bedürfnisse verneinen.

Wir haben, wie schon erwähnt, in frühester Kindheit gelernt, den Forderungen jener Menschen nachzugeben, von deren »Liebe« wir abhängig waren. Ohne darüber nachdenken zu können, haben wir gelernt, Freisein mit Ungehorsam gleichzusetzen. So empfinden wir Freiheit, wie die Erfahrung auf dieser Tagung zeigte, mit Angst und Furcht. Der tiefere Grund von Prousts Beobachtung, wonach der Mensch das Bedürfnis hat, seine Leiden von denen gelindert zu wissen, die ihn zum Leiden gebracht haben, muß hier seine Wurzeln haben. Wenn in früher Kindheit Eltern die Lebendigkeit und Lebenslust ihrer Kinder als störend oder gar bedrohlich empfinden, werden diese bald von Unruhe und Angst erfüllt.

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Erich Fromm (1941) schrieb von der Flucht vor der Freiheit auf politischer Ebene, weil mit der Freiheit gleichzeitig Verantwortung verlangt wird, der der Mensch entrinnen möchte. Es scheint aber vielmehr, daß die Furcht, die die Bewährungschance der Freiheit untergräbt, aus den von Unruhe und Angst geprägten frühkindlichen Jahren resultiert, in denen unsere Lebendigkeit und Lebenslust zu unserem eigenen Feind wurden. Das heißt, das eigene Selbst wird zum Feind. Die Flucht vor der Verantwortung ist zutiefst die Furcht, ein eigenes Selbst zu haben. Es ist nicht Furcht vor einer abstrakten Verantwortung, sondern es ist die Verantwortung, sich selbst zu verwirklichen, die uns bedroht. Unsere eigene Lebendigkeit und die des anderen machen uns Angst. Bricht diese Lebendigkeit doch einmal durch, so steigt Wut auf, und wir selber wenden uns gegen unsere eigene Freiheit. Es ist die Lebendigkeit selbst, gegen die wir uns stellen.

Die Lektion aus der Kindheit ist, daß die Macht, zuerst durch die Eltern erlebt, den Ausweg aus der verschmähten Hilflosigkeit verspricht. Sie wird zum Vorbild der Rettung aus der Unzulänglichkeit. Freiheit bekommt dann einen ganz anderen, unausgesprochenen Sinn. Freiheit meint dann Erlösung von, nicht Verbindung mit den eigenen Bedürfnissen. Dadurch wird Freiheit in ein Streben nach Macht pervertiert, das heißt in ein Streben nach Eroberung von Dingen außerhalb des zurückgewiesenen Selbst. Der Besitz von Dingen und Lebewesen wird, so verspricht es uns die Gesinnung unserer Kultur, uns Sicherheit bringen. Tatsächlich aber trennen uns die daraus entstehenden zahlreichen künstlichen Bedürfnisse nur noch mehr von uns selbst.

Leider ist Rebellion keine Garantie dafür, daß diese Lektion nicht wirksam bleibt. Die Identifikation mit der Macht als dem Mittel, das einen erlöst, bindet einen an das Prinzip der Unterdrücker.10 Man ist genau auf die gleiche Weise geschädigt, wie es schon die Eltern sind und die Gesellschaft, gegen die man kämpft: Man verneint die echten Bedürfnisse, man hat Angst vor dem eigenen Selbst. Und so bleibt man mit dem Feind verbunden. Henry Miller schrieb in seiner Studie >Vom großen Aufstand< (1956) über Rimbauds Größe und Versagen, daß die Freiheit, nach der Rimbaud verlangte, aus der hemmungslosen Bestätigung seines Ichs kam. Diese hemmungslose Selbstbestätigung enthält das verzerrte Spiegelbild dessen, dem man selber ausgesetzt war, wenn die eigenen Autonomiebestrebungen durch rücksichtslose Machtausübung verneint wurden.

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Die Rechte und die Individualität anderer Menschen werden einfach übergangen, aber diesmal unter dem Deckmantel der Freiheit. »Das«, schrieb Miller, »ist keine Freiheit. Sie wird niemals die Verbindung, die Gemeinschaft mit der Menschheit finden.« Und zwar deswegen nicht, weil der Mensch in seinem Gefühlsvermögen geschädigt wurde. Rimbaud war das Kind einer grausamen, kalten Mutter, die sein Sein nicht anerkennen wollte. Sie hatte Angst vor seiner Lebendigkeit und Wärme (als er noch Kind war); und er, obwohl er »alles sehen, alles fühlen, alles ausschöpfen, alles entdecken, alles aussprechen wollte«, sehnte sich am Ende nur nach ihrer Anerkennung. Trotz seiner Rebellion unterwarf er sich ihrer Kälte, ihrer Angst vor seiner Lebendigkeit.

Das ist auch die eigentliche Verletzung unserer Generation: Sie will etwas Besseres, etwas Menschlicheres, weiß aber nicht, daß ihre eigene verletzte Menschlichkeit diesem Ziel im Wege steht. Und so Miller: »Alles das hat für mich nur eine einzige Bedeutung — daß man immer noch an die Mutter gebunden ist. Die ganze eigene Rebellion war nur Staub in den Augen, stellte den verzweifelten Versuch dar, diese Leibeigenschaft zu verbergen.«11) Wenn man von seinen wahren Bedürfnissen abgespalten ist, muß alles zum Kampf werden. Man fürchtet das, was einen mit seinen Mitmenschen verbinden könnte. Und so verlangt man etwas von denen, die einem nichts geben können. Von ihnen fordert man, ohne die darin verborgene Abhängigkeit zu erkennen. Und genau wie bei denen, gegen die man kämpft, wird die Gewalttätigkeit in ihren zahlreichen Äußerungsformen zum Sinn des Seins.

Bommie Baumann stieg aus der deutschen Terroristenszene aus, als er erkannte, daß der Terrorismus selbst eine Flucht vor dem Bedürfnis nach Liebe ist (>Wie alles anfing<, 1975). Im Gegensatz zu seinen Gefährten kam er aus einer Arbeiterfamilie. Das hat vielleicht etwas damit zu tun, daß er nicht so abgespalten war von seinen Gefühlen wie seine Genossen aus dem Mittelstand. Jedoch unbewußt haben Baumann und seine Gefährten Abhängigkeit mit Liebe verwechselt. So müssen sie täglich durch ihr Gebaren diese verdeckte Abhängigkeit von ihren Eltern in Abrede stellen. 

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Ihr ungeduldiges »Ich will, sofort!« ermöglicht ihnen, ihre Abhängigkeit nicht zur Kenntnis nehmen zu müssen. Ihre Ideologie wird dazu mißbraucht, um die Ungeduld12) zu verkleiden, mit der sie sich an ihren Eltern rächen möchten. An Eltern, die ihren Söhnen und Töchtern alles gegeben haben, nur nicht die Liebe, die sie gebraucht hätten. Die Kinder wurden verwöhnt, um sie einem falschen elterlichen Selbstbewußtsein dienstbar zu machen. Ohne daß sie es wissen, drückt damit ihre rebellische Ungeduld eine Abhängigkeit aus, die von der uneingestandenen Voraussetzung ausgeht, die Welt schulde ihnen die Erfüllung eines steten, undifferenzierten, nicht artikulierbaren Verlangens. Sie können nicht erkennen, was sie alles mit jenen verbindet, gegen die sie sich so vehement auflehnen: eine geheime, gemeinsame Abhängigkeit. Auf diese Weise bleiben sie dem Diktat der Macht treu und gehorsam. (Natürlich spreche ich hier über das rebellische Wesen und nicht von dem Revolutionär, der seine Bindung an Autorität und den gleichzeitigen Wunsch, andere zu dominieren, überwunden hat.)

 

     Der Gehorsam ersetzt Autonomie und führt zur Entmenschlichung   

 

Daß der Gehorsam gegenüber Macht und Autorität zu einer allgemeinen Verneinung der eigenen menschlichen Gefühle führt, wird auch durch das berühmte Experiment veranschaulicht, das S. Milgram (1963) an der Yale-Universität durchgeführt hat. In diesem Forschungsprojekt mußten die Teilnehmer, Angehörige des Mittelstandes in New Haven, den Versuchspersonen schmerzhafte elektrische Stromstöße geben, einer von wissenschaftlichen Autoritäten aufgestellten Behauptung gehorchend, daß durch diese Schocks das Erlernen einer Serie von Übungen gefördert beziehungsweise verbessert würde.

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Außer einigen wenigen, die, als ihnen klar wurde, wie sadistisch der Vorgang war, einfach die Fortsetzung des Experiments verweigerten, machten alle anderen mit und gaben nach den Anweisungen des Versuchsleiters Stöße mit zunehmender Stärke. Der Forschungsleiter, von den meisten fraglos als wissenschaftliche Autorität akzeptiert, sagte: »Drück den Knopf, gib Strom, es ist zum Besten dieses Menschen« — und die Teilnehmer teilten die Schocks aus, selbst dann noch, als die Versuchsperson schrie, zappelte und scheinbar ohnmächtig wurde. Sie gaben ihr eigenes Mitgefühl einfach auf. Daß ein Mitgefühl da war, kann man den Tabellen und Beschreibungen des Experiments entnehmen. Die Mehrzahl nämlich entwickelte während des Experiments psychosomatische Symptome. Sie schwitzten, fingen an zu zittern, begannen zu stottern, bissen sich in die Lippen, bekamen Krämpfe. Aus den Protokollen wird ersichtlich, daß die Teilnehmer ihre eigenen Reaktionen auf das Leiden der Versuchsperson in keiner Weise in ihr eigenes Bewußtsein kommen ließen.

So weit also kann die allgegenwärtige Anpassung unser Menschsein unterdrücken. Wenn die eigenen mitmenschlichen Bedürfnisse sich dennoch manifestieren, etwa in der Form von psychosomatischen oder sogenannten neurotischen Störungen, so gewähren uns die Patienten in der Psychotherapie oder Psychoanalyse Einblick in den inneren Aspekt dieser Vorgänge.

Ein Patient, dem seine Empfindsamkeit gegenüber seinen eigenen und wirklichen Bedürfnissen zur Last wurde — weii sie sein Anpassungsvermögen störten —, drückte diesen Sachverhalt folgendermaßen aus: »Meine Empfindsamkeit bringt mir nichts ein ...., sie belästigt mich nur ..... Jener Mann (er sprach von einem Industriellen, den er in den Ferien getroffen hatte und den er bewunderte) spielt Tennis und baut sich sein Imperium auf. Was tut's, wenn er keine Gefühle hat? (!) Ich habe nicht den Eindruck, daß'der weiß, was Magenschmerzen sind. Ja, ich bewundere ihn, weil es sein Ziel im Leben ist, weder Empfindsamkeit zu besitzen noch darunter zu leiden ... Er und andere, die so sind wie er, müssen sich gar nicht um die Wirklichkeit kümmern.«

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Dieses Beispiel zeigt, daß manche Patienten in die Therapie kommen, um von ihrer Menschlichkeit befreit zu werden, weil sie sie als »Behinderung« empfinden, und nicht etwa, um diese Empfindungen zu bewahren. Die Analyse des Ödipus-Komplexes verschleiert oft die Kollaboration des Therapeuten mit diesem Ziel. Eine Analyse, die den Patienten nicht mit seiner Hilflosigkeit und dem daraus entstehenden Selbstverrat an der eigenen Autonomie konfrontiert, verdeckt den eigentlichen Ursprung des ödipalen Geschehens in der Unterdrückung der Frau und dem daraus entspringenden Versuch der Eltern, sich durch den Besitz ihrer Kinder Bedeutung und Macht zu schaffen (A. Gruen, 1969; R. Sampson, 1966). Es ist diese Mentalität des Besitzens und der Methode, sich mittels der Kinder gegeneinander auszuspielen, was ödipale Schuldgefühle erzeugt. Wenn dann der Patient durch die Psychoanalyse von ihnen befreit wird, ohne daß die tiefere Verletzung im Kinde, nämlich seine gestörten empathischen (autonomen) Grundlagen berührt werden, so wird eine Persönlichkeit entwickelt, der dann in ihrer Jagd nach Macht tatsächlich nichts mehr im Wege steht.

Es ist genau wie mit dem oben erwähnten Patienten, der uns den ganzen Sinn eines auf Macht aufgebauten Selbst beleuchtet. Er möchte die Macht haben, die es ihm ermöglichen würde, der Wirklichkeit der Gefühle und Bedürfnisse anderer wie der seiner eigenen zu entgehen. Das ist seine (und eine unausgesprochene gesellschaftliche) Idee von Freiheit: sich nicht um diese Wirklichkeit kümmern zu müssen. Er verbalisierte lediglich, was uns täglich mit oder ohne Worte suggeriert beziehungsweise vorgelebt wird. Dadurch wird unsere Empfindsamkeit verschüttet. Der wahre Sachverhalt ist der, daß man dem eigenen Leiden entkommen möchte. Denn man hat nicht die Kraft, das eigene Leid oder das der anderen wahrzunehmen.

Die Schlußfolgerung drängt sich auf, daß in unserer Gesellschaft die wirklich Schwachen nicht diejenigen sind, die leiden, sondern jene, die vor dem Leiden Angst haben. Die Menschen, die am erfolgreichsten angepaßt sind, sind die eigentlich Schwachen. Darum propagieren sie seit Jahrtausenden den Mythos, daß Empfindsamkeit Schwäche sei. Sie sind es, die allem Schmerz und Leiden durch Spaltung ihres Bewußtseins zu entkommen suchen. Sie sind die eigentlichen Träger einer verzerrten Realität, das heißt der Ideologie der Macht und des Herrschens.

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In >Stilwell und das Amerikanische Erlebnis in China< (1971) schildert die Historikerin Barbara Tuchman eine Begegnung Madame Tschiang Kaischeks mit Freunden. Für Madame Tschiang bestimmte die Realität der Macht das ganze Leben. Als ihre Freunde ihr die Integrität, den Idealismus und die Selbstaufopferung der chinesischen Revolutionäre um Mao Tsetung im Jenan der vierziger Jahre beschrieben, sprach sie einen Satz, den Tuchman als den traurigsten ihres Lebens bezeichnet: »Wenn das, was ihr mir erzählt, wahr ist, dann kann ich nur sagen, daß diese Menschen nie wirkliche Macht erlebt haben.« So kann sich, wenn auch nur für einen bewußten Moment, das Leiden einer Person, die ihre eigene Menschlichkeit der Macht wegen verraten mußte, ausdrücken. Sie verstand, daß Macht Ideale tötet.

Wie verzweifelt Menschen sein können, wenn sie, nach einem lebenslänglichen Versuch, gehorsam nach dieser Lüge der Macht zu leben, schließlich beginnen sich zu wehren, ersehen wir aus folgender Nachricht in der >New York Times< vom 7. Februar 1968: 

»Phoenix, Arizona, USA Februar 6 (AP). Linda ... tötete sich selbst, berichteten Polizisten heute, um ihren Hund Beauty nicht strafen zu müssen wegen der Nacht, die sie mit einem verheirateten Mann verbracht hatte. >Ich habe sie getötet. Ich habe sie getötet. Es ist genauso, als hätte ich selbst sie getötet<, so zitierte ein Kriminalbeamter ihren leidgebeugten Vater. >Ich gab ihr die Waffe. Ich habe niemals gedacht, daß sie so etwas tun würde ...< Linda kam nach einem Tanzvergnügen in Tempe am Freitagabend nicht nach Hause. Am Samstag gab sie zu, die Nacht mit einem Leutnant der Luftwaffe verbracht zu haben. Die Eltern beschlossen eine Strafe, die Linda eine Lehre sein sollte. Sie befahlen ihr, den Hund zu erschießen, der ihr seit zwei Jahren gehörte. Am Sonntag brachten sie Linda und den Hund in die Wüste in der Nähe ihres Hauses. Das Mädchen mußte ein Grab schaufeln. Dann hielt die Mutter den Hund fest, und der Vater gab seiner Tochter eine Pistole und befahl ihr, den Hund zu erschießen. Statt dessen setzte das Mädchen die Pistole an ihre rechte Schläfe und erschoß sich selbst.«

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Autonomie und Anpassung

 

In höchst paradoxer Weise drückt der Mangel an Selbstentwicklung beim Schizophrenen den Trieb zur Autonomie durch eine Art Untergrundbewegung aus. Wenn der Drang zur Autonomie jedoch abgebrochen wird, und sei es auch mit der Zustimmung des Opfers, so werden wir keine untergründige Autonomie mehr vorfinden, sondern den Versuch, Stärke ausschließlich durch die Identifizierung mit der unterdrückenden Autorität zu finden.(13)

Durch solch ein Anpassungsverhalten entsteht das Bild von der Normalität. Kein Ringen um Selbstverwirklichung kommt zustande. Und da die Identifikation zum Endergebnis der persönlichen Entwicklung wird — anstatt zur Brücke zur eigenen Individualität —, muß der Sozialisierungsprozeß tatsächlich auf Verdrängung und Sublimation basieren.

Wenn die Entstehung hinlänglicher Autonomie verhindert wird, so wird das Grundgefühl der Wut — durch die Dissoziation der entstehenden Hilflosigkeit gefördert und verdeckt — den Rahmen der angehenden Entwicklung bilden. Für solche Menschen gilt Sigmund Freuds Schilderung des Sozialisierungsvorgangs. Es sind die Menschen, die sich hassen, weil sie mit ihrer eigenen Hilflosigkeit nicht fertiggeworden sind. Als bedrohlich wurden nicht diejenigen erlebt, die Hilflosigkeit hervorriefen oder verstärkten, sondern die Hilflosigkeit selbst.

Daher die grenzenlose Wut. Ihre Hilflosigkeit erlebten sie als so bedrohlich, daß sie die Hilflosigkeit, um deretwillen sie sich verachtet fühlten, nicht nur verdrängten, sondern diese Verachtung ihrer faktischen Unterdrücker verinnerlichten. Auf diese Weise übten sie Verrat an ihrem Selbst. Verheimlichter Haß gegen sich selbst und alle anderen — die ausgenommen, deren Inhumanität sie stark erscheinen läßt — wird zum Leitmotiv ihres Lebens. Für solche Menschen ist Sozialisierung als repressiver Prozeß eine Notwendigkeit.

Einen Ausweg weisen uns die Versager, jene also, die wir als Schizophrene, Leistungsunfähige, widerspenstige Kinder und Jugendliche an den Rand drängen. Ihre Verzweiflung gilt der Lüge einer Liebe, mit der wir unsere eigene Selbstachtung zu erlangen suchen; eine Selbstachtung, die nicht dem Lebendigen in uns gilt, sondern der Bestätigung unserer Macht und Wichtigkeit. Es ist wie in Sophokles' Drama >Philoktet<, in dem der junge Neoptolemos dem stinkenden, eitrigen Versager Philoktet in ganzer Ehrlichkeit beisteht und dadurch Philoktets Rückkehr zur Menschheit bewirkt. 

Edmund Wilson hat dies in seiner Studie (1965) über <Philoktet> ausgeführt: Odysseus meint, daß er sich die übermenschliche Kraft des Invaliden Philoktet mit seinem Bogen zu eigen machen könnte, ohne ihn als Menschen anzuerkennen. Für Neoptolemos, der beauftragt ist, diese Manipulation auszuführen, ist solch ein Vorgehen wider die Natur. Weil er, schreibt Wilson, 

»genügend treuherzig, arglos und menschlich ist, den anderen einfach als Mensch zu betrachten, nicht als Ungeheuer noch als magischen Besitz, der nur gewünscht wird, um einen Zweck zu erreichen ..., löst er Philoktets Widerspenstigkeit auf, heilt ihn dadurch und setzt ihn frei.« 

(Übersetzt von A. Gruen)

Nur wenn wir den Hilfesuchenden nicht als ein Objekt des Besitzes gebrauchen, um etwas für unsere eigene »Selbstachtung« zu gewinnen; nur wenn wir dem anderen als einem anderen Menschen entgegenkommen, nicht um uns mächtig zu fühlen, sondern weil sein Leid unsere Sympathie auslöst oder wir seinen Mut bewundern; nur dann, wenn wir riskieren, unsere gemeinsame Menschlichkeit anzuerkennen, werden wir Autonomie auch im Schizophrenen oder im schreienden Kind freisetzen.

Darüber hinaus können wir in dem Maße, in dem wir uns über diese Zusammenhänge im klaren sind, dem Druck, ständig an unseren eigenen Gefühlen zu zweifeln und uns unserer Menschlichkeit zu schämen, entschlossen entgegentreten. Das ist der eigentliche Sinn des Bewußtwerdens. 

Es geht darum, den Kampf um unsere eigene Realität angesichts des allgemeinen Drucks, uns einer verzerrten und reduzierten »Wirklichkeit« zu fügen, durch­zustehen.

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