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Die berühmten Renegaten: 

Alfred Adler, Wilhelm 

Reich und Otto Rank

 

 

157-196

Freuds epochemachenden Entdeckungen auf dem Gebiet der Tiefenpsychologie zogen eine kleine Gruppe brillanter Forscher und Denker an, die Mitglieder seines engeren Wiener Kreises wurden. Aufgrund der Neuartigkeit und der Komplexität der auftauchenden Probleme sowie der intellektuellen Eigenständigkeit mancher der besten Schüler Freuds war die psychoanalytische Bewegung von den ersten Anfängen an mit Kontroversen und Meinungsverschiedenheiten belastet. Im Laufe der Jahre beschlossen mehrere der prominenten Anhänger Freuds, die Bewegung zu verlassen bzw. wurden dazu gezwungen, und gründeten ihre eigenen Schulen. 

Wie man mit Interesse feststellen kann, sind viele Elemente der in diesem Buch vertretenen Grundauffassung in den Ansichten dieser berühmten Renegaten enthalten. Sie wurden aber als einander ausschließende Alter­nativen präsentiert und nicht in die Hauptrichtung der Psychoanalyse oder die akademische Psychologie integriert.

Bei der nun folgenden Darstellung der theoretischen und praktischen Abweichungen von der Psychoanalyse möchte ich mich nicht an den tatsächlichen historischen Ablauf der Ereignisse halten, sondern jede Richtung mit besonderem Blick auf die Bewußtseinsebenen, auf die sie sich konzentriert, besprechen.

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Alfred Adlers Individualpsychologie (1) blieb wie die Freudsche Psychoanalyse auf die biographische Ebene beschränkt, setzte aber unterschiedliche Schwerpunkte. Im Gegensatz zu Freuds Determinismus war Adlers Ansatz deutlich teleologisch und finalistisch geprägt. Freud erforschte die historischen und kausalen Aspekte der Pathogenese von Neurosen und anderer psychischer Phänomene, Adler interessierte sich für ihren Zweck und ihr endgültiges Ziel. Nach seiner Auffassung ist das Leitprinzip jeder Neurose das imaginäre Ziel, ein »vollkommener Mensch« zu werden. Die sexuellen Triebe und die Neigungen zu verschiedenen sexuellen Perversionen, die von Freud so in den Vordergrund gerückt wurden, sind nur sekundäre Ausdrucksformen dieses Leitprinzips. Das Überwiegen von sexuellen Themen im Phantasieleben des Neurotikers ist nur ein Jargon, ein »modus dicendi«, der das Streben nach diesem männlichen Ziel symbolisiert. Dieses Streben nach Überlegenheit, Vollständigkeit und Perfektion spiegelt ein inniges Bedürfnis wider, tiefe Minderwertigkeits- und Unzulänglichkeitsgefühle zu kompensieren.

Adlers Individualpsychologie hob unter den zur Neurose beitragenden Faktoren besonders stark die »konstitutionelle Minderwertigkeit« einiger Organe oder Organsysteme hervor, die morphologisch oder funktional sein kann. Das Streben nach Überlegenheit und Erfolg ist vollkommen subjektiv geprägt. Es basiert auf der Selbsteinschätzung und Selbstachtung, und die Methoden, die zum Ziel führen sollen, hängen von den allgemeinen Lebensbedingungen ab, insbesondere von der biologischen Ausstattung und der Umwelt im frühen Kindesalter. Adlers Konzept der Minderwertigkeit ist breiter gefaßt, als es auf Anhieb erscheinen mag. Es bezieht u.a. Unsicherheit und Angst mit ein. Entsprechend ist das Streben nach Überlegenheit letztlich ein Verlangen nach Perfektion und Vollkommenheit und impliziert auch eine Suche nach dem Sinn im eigenen Leben. Die tieferen und verborgenen Hintergründe hinter diesem Minderwertigkeitsgefühl sind die Erinnerung an die Hilflosigkeit im Kindesalter und als letztes die Ohnmacht angesichts der Unabwendbarkeit des Todes. Der Minderwertigkeitskomplex kann über den Mechanismus der Überkompensation zu großen Leistungen führen und im Extremfall ein Genie schaffen* Adlers Lieblingsbeispiel war ein stotternder Junge mit einem Tic, Demosthenes, der später zum größten Redner aller Zeiten wurde. In weniger glücklichen Fällen kann dieser Mechanismus eine Neurose erzeugen.

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Im Gegensatz zu Freuds Bild vom fragmentarischen und von seiner Vergangenheit getriebenen Menschen versteht Adler diesen als ein organisches und zweckgerichtetes System mit dem Ziel der Selbstverwirklichung und des sozialen Überlebens. Das Individuum und sein Überleben sind das Ergebnis dynamisch miteinander verwobener somatischer, psychischer und sozialer Prozesse. Sein Bedürfnis nach Einordnung in das soziale Milieu und gleichzeitig nach Abgrenzung führen zu einem Muster aktiver Anpassung. Das aufwachsende Kind wählt aus seiner komplexen Vergangenheit einen beständigen und kohärenten Lebensstil aus. Nach Adlers Auffassung stehen bewußte und unbewußte Prozesse nicht miteinander im Konflikt, sondern repräsentieren zwei Aspekte eines einheitlichen Systems, die dem gleichen Zweck dienen. Ereignisse, die nicht hineinpassen, werden als unwichtig betrachtet und vergessen. Wir sind uns der Gedanken und Gefühle, die unserer Selbsteinschätzung schmerzlich widersprechen, nicht bewußt. Das Problem besteht nicht darin, daß Menschen Schachfiguren im Spiel historisch bedingter unbewußter Kräfte sind, sondern daß sie gar nicht die Ziele und Werte kennen, die sie selber geschaffen oder akzeptiert haben. 

Adler hebt als ein besonders wichtiges Kriterium für psychische Gesundheit soziale Gefühle hervor. Ein gesunder Lebensstil ist auf das Streben nach Kompetenz und sozialem Erfolg gerichtet sowie darauf, dies mit dem Nutzen für die Allgemeinheit in Einklang zu bringen. Die Vorstellung von einer normalen Entwicklung beinhaltet einen individuellen, konsequenten, aktiven und kreativen Lebensstil, das Streben nach einem selbstgesteckten Ziel, angeborene soziale Interessen und die Fähigkeit zum Zusammenleben mit anderen. 

Eine neurotische Disposition wird in der Kindheit durch Überbehütung, Vernachlässigung oder eine Kombination aus beidem geschaffen. Dies bewirkt ein negatives Selbstkonzept, ein Gefühl der Hilflosigkeit und eine Vorstellung von der sozialen Umwelt, in der diese im Prinzip unfreundlich, feindselig, strafend, deprivierend, fordernd oder frustrierend erscheint. Als Folge davon entwickelt das unsichere Individuum in seinem Privatleben ein manipulatives, egozentrisches und unkooperatives Wesen. Es hat keinen Gemeinsinn und integriert sich nicht in gesellschaftliche Interessen. Adler hat sehr ausführlich verschiedene Formen und Äußerungen einer »privaten Logik« — die Logik der Neurotiker, Psychotiker, Süchtigen und Kriminellen — besprochen. Generell war er immer stärker an der Beobachtung und Beschreibung eines einzelnen Menschen als an diagnostischen Kategorisierungen und klinischen Klassifikationen interessiert. Nach seiner Auffassung kann der Neurotiker Probleme nicht bewältigen und keine Freude am Zusammenleben mit anderen haben, weil er aufgrund seiner Kindheitserlebnisse eine komplexe private Landkarte entwickelt hat, die ihm in erster Linie Richtungen und Wege weist, wie er sich selber schützen kann. Diese Landkarte ist in sich geschlossen und sehr resistent gegenüber Veränderungen, da sie das einzige Anpassungsmuster repräsentiert, das der betreffende Mensch sich aneignen konnte. Er fürchtet neue korrigierende Erfahrungen und betrachtet weiterhin eine Reihe verschiedener höchst idiosynkratischer und fehlerhafter Annahmen über die anderen Menschen und die Welt im allgemeinen als einzig gültig.

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Leidet der Neurotiker noch immer an einem Gefühl des realen oder zumindest eingebildeten Versagens, so akzeptiert der Psychotiker die soziale Realität nicht als das letztlich gültige Kriterium und flüchtet sich in eine private Phantasiewelt, die seine Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung wegen seines Versagens in der realen Welt kompensieren soll.

In seiner therapeutischen Praxis hob Adler besonders die aktive Rolle des Therapeuten hervor. Er macht dem Patienten die Gesellschaft verständlich, analysiert seinen Lebensstil und seine Ziele, schlägt spezifische Abänderungen vor, ermutigt, flößt Hoffnung ein, stellt das Selbstvertrauen des Patienten wieder her und hilft ihm, seine Stärken und Fähigkeiten zu verwirklichen. Adler betrachtete das Verständnis des Therapeuten für den Aufbau der Persönlichkeit des Patienten als wesentlich, die Einsichten des Patienten in seine Beweggründe, Absichten und Ziele schienen ihm als Voraussetzung für therapeutische Veränderungen nicht notwendig zu sein. Nach Adlers Auffassung war das Freudsche Konzept der Übertragung unrichtig und irreführend, ein unnötiges Hindernis für den therapeutischen Fortschritt. Er betonte lediglich, daß der Therapeut Wärme, Vertrauenswürdigkeit, Zuverlässigkeit und Interesse am Wohlergehen des Patienten in der Hier-und-Jetzt-Situation ausstrahlen solle. 

 

Die Beobachtungen aus der LSD-Forschung und den Selbsterfahrungstherapien lassen den theoretischen Konflikt zwischen Freud und Adler in einem neuen Licht erscheinen. Allgemein betrachtet beruht diese Kontroverse auf dem Irrtum, daß die Komplexität der Psyche auf ein paar einfache Grundprinzipien reduziert werden kann. Dieser Eckpfeiler der mechanistischen Wissenschaft wird jetzt sogar in der Physik, in Theorien über die materielle Realität, aufgegeben, wie das Beispiel der »bootstrap«-Naturphilosophie von Geoffrey Chew (28) lehrt. Die menschliche Psyche ist so komplex, daß viele verschiedene Theorien aufgestellt werden können, die alle logisch und in sich schlüssig sind und bestimmten wichtigen Beobachtungen gerecht werden, dennoch aber unvereinbar oder sogar gegensätzlich erscheinen. Genauer gesagt ist die Auseinandersetzung zwischen der Psychoanalyse und der Individualpsychologie darauf zurückzuführen, daß das gesamte Bewußtseinsspektrum mit seinen verschiedenen Ebenen nicht erkannt wird. In diesem Sinne sind beide Systeme unvollständig und oberflächlich, da sie sich ausschließlich auf die biographische Ebene beschränken und den perinatalen sowie transpersonalen Bereich nicht einbeziehen. Zwar tauchen in beiden Systemen Projektionen verschiedener Elemente aus diesen vernachlässigten Bereichen der Psyche auf, aber in verzerrter oder verwässerter Form. 

Die Hervorhebung des Sexualtriebs bei Freud und die Betonung des Machtwillens und des männlichen Protestes bei Adler scheinen so lange unvereinbar zu sein, als sich die Kenntnisse der Psyche auf die biographische Ebene beschränken und nicht die Dynamik der perinatalen Matrizen einbeziehen. 

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Wie ich schon früher im einzelnen beschrieben habe, sind heftige sexuelle Erregung (mit oralen, analen, urethralen und genitalen Komponenten) sowie Gefühle der Hilflosigkeit, die sich mit aggressiver Selbstbehauptung abwechseln, wesentliche und untrennbare Aspekte der dritten perinatalen Grundmatrix. Obwohl im Rahmen des Tod- und Wiedergeburtprozesses vorübergehend der sexuelle Aspekt oder der Machtaspekt dominieren können, sind beide auf das engste miteinander verknüpft. Eine an späterer Stelle (S. 215 f) referierte Untersuchung über das sexuelle Profil von Männern, die eine Machtstellung besitzen, kann hier als wichtiges Beispiel angeführt werden.

Die tieferen Wurzeln sexualpathologischer Phänomene finden sich in der dritten perinatalen Grundmatrix, in der starke libidinöse Erregung mit Todesangst, Schmerzen, Aggressionen und Berührung mit Körperausscheidungen der Mutter verknüpft sind. Die Ursachen von Unzulänglichkeits- und Minderwertigkeitsgefühlen sowie einer niedrigen Selbstachtung lassen sich also noch über biographische Bedingungen in der frühen Kindheit hinaus zurückverfolgen, nämlich zu der Hilflosigkeit des Kindes in der lebensbedrohlichen und überwältigenden Geburtssituation. Freud und Adler konzentrierten sich also auf jeweils eine von zwei Kategorien psychischer Kräfte, die auf einer tieferen Ebene zwei Seiten ein und desselben Prozesses darstellen.

Die Konfrontation mit dem Tod, das zentrale Thema des perinatalen Prozesses, hat das Denken beider Forscher nachhaltig beeinflußt. Freud postulierte in seinen letzten theoretischen Schriften die Existenz eines Todestriebs, dem er maßgebliche Bedeutung zuschrieb. Seine biologische Orientierung hinderte ihn daran, die Möglichkeit einer psychischen Transzendierung des Todes zu sehen, und ließ ihn ein düsteres und pessimistisches Bild von der menschlichen Existenz entwerfen. Adlers Leben und Werk wurden ebenfalls sehr stark vom Problem des Todes bestimmt. Für Adler war die Unfähigkeit, den Tod zu verhindern und zu beherrschen, eine der tiefsten Ursachen für Unzulänglichkeitsgefühle. In diesem Zusammenhang ist es interessant, daß Adler als maßgeblichen Grund für seine Entscheidung, Arzt zu werden - also einen Beruf zu ergreifen, in dem man den Tod zu bekämpfen versucht -, ein eigenes Nah-Tod-Erlebnis im Alter von fünf Jahren ansah. Wahrscheinlich hat dies auch seine Spuren in Adlers theoretischen Spekulationen hinterlassen.

Nach Beobachtungen im Rahmen intensiver Selbsterfahrungstherapien zu schließen, besitzt das entschlossene Streben nach äußerlichen Zielen und Erfolgen nur geringen Wert für die Bewältigung von Minderwertigkeitsgefühlen und einer niedrigen Selbstachtung, wie das tatsächliche Ergebnis dieser Bemühungen auch aussehen mag. Unzulänglichkeitsgefühle können nicht gelöst werden, indem man sie mit allen Kräften überkompensiert, sondern indem man sich ihnen im Erleben stellt und sich ihnen ergibt. Sie lösen sich dann im Prozeß von Ich-Tod und Wiedergeburt auf. Danach entsteht ein neues Selbstbild auf der Grundlage des Bewußtseins der Einheit mit dem Kosmos. Der wahre Mut liegt in der Bereitschaft, diesen erschütternden Prozeß der Selbstkonfrontation durchzumachen, nicht im heroischen Kampf um das Erreichen äußerlicher Ziele. 

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Gelingt es dem einzelnen Menschen nicht, seine wahre Identität in seinem Innern zu finden, dann werden alle Bemühungen, durch Manipulierung der Außenwelt und durch äußerliche Errungenschaften dem eigenen Leben einen Sinn zu geben, scheitern und in den Irrfahrten eines Don Quichote enden.

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Ein anderer bedeutender Renegat der psychoanalytischen Schule war der österreichische Psychiater und politische Aktivist Wilhelm Reich. Er behielt zwar Freuds Hauptthese von der maßgeblichen Rolle sexueller Faktoren in der Ätiologie der Neurose bei, modifizierte sie aber erheblich durch die Betonung einer »Sexualökonomie«, des Gleichgewichts zwischen Energieaufladung und -entladung bzw. zwischen sexueller Erregung und Entspannung. Nach Auffassung Reichs ist es die Unterdrückung der sexuellen Gefühle zusammen mit der sie begleitenden charakterlichen Einstellung, die die wahre Neurose ausmacht. Die klinischen Symptome sind nur ihre äußerlichen Erscheinungsformen. Die ursprünglichen Traumen und sexuellen Gefühle werden durch komplexe Muster chronischer Muskelspannungen, den sogenannten »Charakterpanzer«, in Verdrängung gehalten. Der Begriff »panzern« bezieht sich darauf, daß sich der einzelne Mensch gegen schmerzliche und bedrohliche Erfahrungen von außen und innen schützt. Reich sah im repressiven Einfluß der Gesellschaft den entscheidenden Faktor, der zum unvollständigen sexuellen Orgasmus und zum Energiestau beiträgt. Ein neurotischer Mensch erhält das Gleichgewicht, indem er seine überschüssige Energie durch Muskelspannungen bindet und auf diese Weise die sexuelle Erregung einschränkt. Ein gesunder Mensch besitzt eine solche Einschränkung nicht. Seine Energie ist nicht im Muskelpanzer gebunden und kann frei fließen.

Reichs Beiträge zur Therapie haben große Bedeutung und dauerhaften Wert (166). Seine Unzufriedenheit mit den Methoden der Psychoanalyse ließ ihn ein System entwickeln, das er Charakteranalyse und später charakteranalytische Vegetotherapie nannte. Sie stellte eine radikale Abkehr von der klassischen Freudschen Technik dar, da sie sich auf die Neurosenbehandlung aus biophysikalischer Sicht konzentrierte und physiologische Elemente enthielt. Reich arbeitete, mit Hyperventilation, verschiedenen körperlichen Manipulierungen und direktem physischen Kontakt, um die festgefahrenen Energien zu mobilisieren und die Blockierungen zu beseitigen. Der Patient sollte die Fähigkeit entwickeln, sich voll und ganz den spontanen und unwillkürlichen Körperbewegungen, die normalerweise mit dem Atmungsprozeß verknüpft sind, hinzugeben. War dies erreicht, so produzierte das Auf und Ab des Atems eine wellenförmige Bewegung des Körpers, die Reich den Orgasmusreflex nannte. Er glaubte, daß die Patienten, die in der Therapie diesen Reflex erreichten, fähig waren, sich in einer sexuellen Situation voll hinzugeben und einen Zustand vollkommener Befriedigung zu erreichen. Durch den vollständigen Orgasmus entladen sich alle überschüssigen Energien des Organismus und der Patient bleibt symptomfrei.

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Je weiter Reich seine Theorien entwickelte und seine Gedanken in die Tat umzusetzen versuchte, desto mehr verstrickte er sich in Kontroversen. Da er den repressiven Einfluß der Gesellschaft als einen der Hauptfaktoren in emotionalen Störungen erkannte, verband er seine Neuerungen in der psychotherapeutischen Praxis mit radikalen politischen Aktivitäten als Mitglied der Kommunistischen Partei. Dies führte aber schließlich zum Bruch sowohl mit den psychoanalytischen Kreisen als auch mit der kommunistischen Bewegung. Nach der Auseinandersetzung zwischen Reich und Freud wurde Reichs Name aus der Liste der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung gestrichen. Die Veröffentlichung seiner heftigen Kritik an der Massenpsychologie des Faschismus führte zu seinem Ausschluß aus der Kommunistischen Partei. 

In späteren Jahren war Reich immer mehr von der Existenz einer kosmischen Urenergie überzeugt, aus der durch einen komplizierten Differenzierungsprozeß drei große Existenzbereiche hervorgehen: die mechanische Energie, die anorganische Masse und die lebende Materie (171). Diese Energie, die Reich das Orgon nannte, läßt sich visuell, thermisch, elektroskopisch und mit Hilfe von Geiger-Mülier-Zählern nachweisen. Sie unterscheidet sich von der elektromagnetischen Energie, und eine ihrer Haupteigenschaften ist die Pulsation. Nach Reichs Auffassung sind die Dynamik des Orgons und die Beziehungen zwischen »massenfreier Orgonenergie« und »Orgonenergie, die zu Materie geworden ist« wesentlich für jedes echte Verständnis des Universums, der Natur und der menschlichen Psyche. Das Strömen des Orgons und seine dynamischen Überlagerungen sind für die verschiedenartigsten Phänomene verantwortlich, etwa für die Schaffung subatomarer Teilchen, für den Ursprung von Lebensformen, für Reifungsprozesse, für die Fortbewegung, für die sexuelle Aktivität und die Fortpflanzungsprozesse, für psychische Phänomene, für Wirbelstürme, für die aurora borealis und für die Bildung von Galaxien.

Reich entwarf spezielle Orgonakkumulatoren, Boxen, die seiner Überzeugung nach gesammeltes und konzentriertes Orgon enthielten und für therapeutische Zwecke genutzt werden konnten. Die Orgontherapie beruht auf der Annahme, daß Soma und Psyche bioenergetisch im pulsierenden Lustsystem (im Blut und im vegetativen Nervensystem) wurzeln, und eben auf diese gemeinsame Quelle psychischer und körperlicher Funktionen soll sie einwirken. Die Orgontherapie ist deshalb weder ein psychologisches noch ein physiologisch-chemisches, sondern eher ein biologisches Verfahren, das Störungen der Pulsation im autonomen System beseitigen soll. 

Wilhelm Reich, der zu Beginn seiner Arbeit mit völlig neuartigen therapeutischen Methoden experimentiert hatte, verlor sich zunehmend in immer entfernteren Bereichen, in der Physik, der Biologie, der zellulären Biopathie, der Abiogenese, der Meteorologie, der Astronomie und in philosophischen Spekulationen. Seine stürmische wissenschaftliche Karriere nahm ein sehr tragisches Ende. Seine Orgongeneratoren wurden vom F. D. A. denunziert, und da er sie weiterhin verwendete und sich für ihre Verwendung einsetzte, bekam er ernsthafte Schwierigkeiten mit der amerikanischen Regierung. Nach einer Reihe von drohenden Ankündigungen wurde er zweimal zu Gefängnis verurteilt und starb schließlich auch dort an einem Herzanfall. 

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Aus der Sicht der in diesem Buch dargestellten Konzepte liegt Reichs Hauptbeitrag offenkundig in der Entdeckung bioenergetischer Prozesse und der psychosomatischen Zusammenhänge bei der Entstehung emotionaler Störungen sowie bei ihrer Therapie. Reich war sich der enormen Energien hinter den neurotischen Symptomen und der Nutzlosigkeit rein verbaler Methoden ihrer Behandlung voll bewußt. Sein Begriff der Panzerung sowie die Entdeckung der Rolle der Muskulatur in den Neurosen stellen ebenfalls Beiträge von bleibendem Wert dar. 

Die Beobachtungen im Rahmen der LSD-Therapie bestätigen die Grundanschauungen Reichs über Stockungen des Energieflusses und über die Bedeutung des Muskel- sowie des vegetativen Nervensystems bei Neurosen. Sobald Patienten im Erleben mit ihren psychischen Problemen konfrontiert werden, stellen sich in der Regel heftiger Tremor, Schütteln, Zucken, Verkrümmungen des Körpers, länger andauernde extreme Körperhaltungen, Grimassen, Lautäußerungen und gelegentlich sogar Erbrechen ein. Es wird deutlich, daß psychische Aspekte — etwa Elemente aus den Bereichen der Wahrnehmung, der Gefühle und des Denkens — und dramatische physiologische Erscheinungen zwei Seiten ein und desselben Prozesses sind. Der grundlegende Unterschied zwischen den in diesem Buch dargelegten Auffassungen und der Reichschen Theorie liegt in der Interpretation dieses Prozesses.

Wie Wilhelm Reich besonders hervorhob, staut sich allmählich sexuelle Energie im Organismus an, weil gesellschaftliche Einflüsse einen vollständigen sexuellen Orgasmus behindern (168). Als Folge der wiederholten unvollständigen Energieentladung setzt sich die Libido im Organismus fest und äußert sich schließlich in abweichender Form in verschiedenen psychopathologischen Phänomenen, angefangen von der Psychoneurose bis zum Sadomasochismus. Eine effektive Therapie muß deshalb die aufgestauten libidinösen Energien freisetzen, den »Körperpanzer« auflösen und den totalen Orgasmus ermöglichen. Die Beobachtungen aus der LSD-Therapie weisen aber eindeutig darauf hin, daß dieses. Energiereservoir nicht als das Ergebnis chronischen sexuellen Triebstaus aufgrund unvollständiger Orgasmen aufzufassen ist. Ein Großteil dieser Energie ist offenbar auf gewaltige Kräfte aus der perinatalen Ebene des Unbewußten zurückzuführen. Die während der Therapie freigesetzten Energien können am besten als verspätete Entladungen der übermäßigen nervösen Erregung verstanden werden, die durch den Streß, die Schmerzen, die Angst und die Atemnot während des biologischen Geburtsvorgangs hervorgerufen worden ist. Die letzten Hintergründe eines Großteils des Charakterpanzers sind offenbar introjizierte dynamische Konflikte zwischen der nervösen Überreizung durch den Geburtsvorgang und der unerbittlichen »Zwangsjacke« des Geburtskanals, die ein entsprechendes Reagieren und die Energieentladung nach außen verhindert. 

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Die Auflösung des Panzers fällt in weitem Umfang mit dem Abschluß des Tod- und Wiedergeburtprozesses zusammen. Einige Elemente dieses Panzers dürften aber noch tiefere Wurzeln im transpersonalen Bereich haben. 

Die Ursache dafür, daß perinatale Energie fälschlicherweise für angestaute Libido gehalten werden kann, liegt darin, daß die dritte perinatale Grundmatrix eine bedeutende sexuelle Komponente hat und außerdem eine Ähnlichkeit zwischen der Geburt und dem sexuellen Orgasmus besteht. Die aktivierte perinatale Energie strebt nach äußerlicher Entladung, und dafür bieten sich besonders die Genitalien an. Damit ist aber offenbar die Grundlage für einen Teufelskreis geschaffen: Aggressionen, Angst und Schuldgefühle im Zusammenhang mit der dritten perinatalen Matrix beeinträchtigen die uneingeschränkte Orgasmusfähigkeit, umgekehrt blockiert das Fehlen oder die Unvollständigkeit sexueller Orgasmen ein bedeutendes Sicherheitsventil für die Abfuhr perinataler Energien. Die Situation scheint demnach genau dem Gegenteil von dem zu entsprechen, was Reich postulierte. Nicht die den vollständigen Orgasmus störenden gesellschaftlichen und psychologischen Faktoren führen zur Anhäufung und Stauung sexueller Energien, sondern die tief festgesetzten perinatalen Energien stören einen geglückten Orgasmus und schaffen auf diese Weise psychologische und zwischenmenschliche Probleme. Um diese Situation zu korrigieren, müssen diese mächtigen Energien in einem nicht-sexuellen, therapeutischen Rahmen abgeführt und auf ein Niveau reduziert werden, das der Patient und seine Partnerin bequem in einem sexuellen Rahmen bewältigen können. Viele der von Reich diskutierten Phänomene — angefangen vom Sadomasochismus bis zur Massenpsychologie des Faschismus — lassen sich adäquater vom perinatalen Geschehen als vom unvollständigen Orgasmus und dem Stau sexueller Energien her begreifen.

Reichs Spekulationen, mögen sie noch so unkonventionell und gelegentlich maßlos sein, lassen sich häufig in ihrer Essenz mit modernen wissenschaftlichen Entwicklungen vereinbaren. Seine Auffassung von der Natur kam dem Weltbild der Quantenphysik und der Relativitätstheorie recht nahe, betonte doch auch er die grundlegende Einheit aller Dinge, konzentrierte er sich auf Prozesse und Bewegungen statt auf Substanzen und feste Strukturen, und erkannte er die aktive Rolle des Beobachters (170). Reichs Gedanken über den gemeinsamen Ursprung von anorganischer Materie, Leben, Bewußtsein und Erkenntnis erinnern manchmal an die philosophischen Spekulationen von David Böhm (18). Seine Argumente gegen die universelle Gültigkeit des Entropieprinzips und des zweiten thermodynamischen Gesetzes ähneln in ihren Grundzügen den Schlußfolgerungen, die Prigogine und seine Mitarbeiter (161) aus ihren sorgfältigen und systematischen Untersuchungen zogen.

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Auf dem Gebiet der Psychologie stand Reich sowohl in theoretischer als auch in praktischer Hinsicht unmittelbar vor der Entdeckung der perinatalen Ebene des Unbewußten. Seine Arbeiten über die muskuläre Panzerung, seine Erörterungen der Gefahren bei einer plötzlichen Entfernung dieser Panzerung und seine Theorie vom totalen Orgasmus weisen deutlich wichtige Elemente der perinatalen Dynamik auf. Er versperrte sich aber ihren entscheidenden Elementen, nämlich der psychologischen Bedeutung der Geburts- und Todeserlebnisse. Dies wird offenkundig in seiner leidenschaftlich verfochtenen These von der primären Rolle der Genitalität und seiner Ablehnung des Rankschen Geburtstraumakonzepts, der Freudschen Spekulationen über den Tod und der Abrahamschen Annahmen über ein psychisches Bestrafungs­bedürfnis. 

 

Reich bewegte sich auch in vielerlei Hinsicht am Rande der Erkenntnis des transpersonalen Bereichs. Mit seinen Spekulationen über das Orgon kommt er nahe an die Erkenntnis des kosmischen Bewußtseins heran. Die wahre Religion war für ihn das ungepanzerte ozeanische Verschmelzen mit dem Fluß der universellen Orgonenergie. Im scharfen Gegensatz zur philosophia perennis hatte Reich aber recht konkrete Vorstellungen von dieser kosmischen Energie. Das Orgon war meßbar und besaß spezifische physikalische Eigenschaften. Reich gelangte nie zu einem echten Verständnis und einer angemessenen Würdigung der großen spirituellen Philosophien der Welt. In seinen ungestümen Ausfällen gegen die Spiritualität neigte er dazu, die Mystik mit bestimmten oberflächlichen und verzerrten Versionen verschiedener Lehren großer Religionen gleichzusetzen. So argumentierte er in seiner Polemik (170) gegen einen wörtlich zu nehmenden Glauben an Teufel mit Schwänzen und Forken, an Engel mit Flügeln, an formlose blaugraue Geister, an gefährliche Ungeheuer, an einen Himmel und an eine Hölle. Er tat solche Vorstellungen als Projektionen unnatürlicher, verzerrter Organempfindungen und letztlich als Fehlwahrnehmungen des universellen Flusses der Orgonenergie ab. In ähnlicher Weise wehrte er sich heftig gegen Jungs Interesse an der Mystik und seine Tendenz, die Psychologie zu spiritualisieren.

Für Reich spiegelten sich in mystischen Neigungen die Panzerung und schwere Störungen der Orgonökonomie wider. Das mystische Streben konnte dann auf fehlinterpretierte biologische Triebe zurückgeführt werden. »Die Todes- und Sterbensangst (ist) identisch mit unbewußter Orgasmusangst und der vermeintliche Todestrieb, die Sehnsucht nach Auflösung, dem Nichts, unbewußte Sehnsucht nach orgastischer Spannungslösung ...« (168, S. 119). Seiner Auffassung nach repräsentierte Gott die natürlichen Lebenskräfte, die Bioenergie im Menschen, und kam nirgends so klar zum Ausdruck wie im sexuellen Orgasmus. Der Teufel stand für die Panzerung, die zu Perversionen und Verzerrungen dieser Lebenskraft führte (170). Im direkten Gegensatz zu Beobachtungen aus der psychedelischen Forschung behauptete Reich, daß mystische Erlebnisse verschwinden würden, wenn der Panzer in der Therapie erfolgreich aufgelöst wird. Orgastische Potenz ließe sich seiner Meinung nach bei Mystikern ebensowenig feststellen wie Mystizismus bei orgastisch potenten Menschen (168). 

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Die psychologische Theorie und Psychotherapie von Otto Rank weichen erheblich von der klassischen Freudschen Psychoanalyse ab. Allgemein betrachtet sind Ranks Konzepte humanistisch und voluntaristisch, wohingegen Freuds Ansatz reduktionistisch, mechanistisch und deterministisch ist. Genauer gesagt vertrat Rank vor allem in drei Punkten eine andere Meinung: für ihn kam dem Geburtstrauma und nicht der sexuellen Dynamik wesentliche Bedeutung zu, er sprach dem Ödipuskomplex die von Freud zugeschriebene entscheidende Rolle in der psychischen Entwicklung ab, und er faßte das Ich als einen autonomen Repräsentanten des Willens und nicht als einen Sklaven des Es auf. Rank nahm auch Modifikationen der psychoanalytischen Technik vor, die so radikal waren wie seine theoretischen Beiträge. Wie er meinte, sind verbale psychotherapeutische Methoden nur von begrenztem Wert. Der Schwerpunkt sollte auf dem Erleben liegen. Es sei wesentlich, daß der Patient in der Therapie das Geburtstrauma wiedererlebe, andernfalls wäre die Behandlung nicht als vollständig anzusehen.6 

Was die Rolle des Geburtstraumas in der Psychologie angeht, so war Freud eigentlich der erste gewesen, der öffentlich die Möglichkeit in Betracht zog, daß dieses der Prototyp und die Quelle aller zukünftigen Ängste im Leben sein könnte. Er ging auf diesen Punkt in mehreren seiner Schriften ein, weigerte sich aber, die extremen Ansichten Ranks zu akzeptieren. Auch gab es einen wichtigen Unterschied zwischen der Freudschen und der Rankschen Auffassung des Geburtstraumas. Freud hielt die extremen physiologischen Belastungen während der Geburt für die Ursache der Angst, Rank hingegen führte die Angst auf die Trennung vom Mutterleib zurück, in dem eine paradiesische Situation mit einer nicht an Bedingungen gebundenen und mühelosen Befriedigung geherrscht hatte. Rank betrachtete das Geburtstrauma als letzte Ursache dafür, daß die Trennung die schmerzlichste und schrecklichste aller menschlichen Erfahrungen ist. Nach seiner Auffassung sind alle späteren Frustrationen der Partialtriebe Abkömmlinge dieses Urtraumas. Die meisten Erlebnisse, die vom Individuum als Trauma empfunden werden, beziehen ihre pathogene Wirkung aus ihrer Ähnlichkeit mit der biologischen Geburt. Die gesamte Phase der Kindheit kann als eine Serie von Versuchen angesehen werden, dieses fundamentale Trauma abzureagieren und psychisch zu meistern. Die infantile Sexualität kann neu interpretiert werden als der Wunsch des Kindes, in den Mutterleib zurückzukehren, als die Angst, die damit verknüpft ist, und als seine Neugier im Hinblick auf seine Herkunft. 

Rank hörte aber nicht an diesem Punkt auf. Er glaubte vielmehr, daß das gesamte psychische Leben des Menschen seinen Urgrund in der Angst und der durch das Geburtstrauma bewirkten Urverdrängung habe. Der zentrale menschliche Konflikt ist der zwischen dem Wunsch, in den Mutterleib zurückzukehren, und der Angst vor diesem Wunsch. Als Folge davon ruft jeder Übergang von einer angenehmen in eine unangenehme Situation Angstgefühle hervor. 

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Rank entwarf auch eine Alternative zur Freudschen Traumdeutung. Der Schlaf ist ein Zustand, der Ähnlichkeit mit der intrauterinen Existenz besitzt, und Träume lassen sich als Versuche auffassen, das Geburtstrauma wiederzuerleben und in den Zustand vor der Geburt zurückzukehren. Noch mehr als der Schlaf selber repräsentieren sie eine psychische Rückkehr in den Mutterleib. Die Traumanalyse stützt am meisten die These von der psychologischen Bedeutung des Geburtstraumas. Entsprechend wird auch der Eckpfeiler der Freudschen Theorie, der Ödipuskomplex, neu interpretiert, nämlich mit der Betonung des Geburtstraumas und des Wunsches nach Rückkehr in den Mutterleib. Das zentrale Thema des Ödipusmythos ist das Mysterium des Ursprungs des Menschen, das Ödipus dadurch zu lösen versucht, daß er in den Mutterleib zurückkehrt. Dies geschieht nicht nur faktisch in Form der Heirat und der sexuellen Vereinigung mit seiner Mutter, sondern auch symbolisch durch seine Erblindung und durch sein Verschwinden in der Felsspalte, die in die Unterwelt führt.

In der Rankschen Psychologie spielt das Geburtstrauma auch in der Sexualität eine entscheidende Rolle. In ihr drückt sich der tiefe, die menschliche Psyche bestimmende Wunsch nach der Rückkehr in die intrauterine Existenz aus. Ein Großteil der Unterschiede zwischen den Geschlechtern läßt sich von der Tatsache ableiten, daß Frauen mit ihrem Körper den Fortpflanzungsprozeß reproduzieren können und ihre Unsterblichkeit in der Zeugung finden. Für Männer hingegen ist die Sexualität mit Sterblichkeit verknüpft. Ihre Stärke liegt in der nichtsexuellen Kreativität.

Bei der Analyse der menschlichen Kultur stellte Rank fest, daß das Geburtstrauma eine mächtige psychische Kraft hinter der Religion, der Kunst und der Geschichte darstellt. Jede Religionsform neigt letztlich zur Wiederherstellung der geborgenen Ursituation der symbiotischen Einheit im Mutterleib. Die Kunst hat ihre tiefste Wurzel in der »autoplastischen Imitation« des eigenen Wachstums und des Ursprungs im Mutterleib. Die Kunst, die die Realität repräsentiert, sie aber gleichzeitig auch leugnet, ist ein besonders wirksames Mittel zur Bewältigung des Urtraumas der Geburt. In der Geschichte der menschlichen Behausungen, angefangen von den primitiven Unterkünften bis zu den hochentwickelten architektonischen Strukturen, spiegeln sich instinktive Erinnerungen an den warmen und schützenden Mutterleib wider. Der Gebrauch von Werkzeugen und Waffen beruht letztlich auf der »unersättlichen Neigung, die totale Vereinigung mit der Mutter zu erzwingen«.

Die LSD-Psychotherapie und andere Formen intensiver Selbsterfahrung haben Ranks allgemeine These über die maßgebliche psychologische Bedeutung des Geburtstraumas bestätigt. Der Ranksche Ansatz muß aber erheblich modifiziert werden, um ihn mit faktischen klinischen Beobachtungen besser vereinbaren zu können. Ranks Theorie konzentriert sich auf die Trennung von der Mutter und den Verlust des Mutterleibes und hebt diese als die beiden wesentlichen traumatischen Aspekte der Geburt hervor. Für Rank bestand das Trauma in dem Umstand, daß die Situation nach der Geburt in der Regel weit weniger angenehm ist als die Situation vor der Geburt. Im Gegensatz zur intrauterinen Existenz muß das Kind unregelmäßige Nahrungszufuhr, Abwesenheit der Mutter, Temperaturschwankungen und Lärm hinnehmen. Es muß atmen, die Nahrung verschlucken und die Abfallprodukte beseitigen.

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Abb. 22. Das blasphemische Element des Hexensabbath: Kinder spielen mit häßlichen Kröten in Pfützen mit Weihwasser, füttern sie mit Hostien und kleiden sie in Kardinalsroben.

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Abb. 27. Vision aus einer von der Anfangsphase der zweiten perinatalen Grundmatrix bestimmten psychedelischen Sitzung, den Beginn der biologischen Geburt widerspiegelnd. Die Verschlingende Muttergöttin in Gestalt einer gigantischen Tarantel setzt Fötusse teuflischen Folterqualen aus.

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Abb. 25. Opfer für eine zornige Gottheit: Vision aus einer perinatalen LSD-Sitzung, die den »Moloch« darstellt, eine gigantische, destruktive Gottheit, die im Feuer erscheint und die Opferung Neugeborener verlangt. Solche Opfer für den Moloch wurden angeblich in Karthago und im alten Israel praktiziert. Während dieser furchteinflößenden Rituale warfen Mütter ihre Neugeborenen in das Feuer, das in der Metallstatue der Gottheit brannte. Die Verbindung von Neugeborenen-Status, Feuer, Opfertod und Erscheinen des Göttlichen ist charakteristisch für den Übergang von der dritten zur vierten perinatalen Grundmatrix.

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Abb. 30. 
Perinatales Disneyland. Ein Bild aus einer hochdosierten LSD-Sitzung. Die seltsame Verbindung von Erregung, Angst, Entfesselung wilder instinktiver Kräfte, reicher farbiger Feuerwerke und der Hervorhebung von grotesken, nicht furchterregenden Bildern des Todes ist charakteristisch für die Endphase der dritten perinatalen Grandmatrix. Diese Verbindung wird femer bestätigt durch die Christusgestalt und das Motiv des Ausspeiens.

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In der LSD-Therapie erscheint die Situation weitaus komplizierter. Die Geburt ist nicht traumatisch, nur weil das Kind aus der paradiesischen Existenz im Mutterleib gerissen und in eine unfreundliche Außenwelt gestoßen wird. Der Weg durch den Geburtskanal an sich zieht enorme emotionale und physische Belastungen und Schmerzen nach sich. Dieser Umstand war in Freuds ursprünglichen Spekulationen über die Geburt hervorgehoben, von Rank aber fast vollständig vernachlässigt worden. In einem gewissen Sinn gilt Ranks Konzeption für einen Menschen, der durch einen nicht notwendigen Kaiserschnitt statt durch eine normale Entbindung auf die Welt gekommen ist.

Die meisten psychopathologischen Phänomene haben aber ihre Wurzeln in der Dynamik der zweiten und der dritten perinatalen Grundmatrix, die Erfahrungen widerspiegeln, die in den Stunden zwischen dem ungestörten intrauterinen Zustand und der postnatalen Existenz in der Außenwelt liegen. Wenn das Individuum sein Geburtstrauma wiedererlebt und integriert, kann es sich — je nach dem Stand der Entwicklung des perinatalen Geschehens — nach der Rückkehr in den Mutterleib oder im Gegenteil nach dem Ende der Geburt und dem Auftauchen aus dem Geburtskanal sehnen. Die Tendenz, die aufgestauten Gefühle und Energien, die durch den Kampf während der Geburt entstanden sind, abzureagieren und zu entladen, ist die treibende Kraft hinter einem breiten Spektrum menschlicher Verhaltensweisen. Dies gilt besonders für die Aggression und den Sadomasochismus, die Rank besonders wenig überzeugend interpretierte. Außerdem läßt Rank wie Freud, Adler und Reich ein echtes Verständnis der transpersonalen Bereiche vermissen. Trotz dieser Mängel war Ranks Entdeckung der psychologischen Bedeutung des Geburtstraumas eine wahrlich bemerkenswerte Leistung, die den Untersuchungsergebnissen der LSD-Forschung um mehrere Jahrzehnte vorausging.

In diesem Zusammenhang ist es interessant, daß mehrere andere psychoanalytische Forscher die Bedeutung verschiedener Aspekte des Geburtstraumas erkannten. Nandor Fodor hat in seiner Pionierarbeit The Searchfor the Beloved (43) mit sehr großer Ausführlichkeit die Beziehungen zwischen verschiedenen Elementen des Geburtsvorgangs und vielen psychopathologischen Symptomen in einer Weise beschrieben, die mit den LSD-Beobachtungen weitgehend übereinstimmt. Lietaert Peerbolte veröffentlichte ein umfassendes Buch mit dem Titel Prenatal Dynamics (117), in dem er detailliert seine außerordentlichen Erkenntnisse über die psychologische Relevanz der pränatalen Existenz und des Geburtserlebnisses darlegt. Dieses Thema wird auch in einer Reihe origineller und phantasievoller, allerdings mehr spekulativer und weniger auf klinischen Grundlagen stehender Bücher von Francis Mott (137, 138) abgehandelt.

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Die Liste der berühmten psychoanalytischen Renegaten wäre unvollständig ohne den Namen Carl Gustav Jungs, der einer von Freuds Lieblingsschülern und der designierte »Kronprinz« der Psychoanalyse war. Jungs Revisionen waren bei weitem die radikalsten, und seine Beiträge hatten wahrlich revolutionären Charakter. Man kann ohne Übertreibung sagen, daß sich die Psychiatrie mit Jungs Arbeiten so weit über Freud hinaus entwickelt hat wie Freuds Arbeiten seiner eigenen Zeit voraus waren.

Jungs Analytische Psychologie ist nicht lediglich eine Variante oder eine Modifikation der Psychoanalyse. Sie verkörpert eine vollkommen neue Auffassung von der Tiefenpsychologie und der Psychotherapie. Jung war sich dessen wohl bewußt, daß sich seine Untersuchungsergebnisse nicht mit dem kartesianisch-Newtonschen Denken vereinbaren ließen und daß sie eine drastische Abänderung der grundlegendsten philosophischen Annahmen der westlichen Wissenschaft erforderlich machten. Er zeigte tiefes Interesse an den revolutionären Entwicklungen der Quantenphysik und der Relativitätstheorie und stand auch im fruchtbaren Austausch mit einigen ihrer Begründern.

Im Gegensatz zu den übrigen psychoanalytischen Theoretikern zeigte Jung auch ein echtes Verständnis der mystischen Traditionen und großen Respekt vor den spirituellen Dimensionen der Psyche und der menschlichen Existenz. Seine Ideen stehen den in diesem Buch dargelegten theoretischen Überlegungen weitaus näher als jede andere Richtung der westlichen Psychotherapie. Jung war - ohne sich so zu nennen - der erste transpersonale Psychologe. Seine Beiträge werden deshalb im Zusammenhang mit den transpersonalen Ansätzen in der Psychotherapie besprochen.

 

Es erscheint logisch, dieses Kapitel mit der Erwähnung eines anderen prominenten Pioniers und Mitglieds des engeren Wiener Kreises um Freud abzuschließen. Es handelt sich um Sandor Ferenczi. Zwar wird er gewöhnlich nicht unter den Renegaten der Psychoanalyse aufgeführt, doch ging er mit seinen Spekulationen weit über die traditionelle Analyse hinaus. Seine Unterstützung Otto Ranks wies ebenfalls unzweifelhaft darauf hin, daß er alles andere als ein konformer und gelehriger Schüler Freuds war. In seine theoretischen Überlegungen zog er ernsthaft nicht nur peri- und pränatale Ereignisse, sondern auch Elemente der phylogenetischen Entwicklung ein. Da er zudem einer der wenigen Schüler Freuds war, die dessen Todestriebkonzept sofort akzeptierten, integrierte er in sein System auch eine metaphysische Analyse des Todes. In seinem bemerkenswerten Essay Thalassa (41) beschrieb er die gesamte sexuelle Entwicklung als einen Versuch, in den Mutterleib zurückzukehren. Nach seiner Auffassung nehmen die am Geschlechtsverkehr beteiligten Organismen an der Befriedigung der Keimzellen teil. Die Männer haben das Privileg, in den mütterlichen Organismus direkt und in einem realen Sinn einzudringen, die Frauen hingegen müssen sich mit Ersatzphantasien begnügen oder identifizieren sich in ihrer Schwangerschaft mit ihren Kindern.

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Dies ist die Essenz des »Thalassa-Regressionstrends«, des Strebens nach Rückkehr in die ursprüngliche Form des Lebens im Wasser, die vor Urzeiten aufgegeben wurde. Die amniotische Flüssigkeit repräsentiert letztlich das Wasser des Ozeans, das in den Mutterleib introjiziert wird. Nach dieser Auffassung haben die Säugetiere, die Landbewohner sind, ein tiefes organismisches Bestreben, die Entscheidung rückgäng zu machen, die ozeanische Existenzform zu verlassen und eine neue Existenzform zu wählen. Das wäre die Lösung, die bereits vor Jahrmillionen von den Vorfahren unserer heutigen Wale und Delphine vorweggenommen wurde. Das letzte Ziel alles Lebens könnte aber die Erreichung eines Zustands sein, der sich durch das Fehlen von Reizbarkeit und schließlich durch die Trägheit der anorganischen Welt kennzeichnet. Es ist möglich, daß Tod und Sterben nichts Absolutes sind und daß Lebenskeime und regressive Bestrebungen sogar in anorganischer Materie verborgen liegen. Man könnte daher die gesamte organische und anorganische Welt als ein System ununterbrochener Schwankungen zwischen dem Willen zu leben und dem Willen zu sterben auffassen, in dem die absolute Vorherrschaft von Leben oder Tod nie erreicht wird. Ferenczi kam damit in die Nähe der Anschauungen der philosophia perennis und der Mystik, auch wenn seine Aussagen in der Sprache der Naturwissenschaften formuliert waren.

Ein historischer Überblick über die theoretischen Meinungsverschiedenheiten in den Anfangszeiten der psychoanalytischen Bewegung ist aus der Sicht der in diesem Buch dargelegten Gedanken von großem Interesse. Es wird nämlich deutlich, daß viele Konzepte, die auf den ersten Blick erstaunlich neu wirken und keinen Vorgänger in der westlichen Psychologie zu haben scheinen, in der einen oder anderen Form bereits von den frühen Pionieren der Psychoanalyse ernsthaft erwogen und leidenschaftlich diskutiert wurden. Der Hauptbeitrag dieses Buches besteht somit in einer Neubewertung dieser verschiedenen Ansätze im Licht der Ergebnisse der modernen Bewußtseinsforschung und in ihrer Integration sowie Synthese im Geist der Spektrumpsychologie.

 

Existentialistische und humanistische Psychotherapien

 

Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts herrschten in der amerikanischen Psychiatrie und Psychologie zwei theoretische Richtungen vor, die Psychoanalyse und der Behaviorismus. Immer mehr prominente Kliniker, Forscher und Denker waren aber mit der mechanistischen Orientierung dieser beiden Schulen unzufrieden. Dieser Trend kam in der existentialistischen Psychotherapie von Rollo May (131) und in der Entwicklung der humanistischen Psychologie zum Ausdruck.

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Da beide die Freiheit und die Bedeutung des Individuums betonen, gibt es zwischen ihnen viele Gemeinsamkeiten. Diese Bewegungen sind auch für unsere Diskussion sehr interessant, da sie eine Brücke zwischen der dominierenden akademischen Psychotherapie und den in diesem Buch dargelegten Ansichten schlagen.

 

Die existentialistische Psychotherapie hat ihre historischen Wurzeln in der Philosophie von Sören Kierkegaard und in der Phänomenologie von Edmund Husserl. Sie hebt die Einzigartigkeit des einzelnen Menschen hervor und betont, daß kein wissenschaftliches oder philosophisches System sein Wesen hinreichend begreiflich machen kann. Er besitzt eine Handlungsfreiheit, durch die die Zukunft nicht vorhersagbar wird, die aber auch eine Quelle der Angst ist. 

Ein zentrales Thema in der Existentialphilosophie ist die Unvermeidlichkeit des Todes, die wohl am deutlichsten in Martin Heideggers Sein und Zeit (76) artikuliert wird. Nach seiner Beschreibung sind die Menschen in eine unfreundliche Welt geworfen, in der sie verzweifelt nach Zielen streben, die durch den Tod unbarmherzig zunichte gemacht werden. Unter Umständen versuchen sie den Gedanken an dieses endgültige Geschick durch eine oberflächliche und konventionelle Lebensweise zu vermeiden, doch dadurch erhält ihr Dasein einen inauthentischen Charakter. Die einzige Möglichkeit, sich selbst gegenüber wahrhaftig zu sein, ist das ständige Bewußtsein des eigenen unvermeidlichen Todes.

Es ist in diesem Rahmen unmöglich, einen Überblick über die umfangreichen, komplexen und oft widersprüchlichen Schriften von existentialistischen Philosophen und Psychotherapeuten zu geben. Zweifellos aber ist diese Orientierung eng mit perinatalen Geschehnissen verknüpft. Menschen, die unter dem Einfluß der zweiten perinatalen Grundmatrix stehen, erleben in der Regel eine tiefgehende Konfrontation mit dem Tod, der Sterblichkeit und der begrenzten Dauer der materiellen Existenz. Damit einher geht eine tiefe existentielle Krise, ein Gefühl der Sinnlosigkeit und Absurdität des Lebens sowie das verzweifelte Bestreben, ihm einen Sinn zu geben. Von dieser Warte her gesehen erscheint das bisherige eigene Leben inauthentisch, als eine »Tretmühle« oder eine »rattenähnliche« Existenz, und von vergeblichen Bemühungen geplagt, die letzte Unausweichlichkeit des Todes zu leugnen. Die existentialistische Philosophie bietet somit eine eindrucksvolle und treffende Beschreibung eines Aspekts der perinatalen Bewußtseinsebene.7 Der Hauptfehler des existentialistischen Ansatzes besteht aber darin, daß er seine Beobachtungen verallgemeinert und sie als universell gültige Erkenntnisse über das Wesen des Menschen präsentiert. Aus der Sicht intensiver Selbsterfahrung ist der existentialistische Ansatz auf die perinatale Bewußtseinsebene beschränkt und verliert seine Bedeutung mit dem Erlebnis des Ich-Tods und der Transzendenz. 

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Besondere Erwähnung verdient in diesem Zusammenhang die Existenzanalyse oder Logotherapie von Viktor E. Frankl (47), die die Bedeutung des Sinns im Leben hervorhebt. Frankl erkennt nicht speziell die perinatale Dynamik und die enge Verknüpfung von Tod und Geburt, die damit einhergeht, doch ist die Entwicklung seines Therapiesystems interessanterweise von dramatischen Erlebnissen in einem Konzentrationslager beeinflußt worden (48). Das extreme Leid von Insassen eines Konzentrationslagers ist ein charakteristisches perinatales Motiv, ebenso wie die Suche nach dem Sinn des Lebens. Die Lösung dieses Problems, wie sie sich im Rahmen des Tod- und Wiedergeburtsprozesses einstellt, ist aber von der von Frankl vorgeschlagenen Lösung recht verschieden. Sie besteht nicht in der intellektuellen Errichtung eines sinnvollen Lebensziels, sondern im Erleben eines philosophischen und spirituellen In-der-Welt-Seins, das den Prozeß des Lebens als solchen schätzt.

Es ist letztlich unmöglich, das Leben zu rechtfertigen und ihm mit Hilfe der intellektuellen Analyse und der Logik einen Sinn zu verleihen. Man muß einen Zustand erreichen, in dem man emotional und biologisch erkennt, daß das Leben als solches einen Wert besitzt, und in dem man von der Tatsache der Existenz an sich fasziniert ist. Die quälende philosophische Auseinandersetzung mit dem Problem der Sinnhaftigkeit des Lebens sollte nicht als ein legitimes philosophisches Ansinnen, sondern als ein Symptom betrachtet werden, aus dem hervorgeht, daß der dynamische Fluß des Lebens behindert und blockiert ist. Die einzig effektive Lösung dieses Problems besteht nicht in der intellektuellen Konstruktion von Lebenszielen, sondern in einem tiefen inneren Bewußtseinswandel, der die Lebensenergien wieder zum Fließen bringt. Jemand, der aktiv am Leben teilnimmt und Lebensfreude empfindet, wird nie fragen, ob das Leben irgendeinen Sinn hat. Er wird die Existenz als etwas Kostbares und Wunderbares sehen und den Wert in ihr selber finden.

 

Die Unzufriedenheit mit der mechanistischen und reduktionistischen Orientierung der amerikanischen Psychologie und Psychotherapie fand ihren stärksten Ausdruck in der Entwicklung der humanistischen und später der transpersonalen Psychologie. Die herausragende Figur und der artikulierteste Sprecher dieser Opposition war Abraham Maslow (126-128). Seine eindringliche Kritik an der Psychoanalyse und am Behaviorismus wurden zu einer treibenden Kraft für diese Bewegung und zu einem Kristallisationspunkt für neue Ideen. Maslow verwarf Freuds finsteres und pessimistisches Menschenbild, wonach jeder hoffnungsloser Sklave seiner Grundtriebe ist. Nach Freudscher Auffassung werden Phänomene wie Liebe, Schönheitssinn und Gerechtigkeitsempfinden entweder als Sublimie-rung niedriger Instinkte oder als Reaktionsbildung gegen sie interpretiert. Alle höheren Verhaltensformen sind vom Menschen erworben oder ihm aufgezwungen worden und bilden nicht einen natürlichen Bestandteil seines Wesens. Maslow wendet sich auch dagegen, daß sich Freud ausschließlich auf das Studium neurotischer und psychotischer Menschen konzentrierte. 

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Er wies darauf hin, daß die Einengung des Blickwinkels auf das Schlechteste am Menschen anstatt auf das Beste notgedrungen eine verzerrte Vorstellung vom menschlichen Wesen ergeben muß. Dieser Ansatz läßt die Sehnsüchte des Menschen, seine erfüllbaren Hoffnungen und gottähnlichen Eigenschaften außer Betracht. 

Maslows Kritik am Behaviorismus war ebenso scharf und bestimmt. Seiner Meinung nach war es ein Irrtum, den Menschen lediglich als komplexes tierisches Wesen zu betrachten, das blind auf Umweltreize reagiert. Die Tierexperimente, auf die sich der Behaviorismus so stützt, erscheinen ihm höchst problematisch und nur von begrenztem Wert. Solche Untersuchungen können zu Informationen über die Merkmale führen, die der Mench mit anderen tierischen Spezies gemeinsam hat, sie sind aber wertlos, wenn es um spezifisch menschliche Eigenschaften geht. Die ausschließliche Betrachtung tierischen Verhaltens bewirkt zwangsläufig eine Vernachlässigung solcher Aspekte und Elemente, die einzig für den Menschen typisch sind, etwa das Gewissen, die Schuldgefühle, der Idealismus, die Spiritualität, der Patriotismus, die Kunst oder die Wissenschaft. Der im Behaviorismus verkörperte mechanistische Ansatz läßt sich bestenfalls als Strategie für bestimmte Forschungsvorhaben verwenden, ist aber zu eng und zu begrenzt, um sich als allgemeine oder umfassende Philosophie zu qualifizieren. 

Während sich der Behaviorismus nahezu ausschließlich auf äußere Einflüsse und die Psychoanalyse auf introspektive Daten konzentrierte, trat Maslow dafür ein, daß in der Psychologie objektive Beobachtung und Introspektion kombiniert werden sollten. Er hob die Verwendung menschlicher Daten als Grundlage für die humanistische Psychologie hervor. Sein spezieller Beitrag war die Erforschung psychisch gesunder und sich selbst verwirklichender Personen, der »wachsenden Spitze« der Bevölkerung. In einer umfassenden Untersuchung an Personen, die spontane mystische Zustände (»Gipfelerlebnisse«) gehabt hatten, demonstrierte Maslow (126), daß solche Erfahrungen als über dem Normalen stehend statt als pathologische Phänomene zu werten seien, und daß sie mit einer Tendenz zur Selbstverwirklichung einhergingen. Andere wichtige Beiträge Maslows waren seine Konzepte der »Metaweite« und »Metamotivationen«. Im scharfen Gegensatz zu Freud glaubte Maslow (128), daß dem Menschen eine Hierarchie von höheren Werten und Bedürfnissen und entsprechende Tendenzen zu ihrer Befriedigung angeboren sind.

Maslows Gedanken wirkten maßgeblich an der Entwicklung der humanistischen Psychologie oder der »dritten Kraft«, wie er sie nannte, mit. Diese neue Bewegung betonte die zentrale Stellung des Menschen in der psychologischen Forschung und unterstrich menschliche Ziele als Kriterien für die Bewertung der Forschungsergebnisse. Sie hob die persönliche Freiheit des einzelnen Menschen und seine Fähigkeit hervor, das eigene Leben vorherzubestimmen und zu steuern. Dies stand im direkten Gegensatz zum Behaviorismus, in dem es darum geht, das Verhalten anderer vorherzusagen und zu kontrollieren. Der humanistische Ansatz ist ganzheitlich. Er betrachtet den einzelnen Menschen als einen einheitlichen Organismus statt lediglich als Summe einzelner Teile.

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Die humanistischen Psychotherapien basieren auf der Annahme, daß die Menschen zu intellektuell und zu technologisiert geworden sind und sich von ihren eigenen Empfindungen und Gefühlen immer mehr entfernen. Die therapeutischen Ansätze der humanistischen Psychologie verstehen sich deshalb als korrigierende, unmittelbar auf das Erleben einwirkende Verfahren, um die resultierende Entfremdung und Entmenschlichung zu beseitigen. Sie betonen den Wert von Selbsterfahrung sowie nichtverbaler und den Körper einbeziehender Methoden. Ihr Ziel ist das Wachstum der Person oder die Selbstverwirklichung, nicht die Anpassung. Die humanistische Psychologie bedingte die Entwicklung zahlreicher neuer Therapien sowie die Wiederentdeckung einiger alter Techniken, um verschiedene Einschränkungen und Mängel der traditionellen Psychotherapie auszugleichen.

Die humanistischen Ansätze sind ein großer Schritt zu einem ganzheitlichen Verständnis des menschlichen Wesens und stehen im Gegensatz zu der einseitigen Betonung des Körpers oder der Psyche, die für die dominierenden psychologischen und psychiatrischen Richtungen typisch ist. Ein anderer bedeutsamer Aspekt der humanistischen Psychotherapie ist die Verlagerung des Schwerpunkts von einer intrapsychischen und intraorganismischen Orientierung auf zwischenmenschliche Beziehungen, familiäre Beziehungen, soziale Netze, sowie sozio-kulturelle Einflüsse, wobei zudem noch ökonomische, ökologische und politische Faktoren berücksichtigt werden. Das Spektrum der humanistischen Therapie ist so breit und so reichhaltig, daß ich in diesem Rahmen nur die wichtigsten Techniken nennen und kurz beschreiben kann.

Die Erkenntnis der Bedeutung des Physischen, die für die humanistische Bewegung so charakteristisch ist, geht auf Wilhelm Reich zurück, der als erster in der Analyse der Charakterneurosen den Körper einbezog. Der wichtigste unter den neo-reichianischen Ansätzen ist die Bioenergetik (124), ein therapeutisches System, das von Alexander Lowen und John Pierrakos (118) entwickelt wurde. Dabei versucht man, mit Hilfe der energetischen Prozesse im Körper und der Körpersprache die Psyche zu beeinflussen. Der bioenergetische Ansatz kombiniert Psychotherapie mit den verschiedensten Atem-, Haltungs- und Bewegungsübungen sowie direkter manueller Intervention.

Lowens therapeutische Ziele sind breiter gefaßt als die von Wilhelm Reich, der einzig darauf hinarbeitete, seinen Patienten zu sexueller Erfüllung zu verhelfen. Das Hauptgewicht ruht auf der Integration des Ich mit dem Körper und seinem Streben nach Lust. Dazu gehören nicht nur die Sexualität, sondern auch andere Grundfunktionen, die Atmung, die Bewegungen, die Gefühle und die Selbstarti-kulierung. Durch die Bioenergetik kann man den Zugang zu seiner »ersten Natur« wiederfinden, einem Zustand, in dem man frei ist von strukturierten psychischen und physischen Einstellungen. Im Gegensatz dazu steht die »zweite Natur«, psychische Haltungen und muskuläre Panzerungen, die dem einzelnen Menschen aufgezwungen worden sind und ihn am Leben und Lieben hindern.

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Ein anderer neo-reichianischer Ansatz ist das sogenannte Radix Intensive, das von Reichs Schüler Charles Kelley und seiner Frau Erika entwickelt wurde. In dieser Therapieform wird die Intimität der Einzelarbeit mit der Energie und Dynamik der Gruppe kombiniert. Die Kelleys arbeiten mit einem Spektrum von Techniken, zu denen einige der ursprünglichen Reichschen Methoden, die Bioenergetik, »sensory awareness«-Übungen und andere körperorientierte Verfahren gehören. Das Hauptanliegen ist die Auflösung des Muskelpanzers, durch die Gefühle und Empfindungen der Angst, der Wut, der Scham, des Schmerzes oder der Trauer, die seit der Kindheit zurückgehalten worden sind, freigelegt werden. Mit dem Akzeptieren und Durcharbeiten dieser negativen Gefühle und Empfindungen entdeckt der Klient ein neues Potential an Lust, Vertrauen und Liebe.

Während die neo-reichianischen Ansätze immer auch Psychotherapie beinhalten, gibt es einige andere wichtige Techniken der humanistischen Bewegung, die ausschließlich mit dem Körper arbeiten. Dies gilt vor allen Dingen für Ida Rolfs Strukturale Integration, die Übungen von Feldenkrais und die psychophysische Integration und Mentastik von Milton Trager. Die Methode der Strukturalen Integration oder das Rolfing (175), wie man sie allgemein nennt, wurde von Ida Rolf mit dem Ziel entwickelt, die Körperstruktur zu verbessern, insbesondere im Hinblick auf die Anpassung an die Schwerkraft. Nach Rolfs Auffassung sollten die Menschen als Zweibeiner ihr Gewicht um eine zentrale vertikale Achse verteilt halten. Den meisten Leuten mangelt es aber an einer solchen idealen Gewichtsverteilung, die das optimale Funktionieren des Skelettmuskelsystems und des gesamten Organismus garantiert. Die Folgen davon sind Steifheit und eine Verkürzung der Faszien, aus denen wiederum eine eingeschränkte Beweglichkeit, Verengung der Blutgefäße, chronische Muskelverspannungen, Schmerzen und bestimmte körperlich bedingte psychische Störungen resultieren. Das Rolfing zielt darauf ab, diesen Zustand zu beseitigen, die richtige fasziale Struktur wiederherzustellen, die Körperabschnitte richtig übereinanderzulagern und normale Körperbewegungen zu ermöglichen. In einer standardisierten Serie von Sitzungen macht der Rolfer zu diesem Zweck von hochwirksamen physischen Methoden Gebrauch.

Moshe Feldenkrais (39) kreierte ein Programm zur systematischen Korrektur und Umerziehung des Nerven­systems mit Hilfe von Bewegungsabfolgen, durch die Muskeln in höchst ungewöhnlicher Kombination beansprucht werden. Diese Feldenkrais-Übungen sind dazu bestimmt, die Möglichkeiten des neuromuskulären Systems über seine normalen Grenzen hinaus zu erweitern. Sie bauen Spannungen ab, erhöhen die Flexibilität und Reichweite von Bewegungen, verbessern die Haltung und die Krümmung der Wirbelsäule, entwickeln ideale Formen motorischer Handlungen, fördern die Koordination der Beuge- und Streckmuskeln, vertiefen die Atmung und machen körperliche Aktivitäten stärker bewußt. 

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Die Feinheit der Feldenkrais-Übungen steht in starkem Gegensatz zum Rolfing, in dem starker Druck und Massage eingesetzt werden, was sehr schmerzlich sein kann, wenn die betroffene Körperzone blockiert ist. Milton Tragers psychophysische Integration (198) ist eine weitere elegante und effektive Körpertechnik aus der humanistischen Bewegung. Mit Hilfe einer systematischen Abfolge von passiven Roll-, Schüttel- und Schwingungsbewegungen erreicht der Klient einen Zustand tiefer physischer und psychischer Entspannung.

Das Spektrum der humanistisch-psychologischen Körpertechniken wäre unvollständig ohne die Erwähnung der verschiedenen Formen von Massagen, die zunehmend Verbreitung finden, angefangen von den Techniken, die die sinnliche Empfindsamkeit steigern sollen, bis zu massiven Eingriffen in die körperenergetischen Verhältnisse wie im Fall der Polaritätsmassage. 

Zwei der neuen, auf Selbsterfahrung abzielenden Therapien verdienen aufgrund ihrer engen Beziehung zu den Ausführungen in diesem Buch besondere Beachtung. Die erste ist die von Fritz Perls entwickelte Gestalttherapie (145, 146), die rasch zu einem der populärsten Ansätze auf diesem Gebiet geworden ist. Perls wurde in seiner Entwicklung von Sigmund Freud, Wilhelm Reich, dem Existentialismus und insbesondere der Gestaltpsychologie beeinflußt. Die Grundannahme der deutschen gestaltpsychologischen Schule lautet, daß Menschen die Dinge nicht beziehungslos und isoliert wahrnehmen, sondern schon im Prozeß der Wahrnehmung selber diese in sinnvolle Ganze ordnen. Die Gestalttherapie ist ganzheitlich orientiert. Sie verkörpert eine Technik der persönlichen Integration, die auf dem Gedanken basiert, daß die gesamte Natur eine einheitliche und zusammenhängende Gestalt bildet. Innerhalb dieses Ganzen stellen die organischen und anorganischen Elemente kontinuierliche und ständig wechselnde Muster von koordinierter Aktivität dar.

Der Schwerpunkt in der Gestalttherapie ruht nicht auf der Interpretation von Problemen, sondern auf dem Wiedererleben von Konflikten und Traumen im Hier-und-Jetzt, wobei die gesamten körperlichen und emotionalen Vorgänge bewußt gemacht und die unvollständigen Gestalten aus der Vergangenheit geschlossen werden. Der Klient bzw. die Klientin werden ermuntert, diesen Prozeß selber voll in die Hand zu nehmen und sich von der Abhängigkeit von Eltern, Lehrer, vom Ehegatten oder vom Therapeuten zu befreien. Die Gestalttherapie konzentriert sich in der Regel auf den einzelnen Menschen im Rahmen einer Gruppe. Der Atmung und der vollen Bewußtheit der eigenen körperlichen und emotionalen Prozesse wird grundlegende Bedeutung beigemessen. Der Therapeut achtet besonders darauf, wie der Klient seine Erfahrung unterbricht. Er macht ihm diese Unterbrechungstendenzen bewußt und sorgt dafür, daß die sich entfaltenden psychischen und physiologischen Prozesse voll erlebt werden und ungehinderten Ausdruck finden.

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Die zweite Selbsterfahrungstechnik, die uns im Rahmen dieses Buchs besonders interessiert, ist die von Arthur Janov entwickelte Primärtherapie (81-83). Sie ist ursprünglich durch gelegentliche Beobachtungen inspiriert worden, daß Patienten, die einen unartikulierten lauten Schrei auszustoßen wagten, dramatische Erleichterung verspürten und grundlegende Einstellungen änderten. Nach der Theorie, die Janov anhand der Beobachtung willkürlich herbeigeführter »Urschreie«, wie er sie nannte, entwickelte, ist die Neurose ein symbolisches Verhalten, das eine Abwehr gegen überstarke psychisch-biologische Schmerzen in Verbindung mit Kindheitstraumen darstellt! 

Die Schmerzen stehen in Beziehung zu früheren Kindheitserlebnissen, die nicht verarbeitet worden sind. Die begleitenden Gefühle und Empfindungen haben sich im Körper in Form von Spannungen oder Abwehrmechanismen erhalten. Neben mehreren Schichten solcher »Urschmerzen«, die aus verschiedenen Kindheitsabschnitten stammen, erkennt Janov auch die Bedeutung von Schmerzen an, die in der Erinnerung an die traumatische Geburt wurzeln. Die Urschmerzen werden nicht zum Bewußtsein zugelassen, weil ihr Bewußtwerden unerträgliches Leiden bedeuten würde. Sie beeinträchtigen aber die Authentizität des Lebensgefühls und hindern den einzelnen Menschen daran, eine — wie Janov es nennt — »reale Person« zu sein.

Die Therapie konzentriert sich auf die Auflösung der Abwehrmechanismen und das Durcharbeiten der Urschmerzen, indem man sie in voller Intensität und in Verbindung mit den Erinnerungen an die Ereignisse, die sie hervorriefen, wiedererlebt. Der Patient wird vom Therapeuten besonders dazu angehalten, einen »Urschrei« auszustoßen, einen unwillkürlichen, tiefen und röchelnden Laut, der seine Reaktion auf vergangene Traumen in verdichteter Form ausdrückt. Janov glaubt, daß wiederholte »Urschreie« allmählich die verschiedenen Schichten von Urschmerzen beseitigen können, indem man sie in umgekehrter Reihenfolge — also die jüngsten schmerzlichen Erfahrungen zuerst und die ältesten schmerzlichen Erfahrungen zuletzt — durcharbeitet. Nach Janov zerstört die Primärtherapie das »unreale« System, das den einzelnen Menschen zum Trinken, zum Rauchen, zur Drogenabhängigkeit oder zu sonstigen zwanghaften und irrationalen Reaktionen auf innerlich angestaute unerträgliche Gefühle treibt. »Post-primäre« Patienten (Patienten nach einer erfolgreichen Primärtherapie), die »real« geworden sind — frei von Ängsten, Schuldgefühlen, Depressionen, Phobien und neurotischen Verhaltensmustern —, können handeln, ohne auf zwanghafte Weise eigene neurotische Bedürfnisse oder solche anderer zu befriedigen.

Janov veröffentlichte zu Anfang extreme Daten über die Effektivität seiner Primärtherapie, die sich aber mit der Zeit nicht halten ließen. So behauptete er, bei seinen Patienten eine Erfolgsrate von 100 Prozent zu haben, wie es auch im Titel seines ersten Buches Der Urschrei: Ein neuer Weg der Psychotherapie (81) anklingt. Die sensationellen Besserungen emotionaler Probleme wurden angeblich auch noch von ebenso verblüffenden körperlichen Veränderungen begleitet. 

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So sollen sich bei flachbrüstigen Frauen größere Brüste entwickelt haben, kahlköpfigen Männern wuchsen wieder Haare, der Kreislauf stabilisierte sich und die periphere Körpertemperatur erhöhte sich, das sexuelle Verlangen und die orgastische Potenz wurden gesteigert, und sogar im Tennisspiel waren Fortschritte zu verzeichnen. Die Primärtherapie ist zwar nach wie vor eine populäre Behandlungsform, doch die Ergebnisse stehen weit hinter den ursprünglichen Behauptungen zurück. Viele Patienten haben sich mehrere Jahre in Primärtherapie befunden, ohne wesentliche Fortschritte zu machen. Gelegentlich tritt sogar eine Verschlechterung statt einer Besserung des klinischen Zustandsbildes ein. Es gab Rechtsstreitigkeiten zwischen Janov und einigen seiner ehemaligen Patienten und Schüler. Viele Primärtherapeuten haben sich von Janov und seiner in Los Angeles ansässigen Organisation getrennt und aufgrund schwerwiegender theoretischer und praktischer Meinungsverschiedenheiten mit ihm eigene therapeutische Institute eröffnet. 

Die Beschreibung der humanistischen Bewegung wäre unvollständig ohne die i Erwähnung der vielen Techniken, die mit Gruppendynamik arbeiten. (Mit dem Aufkommen der humanistischen Psychologie ging eine wahre Renaissance der Gruppentherapie einher, die sowohl ein erneutes Interesse am Psychodrama als auch die Entwicklung neuer Gruppentechniken — etwa der transaktionalen Analyse, der T-Gruppen sowie der Encounter-, Marathon- und Nacktmarathongruppen — umfaßte.

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Wir wollen nun die verschiedenen therapeutischen Verfahren der humanistischen Bewegung unter dem Blickwinkel von Ergebnissen der LSD-Forschung betrachten. Diese kann Maslows Kritik an der akademischen Psychologie voll und ganz bestätigen. Nur in den ersten Stadien der Therapie, wenn sich der Klient mit Problemen aus seiner Lebensgeschichte und mit bestimmten Aspekten der perinatalen Dynamik befaßt, stützen die Beobachtungen die Freudsche Vorstellung, daß der Mensch von instinktiven Trieben wie der Sexualität und dem Aggressionstrieb beherrscht wird. Sobald er den Tod- und Wiedergeburtprozeß durchgemacht und den Zugang zu transpersonalen Bereichen gewonnen hat, entwickelt er ein System höherer Werte, die im großen und ganzen den Metawerten Maslows (128) entsprechen. Ein immer tieferes Eindringen in das Unbewußte legt also nicht zunehmend bestialische und höllische Regionen offen, wie die Psychoanalyse meint, sondern erschließt den kosmischen Bereich des Überbewußten.

Ebenso läßt die Reichhaltigkeit der verschiedenen Erlebensbereiche, die den Alltagserfahrungen sowohl des gesunden als auch des neurotischen oder psychotischen Menschen zugrunde liegen, den behavioristischen Standpunkt allzu einfach und absurd erscheinen. Die Einzigartigkeit der menschlichen Psyche wird auf einfache neurologische Reflexe der Ratte und der Taube reduziert, dabei offenbaren Beobachtungen dieser Art, daß es hinter der Existenz dieser Tiere Dimensionen des kosmischen Bewußtseins gibt. Jeder, der sich ernsthaft mit Material aus psychedelischen Sitzungen befaßt hat, hegt keinen Zweifel mehr daran, daß für das Studium der menschlichen Psyche subjektive Daten wesentlich sind.

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Die Beobachtungen aus der LSD-Forschung bestätigen auch eindeutig die Grundthese der humanistischen Psychologie, daß Psyche und Soma eine Einheit bilden. Heftige Erlebnisse in psychedelischen Sitzungen gehen immer mit bedeutsamen psychosomatischen Prozessen einher. Die Lösung psychischer Probleme besitzt in der Regel körperliche Begleiterscheinungen, und umgekehrt ist der Abbau körperlicher Blockierungen immer mit entsprechenden psychischen Veränderungen verknüpft. Dies wird besonders in den körperorientierten Techniken der humanistischen Bewegung deutlich. Ida Rolf hat beispielsweise ihre Strukturale Integration als rein körperliches Verfahren entwickelt (175). Viele ihrer Nachfolger merkten aber, daß ihre Klienten gelegentlich starke emotionale Erleichterung verspürten und daß sie intensive Erlebnisse biographischer, perinataler und sogar transpersonaler Art hatten. Als Folge davon beschlossen einige von ihnen, das Rolfing mit systematischer psychotherapeutischer Arbeit zu kombinieren (182). Eine ähnliche Situation besteht offenbar im Hinblick auf die Feldenkrais-Übungen, die Mentastik von Trager, die Polaritätsmassage und sogar die Akupunktur.

Von allen Techniken der humanistischen Psychologie ist Fritz Perls' Gestalttherapie dem in diesem Buch beschriebenen System wohl am nächsten. Perls legt den Schwerpunkt auf das Erleben im Hier-und-Jetzt mit all seinen Aspekten der begleitenden Körperprozesse, der Wahrnehmung, des Fühlens und des Denkens und nicht auf Erinnerungen und die intellektuelle Analyse. Die Gestalttherapie war zwar ursprünglich für Probleme biographischer Art gedacht, doch können Klienten im Rahmen einer intensiven Gestaltarbeit gelegentlich verschiedene perinatale Handlungsabfolgen und sogar transpersonale Phänomene erleben, etwa Erinnerungen aus ihrer Existenz als Embryo, aus dem Leben ihrer Vorfahren oder aus der Stammesgeschichte ihrer Rasse, Identifizierungen mit Tieren oder Begegnungen mit archetypischen Wesen. Dies kann trotz der Bedingungen geschehen, die für die Arbeit der meisten Gestalttherapeuten typisch sind, nämlich die sitzende Position des Klienten, die Anwendung verbaler Taktiken und die biographische Orientierung. Ich möchte aber ganz besonders hervorheben, daß es keinen Grund gibt, weshalb die Grundprinzipien der Gestalttherapie nicht auch - wenn es die Konzeption des Behandelnden zuläßt - auf die Arbeit an perinatalen und transpersonalen Problemen angewendet werden könnte. Einige Gestalttherapeuten wie Richard und Christine Price haben schon Wege in dieser Richtung eingeschlagen. Sie lassen die liegende Position zu, schränken in bestimmten Situationen die verbale Interaktion mit dem Klienten ein und lassen ihm im Hinblick auf seine Erlebnisebene unbegrenzte Freiheit. 

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Interessant ist in diesem Zusammenhang auch das Implosion-Explosion-Paradigma, das für die Gestalttherapie so typisch ist. Zwar kommt es gewöhnlich in einem biographischen Kontext zum Ausdruck, doch scheint es tiefer verborgene perinatale Mechanismen widerzuspiegeln. Eine andere für unsere Diskussion sehr wichtige Beobachtung ist die Tatsache, daß Klienten beim Wiedererleben komplexer Szenen in psychedelischen Sitzungen sich häufig spontan mit den Protagonisten identifizieren, und zwar mit jedem einzelnen von ihnen der Reihe nach oder mit allen gleichzeitig. Genau dies versucht die Gestalttherapie mit Hilfe spezifischer Anleitungen und strukturierter Interaktionssequenzen zu erreichen, insbesondere in der Arbeit an Träumen und Phantasien. Im allgemeinen sind also die Grundprinzipien der Gestalttechnik den in diesem Buch vertretenen Anschauungen sehr ähnlich. Der grundlegende Unterschied besteht darin, daß die Gestalttherapie ausschließlich auf der biographischen Ebene verharrt und nicht die perinatale sowie die transpersonale Ebene des Unbewußten erkennt. 

Eine andere Technik, die unsere besondere Aufmerksamkeit verdient, ist Arthur Janovs Primärtherapie. Seine Beschreibung der verschiedenen Schichten von Urschmerzen zeigt bemerkenswerte Parallelen mit meinem Konzept der COEX-Systeme, das ich erstmals in einem Vordruck für den 1966 in Amsterdam stattgefundenen Internationalen Kongreß für LSD-Psychotherapie umriß (65) und in meinem Buch Topographie des Unbewußten (67) ausführlich darlegte. Janov erkennt auch die Bedeutung des Geburtstraumas an, faßt es aber rein biologisch und in viel engerer Weise als mein Konzept der perinatalen Matrizen auf. feudem mangelt es ihm an jeder Erkenntnis und jedem Bewußtsein der transpersonalen Dimensionen der Psyche. Zwar wirkt das von ihm angewendete Verfahren so stark, daß die Klienten nicht nur in perinatale, sondern auch in transpersonale Bereiche geraten und mit Erinnerungen an frühere Inkarnationen, mit archetypischen Sequenzen, Besessenheitszuständen und mystischen Erlebnissen konfrontiert werden können. Sein theoretisches System ist aber oberflächlich, mechanistisch und antispirituell und wird deshalb nicht allen durch sein Verfahren auslösbaren Erlebnissen gerecht. Immer mehr Anhänger Janovs geraten deshalb nach Monaten intensiver Therapie in ein unlösbares Dilemma und in quälende Verwirrung, weil sie durch die Primärtherapie in transpersonale Bereiche getrieben werden, mit denen Janovs enge Theorie nichts anfangen kann. Nach außen hat sich diese Entwicklung in einer tiefen Spaltung in der primärtherapeutischen Bewegung und in der Bildung von theoretisch aufgeschlosseneren Splittergruppen bemerkbar gemacht.

Perinatale und auch transpersonale Erlebnisse wurden gelegentlich auch schon in Encountergruppen, Marathonsitzungen und speziell in Paul Bindrims Nacktmarathon- und aquaenergetischen Sitzungen beobachtet (16). Sehr häufig treten sie in den Rebirthing-Sitzungen von Leonard Orr (141) und Elisabeth Feher (38) auf. Die Selbsterfahrungstechniken der humanistischen Psychologie zeigen also in vielerlei Hinsicht Ähnlichkeit mit der in diesem Buch vertretenen Anschauung. Meistens aber wird die perinatale Ebene des Unbewußten nur oberflächlich und unvollständig erfaßt und die transpersonale Sphäre überhaupt nicht wahrgenommen. Dieser Mangel wurde durch die Entwicklung der transpersonalen Psychologie behoben, einer Bewegung, die die spirituellen Dimensionen der menschlichen Psyche in ihrer Bedeutung vollständig erkannt hat.

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Psychotherapien mit transpersonaler Orientierung

Im Laufe der rapiden Entwicklung der humanistischen Psychologie in den sechziger Jahren kristallisierte sich innerhalb dieser Bewegung immer deutlicher eine Richtung heraus, die die humanistische Position mit ihrer Hervorhebung der Persönlichkeitsentfaltung und der Selbstverwirklichung für zu eng und begrenzt hielt. Spiritualität und transzendentale Bedürfnisse wurden als Aspekte aufgefaßt, die von jeher der menschlichen Natur eigen sind, und man betonte das Recht jedes einzelnen Menschen, seinen »Weg« zu wählen oder zu ändern. Viele führende humanistische Psychologen zeigten wachsendes Interesse an verschiedenen früher vernachlässigten Bereichen und Themen der Psychologie, an mystischen Erfahrungen, an Erlebnissen der Transzendenz, an der Ekstase, am kosmischen Bewußtsein, an Theorie und Praxis der Meditation oder an den Synergien zwischen einzelnen Menschen bzw. zwischen einzelnen Spezies (190).

Die Vereinigung all dieser ursprünglich isolierten Tendenzen und ihre Konsolidierung in einer neuen psychologischen Bewegung, die sich »Vierte Kraft« nannte, waren in erster Linie das Werk zweier Männer, Anthony Sutich und Abraham Maslow, die beide schon früher eine wichtige Rolle in der Geschichte der humanistischen Psychologie gespielt hatten. Obwohl sich die transpersonale Psychologie endgültig erst gegen Ende der sechziger Jahre als eine eigenständige Disziplin etablierte, hatte es schon mehrere Jahrzehnte vorher Trends in dieser Richtung gegeben. Die bedeutsamsten Vertreter dieser Orientierung waren Carl Gustav Jung, Roberto Assagioli und Abraham Maslow. In diesem Zusammenhang seien auch die höchst interessanten und kontroversen Systeme der Dianetik und Scientology genannt, die außerhalb des wissenschaftlichen Rahmens von Ron Hubbard (79) entwickelt wurden. Einen mächtigen Anstoß für die neue Bewegung bildeten die klinischen Forschungen mit psychedelischen Drogen, insbesondere die LSD-Psychotherapie und die durch sie ermöglichten neuen Einblicke in die menschliche Psyche.

Carl Gustav Jung kann wohl als der erste moderne Psychologe bezeichnet werden. Die Differenzen zwischen seinen Theorien und der Freudschen Psychoanalyse sind repräsentativ für die Differenzen zwischen moderner und klassischer Psychotherapie. Zwar hatten einige Nachfolger Freuds radikale Neuerungen in die Psychologie eingeführt, doch stellte Jung als einziger sie in ihrem innersten Kern und ihren philosophischen Grundlagen in Frage, nämlich in ihrer kartesianisch-Newtonschen Gesinnung. June Singer (185) hat diesen Sachverhalt in prägnanten Worten ausgedrückt. Sie schreibt, daß Jung die Bedeutung des Unbewußten statt des Bewußten, des Rätselhaften statt des Bekannten, des Mystischen statt des Wissenschaftlichen, des Kreativen statt des Produktiven und des Religiösen statt des Weltlichen hervorhob.

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Für Jung waren das Unbewußte und seine Dynamik von größter Wichtigkeit, doch er faßte es grundlegend anders auf als Freud. Er betrachtete die Psyche als das Ergebnis des Zusammenwirkens bewußter und unbewußter Elemente, zwischen denen ein ständiger Energieaustausch und Energiefluß herrscht. Das Unbewußte war für ihn kein psychobiologischer Schrottplatz unterdrückter triebhafter Regungen, verdrängter Erinnerungen und unterbewußt angeeigneter Verbote, sondern ein kreatives und intelligentes Prinzip, das das Individuum mit allen Menschen, der Natur und dem gesamten Kosmos verbindet. Nach seiner Auffassung ist das Unbewußte nicht lediglich historisch determiniert, sondern besitzt eine projektive, teleologische Funktion.

Beim Studium der spezifischen Dynamik des Unbewußten entdeckte Jung (93) funktionale Einheiten, für die er die Bezeichnung Komplexe prägte. Komplexe sind Konstellationen psychischer Elemente - von Gedanken, Meinungen, Haltungen und Überzeugungen -, die sich um ein Kernthema scharen und mit bestimmten Gefühlen verbunden sind. Jung war in der Lage, Komplexe von biographisch determinierten Bereichen des individuellen Unbewußten bis zu Mythen bildenden Urmustern zurückzuverfolgen, die er Archetypen nannte. Er fand heraus, daß im innersten Kern der Komplexe archetypische Elemente mit verschiedenen Aspekten der physischen Umwelt eng verknüpft sind. Zuerst betrachtete er dies als einen Hinweis auf die Tatsache, daß ein auftauchender Archetyp eine Disposition für bestimmte äußere Umstände schafft. Später, bei der Untersuchung von Beispielen außergewöhnlicher Zusammentreffen oder Synchronizitäten in diesem Prozeß, zog er den Schluß, daß die Archetypen in irgendeiner Weise das Gewebe der phänomenalen Welt selber beeinflussen müßten. Da sie ihm als Bindeglieder zwischen der Materie und der Psyche oder dem Bewußtsein erschienen, bezeichnete er sie als Psychoide (90). 

Jung sah den Menschen nicht als eine biologische Maschine an. Er erkannte vielmehr, daß in einem als Individuation bezeichneten Prozeß der einzelne Mensch die engen Grenzen des Ich und des persönlichen Unbewußten überschreiten und sich mit dem Selbst vereinen kann, das alle Menschen und den gesamten Kosmos umfaßt. Somit läßt sich Jung als erster Vertreter der transpersonalen Orientierung in der Psychologie betrachten.

Aufgrund sorgfältiger Analyse seines eigenen Traumlebens, der Träume von Patienten sowie der Phantasien und Wahnvorstellungen von Psychotikern entdeckte Jung, daß ihnen allen Bilder und Motive gemeinsam waren, die sich in weit voneinander entfernten Orten auf der ganzen Erde und in verschiedenen Stadien der Menschheitsgeschichte wiederfinden. Er kam zu dem Schluß, daß es neben dem individuellen Unbewußten ein kollektives Unbewußtes gibt, das alle Menschen teilen und in dem sich die kreative kosmische Kraft manifestiert. 

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Die verschiedenen Religionen und Mythen der Welt können als einzigartige Quelle von Informationen über die kollektiven Aspekte des Unbewußten aufgefaßt werden. Nach Freud lassen sich Mythen als Darstellungen charakteristischer Kindheitsprobleme und -konflikte verstehen. Ihre allgemeine Verbreitung spiegele die Gemeinsamkeit menschlicher Erfahrung wider. Jung fand diese Erklärung inakzeptabel. Immer wieder beobachtete er, daß die universellen mythologischen Motive - oder »Mythologeme« - bei Personen wiederkehrten, die zweifellos über keinerlei Wissen dieser Art verfügten. Daraus meinte er zu ersehen, daß es in der unbewußten Psyche Mythen bildende strukturelle Elemente gibt, die für das Phantasieleben und die Träume einzelner Menschen sowie die Mythen der Völker verantwortlich sind. Träume können somit als individuelle Mythen und Mythen als kollektive Träume interpretiert werden.

Freud zeigte sein ganzes Leben lang ein sehr tiefes Interesse ander Religion und der Spiritualität. Wie er glaubte, müßte es im allgemeinen möglich sein, eine rationale Erklärung für irrationale Prozesse zu finden, und er neigte dazu, die Religion aus ungelösten Konflikten im infantilen Stadium der psychosexuellen Entwicklung abzuleiten. Im Gegensatz zu Freud war Jung bereit, das Irrationale, Paradoxe und sogar Rätselhafte zu akzeptieren. Er hatte im Laufe seines Lebens viele religiöse Erlebnisse, die ihn von der Realität der spirituellen Dimension in der universellen Anordnung der Dinge überzeugten. Jung ging von der Grundannahme aus, daß das spirituelle Element ein organischer und wesentlicher Teil der Psyche ist. Die echte Spiritualität ist ein Aspekt des kollektiven Unbewußten und hängt weder von den formenden Einflüssen in der Kindheit noch vom allgemeinen kulturellen Hintergrund oder der Bildung ab. Wenn also die Selbsterforschung und Selbstanalyse genügend weit fortgeschritten ist, tauchen spirituelle Elemente spontan im Bewußtsein auf. 

Jung (89) unterschied sich von Freud auch im Hinblick auf das zentrale Konzept der Psychoanalyse, nämlich das der Libido. Er faßte sie nicht als eine rein biologische Kraft auf, die nach mechanischer Entladung drängt, sondern als ein kreatives Element der Natur, als ein kosmisches Prinzip, das mit dem »Elan vital« vergleichbar ist. Jungs echte Würdigung der Spiritualität und seine Vorstellung von der Libido als einer kosmischen Kraft schlugen sich auch in einem einzigartigen Konzept von der Funktion von Symbolen nieder. Für Freud waren Symbole analoge Ausdrucksformen oder Anspielungen auf bereits bekannte Dinge. In der Psychoanalyse wird ein Bild statt eines anderen benutzt, gewöhnlich für etwas Verbotenes aus dem sexuellen Bereich. Jung war mit dieser Verwendung des Begriffs Symbol nicht einverstanden und bezeichnete die Freudschen Symbole als Zeichen. Ein wahres Symbol wies seiner Meinung nach über sich selbst in eine höhere Bewußtseinsebene hinaus. Es ist die bestmögliche Formulierung von etwas noch nicht Bekanntem, ein Archtetyp, der sich nicht deutlicher oder spezifischer darstellen läßt. 

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Was Jung wirklich zum ersten modernen Psychologen macht, ist seine wissenschaftliche Methode. Freuds Ansatz war rein historisch und deterministisch. Er war daran interessiert, rationale Erklärungen für alle psychischen Phänomene zu finden und sie gemäß den Gesetzen der linearen Kausalität bis zu ihren biologischen Wurzeln zurückzuverfolgen. Jung war sich der Tatsache bewußt, daß die lineare Kausalität nicht das einzig bestimmende verbindende Prinzip in der Natur ist. Er entwarf das Konzept der Synchronizität (91), eines akausalen Verbindungsprinzips, das sich auf sinnvolles Zusammentreffen zeitlich und/oder räumlich getrennter Ereignisse bezieht. Er interessierte sich sehr für die Entwicklung der modernen Physik und hielt Kontakte mit ihren prominenten Vertretern aufrecht.8 Jungs Bereitschaft, den Bereich des Paradoxen, Rätselhaften und Unbeschreibbaren zu betreten, zeigt sich auch in seiner Aufgeschlossenheit gegenüber den großen spirituellen Philosophien des Ostens, gegenüber parapsychologischen Phänomenen, dem I-Ging und der Astrologie. 

Die Beobachtungen im Rahmen der LSD-Psychotherapie haben wiederholt die meisten brillanten Einsichten Jungs bestätigt. Zwar erfaßt sogar die Analytische Psychologie nicht in angemessener Weise das gesamte Spektrum psychedelischer Phänomene, doch sind bei ihr von allen tiefenpsychologischen Therapiesystemen die geringsten Revisionen oder Modifikationen erforderlich. Auf der biographischen Ebene besitzen die von Jung (91) beschriebenen psychischen Komplexe große Ähnlichkeit mit den COEX-Systemen, auch wenn beide Konzepte nicht identisch sind. Weiter waren sich Jung und seine Nachfolger der Bedeutung des Tod-Wiedergeburt-Prozesses bewußt und haben Beispiele für dieses Phänomen aus den verschiedensten Kulturen zusammengetragen und analysiert, angefangen von den alten griechischen Mysterien bis hin zu den Übergangsriten der Naturvölker. Jungs grundlegendster Beitrag zur Psychotherapie besteht aber in seiner Erkenntnis der spirituellen Dimensionen der Psyche und seinen Entdeckungen in den transpersonalen Bereichen.

Das Material aus der psychedelischen Forschung und aus intensiver Selbsterfahrung stützt in erheblichem Maß die Annahme, daß es ein kollektives Unbewußtes und dynamisch wirksame archetypische Strukturen gibt. Es bestätigt auch Jungs Auffassung von der Natur der Libido, seine Unterscheidung zwischen dem Ich und dem Selbst, seine Erkenntnis der kreativen und prospektiven Funktionen des Unbewußten sowie sein Konzept des Individuationsprozesses. Alle diese Elemente lassen sich unabhängig sogar in der psychedelischen Arbeit mit Personen nachweisen, die nicht mit Jungs Theorien vertraut sind. Material dieser Art taucht auch häufig in LSD-Sitzungen mit Therapeuten auf, die nicht Jungianer sind keine Ausbildung in Jungscher Analyse haben. Die Literatur der Analytischen Psychologie ist zudem sehr hilfreich für das Verständnis verschiedener archetypi-: scher Bilder und Motive, die sich spontan in Selbsterfahrungstherapien einstellen und die transpersonale Ebene des Unbewußten widerspiegeln. Unabhängige Beobachtungen im Rahmen intensiver Selbsterfahrung haben auch Jungs Annahmen über die Bedeutung der Synchronizität betätigt.

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Die Unterschiede zwischen den in diesem Buch dargestellten Konzepten und den Theorien Jungs sind gering im Verhältnis zu den weitgehenden Entsprechungen. Wie bereits erwähnt, ist das Konzept der COEX-Systeme ähnlich, aber nicht identisch mit der Jungschen Beschreibung eines psychischen Komplexes. Die Jungsche Psychologie weist auch ein recht gutes allgemeines Verständnis des Tod-Wiedergeburt-Prozesses auf, nämlich als ein archetypisches Thema, scheint aber die besondere Position und bestimmte wesentliche Eigentümlichkeiten dieses Prozesses, die ihn von allen anderen Archetypen unterscheiden, nicht zu erkennen. Die perinatalen Phänomene mit ihrem Akzent auf Motiven der Geburt und des Todes bilden die Berührungslinie zwischen dem Individuum und den transpersonalen Bereichen. Die Erlebnisse des Sterbens und Wiedergeborenwerdens helfen dem betreffenden Menschen, sich philosophisch von der ausschließlichen Identifikation mit der Ich-Körper-Einheit und der biologischen Seinsform zu lösen. Eine tiefgehende Konfrontation auf dieser Ebene der Psyche ist fast immer mit einem Gefühl der Gefahr für Leib und Leben und mit einem Kampf auf Leben und Tod verknüpft. Die Tod-Wiedergeburt-Erlebnisse besitzen eine wichtige biologische Dimension. Sie gehen in der Regel mit einem breiten Spektrum dramatischer physiologischer Äußerungen einher, mit heftigen motorischen Entladungen, Gefühlen des Erstickens, kardiovaskulären Beschwerden und Störungen, Verlust der Kontrolle über die Blase, Übelkeit und Erbrechen, Hyperven-tilation und übermäßigem Schwitzen.

Die Jungsche Analyse, die sich subtilerer Techniken als die psychedelische Therapie oder einige der neuen hochwirksamen Selbsterfahrungsmethoden bedient, setzt den Schwerpunkt auf die psychischen, philosophischen und spirituellen Dimensionen des Tod-Wiedergeburt-Prozesses, befaßt sich aber nur selten - wenn überhaupt - in effektiver Weise mit den psychosomatischen Komponenten. Auch scheint sie den rein biographischen Aspekten perinataler Phänomene nur wenig Beachtung zu schenken. In Selbsterfahrungstherapien wird man immer mit einem Gemisch aus detaillierten Erinnerungen an die tatsächliche Geburt und begleitenden archetypischen Themen konfrontiert. In Theorie und Praxis der Analytischen Psychologie hingegen spielen Erinnerungen an konkrete Ereignisse während der Entbindung offenbar nur eine geringfügige Rolle. 

Was den transpersonalen Bereich angeht, so scheint die Jungsche Psychologie bestimmte Erlebniskategorien mit beträchtlicher Detailliertheit erforscht zu haben, andere hingegen völlig zu vernachlässigen. Zu den Gebieten, die von Jung und seinen Nachfolgern entdeckt und gründlich studiert wurden, zählen die Archetypen und das kollektive Unbewußte, die mythopoetischen Eigenschaften der Psyche, bestimmte parapsychologische Phänomene und synchronistische Verbindungen zwischen psychischen Prozessen und der phänomenalen Realität. Es gibt aber offenbar keine echte Würdigung transpersonaler Erfahrungen, die eine Verbindung mit verschiedenen Aspekten der materiellen Welt vermitteln. 

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Dazu gehören beispielsweise die authentische Identifikation mit anderen Menschen, Tieren, Pflanzen oder anorganischen Prozessen sowie das Erleben von historischen, phylogenetischen, geophysikalischen oder astronomischen Ereignissen, die Zugang zu neuen Informationen über verschiedene Aspekte der »objektiven Realität« verschaffen können. Angesichts des tiefen Interesses Jungs an den spirituellen Philosophien des Ostens und seiner diesbezüglichen umfangreichen Kenntnisse ist es auch sehr verwunderlich, daß er beinahe vollständig Inkarnationsphänomene, die in jeder intensiven Selbsterfahrungstherapie von wesentlicher Bedeutung sind, übersah und vernachlässigte. 

Der letzte große Unterschied zwischen der Jungschen Analyse und den in diesem Buch besprochenen Therapieformen, der psychedelischen Therapie und der holonomen Integration, ist die Betonung des direkten Erlebens tieferer psychischer Bereiche, das sowohl psychologische als auch physiologische Dimensionen besitzt. Zwar äußert sich die biologische Komponente in ihrer dramatischsten Form in Verbindung mit den perinatalen Phänomenen, doch können verschiedene Erlebnisse biographischer und transpersonaler Natur ebenfalls bedeutsame körperliche Begleiterscheinungen haben. Als wichtige Beispiele wären hier anzuführen das authentische kindliche Grimassenschneiden, Sprechen und Verhalten oder das Auftreten des Saugreflexes im Rahmen der Altersregression, spezifische Haltungen, Bewegungen und Laute in Verbindung mit Tieridentifikationen sowie rasende Bewegungen, eine »Maske des Bösen« oder sogar Anspeien im Zusammenhang mit dem Auftauchen eines dämonischen Archetyps. Trotz all der genannten Differenzen aber scheinen die Jungianer allgemein für die in diesem Buch beschriebenen Dinge theoretisch am besten gerüstet zu sein, wenn sie sich nur an die dramatischen Phänomene gewöhnen können, die sich in der psychedelischen Therapie, in der holonomen Integration oder im Rahmen in tiefe psychische Bereiche vordringender Selbsterfahrungstherapien einstellen. 

Ein anderes interessantes und bedeutsames transpersonales Therapiesystem ist die Psychosynthese, die von dem italienischen Psychiater Roberto Assagioli (5) entwickelt wurde. Er gehörte ursprünglich der Freudschen Schule an und zählte zu den Pionieren der Psychoanalyse in Italien. In seiner Doktorarbeit von 1910 aber legte er seine schwerwiegenden Einwände gegen sie dar und besprach ihre Mängel und Beschränkungen. In den Jahren darauf entwarf Assagioli ein erweitertes Modell der Psyche und entwickelte die Psychosynthese als ein neues Verfahren zum Zwecke der Therapie und Selbsterforschung. Sein theoretisches System beruht auf der Annahme, daß sich ein Mensch in einem ständigen Prozeß des Wachstums und der Reifung befindet, in dem sich seine verborgenen Möglichkeiten entfalten. Assagioli hebt die positiven, kreativen und erfreulichen Elemente der menschlichen Natur hervor und betont die Funktion des Willens. 

Assagiolis Kartographie der menschlichen Persönlichkeit besitzt gewisse Ähnlichkeit mit dem Jungschen Modell, da es die spirituellen Bereiche und die kollektiven Elemente der Psyche enthält. Sein System ist sehr komplex und setzt sich aus sieben Grundbestandteilen dynamischer Natur zusammen. 

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Das tiefere Unbewußte bestimmt die grundlegenden psychischen Aktivitäten, etwa die primitiven Triebregungen und emotionale Komplexe. Das mittlere Unbewußte, in dem die Erfahrungen vor dem Bewußtwerden assimiliert werden, hat offenbar grobe Ähnlichkeit mit dem Freudschen Vorbewußten. Der Bereich des Überbewußten ist der Sitz der höheren Gefühle und Fähigkeiten, etwa der Intuition und der Inspiration. Das Bewußtseinsfeld umfaßt analysierbare Gefühle, Gedanken und Impulse. Der Punkt reiner Bewußtheit wird als das bewußte Selbst bezeichnet, während das höhere Selbst den Aspekt des Menschen darstellt, der unabhängig vom Bewußtsein von Geist und Körper existiert. All die genannten Komponenten sind im kollektiven Unbewußten eingeschlossen. Ein wichtiges Konzept in der Psychosynthese Assagioiis ist das der Sub-Persönlichkeiten, d. h. dynamischer Substrukturen der menschlichen Persönlichkeit, die ein relativ eigenständiges Leben führen. Die häufigsten von ihnen beziehen sich auf die Rollen, die wir in unserem Leben spielen, etwa die des Sohnes oder der Tochter, des Vaters oder der Mutter, des oder der Geliebten, des Arztes oder der Ärztin, des Lehrers oder der Lehrerin, des Beamten oder der Beamtin usw.

Der therapeutische Prozeß der Psychosynthese beinhaltet vier aufeinanderfolgende Stadien. Als erstes lernt der Klient verschiedene Elemente seiner Persönlichkeit kennen. Der nächste Schritt besteht in der Loslösung von diesen Elementen und der damit erworbenen Fähigkeit, sie zu kontrollieren. Nachdem der Klient allmählich sein vereinigendes psychisches Zentrum entdeckt hat, kann er zur Psychosynthese gelangen, die durch den Höhepunkt des Selbstverwirklichungsprozesses und die Integration der verschiedenen Selbste um das neue Zentrum charakterisiert ist.

Der in diesem Buch beschriebene Ansatz hat mit der Psychosynthese mehreres gemein, ihre Hervorhebung des Spirituellen und Transpersonalen, die Konzepte des Überbewußten und des kollektiven Unbewußten, sowie die Auffassung, daß bestimmte, gegenwärtig als psychotisch bezeichnete Zustände angemessener als spirituelle Krisen mit der Möglichkeit zum Wachstum und zur Umwandlung der Persönlichkeit verstanden werden können (6). Eine andere große Ähnlichkeit besteht in dem Konzept, daß über verschiedene Aspekte der Psyche Kontrolle gewonnen werden kann, indem man sich ihnen im Erleben stellt und sich vollständig mit ihnen identifiziert.

Der Hauptunterschied liegt im Umgang mit den dunklen und schmerzlichen Aspekten der Persönlichkeit. Ich teile zwar Assagiolis Hervorhebung des kreativen und überbewußten Potentials der Psyche, doch habe ich die Erfahrung gemacht, daß eine direkte Konfrontation mit ihren dunklen Seiten — egal, wann diese sich im Laufe der Selbsterforschung manifestieren — der Heilung, der spirituellen Öffnung und der Bewußtseinsentwicklung dienlich ist. Umgekehrt ist eine einseitige Betonung der hellen, problemfreien und erfreulichen Seite des Lebens nicht ohne Gefahren. Sie kann zur Verdrängung und Leugnung des Schattens benutzt werden, der sich dann in weniger deutlichen Formen und Farben ausdrücken oder den spirituellen Prozeß verzerren kann. 

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Das Endresultat besteht unter Umständen in verschiedenen spirituellen Abirrungen, sei es in Form einer nicht überzeugenden, übertriebenen Karikatur eines spirituellen Menschen oder der Tyrannei und Kontrolle anderer im Namen transpersonaler Werte. Ich gebe einer inneren Erforschung im Geiste eines »transzendentalen Realismus« den Vorzug, der die Bereitschaft einschließt, sich allen Aspekten der eigenen Psyche und des Universums in ihrem dialektischen und einander ergänzenden Zusammenspiel der Gegensätze zu stellen.

Wie auch die Jungsche Analyse konzentriert sich die Psychosynthese offenbar auf die Gefühle, die Wahrnehmungen und die Denkvorgänge während des therapeutischen Prozesses, wird aber der Bedeutung seiner biologischen Komponenten nicht gerecht. Durch ihre einseitige Ausrichtung auf die symbolische Sprache der Psyche scheint sie auch jene transpersonalen Erlebnisse zu vernachlässigen, die spezifische Elemente der phänomenalen Welt direkt widerspiegeln. So würden einige der Subpersönlichkeiten, die in einer Phantasieübung als mehr oder weniger abstrakte intrapsychische Strukturen erscheinen, im Rahmen einer Selbsterforschung unter Zuhilfenahme von psychedelischen Drogen, kontrolliertem Atem oder Musik als Reflexionen echter, nach dem Muster von Matrizen wirkender Einflüsse entschlüsselt werden, etwa als Einflüsse der Vorfahren, aus der Phylogenese, aus der Geschichte der Gattung oder aus früheren Inkarnationen. Sie könnten sich auch als authentische Erlebnisse der Bewußtseinsverschmelzung mit anderen Menschen, Tieren oder anderen Aspekten der phänomenalen Welt erweisen. Die Psyche kann nicht nur mit symbolischen Formen aus der Welt des Menschen, der Tiere und der Natur spielerisch umgehen, sondern offenbar auch über holographisch gespeicherte Informationen über die gesamte Welt der Phänomene, die Gegenwart, die Vergangenheit und die Zukunft verfügen.

Der wichtigste praktische Unterschied zwischen Assagiolis Psychosynthese und den in diesem Buch beschriebenen Strategien dürfte wohl das Ausmaß der formalen Strukturierung und Leitung durch den Therapeuten sein. Zur Psychosynthese gehört ein umfassendes System aus hochgradig strukturierten Übungen, wohingegen der hier vertretene Ansatz die unspezifische Aktivierung des Unbewußten hervorhebt und das Material spontan auftauchen läßt, weil sich darin die autonome Dynamik der Psyche des Klienten widerspiegelt. 

Die Ehre, als erster die Prinzipien der transpersonalen Psychologie explizit formuliert zu haben, gebührt Abraham Maslow, dessen Rolle in der Entwicklung der humanistischen und der transpersonalen Psychologie schon an früherer Stelle gewürdigt wurde. In diesem Zusammenhang möchte ich kurz auf diejenigen Aspekte seiner Arbeit eingehen, die für die transpersonale Theorie direkt relevant sind, und sie mit den Beobachtungen im Rahmen der psychedelischen Therapie und anderer intensiver Selbsterfahrungs­therapien ohne Zuhilfenahme von Drogen vergleichen.

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Einer von Maslows Beiträgen von dauerhaftem Wert ist seine Untersuchung an Personen, die spontan mystische Erlebnisse — von Maslow als »Gipfelerlebnisse« bezeichnet — hatten (127). In der traditionellen Psychiatrie werden mystische Erfahrungen jeder Art gewöhnlich unter der Rubrik schwere psychopathologische Störungen abgehandelt. Sie gelten als Anzeichen für einen psychotischen Prozeß. In seiner umfassenden und sorgfältigen Untersuchung konnte Maslow aber nachweisen, daß Personen mit spontanen »Gipfelerlebnissen« von diesen häufig profitierten und eine deutliche Neigung zur »Selbstverwirklichung« und »Selbstaktualisierung« zeigten. Solche Erlebnisse verdienten seiner Meinung nach die Bezeichnung übernormal statt abnormal, und er setzte die Grundlagen für eine neue Psychologie, die dieser Tatsache gerecht wurde. 

Ein anderer bedeutsamer Aspekt von Maslows Arbeit war seine Analyse der menschlichen Bedürfnisse und seine Revision der Triebtheorie. Wie er meinte, sind höhere Bedürfnisse ein wichtiges und authentisches Merkmal der menschlichen Persönlichkeitsstruktur und lassen sich nicht auf Grundinstinkte zurückführen. Nach seiner Auffassung spielen höhere Bedürfnisse eine wesentliche Rolle in der geistigen Gesundheit bzw. Krankheit. Höhere Werte (Metawerte) und die Impulse, nach ihnen zu handeln (Metamotivationen) sind untrennbarer Bestandteil der menschlichen Natur. Die Anerkennung dieser Tatsache ist für jede sinnvolle Theorie von der menschlichen Persönlichkeit absolut unerläßlich (128). 

Beobachtungen im Rahmen von Selbsterfahrungstherapien, die bis in tiefe Schichten der Psyche vordringen, bestätigen Maslows Theorien weitgehend. Ekstatische Erlebnisse der Vereinigung mit dem Kosmos, die sich in diesem Zusammenhang einstellen können, haben — wenn sie richtig integriert werden — positive Konsequenzen, die bis in winzige Details den Beobachtungen aus Maslows Untersuchung an Personen mit spontanen »Gipfelerlebnissen« entsprechen. Ihre Heilkraft ist unvergleichlich größer als alles nur Denkbare, was das Arsenal der modernen Psychiatrie zu bieten hat, so daß absolut kein Grund besteht, sie als pathologische Phänomene abzutun.

Maslows Grundmodell von der menschlichen Persönlichkeit wird ebenfalls durch die Selbsterfahrungs­therapien gestützt. Nur die frühen Stadien des Selbsterfahrungsprozesses, in denen die betreffenden Personen mit biographischen und perinatalen Traumen konfrontiert werden, scheinen zu Freuds düsterer Vorstellung zu passen, nach der die Menschen von mächtigen Instinkten aus dem Inferno des individuellen Unbewußten gelenkt werden. Sobald aber die Selbsterfahrung über das Erlebnis des Ich-Todes hinaus in transpersonale Bereiche vordringt, werden hinter diesem Schirm aus Negativität die dem Menschen innewohnenden Quellen der Spiritualität und kosmischen Empfindungen sichtbar. Es erschließt sich der Zugang zu einem neuen System aus Werten und Motivationen, die von den Grundinstinkten unabhängig sind und den Kriterien der Maslowschen Metawerte und Metamotivationen genügen (128). 

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Weitgehende Parallelen existieren auch zwischen den in diesem Buch präsentierten Konzepten und den kontroversen Systemen der Dianetik und der Scientology von Ron Hubbard (79). Ein eingehender Vergleich würde eine spezielle Untersuchung erfordern, da es neben den Ähnlichkeiten auch bedeutsame Unterschiede gibt. Hubbards bemerkenswerte Einsichten sind leider durch ihre praktische Anwendung im Rahmen einer dubiosen Organisation, der es an professioneller Glaubwürdigkeit mangelt und die sich zudem durch ihre Machtansprüche kompromittiert, in Mißkredit geraten. Dieser Umstand sollte aber für den aufgeschlossenen Forscher keine Verringerung ihres Wertes bedeuten, der in der Scientology eine Goldmine brillanter Ideen finden wird. Der Leser, der an einem Vergleich zwischen den Ergebnissen Hubbards und den Beobachtungen aus der psychedelischen Forschung interessiert ist, sei auf einen speziellen Aufsatz zu diesem Thema von Klaus Gormsen und J0rgen Lumbye (64) verwiesen. 

Ich möchte hier nur kurz die wichtigsten Punkte zusammenfassen. 

Die Scientology ist das einzige System, das neben der psychedelischen und der holotropen Therapie die Bedeutung körperlicher Traumen hervorhebt. Hubbard unterscheidet zwischen »Engrammen« — Gedächtnisspuren von körperlichen Schmerzen und Zeiten der Bewußtlosigkeit — und »Sekundärphänomenen« — geistigen Bildern, die Emotionen wie Trauer oder Wut beinhalten. Diese Sekundärphänomene beziehen ihre Wirkung von den Engrammen, die noch grundlegenderer Natur sind und die tiefste Ursache psychischer Probleme bilden. 

Einige zusätzliche Parallelen wären die Anerkennung der ausschlaggebenden Bedeutung des Geburtstraumas und der vorgeburtlichen Einflüsse, einschließlich der Empfängnis, die Anerkennung der Bedeutung von Erinnerungen an Ereignisse aus der Zeit der Vorfahren und der Evolutionsgeschichte (von »Erlebnissen auf der genetischen Linie«, wie Hubbard sie nennt), sowie die Hervorhebung der Bedeutung von Inkarnations­phänomenen.

In den letzten zehn Jahren ist die transpersonale Psychologie ständig gewachsen und hat sich zunehmend ausgebreitet. Ihre prominenten Vertreter und Vertreterinnen — Angeles Arrien, Arthur Deikman, James Fadiman, Daniel Goleman, Eimer und Alyce Green, Michael Harner, Arthur Hastings, Jean Houston, Jack Kornfield, Stanley Krippner, Lawrence Leshan, Ralph Metzner, Claudio Naranjo, Thomas Roberts, June Singer, Charles Tart, Frances Vaughan, Roger Walsh, Ken Wilber und viele andere — haben bedeutsame theoretische Beiträge zu diesem Gebiet geleistet und ihm wissenschaftliche Respektabilität verliehen. War die transpersonale Bewegung in den Anfangsjahren noch weitgehend isoliert, so hat sie jetzt sinnvolle Verbindungen zu anderen Disziplinen geknüpft, in denen — wie schon früher beschrieben — revolutionäre Entwicklungen stattfinden. Dies fand seinen Ausdruck in einer internationalen Vereinigung, der International Transpersonal Association (ITA), die einen ausgesprochen interdisziplinären Charakter hat.

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Abschließend scheint es angebracht, die Beziehung zwischen der Praxis der transpersonalen Therapie und der mehr traditionellen psychotherapeutischen Ansätze zu definieren. Wie es schon Frances Vaughan (199) deutlich gemacht hat, ist das Charakteristische für einen transpersonalen Therapeuten nicht der Inhalt, sondern der Gesamtrahmen; der Inhalt wird vom Klienten bestimmt. Ein transpersonaler Therapeut muß sich mit allen Fragen auseinandersetzen, die im therapeutischen Prozeß auftauchen, mit den irdischen Angelegenheiten, den biographischen Daten und den existentiellen Problemen. 

Das wahre Kennzeichen der transpersonalen Orientierung ist ein Modell der menschlichen Psyche, in dem die Bedeutung der spirituellen oder kosmischen Dimensionen sowie des Potentials zur Weiterentwicklung des Bewußtseins anerkannt wird. Unabhängig davon, auf welche Bewußtseinsebene der therapeutische Prozeß sich gerade konzentriert, ist sich der transpersonale Therapeut des gesamten Bewußtseinsspektrums ständig bewußt und auch jederzeit bereit, bei gegebenem Anlaß dem Klienten in neue Bereiche der Erfahrung zu folgen. 

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