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4. Der strukturelle Aufbau emotionaler Störungen

 

 

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Die Beobachtungen im Rahmen der LSD-Psychotherapie und der neuen Selbsterfahrungstechniken ohne Zuhilfenahme von Drogen haben die theoretischen Kontroversen zwischen den wetteifernden tiefen­psycho­logischen Schulen durch einzigartige Einblicke in die komplexe und vielschichtige Struktur verschiedener psychopathologischer Syndrome in einem neuen Licht erscheinen lassen. 

Die rapide und elementare Entfaltung des therapeutischen Prozesses, die für viele dieser psycho­therap­eut­ischen Neuerungen charakteristisch ist, reduziert die Verzerrungen und Beschränkungen, denen die Patienten in rein verbalen Therapien unterworfen sind, auf ein Minimum. 

Das unter diesen Bedingungen auftauchende Material scheint in authentischerer Weise die tatsächlichen dynamischen Konstellationen hinter klinischen Symptomen widerzuspiegeln und bedeutet für den Therapeuten häufig eine vollkommene Überraschung, statt sich in sein Konzept zu fügen.

Im allgemeinen ist der sich unter diesen Bedingungen manifestierende strukturelle Aufbau psycho­patholog­ischer Phänomene unendlich viel komplizierter und verzweigter, als er sich in irgendeinem der tiefenp­sychologischen Modelle darstellt. Jede dieser theoretischen Konzeptionen ist zwar in einem beschränkten Umfang richtig, doch wird keine dem wahren Sachverhalt vollkommen gerecht. Um einen angemessenen Eindruck von den vernetzten unbewußten Prozessen zu bekommen, die den von der klinischen Psychiatrie untersuchten psychopathologischen Erscheinungen zugrunde liegen, muß man die schon früher beschriebene erweiterte Kartographie der Psyche zu Hilfe nehmen. Sie umfaßt nicht nur die analytische Ebene der Lebenserinnerungen, sondern auch die perinatalen Matrizen und das gesamte Spektrum des transpersonalen Bereichs.

Wie in den Selbsterfahrungstherapien deutlich wird, lassen sich nur sehr wenige emotionale und psychosomatische Syndrome einzig von der Dynamik des individuellen Unbewußten herleiten. Deshalb gehen die psychotherapeutischen Schulen, die nicht die transbiographischen Quellen psychopathologischer Erscheinungen anerkennen, von sehr oberflächlichen und unvollständigen Modellen der menschlichen Psyche aus. Sie sind auch ineffektiv, was die Arbeit mit den Patienten angeht, da sie nicht hochwirksame therapeutische Mechanismen einsetzen, die auf der perinatalen und transpersonalen Ebene verfügbar sind. Es gibt die verschiedenartigsten klinischen Probleme, die letztlich in der Dynamik des Tod-Wiedergeburt-Prozesses wurzeln.


Sie stehen in einem bestimmten Zusammenhang mit dem Geburtstrauma und der Furcht vor dem Tod und lassen sich deshalb nur durch eine Konfrontation mit der perinatalen Ebene des Unbewußten therapeutisch beeinflussen. Somit haben therapeutische Systeme, die die perinatale Dimension einbeziehen, ceterisparibus ein viel größeres therapeutisches Potential als solche, die sich auf die biographische Ebene beschränken. Es gibt aber auch viele emotionale, psychosomatische und zwischenmenschliche Probleme, die in den transpersonalen Bereichen der menschlichen Psyche dynamisch verankert sind. 

Nur die Therapeuten, die die heilende Kraft transpersonaler Erlebnisse anerkennen und die spirituellen Dimensionen der menschlichen Psyche respektieren, können bei den Patienten, deren Probleme in diese Kategorie fallen, mit Erfolg rechnen. In vielen Fällen zeigen psychopathologische Symptome und Syndrome eine komplexe und vielschichtige dynamische Struktur. Sie haben bestimmte Verbindungen zu allen Hauptbereichen des Unbewußten, zum biographischen, perinatalen und transpersonalen Bereich. Um mit diesen Problemen effektiv umgehen zu können, muß ein Therapeut daraufgefaßt sein, Material aus allen diesen Ebenen zu begegnen und es dann sukzessiv bearbeiten. 

Dies erfordert große Flexibilität und eine unorthodoxe theoretische Denkweise. Bei der Darstellung der neuen Einsichten in den strukturellen Aufbau psychopathologischer Phänomene werde ich zuerst auf die Probleme der Sexualität und der Aggression eingehen, weil diese beiden Aspekte des menschlichen Lebens in den theoretischen Spekulationen von Sigmund Freud und vielen seiner Nachfolger eine wesentliche Rolle gespielt haben. In den späteren Abschnitten werde ich systematisch spezifische emotionale Störungen abhandeln, die Depressionen, die Psychoneurosen, die psychosomatischen Erkrankungen und die Psychosen.

   Sexuelle Fehlfunktionen und Abweichungen — Transpersonale Formen des Eros  

Der Sexualtrieb oder die Lidido in ihren vielfältigen Erscheinungsformen und Umwandlungen spielt in den psychoanalytischen Spekulationen eine extrem bedeutsame Rolle. Freud hat in seiner klassischen Studie Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (53) die Probleme der menschlichen Sexualität bis zu ihren Ursprüngen in den Frühstadien der psychosexuellen Entwicklung des Kindes zurückverfolgt. Er postulierte, daß das Kind nacheinander mehrere deutlich voneinander abgehobene Stufen der libidinösen Organisation durchschreitet, von denen jede mit einer der erogenen Zonen verknüpft ist. 

Im Laufe der psychosexuellen Entwicklung bezieht das Kind primäre Triebbefriedigung zunächst aus oralen Aktivitäten und später, während der Sauberkeitserziehung, aus den analen und urethralen Funktionen. Zum Zeitpunkt der ödipalen Krise tritt die Libidoent-wicklung in die phallische Phase. Dabei werden der Penis oder die Klitoris zu den dominierenden erogenen Zonen. Verläuft diese Entwicklung normal, dann werden die einzelnen Partialtriebe — der orale, der anale und der urethrale Trieb — in diesem Stadium dem Genitaltrieb untergeordnet.

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Traumatische Einflüsse und psychische Störungen in verschiedenen Stadien dieser Entwicklung können zu Fixierungen und Konflikten führen, die unter Umständen im späteren Leben Störungen des Sexuallebens und bestimmte Psychoneurosen hervorrufen. Freud und seine Nachfolger erarbeiteten eine verwickelte dynamische Taxonomie, in der spezifische emotionale und psychosomatische Störungen mit Fixierungen in verschiedenen Stadien der Libido- und Ich-Entwicklung in Zusammenhang gebracht werden. In der alltäglichen psychoanalytischen Praxis ist die Bedeutung dieser fixierten Verbindungen durch die freien Assoziationen der Patienten bzw. Patientinnen wiederholt bestätigt worden. Jede Theorie, die die Erklärungen der Psychoanalyse anzweifelt, muß sich mit dem Problem auseinandersetzen, warum die Sexualität und bestimmte biographische Daten im Hinblick auf verschiedene psychopathologische Syndrome eine einzigartige kausale Verbindung aufweisen und eine überzeugende Alternativinterpretation dieser Tatsache bieten.

 

Eine nähere Betrachtung der Geschichte der Psychoanalyse zeigt, daß mehrere der Nachfolger Freuds das Bedürfnis empfanden, die von ihm in seinen Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (53) vertretenen Ansichten zu modifizieren. Wie sich herausstellte, waren Freuds Beschreibungen der einzelnen Stadien der libidinösen Entwicklung und ihre Implikationen für die Psychopathologie ideale Abstraktionen, die nicht genau den Beobachtungen in der täglichen psychoanalytischen Praxis entsprachen. In den tatsächlichen klinischen Bildern, die die Patienten bieten, erscheinen die Probleme im Zusammenhang mit den verschiedenen erogenen Zonen nicht in reiner Form, sondern sind eng miteinander verwoben. 

Es gibt beispielsweise viele Patienten, die zu einer Blockierung des sexuellen Orgasmus aus der Angst heraus neigen, sie könnten die Kontrolle über ihre Harnblase verlieren. Aus anatomischen Gründen tritt diese Angst sehr viel häufiger bei Frauen auf. In anderen Fällen ist die Angst, sich dem sexuellen Orgasmus hinzugeben, mit Befürchtungen verknüpft, versehentlich zu furzen oder gar die Kontrolle über den Darmschließmuskel zu verlieren. 

Bei manchen Patienten läßt die Analyse der Faktoren, die eine Erektions- oder Orgasmusunfähigkeit bedingen, eine tief verborgene primitive Angst zutage treten, daß der Kontrollverlust zur Vernichtung des Partners oder seiner selbst führen könnte. Sandor Ferenczi hat versucht, diese und ähnliche klinische Probleme in seinem außergewöhnlichen Essay Thalassa (41) zu erklären. Er postulierte, daß die ursprünglich voneinander getrennten Aktivitäten in den einzelnen erogenen Zonen sekundär verschmelzen und sich funktional überschneiden können, ein Vorgang, den er Amphimixis nannte. In grundsätzlicher Übereinstimmung mit den Theorien von Otto Rank (163) war Ferenczi auch der Meinung, zum vollständigen psychologischen Verständnis der Sexualität gehöre auch die unbewußte Tendenz, das Geburtstrauma ungeschehen zu machen und in den Mutterleib zurückzukehren.

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Er war aber noch radikaler als Rank, indem er hinter dieser Regressionsneigung einen tieferen phylogenet­ischen Trieb erkannte, zu den Bedingungen zurückzukehren, die einst im Urozean herrschten. Wilhelm Reich (168) akzeptierte zwar im allgemeinen Freuds Hervorhebung des Sexualtriebs, betrachtete diesen aber als eine nahezu hydraulische Kraft, die durch direkte energetische Manipulationen freigesetzt werden muß, wenn man therapeutische Erfolge erzielen will. Zwei weitere bedeutsame Revisionen der Sexualtheorie Freuds, die von seinen Schülern stammen, sollen in diesem Zusammenhang erwähnt werden.

 

In der Psychologie Alfred Adlers (1) wird dem Minderwertigkeitskomplex und dem Machtwillen primäre Bedeutung beigemessen. Die Sexualität ist dem Machtkomplex untergeordnet. Die am weitesten gehende Kritik an der Freudschen Sexualtheorie kommt aber von C.G. Jung (89), für den die Libido nicht eine biologische Kraft ist, sondern die Manifestation eines kosmischen Prinzips, das mit dem »Elan vital« vergleichbar ist. Durch die Beobachtungen im Rahmen der psychedelischen Therapie und einiger Selbsterfahrungstechniken ohne Zuhilfenahme von Drogen erscheinen die Sexualität und sexuelle Probleme in einem völlig neuen Licht. Sie sind offenbar sehr viel komplexer, als von irgendeiner der früheren Theorien vermutet wurde. Solange sich der Prozeß der Selbsterforschung auf die biographische Ebene beschränkt, scheint das Material aus solchen therapeutischen Sitzungen die Freudsche Theorie zu stützen. Man wird aber nur selten irgendwelche bedeutsamen therapeutischen Ergebnisse bei Patienten mit sexuellen Störungen und Abweichungen feststellen können, wenn die Sitzungen in erster Linie auf biographische Einflüsse ausgerichtet sind. Die Patienten, die an ihren sexuellen Problemen arbeiten, werden früher oder später auf tiefere Wurzeln ihrer Schwierigkeiten stoßen, nämlich auf der Ebene der perinatalen Dynamik oder gar in verschiedenen transpersonalen Bereichen.

Wenn der libidinöse Trieb und der sexuelle Appetit erheblich reduziert oder gar nicht vorhanden sind, dann liegt in der Regel eine tiefe Depression vor.1) Wie später noch dargestellt werden soll, läßt dies gewöhnlich auf eine tiefe dynamische Verbindung mit der zweiten perinatalen Grundmatrix schließen. Jemand, der unter dem Einfluß von Erlebnissen dieser Art steht, leidet unter einer totalen emotionalen Isolierung von seiner Umwelt und einer vollständigen Blockierung seines Energieflusses. Beide Bedingungen verhindern die Entwicklung des sexuellen Interesses und des Empfindens sexueller Erregung. Unter diesen Umständen bekommt man häufig zu hören, daß für die betreffende Person die sexuelle Aktivität das letzte auf der Welt sei, das für sie in Frage käme. Häufig läßt sich aber feststellen, daß bei einem solchen Menschen sexuelles Material aus der Vergangenheit oder der Gegenwart auftaucht, für ihn aber mit quälenden Schuldgefühlen und Ekel beladen ist. Gelegentlich können depressive Zustände mit mangelndem sexuellen Interesse auch transpersonale Wurzeln haben.

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Die meisten der schweren sexuellen Störungen und Abweichungen sind psychogenetisch mit der dritten perinatalen Grundmatrix verbunden. Um dies zu verstehen, müssen wir auf den tieferen Zusammenhang zwischen dem Muster des sexuellen Orgasmus und der Dynamik dieser Matrix eingehen. Extreme libidinöse Spannungen und Triebenergien allgemein stellen eines der wesentlichsten Merkmale der Endstadien des Tod-Wiedergeburt-Prozesses dar und bilden einen ebenso untrennbaren wie bedeutsamen Aspekt der dritten perinatalen Matrix. Die Spannungen können die Form einer undifferenzierten Energie annehmen, die den gesamten Organismus durchdringt, oder zusätzlich sich spezifischer in den einzelnen erogenen Zonen — der oralen, analen, urethralen oder genitalen Zone — manifestieren.

Wie ich schon an früherer Stelle beschrieben habe, sind in der dritten perinatalen Matrix verschiedene Elemente miteinander kombiniert, ein titanischer Kampf, destruktive und selbstdestruktive Neigungen, eine sadomasochistische Mischung aus aggressiven und erotischen Impulsen, verschiedene abweichende Formen des Sexualtriebs und enge Berührung mit Körperausscheidungen und -substanzen. Diese ungewöhnlich reichhaltige Kombination aus Emotionen und Empfindungen stellt sich im Zusammenhang mit einer tiefen Konfrontation mit dem Sterben und dem Wiedererleben der Geburt ein, das extreme körperliche Schmerzen und Todesangst nach sich zieht. Diese Verbindungen bilden die natürliche Grundlage für die Entwicklung aller klinischen Bilder, in denen die Sexualität eng mit Angst, Aggressionen, Leiden, Schuldgefühlen oder der Fixierung auf Körperausscheidungen und -Substanzen wie Urin, Kot, Blut oder genitale Exkrete verknüpft ist. Die gleichzeitige Aktivierung aller erogenen Zonen während des perinatalen Geschehens kann auch die Tatsache erklären, daß viele klinische Störungen durch eine funktionale Überschneidung der Aktivitäten im oralen, analen, urethralen und genitalen Bereich charakterisiert sind.

Die tiefe funktionale Verflochtenheit aller wichtigeren erogenen Zonen im Rahmen der biologischen Geburt — sowohl was die Mutter als auch was das Kind angeht — manifestiert sich deutlich in Situationen, in denen die Mutter nicht mit einem Klistier oder einem Katheter auf die Entbindung vorbereitet wird. Unter diesen Umständen erlebt sie nicht nur heftige sexuelle, orgastische Entladungen, sondern läßt auch Blähungen ab, defäkiert und uriniert. Auch das Kind kann reflexhaft urinieren und fötale Fäces oder Kindspech ausscheiden. Wenn wir jetzt noch die intensive Aktivierung der oralen Zone und die Beteiligung der Kaumuskeln, die sowohl bei der Mutter als auch beim Kind in den Endstadien des Geburtsvorgangs zu beobachten sind, sowie die durch drohendes Ersticken und extreme Schmerzen bedingte Anstauung und Entladung sexueller Energien beim Kind hinzunehmen, dann haben wir das Bild eines vollkommen funktionalen und erlebnismäßigen Gemischs aller wichtigen Aktivitäten, die Freud als erogen bezeichnet.2)

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Die klinischen Beobachtungen, die Sandor Ferenczi mit der sekundären Verschmelzung von Partialtrieben oder der Amphimixis in Beziehung bringen wollte, spiegelt einfach die Tatsache wider, daß die Freudsche Sukzessiventwicklung der Aktivitäten in den erogenen Zonen der Dynamik der perinatalen Matrizen, in denen alle Funktionen simultan betätigt werden, übergelagert ist. Der Schlüssel zu einem tieferen Verständnis der Psychologie und Psychopathologie des Sex liegt in dem Umstand verborgen, daß auf der perinatalen Ebene des Unbewußten die Sexualität engstens und unentwirrbar mit den Empfindungen und Emotionen verknüpft ist, die die Erfahrungen von Geburt und Tod begleiten. 

 

Jeder theoretische oder praktische Ansatz zum Verständnis und zur Therapie sexueller Probleme, der diese grundlegende Verbindung nicht erkennt und die Sexualität isoliert von diesen beiden fundamentalen Aspekten des Lebens behandelt, ist zwangsläufig unvollständig, oberflächlich und beschränkt wirksam. 

Die Verknüpfung von Sex mit Geburt und Tod sowie die maßgebliche Beteiligung sexueller Energie im psychischen Tod-Wiedergeburt-Prozeß lassen sich nicht ohne weiteres erklären. Die Existenz dieser Verbindung steht aber außer Zweifel und kann mit zahlreichen Beispielen aus Anthropologie, Geschichte, Mythologie und klinischer Psychiatrie belegt werden. Die Hervorhebung der Triade Geburt, Sexualität und Tod scheint den gemeinsamen Nenner all der Übergangsriten verschiedener vorindustrieller Kulturen, der Tempelmysterien, der Rituale ekstatischer Religionen und der Initiationszeremonien von Geheimbünden auszumachen. 

In der Mythologie werden männliche Gottheiten, die Tod und Wiedergeburt repräsentieren — etwa Osiris und Shiva —, häufig mit einem erigierten Phallus dargestellt. Es gibt auch bedeutende weibliche Gottheiten, in deren Funktionen sich die oben geschilderten Verknüpfungen widerspiegeln. Als wichtige Beispiele wären an dieser Stelle die indische Göttin Kali, die Astarte des Mittleren Ostens und die präkolumbianische Tlacolteutl zu nennen. Beobachtungen an gebärenden Frauen zeigen, daß das Erlebnis der Entbindung eine sehr starke sexuelle Komponente besitzt und auch mit Todesangst einhergeht. Diese Verbindung hat nun nichts allzu Rätselhaftes an sich, da ja der Genitalbereich am Entbindungsprozeß beteiligt ist und das Durchgehen des Kindes die Gebärmutter sowie die Vagina stark stimuliert, wobei heftige Spannungen aufgebaut werden, die sich hinterher wieder lösen. Auch das Element des Todes scheint recht logisch in Anbetracht der Tatsache, daß eine Geburt ein großes biologisches Ereignis ist, das gelegentlich das Leben der Mutter gefährden kann. Dennoch ist es aber alles andere als klar, warum das Wiedererleben der eigenen Geburt eine so starke sexuelle Komponente beinhaltet. Es hat den Anschein, als ob diese Verbindung auf einen tieferen, dem menschlichen Organismus angeborenen physiologischen Mechanismus hinweist. Seine Existenz läßt sich mit Beispielen aus vielen verschiedenen Bereichen belegen. So bewirken körperliche Qualen, insbesondere wenn sie von großer Atemnot begleitet sind, in der Regel intensive sexuelle Erregung und sogar religiöse Ekstase. Viele psychiatrische Patienten, die sich erhängen wollten und im letzten Augenblick gerettet wurden, haben beschrieben, daß sehr heftige Atemnot zu übermäßiger sexueller Erregung führte.

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Auch ist bekannt, daß männliche Kriminelle, die am Galgen sterben, in ihrem Todeskampf gewöhnlich Erektionen und sogar Ejakulationen haben. Patienten, die am sogenannten »Fesselsyndrom« leiden, haben das tiefe Bedürfnis, sexuelle Erleichterung in Verbindung mit körperlicher Einengung und Würgen zu erleben. Andere benutzen verschiedene raffinierte Vorrichtungen wie Schlingen an Nägeln, Türknäufen oder Zweigen, die es ihnen ermöglichen, zu masturbieren, während sie sich strangulieren.

Offenbar haben alle menschlichen Wesen, wenn sie extremen körperlichen und emotionalen Qualen ausgesetzt sind, die Fähigkeit, das Leiden zu transzendieren und in einen Zustand seltsamer Ekstase zu geraten (179). Diese Tatsache läßt sich vielfach belegen — mit Beobachtungen in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern, in denen Menschen für bestialische Experimente benutzt wurden, mit den Berichten von Amnesty International und mit Schilderungen amerikanischer Soldaten, die als Kriegsgefangene im Zweiten Weltkrieg von den Japanern oder im Korea- und Vietnamkrieg gefoltert wurden. Ferner haben schon seit jeher die Mitglieder religiöser Flagellantensekten sich selber und ihre Genossen heftig gequält, um starke libidinöse Gefühle, Zustände ekstatischen Entzückens und schließlich Erlebnisse der Vereinigung mit Gott hervorzurufen. Ebenfalls zu dieser Kategorie gehört das Transzendieren unmenschlichen Leidens in Fällen religiös motivierter Folterungen und des Todes von Märtyrern. In diesem Zusammenhang lassen sich auch viele weitere spirituell-pathologische Phänomene anführen, in denen ein seltsames Gemisch aus Selbstverstümmelung, Folterung, Opferung, Sexualität, angsterzeugenden Maßnahmen und skatologischen Manövern in den Rahmen religiöser oder quasi-religiöser Zeremonien eingebettet wird.

Weitere Beobachtungen ähnlicher Art stammen aus Kriegen, Revolutionen und totalitären Systemen. So bewirkt die Atmosphäre der Lebensgefahr in blutigen Schlachten bei vielen Soldaten sexuelle Erregung. Die Enthemmung aggressiver und sexueller Impulse in Kriegssituationen scheint ebenfalls mit perinatalen Elementen verbunden zu sein. Die Reden militärischer Führer und Politiker, in denen sie einen Krieg erklären oder die Massen zu blutigen Revolutionen aufwiegeln, wimmeln von Metaphern für die biologische Geburt. Die Atmosphäre in Konzentrationslagern ist eine höchst ungewöhnliche Kombination aus sadistischen, sexuellen und skatologischen Elementen. Auf die soziopolitischen Implikationen dieser Tatsachen werde ich im Schlußkapitel genauer eingehen. Als neurophysiologische Grundlage für die genannten Phänomene käme eventuell das limbische System des Gehirns mit seiner anatomischen Anordnung und seinen funktionalen Eigenschaften in Frage. Dieser archaische Teil des Zentralnervensystems enthält dicht nebeneinander Zentren, die für die Selbsterhaltung des Organismus verantwortlich sind und die Aggressionen steuern, und andere Zentren, die für die Erhaltung der Art eine wichtige Rolle spielen und mit der Sexualität verknüpft sind. Es ist vorstellbar, daß diese Zentren gleichzeitig stimuliert werden können oder daß die Erregung eines Zentrums auf andere übergreift.

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Das reichhaltige Spektrum der Phänomene im Zusammenhang mit der menschlichen Sexualität läßt sich nicht angemessen beschreiben und erklären, wenn die theoretischen Spekulationen auf Elemente biologischer Natur und auf biographisch determinierte psychologische Faktoren beschränkt bleiben. Die Beobachtungen im Rahmen der psychedelischen Therapie demonstrieren ohne jeden Zweifel, daß Sexualität auf vielen unterschiedlichen Bewußtseinsebenen und in sehr verschiedener Weise subjektiv erlebt werden kann, auch wenn ihre biologischen, physiologischen und verhaltensmäßigen Äußerungen einem außenstehenden Beobachter recht ähnlich erscheinen mögen. Folglich ist ein umfassendes Verständnis der Sexualität ohne genauere Kenntnis der Dynamik der perinatalen und der transpersonalen Ebene des Unbewußten unmöglich. Ich möchte nun im folgenden auf verschiedene sexuelle Erlebnisformen und Verhaltensweisen näher eingehen und sie aus dem Blickwinkel der modernen Bewußtseinsforschung mit und ohne Hilfe von psychedelischen Drogen betrachten. Dabei werde ich folgende thematische Aufteilung vornehmen: a. die »normale« Sexualität; b. Störungen und Dysfunktionen des Sexuallebens; c. sexuelle Variationen, Abweichungen und Perversionen; und d. transpersonale Formen der Sexualität.

 

»Normale« Sexualität:

Obwohl allgemein anerkannt ist, daß ein erfülltes Sexualleben mehr erfordert als lediglich richtiges biologisches Funktionieren, sind die gegenwärtigen medizinischen Kriterien für sexuelle Normalität ziemlich mechanisch und beschränkt. Sie enthalten nicht Elemente wie tief empfundene Respektierung des Partners, ein Gefühl des Zusammenhalts und des emotionalen Austauschs, oder Gefühle der Liebe und der Einheit im Alltagsleben oder während des Geschlechtsverkehrs. 

Ein Mann funktioniert sexuell adäquat, wenn sich bei ihm eine Erektion einstellt, die sich einigermaßen lange bis zur Ejakulation hält. Von den Frauen wird erwartet, daß sie auf eine sexuelle Situation mit angemessener Schlüpfrigkeit der Genitalien reagieren und zu einem vaginalen Orgasmus fähig sind. Das Konzept der sexuellen Normalität gibt auch der Heterosexualität den Vorzug und nimmt auch ein genügend ausgeprägtes sexuelles Verlangen an, das bewirkt, daß der Sexualakt mit einer bestimmten, statistisch ermittelten Durchschnittshäufigkeit vollzogen werden kann.

Im Laufe einer LSD- oder einer Selbsterfahrungstherapie stellen sich häufig tiefgreifende Veränderungen in bezug auf die Sexualität ein. Früher oder später erweitert sich das Verständnis der Sexualität beträchtlich und die oben genannten Kriterien werden als oberflächlich, nicht ausreichend und problematisch empfunden. 

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Die Klienten machen die Entdeckung, daß der sexuelle Orgasmus kein »Alles-oder-Nichts«-Phänomen ist, und daß es viele feine Abstufungen im Hinblick auf seine Intensität und Vollständigkeit gibt. In vielen Fällen erleben Personen, die vor der Therapie mit ihren sexuellen Orgasmen zufrieden waren, einen erstaunlichen Anstieg ihrer orgastischen Potenz. Dies ist gewöhnlich auf eine neue, durch die Tod-Wiedergeburt-Erfahrung und das Erlebnis der Einheit mit dem Kosmos bedingte Fähigkeit zurückzuführen, sich dem orgastischen Prozeß hinzugeben.

Eine andere wichtige Einsicht betrifft die Tatsache, daß unsere gegenwärtige Definition von »normalem« Sex Dinge, die damit eigentlich nichts zu tun haben, nicht ausschließt. Dazu gehören Dominanz und Unterwerfung, die Benutzung des Sex für verschiedene nichtsexuelle Ziele und Verhaltensweisen, die mehr der Selbstbestätigung als der sexuellen Befriedigung dienen. In unserer Kultur ist es durchaus üblich, daß Männer und Frauen bei der Beschreibung sexueller Aktivitäten Begriffe aus dem militärischen Bereich anwenden. Sie interpretieren die sexuelle Situation als Sieg oder Niederlage, als Eroberung des Partners oder als Eindringen in ihn, und sie können das Gefühl haben, sich bewiesen oder versagt zu haben.

Überlegungen, wer wen verführt und wer in dieser Situation gewonnen hat, sind alles andere als geeignet, die sexuelle Befriedigung zu fördern. Materieller Gewinn, Karrierestreben, Status, persönlicher Ruf und Machttendenzen können ebenfalls echte erotische Motive vollkommen überschatten. Ist der Sex der Selbstbestätigung untergeordnet, dann kann das sexuelle Interesse am Partner nach seiner »Eroberung« vollkommen verschwinden, die Zahl der verführten Partner wird wichtiger als die Qualität der sexuellen Situation, und die Tatsache", daß der Partner unnahbar oder fest an eine andere Person gebunden ist, kann ein entscheidendes Element sexueller Attraktion werden.

 

Nach den in der psychedelischen Therapie gewonnenen Einsichten stellen Verhaltensweisen, die der Selbstbestätigung dienen, mangelnde Respektierung des Partners, seine selbstsüchtige Ausbeutung und die Betonung rein mechanischer Stimulation in der sexuellen Situation schwerwiegende Verzerrungen dar und spiegeln ein tragisches Mißverständnis des Wesens der sexuellen Vereinigung wider. Eine solche Durchsetzung des Sex mit fremden Elementen ist in der Regel biographisch durch bestimmte traumatische Kindheitserinnerungen bedingt. Die Wurzeln solcher Probleme reichen aber immer weit in die perinatale Ebene des Unbewußten hinein. Werden die perinatalen Energien freigesetzt und der Inhalt der perinatalen Matrizen durchgearbeitet und integriert, so entwickelt sich bei den betreffenden Personen automatisch ein Verständnis von Sex, das durch gegenseitige Ergänzung geprägt ist.

Es wird ihnen absolut klar, daß es in einer echten sexuellen Begegnung weder einen Sieger noch einen Verlierer geben kann. Da es sich per definitionem um ein Sich-Ergänzen handelt, bei dem verschiedene Kategorien von Bedürfnissen gegenseitig befriedigt werden, sind beide Partner je nach den Umständen Gewinner oder Verlierer. Die Sexualität kann in vielfach verschiedener Hinsicht

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