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3  Die Welt der Psychotherapie: 

Auf dem Weg zu einem integrativen Ansatz 1)

 

 

 

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Die Beobachtungen im Rahmen der psychedelischen Forschung und anderer Formen intensiver Selbst­erfahrung machten es möglich, ein Element der Klarheit und Vereinfachung in das hoffnungslose Labyrinth der rivalisierenden psychotherapeutischen Schulen zu bringen. Schon eine oberflächliche Betrachtung der westlichen Psychologie läßt grundsätzliche Meinungsverschiedenheiten und Kontroversen enormen Ausmaßes in bezug auf die Grundmechanismen des menschlichen Geistes, das Wesen emotionaler Störungen und die psychotherapeutischen Techniken erkennen. 

Dies gilt nicht nur für Schulen, die Produkte a priori unvereinbarer philosophischer Ansätze sind — etwa des Behaviorismus und der Psychoanalyse —, sondern auch für die Richtungen, deren Begründer ursprünglich die gleichen oder zumindest sehr ähnliche Grundsätze vertraten. Am besten läßt sich dies an einem Vergleich der von Sigmund Freud stammenden Theorie der klassischen Psychoanalyse mit den Systemen von Alfred Adler, Wilhelm Reich, Otto Rank und Carl Gustav Jung verdeutlichen, die zu Anfang seine Bewunderer und ergebenen Schüler waren.

Die Situation wird noch komplizierter, wenn wir die psychologischen Systeme berücksichtigen, die von den großen spirituellen Traditionen in Ost und West entwickelt worden sind, etwa verschiedene Formen des Yoga, den Zen-Buddhismus, das Vajrayana, den Taoismus, den Sufismus, die Alchemie oder die Kabbalah. Zwischen den meisten westlichen Psychotherapieschulen und diesen hochentwickelten Theorien des Geistes, die auf jahrhundertelanger Versenkung in die Bewußtseinsphänomene beruhen, klafft ein unüberwindbarer Abgrund. Was mir half, einige der augenfälligsten Widersprüche in diesem Zusammenhang zu lösen — und zwar ziemlich unerwartet —, waren Beobachtungen von systematischen Veränderungen im Inhalt psychedelischer Erlebnisse, die zur Höhe der LSD-Dosis und zur Zahl der bereits erfolgten Sitzungen im Rahmen einer Behandlungsserie in Beziehung standen. 

In der psycholytischen Therapie wurde ein Patient in seinen ersten LSD-Sitzungen gewöhnlich mit verschiedenen Ereignissen aus seiner Lebensgeschichte konfrontiert. Während dieser Phase des Erinnerns und Analysierens konnten viele Erlebnisse mit Hilfe der klassischen Psychoanalyse gedeutet werden. Gelegentlich waren die autobiographischen Erfahrungen so beschaffen, daß sie sich ebenso gut oder noch besser mit der Adlerschen Theorie interpretieren ließen. 


Bestimmte Aspekte von Übertragungsmechanismen in psychedelischen Sitzungen und insbesondere in der Phase nach dem Drogenerlebnis hatten wichtige zwischenmenschliche Komponenten, die sich mit Hilfe der Prinzipien von Sullivan verstehen und angehen ließen. Sobald aber die Patienten über dieses »Freudsche« Stadium hinausgingen, konzentrierten sich die Sitzungen auf eine Konfrontation mit dem Tod und der biologischen Geburt auf einer tiefen Erlebnisebene. An diesem Punkt verloren die genannten Systeme ihren Wert für das Verständnis der beteiligten Prozesse. 

Bestimmte Aspekte des Tod-Wiedergeburt-Prozesses, insbesondere die Bedeutung des Todes und die Frage nach dem Sinn des Lebens, legten eine Interpretation mit Hilfe der Existentialphilosophie und der darauf basierenden Psychotherapie nahe. Orgiastische Energieentladungen und die daraus resultierende Lösung des »Charakterpanzers«, die in weniger heftiger Form auch im autobiographischen Stadium zu beobachten waren, steigerten sich während des perinatalen Prozesses zu extremen Ausmaßen. Mit einigen Modifikationen schienen hier die theoretischen Konzepte und die therapeutischen Kunstgriffe von Wilhelm Reich von äußerstem Nutzen zu sein.

Das Kernelement im komplexen dynamischen Geschehen des Tod-Wiedergeburt-Prozesses scheint das Wiedererleben des biologischen Geburtstraumas zu sein. Die Bedeutung dieses Traumas für die Psychologie und die Psychotherapie hat Otto Rank entdeckt und in seiner Pionierarbeit Das Trauma der Geburt (163) dargestellt. Obwohl sich Ranks Auffassung von der Natur dieses Traumas nicht mit den Beobachtungen im Rahmen der psychedelischen Forschung und Therapie deckt, können viele seiner Aussagen und Erkenntnisse, wenn sich das Geschehen auf die perinatale Ebene konzentriert, von großem Wert sein. Aufgrund dieser Tatsache bezeichne ich dieses Stadium der psychedelischen Therapie manchmal als das »Ranksche« Stadium. Dies entspricht aber nicht genau der klinischen Realität, da der Tod-Wiedergeburt-Prozeß sehr viel mehr beinhaltet als nur das Wiedererleben der biologischen Geburt.

Carl Gustav Jung ist sich der Bedeutung von Tod und Wiedergeburt auf psychischer Ebene wohl bewußt gewesen und hat sorgfältig verschiedene kulturelle Variationen dieses Themas untersucht. Seine Psychologie erweist sich als äußerst nützlich für die Interpretation des spezifischen Inhalts vieler perinataler Erlebnisse, insbesondere für das Verständnis mythologischer Bilder und Motive, die häufig in diesem Zusammenhang auftauchen. Sie scheint aber an den Beziehungen zwischen diesem Muster und der biologischen Geburt des einzelnen Menschen sowie den bedeutsamen physiologischen Dimensionen dieses Phänomens vorbeizugehen. Die Anwesenheit von archetypischen Elementen im Tod-Wiedergeburt-Prozeß spiegelt die Tatsache wider, daß eine Konfrontation mit den Phänomenen von Geburt und Tod auf einer tiefen Erlebnisebene die betreffende Person spirituell und mystisch öffnet und ihr den Zugang zu den transpersonalen Bereichen erschließt. 

Diese Verbindung besitzt ihre Parallelen im spirituellen Leben und in den rituellen Praktiken verschiedener Kulturen aller Zeitalter, etwa in den Initiationsriten von Schamanen, den Übergangsriten, den Treffen von ekstatischen Sekten oder den alten Mysterien von Tod und Wiedergeburt.

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In einigen Fällen kann ein von solchen Systemen benutzter symbolischer Rahmen für die Interpretation und das Verständnis so mancher perinataler Sitzungen angemessener sein als eine eklektische Kombination aus Rankschen, Reichschen, existentialistischen und Jungschen Konzepten.

Sobald sich das psychedelische Erleben in transpersonale Bereiche bewegt, jenseits der Pforte von Geburt und Tod, sind es von den westlichen psychologischen Schulen nur noch die Jungsche Psychologie und bis zu einem gewissen Grad die Psychosynthese von Assagioli, die die beteiligten Prozesse angemessen zu interpretieren vermögen. An diesem Punkt der LSD-Erfahrung dominieren die philosophischen, spirituellen, mystischen und mythologischen Aspekte. Da ich von der westlichen psychologischen und psychiatrischen Tradition herkomme, neige ich dazu, dieses Stadium der psychedelischen Therapie als das »Jungsche« Stadium zu bezeichnen, obwohl die Psychologie C.G. Jungs viele der hier auftretenden Phänomene nicht behandelt. 

Die Psychotherapie auf dieser Ebene ist nicht mehr unterscheidbar vom spirituellen und philosophischen Streben des einzelnen nach der Einheit mit dem Kosmos. Verschiedene Formen der philosophia perennis sowie die von ihnen abgeleiteten spirituellen und psychologischen Systeme erweisen sich in diesem fortgeschrittenen Therapiestadium als ausgezeichnete Orientierungshilfen sowohl für den Klienten als auch für den Therapeuten — wenn man überhaupt noch diese Bezeichnungen für zwei Menschen gebrauchen will, die nun zu zwei gemeinsam Suchenden geworden sind. Die obige Diskussion konzentrierte sich auf die Veränderungen im Inhalt der therapeutischen Sitzungen mit der wachsenden Häufigkeit der Drogeneinnahme. 

Eine ähnliche Entwicklung kann aber auch in Verbindung mit einer Verstärkung der LSD-Dosis nachgewiesen werden. Kleinere Dosen schließen in der Regel den autobiographischen Bereich auf, eventuell in Kombination mit einigen abstrakten Sinneserfahrungen. Eine höhere Dosis bewirkt gewöhnlich eine Konfrontation mit der perinatalen Ebene und erhöht die Chancen für ein Vordringen in transpersonale Bereiche. In diesem Zusammenhang erscheint es sinnvoller, von Ebenen der psychedelischen Erfahrung statt von Stadien des Umwandlungsprozesses zu sprechen. 

Diese Beziehungen lassen sich nur in den ersten psychedelischen Sitzungen beobachten. Jemand, der gründlich das autobiographische Material durchgearbeitet und die perinatalen Erlebnisinhalte integriert hat, wird in den nachfolgenden Sitzungen schon auf kleinere Dosen von LSD mit transpersonalen Erfahrungen reagieren. In diesem Fall steht die Dosis im Zusammenhang mit der Intensität der Erfahrung, nicht mit ihrem Typus. Wie ich im Laufe der Zeit festgestellt habe, lassen sich die geschilderten Beobachtungen, die zuerst im Rahmen der psychedelischen Therapie gemacht wurden, ebenso auf Selbsterfahrungstherapien ohne Zuhilfenahme von Drogen anwenden. Techniken mit weniger Tiefenwirkung erlauben somit die Erforschung autobiographischer Bereiche, wohingegen solche mit einer größeren Tiefenwirkung den Zugang zum perinatalen Prozeß oder zu transpersonalen Bereichen erschließen können.

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Die systematische Anwendung einer effektiven Selbsterfahrungstechnik wird parallel zur LSD-Therapie zunächst Ereignisse aus dem bisherigen Leben, dann den Tod-Wiedergeburt-Prozeß und schließlich transpersonale Phänomene erleben lassen. Diese Feststellung ist natürlich nur eine statistische Aussage. Im Einzelfall verläuft diese Entwicklung nicht unbedingt linear und hängt auch wesentlich von verschiedenen Faktoren ab, von den spezifischen Merkmalen der benutzten Techniken, von der Orientierung des Therapeuten, von der Einstellung des Klienten und von der Qualität der therapeutischen Beziehung.

Wie die geschilderten Beobachtungen deutlich werden lassen, kann die verwirrende Situation in der westlichen Psychologie mit ihrem nahezu undurchdringlichen Dschungel von rivalisierenden Schulen weitgehend durch die Erkenntnis aufgeklärt werden, daß sie nicht alle über das gleiche Thema sprechen. Ich habe bereits weiter oben im Zusammenhang mit der Besprechung der Spektrumpsychologie darauf hingewiesen, daß es verschiedene Bereiche der Psyche und unterschiedliche Bewußtseinsebenen mit jeweils spezifischen Merkmalen und Gesetzmäßigkeiten gibt. 

Die Gesamtheit der psychischen Phänomene kann demnach nicht auf ein paar einfache gemeinsame Elemente reduziert werden, insbesondere nicht auf einige wenige biologische und physiologische Mechanismen. Zudem besitzt die Welt des Bewußtseins nicht nur viele Ebenen, sondern auch viele Dimensionen. Aus diesem Grund ist jede Theorie, die sich auf das kartesianisch-Newtonsche Weltbild und auf lineare Beschreibungen beschränkt, zwangsläufig unvollständig und voll von Unstimmigkeiten. Sie läuft auch Gefahr, mit anderen Theorien im Widerspruch zu stehen, die verschiedene Bruchstücke der Realität hervorheben, ohne sich dessen explizit bewußt zu sein. 

So scheint das Hauptproblem der westlichen Psychotherapie darin zu liegen, daß sich einzelne Forscher aus unterschiedlichen Gründen auf eine bestimmte Bewußtseinsebene konzentrierten, ihre Beobachtungen aber auf die menschliche Psyche in ihrer Gesamtheit verallgemeinerten. Aus diesem Grund sind ihre Theorien unrichtig, wenn sie Allgemeingültigkeit beanspruchen, vermögen aber eine nützliche und einigermaßen zutreffende Beschreibung der jeweiligen Bewußtseinsebene oder einer ihrer Hauptaspekte zu leisten. Viele der bestehenden Systeme können deshalb in bestimmten Stadien des Selbsterfahrungsprozesses angewendet werden, doch keines von ihnen ist so umfassend und vollständig, daß es sich als alleiniges Hilfsmittel rechtfertigen ließe. Eine wirklich effektive Psychotherapie und Selbsterfahrung erfordert einen breiten theoretischen Rahmen, der auf der Erkenntnis der Vielfalt der Bewußtseinsebenen beruht und damit dem sektiererischen Chauvinismus der gegenwärtigen Schulen den Boden entzieht.

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Nach dieser allgemeinen Einführung möchte ich nun die speziellen Erkenntnisse über die Konzepte der wichtigsten therapeutischen Schulen darstellen, die auf Beobachtungen aus intensiver Selbsterfahrung mit oder ohne Anwendung psychedelischer Drogen beruhen. Ich werde zunächst jedes dieser Systeme kurz beschreiben und dann auf seine wichtigsten theoretischen und praktischen Probleme, seine Widersprüche zu anderen Schulen und die für eine Integration in eine umfassende Theorie der Psychotherapie notwendige Revidierung oder Neuformulierung eingehen.

 

   Sigmund Freud und die klassische Psychoanalyse  

 

Die Entdeckung der Grundprinzipien der Tiefenpsychologie war die bemerkenswerte Leistung eines einzelnen Mannes, des österreichischen Psychiaters Sigmund Freud. Er führte die Methode der freien Assoziation ein, wies die Existenz eines unbewußten Anteils der Psyche nach und beschrieb dessen dynamische Beziehungen, formulierte die Grundmechanismen, die an der Ätiologie der Psychoneurosen und vieler anderer emotionaler Störungen beteiligt sind, entdeckte die Sexualität des Kindes, entwarf die Technik der Traumdeutung, beschrieb die Phänomene der Übertragung und entwickelte die Grundprinzipien der psychotherapeutischen Intervention. 

Da Freud im Alleingang die psychischen Bereiche erschloß, die bis zum damaligen Zeitpunkt der westlichen Wissenschaft verborgen geblieben waren, ist es verständlich, daß sich seine Konzepte ständig änderten, sobald er mit neuen Problemen konfrontiert wurde. Ein Element aber, das durch alle diese Veränderungen hindurch konstant blieb, war Freuds tiefes Bedürfnis, die Psychologie als eine wissenschaftliche Disziplin zu etablieren. Er begann seine Arbeit in dem festen Glauben, daß die Wissenschaft eines Tages Ordnung und Einsicht in das scheinbare Chaos geistiger Prozesse bringen und sie mit Hilfe von Gehirnfunktionen erklären würde. 

Obwohl sich die Aufgabe, psychische Phänomene auf physiologische Prozesse zu reduzieren, als unüberwindlich herausstellte, verlor er nie dieses letzte Ziel aus seinen Augen. Er war immer empfänglich für den Gedanken, daß sich die Psychoanalyse neuen wissenschaftlichen Entdeckungen — sei es in der Psychologie selber oder in der Physik, der Biologie und der Physiologie — anpassen müßte. Es ist deshalb interessant, dem nachzugehen, welche der Vorstellungen Freuds die Prüfung durch neue Entdeckungen bestanden und welche einer grundsätzlichen Revision bedürfen. Einige dieser Revidierungen spiegeln die dem kartesianisch-Newtonschen Paradigma innewohnenden Beschränkungen und die Tatsache wider, daß sich die philosophischen und metaphysischen Grundlagen der Wissenschaft nach Freud drastisch geändert haben. Andere hängen mehr mit seinen eigenen persönlichen Beschränkungen und seiner kulturellen Prägung zusammen.

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In diesem Zusammenhang verdient besonders hervorgehoben zu werden, daß Freud sehr stark von seinem Lehrer Ernst Brücke beeinflußt wurde, dem Begründer der wissenschaftlichen Richtung, die als die Helmholtzsche Schule der Medizin bekannt ist. Nach seiner Ansicht waren alle biologischen Organismen komplexe atomare Systeme, die von strengen Gesetzmäßigkeiten bestimmt werden, insbesondere vom Prinzip der Erhaltung der Energie. Die einzigen in biologischen Organismen wirksamen Kräfte waren die der Materie innewohnenden physikalisch-chemischen Prozesse, die sich letztlich auf die Kräfte der Anziehung und Abstoßung reduzieren ließen. 

Ganz im Geist dieser Helmholtzschen Schule formte Freud seine Beschreibung psychischer Prozesse in Anlehnung an die Newtonsche Mechanik. Die vier Grundprinzipien des psychoanalytischen Ansatzes — das dynamische, das ökonomische, das topographische und das genetische Prinzip — entsprechen denn auch haargenau den Grundkonzepten der Newtonschen Physik.

 

Das dynamische Prinzip:

In der Newtonschen Mechanik werden materielle Teilchen und Objekte von Kräften bewegt, die sich von der Materie unterscheiden. Die Kollisionen zwischen diesen Teilchen und Objekten gehorchen ganz bestimmten Gesetzen. Entsprechend werden in der Psychoanalyse alle geistigen Prozesse mit Hilfe des Zusammenwirkens und des Zusammenpralls psychischer Kräfte erklärt. Sie können einander potenzieren und hemmen oder miteinander in Konflikt stehen und verschiedene Kompromißbildungen eingehen. Schließlich verlaufen sie in einer bestimmten Richtung, entweder auf eine motorische Entladung zu oder weg von ihr. Die bedeutsamsten Kräfte, die zum dynamischen Geschehen in der Psyche beitragen, sind instinktive Triebe. Newtons Prinzip der Aktion und Reaktion wurde ebenfalls von Freud übernommen und wirkte sich darin aus, daß er in Gegensätzen dachte. Seine Tendenz, verschiedene Aspekte psychischer Funktionen als Serie gegensätzlicher Phänomene darzustellen, ist auch von Psychoanalytikern als schwerwiegende theoretische Beschränkung angesehen worden.

 

Das ökonomische Prinzip:

Der quantitative Aspekt der Newtonschen Mechanik erwies sich als weitgehend für ihren praktischen Erfolg und ihr hohes wissenschaftliches Ansehen verantwortlich. Massen, Kräfte, Entfernungen und Geschwindigkeiten ließen sich als meßbare Größen ausdrücken, deren Beziehungen untereinander in Form mathematischer Gleichungen beschrieben werden konnten. Freud kam zwar nicht im entferntesten an diese starren Kriterien der Physik heran, doch betonte er häufig, welche wichtige Rolle die energetische Ökonomie in psychischen Prozessen spielte. 

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Den psychischen Repräsentanzen der instinktiven Triebe und den ihnen entgegenwirkenden Kräften schrieb er eine jeweils bestimmte Energieladung oder Kathexis zu. Die Energieverteilung zwischen Input, Verbrauch und Output war von entscheidender Bedeutung. Die Funktion des psychischen Apparates bestand darin, das Aufstauen dieser Energien zu verhindern und die gesamte Menge an Erregung so niedrig wie möglich zu halten. Die Größe der Erregung wurde auch als die treibende Kraft hinter dem Lust-Unlust-Prinzip angesehen, das in Freuds Denken eine wichtige Rolle spielte.

 

Das topographische oder strukturelle Prinzip:

Während man in der modernen Physik getrennte materielle Einheiten der phänomenalen Welt als Erscheinungsformen untrennbar miteinander verbundener dynamischer Prozesse betrachtet, beschäftigt sich die Newtonsche Mechanik mit einzelnen materiellen Teilchen und Objekten, die in einem Euklidischen Raum gegenseitig aufeinander einwirken. Entsprechend werden in Freuds topographischen Beschreibungen eng miteinander verknüpfte dynamische Prozesse als spezifische Einzelstrukturen des psychischen Apparates hingestellt, die miteinander in einem psychischen Raum mit Euklidischen Merkmalen interagieren. Gelegentlich warnte Freud davor, solche Konzepte wie das Es, das Ich und das Über-Ich allzu wörtlich zu nehmen. Er betrachtete sie lediglich als Abstraktionen und bezeichnete jeden Versuch, sie zu bestimmten Gehirnfunktionen und -strukturen in Beziehung zu setzen, als »Gehirnmythologie«. In seinen Schriften aber haben sie alle die Eigenschaften materieller Objekte im Newtonschen Sinn, nämlich Ausdehnung, Masse, Lage und Bewegung. Sie können nicht den gleichen Raum einnehmen und somit sich nicht bewegen, ohne sich gegenseitig zu verdrängen. Sie prallen zusammen und können unterdrückt, überwältigt oder zerstört werden. Dieser Ansatz gipfelt in der Vorstellung, daß es ein beschränktes Quantum an Libido und sogar Liebe gibt. In der klassischen Analyse stehen die Objektliebe und die Selbstliebe miteinander in Konflikt und Wettstreit.

 

Das genetische2) oder historische Prinzip:

Eines der charakteristischsten Merkmale der Newtonschen Mechanik ist der strikte Determinismus. Die Kollisionen zwischen Teilchen und Objekten erfolgen in linearen Ursache-Wirkung-Ketten. Die räumlich-zeitliche und die kausale Beschreibung von Ereignissen werden vereinigt. Die ursprünglichen Bedingungen eines Systems bestimmen somit in ausschließlicher Weise seinen Zustand zu allen späteren Zeitpunkten. Prinzipiell wäre es möglich, bei Kenntnis aller Variablen aus dem gegenwärtigen Zustand des untersuchten Systems dessen Zustand zu jedem früheren oder späteren Zeitpunkt zu erschließen. Die These von der absoluten Determiniertheit psychischer Prozesse war einer der wichtigsten Beiträge Freuds. 

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Jedes psychische Ereignis wurde als das Ergebnis und zugleich als die Ursache anderer psychischer Ereignisse angesehen. Der psychogenetische Ansatz der Psychoanalyse versucht, das Erleben und das Verhalten des einzelnen Menschen von früheren ontogenetischen Abschnitten und Anpassungsmustern herzuleiten. Will man das gegenwärtige Verhalten vollständig begreifen, muß man die ihm vorausgehenden Ereignisse untersuchen, insbesondere die psychosexuellen Erlebnisse in der frühen Kindheit. Die Erfahrungen in den aufeinanderfolgenden Stadien der libidinösen Entwicklung, die Lösung der Kindheitsneurose sowie die Konflikte im Zusammenhang mit der kindlichen Sexualität bestimmen in entscheidender Weise das gesamte spätere Leben.

Ein anderes wichtiges Merkmal, das die Psychoanalyse mit der kartesianisch-Newtonschen Wissenschaft teilt, ist die Annahme, daß es einen objektiven und unabhängigen Beobachter gibt. Der Patient, so glaubt man, kann beobachtet werden, ohne daß wesentliche störende Einflüsse vom Beobachter ausgehen. Diese Vorstellung ist zwar in der Ich-Psychologie erheblich modifiziert worden, doch wird in der klassischen Psychoanalyse die Ansicht vertreten, daß das Leben des Patienten auch während der Therapie weiterhin nahezu ausschließlich durch die ursprünglichen lebensgeschichtlich-psychogenetischen Bedingungen bestimmt wird.

Nach der Darstellung der allgemeinen Prinzipien, auf denen die Psychoanalyse aufgebaut ist, können wir nun ihre wichtigsten spezifischen Beiträge umreißen. Sie lassen sich in drei inhaltliche Kategorien unterteilen: in die Triebtheorie, in das Modell des psychischen Apparates sowie in die Prinzipien und Techniken der psychoanalytischen Therapie. Im großen und ganzen war Freud der Überzeugung, daß die psychische Entwicklung des einzelnen Menschen mit der Geburt beginnt. Er hielt das Neugeborene in dieser Hinsicht für eine tabula rasa, für eine blanke oder ausgewischte Tafel. Gelegentlich zog er die Möglichkeit vager konstitutioneller Prädispositionen oder sogar archaischer Erinnerungen phylogenetischen Ursprungs in Betracht. So meinte er, daß die Kastrationsphantasien kleiner Jungen ein Überbleibsel aus Zeiten seien, in denen zur Bestrafung tatsächlich der Penis abgeschnitten wurde, oder daß bestimmte totemistische Elemente in der Psyche die historische Realität des brutalen Vatermords durch die Vereinigung der Brüder widerspiegelten. Ähnlich ließen sich gewisse Aspekte der Traumsymbolik nicht aus den Lebenserfahrungen des einzelnen Menschen herleiten und schienen Ausdruck einer archaischen Sprache der Psyche zu sein. Für praktische Zwecke aber dienten zur Erklärung des psychischen Geschehens autobiographische Faktoren, angefangen mit den frühen Kindheitserlebnissen. 

Eine entscheidende Rolle schrieb Freud den Trieben zu, die er als Kräfte ansah, die Psyche und Soma miteinander verbanden. In den frühen Jahren der Psychoanalyse postulierte Freud einen grundlegenden Dualismus zwischen dem Sexualtrieb oder der Libido und den nichtsexuellen, der Selbsterhaltung dienenden Ich-Trieben. 

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Wie er meinte, waren die psychischen Konflikte, die aus dem Widerstreit zwischen diesen Trieben resultierten, verantwortlich für die Entstehung der Psychoneurosen und verschiedener anderer psychischer Phänomene. Der Libido schenkte Freud weitaus größere Beachtung als den Ich-Trieben. 

Freud entdeckte weiter, daß der Ursprung der Sexualität in der frühen Kindheit lag, und stellte mehrere Entwicklungsphasen der Sexualität fest (53). Nach seiner Auffassung beginnen die psychosexuellen Aktivitäten während des Saugens an der Mutterbrust, wobei der Mund des Säuglings eine erogene Zone bildet (orale Phase). Im Verlauf der Sauberkeitserziehung verschiebt sich der Schwerpunkt von Empfindungen während der Defäkation (anale Phase) auf Empfindungen während des Urinierens (urethrale Phase). Schließlich werden im Alter von etwa vier Jahren diese prägenitalen Partialtriebe integriert und von genitalen Trieben, die den Penis oder die Klitoris betreffen, abgelöst (phallische Phase). Damit fallen auch der Ödipus- und der Elektrakomplex zusammen, eine vorwiegend positive Einstellung gegenüber dem andersgeschlechtlichen Elternteil und eine aggressive Haltung gegenüber dem gleichgeschlechtlichen Elternteil. Freud ordnet in diesem Zusammenhang der Überbewertung des Penis und dem Kastrationskomplex eine entscheidende Rolle zu. Der kleine Junge gibt seine ödipalen Neigungen aus Angst vor Kastration auf, das kleine Mädchen löst sich von seiner ursprünglichen Bindung an die Mutter und konzentriert ihre Gefühle auf den Vater, weil sie von der »kastrierten« Mutter enttäuscht ist und hofft, von ihrem Vater einen Penis oder ein Kind zu bekommen.

Eine allzu heftige erotische Betätigung oder umgekehrt Frustrationen, Konflikte und Traumen, die sie stören, können eine Fixierung auf verschiedenen Stadien der libidinösen Entwicklung bewirken. Eine solche Fixierung und eine ungelöste ödipale Situation führen unter Umständen zu Psychoneurosen, sexuellen Perversionen und anderen psychopathologischen Erscheinungsformen. Freud und seine Nachfolger entwickelten ein detailliertes dynamisches Modell, in dem verschiedene emotionale und psychosomatische Störungen mit spezifischen Eigenheiten der libidinösen Entwicklung und der Ich-Reifung in Beziehung gesetzt werden. Freud führte auch Schwierigkeiten in zwischenmenschlichen Beziehungen auf Faktoren zurück, die die Entwicklung vom Stadium des primären Narzißmus des Säuglings, das durch Selbstliebe gekennzeichnet ist, zu differenzierten Objektbeziehungen, in denen die Libido auf andere Menschen gerichtet wird, beeinträchtigen.

In den Anfangszeiten seiner psychoanalytischen Explorationen und Spekulationen hob Freud besonders das Lustprinzip hervor, eine angeborene Tendenz, nach Lust zu streben und Schmerz zu vermeiden. Er betrachtete es als das Hauptregulierungsprinzip der menschlichen Psyche. Schmerzen und seelische Qualen standen nach seiner Meinung im Zusammenhang mit einem Übermaß an nervösen Reizen, das Wesen der Lust sah er in der Entladung von Spannungen und im Abbau von Erregung. 

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Das Gegenstück zum Lustprinzip wurde dann das Realitätsprinzip, eine erlernte Funktion, die durch die Anforderungen der Umwelt und die Notwendigkeit des Aufschubs unmittelbarer Lustbefriedigung bedingt ist. In seinen späteren Untersuchungen fiel es Freud allerdings immer schwerer, die klinischen Fakten mit seiner Auffassung von der beherrschenden Rolle des Lustprinzips in Einklang zu bringen.

Ursprünglich brachte er die Aggression hauptsächlich mit dem Sadismus in Verbindung und glaubte, daß diese sich auf jeder Stufe der psychosexuellen Entwicklung im Rahmen der Partialtriebe äußerte. Da aber die Aggression so manche eindeutig nicht-sexuellen Aspekte besaß, klassifizierte er sie eine Zeitlang als Ich-Trieb. Später unterschied er zwischen nicht-sexueller Aggression und Haß, die zu den Ich-Trieben gehörten, und den libidinösen Aspekten des Sadismus, die in eindeutiger Verbindung mit dem Sexualtrieb standen. Den Sadismus selber betrachtete er als eine Verschmelzung von Sexualität und Aggression, die in erster Linie auf die Frustration von Bedürfnissen zurückzuführen war.

 

Freud mußte sich aber mit einem noch ernsthafteren Problem auseinandersetzen. Er wurde sich der Tatsache bewußt, daß aggressive Impulse in vielen Fällen nicht der Selbsterhaltung dienten und somit nicht den Ich-Trieben zugeordnet werden konnten. Dies kam in vielen Fällen sehr deutlich zum Vorschein, etwa in den selbstzerstörerischen und suizidalen Neigungen von depressiven Patienten, in der Selbstverstümmelung mancher geistig gestörter Menschen, in sich selber beigebrachten Verletzungen von masochistischen Personen, in einem unerklärlichen, sich in der menschlichen Psyche offenbarenden Leidensbedürfnis, im Zwang zur Wiederholung selbstschädigenden und Schmerz verursachenden Verhaltens, oder in der mutwilligen Destruktivität von kleinen Kindern. 

Freud beschloß deshalb, die Aggression als einen eigenständigen Trieb zu behandeln, dessen Quelle in der Skelettmuskulatur zu finden sei und dessen Ziel in der Zerstörung liege. Damit wurde das im wesentlichen negative Menschenbild der Psychoanalyse abgerundet, wird die Psyche jetzt nicht nur von Grundtrieben beherrscht, sondern wohnt ihr auch eine bedeutsame zerstörerische Komponente inne. In den früheren Schriften Freuds war die Aggression als Reaktion auf Frustration und die mangelnde Befriedigung libidinöser Impulse aufgefaßt worden. In seinen späten Spekulationen postulierte Freud die Existenz zweier Kategorien von Trieben: solcher, die der Erhaltung des Lebens dienen, und solcher, die ihm entgegenwirken und es wieder in einen anorganischen Zustand überführen wollen. Er sah einen tiefen Zusammenhang zwischen diesen beiden Gruppen von Trieben und zwei gegeneinander gerichteten Trends in den physiologischen Prozessen des menschlichen Organismus, dem Anabolismus und dem Katabolismus. Anabolische Prozesse tragen zum Wachstum, zur Entwicklung und zur Speicherung von Nahrung bei, katabolische Prozesse stehen in Verbindung mit dem Verbrennen von Stoffwechselreserven und dem Energieverbrauch. 

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Freud sah auch einen Zusammenhang zwischen der Aktivität dieser Triebe und dem Schicksal zweier Gruppen von Zellen des menschlichen Organismus, der Keimzellen, die potentiell ewig bestehen, und den regulären Körperzellen, die sterblich sind. Der Todestrieb ist schon seit dem ersten Augenblick des Bestehens des Organismus wirksam und führt ihn allmählich in ein anorganisches System über. Dieser destruktive Trieb kann und muß teilweise von seinem ursprünglich selbstzerstörerischen Ziel abgelenkt und gegen andere Organismen gerichtet werden. Es scheint keine Rolle zu spielen, ob sich der Todestrieb gegen Objekte in der Außenwelt oder gegen den Organismus selber richtet, solange er nur sein Ziel, die Zerstörung, erreicht.

Freuds endgültige Formulierungen über die Rolle des Todestriebs erschienen in seinem letzten größeren Werk Abriß der Psychoanalyse (58). Darin wird die fundamentale Dichotomie zwischen zwei mächtigen Kräften, dem Liebestrieb (Eros) und dem Todestrieb (Thanatos), zum Grundstein seines Verständnisses psychischer Prozesse. Sie beherrschte Freuds Denken in den letzten Jahren seines Lebens. Diese bedeutsame Revidierung der psychoanalytischen Theorie rief aber nicht viel Begeisterung bei seinen Nachfolgern hervor und wurde auch nicht vollständig in die weitere Entwicklung der Psychoanalyse integriert. Rudolf Brun (24) hat eine ausführliche statistische Untersuchung an Arbeiten, die sich mit Freuds Todestriebtheorie befassen, vorgenommen und festgestellt, daß in den meisten von ihnen Freuds Konzept deutlich abgelehnt wurde. Viele Autoren haben Freuds Interesse für den Tod und die Eingliederung des Thanatos in die Trieblehre als Fremdkörper in der Entwicklung seines psychologischen Theoriengebäudes betrachtet. Man zog auch den Schluß, daß ein durch das hohe Alter bedingter intellektueller Abbau sowie persönliche Faktoren für diese unerwartete Dimension in seinem Denken verantwortlich waren. Seine späten Gedanken sind von einigen als das Ergebnis seiner eigenen pathologischen Beschäftigung mit dem Sterben, seiner Reaktion auf den Krebs, an dem er litt, und des Todes enger Familienangehöriger interpretiert worden. Brun hat in der erwähnten Arbeit die Ansicht geäußert, daß Freuds Todestriebtheorie weitgehend auch als eine Reaktion auf die Massentötung im Ersten Weltkrieg zu verstehen sei.

Freuds frühe topographische Theorie der Psyche, die er zu Beginn dieses Jahrhunderts in seinem Buch Die Traumdeutung (54) entwarf, leitete sich von der Analyse von Träumen, der Dynamik psychoneurotischer Symptome und psycho-pathologischer Phänomene im alltäglichen Leben ab. Er unterschied drei Bereiche der Psyche, die durch ihr Verhältnis zum Bewußtsein charakterisiert waren: das Unbewußte, das Vorbewußte und das Bewußte. Das Unbewußte enthält Elemente, die dem Bewußtsein im wesentlichen unzugänglich sind, und die nur auf dem Weg über das Vorbewußte, das eine Art psychische Zensur bildet, bewußt werden können. Es enthält die psychischen Repräsentanzen von Trieben, die einst bewußt waren, aber als unakzeptabel gewertet und deshalb aus dem Bewußtsein verbannt und verdrängt worden waren. 

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Die gesamte Aktivität des Unbewußten wird vom Lustprinzip, dem Streben nach Erregungsabfuhr und Befriedigung, beherrscht. Aus diesem Grund ist das Denken im Unbewußten dem Primärvorgang unterworfen, d.h. es übergeht logische Verbindungen, hat keine Vorstellung von der Zeit, kennt keine Negative und läßt bereitwillig die Existenz von Widersprüchen zu. Es versucht, seine Ziele mit Hilfe solcher Mechanismen wie Verdichtung, Kompromißbildung und Symbolisierung zu erreichen. Das Vorbewußte enthält diejenigen Elemente, die unter bestimmten Umständen in das Bewußtsein gelangen können. Es ist bei der Geburt noch nicht vorhanden, sondern entwickelt sich in der Kindheit parallel mit dem Ich. Sein Ziel besteht darin, Unlust zu vermeiden und die Entladung von Triebenergie hinauszuschieben. Aus diesem Grund ist das Denken im Vorbewußten dem Sekundärvorgang unterworfen, in dem die logische Analyse und das Realitätsprinzip dominieren. Zu seinen wichtigsten Funktionen gehören die psychische Zensur und die Verdrängung von Triebimpulsen. Das Bewußte schließlich steht in Verbindung mit den Wahrnehmungsorganen, es kontrolliert die motorische Aktivität und reguliert die qualitative Verteilung der psychischen Energie. Diese topographische Theorie erwies sich als ziemlich problematisch. Es wurde deutlich, daß die Abwehrmechanismen, die Schmerz oder Unlust abwenden, ursprünglich nicht dem Bewußtsein zugänglich waren. Die verdrängende Instanz konnte also nicht mit dem Vorbewußten gleichgesetzt werden. Auch widersprach die Existenz unbewußter Bestrafungsbedürfnisse der Vorstellung, daß die für die Verdrängung verantwortliche moralische Instanz mit den Kräften des Vorbewußten in Verbindung stand. Zudem enthielt das Unbewußte zweifellos so manche archaische Elemente, die nie bewußt gewesen waren, etwa Urphantasien phylogenetischer Natur und bestimmte Symbole, die unmöglich der persönlichen Erfahrung entsprungen sein konnten.

Freud ersetzte schließlich das Konzept von den Systemen des Bewußten, Vorbewußten und Unbewußten durch sein berühmtes Modell des psychischen Apparates, in dem er das dynamische Zusammenspiel dreier voneinander getrennter psychischer Komponenten, des Es, des Ich und des Über-Ich, postulierte. Das Es stellt in diesem Zusammenhang ein Urreservoir an Triebenergien dar, die ichfremd sind und vom Primärvorgang bestimmt werden. Das Ich behält seine ursprüngliche enge Verbindung zum Bewußtsein und zur Außenwelt bei, doch übt es verschiedene unbewußte Funktionen aus. Es wendet Impulse aus dem Es mit Hilfe spezifischer Abwehrmechanismen ab.3) 

Außerdem kontrolliert es den Wahrnehmungs- und Bewegungsapparat. Das Über-Ich bildet die jüngste unter den strukturellen Komponenten der Psyche und entwickelt sich vollständig erst mit der Lösung des Ödipuskomplexes. Einer seiner Aspekte ist das Ich-Ideal, das den Versuch widerspiegelt, einen hypothetischen Zustand der narzißtischen Vollkommenheit, der in der frühen Kindheit existierte, und positive Elemente der Identifikation mit den Eltern zu bewahren. Der andere Aspekt ist das Gewissen oder der »Dämon«. Es setzt sich aus den introjizierten Verboten der Eltern zusammen, die durch die Kastrationsdrohung besonderes Gewicht erhalten. 

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In der Regel führen das Streben nach Männlichkeit beim Jungen und das Streben nach Weiblichkeit beim Mädchen zu einer stärkeren Identifikation mit dem Überich des gleichgeschlechtlichen Elternteils.

Das Über-Ich ist meistens unbewußt tätig. Freud stellte zudem fest, daß ein bestimmter Aspekt des Über-Ich wild und grausam ist und damit unverkennbar seine Herkunft aus dem Es verrät. Er machte diesen Aspekt für die bei manchen psychiatrischen Patienten festzustellenden extremen Selbstbestrafungs- und Selbstzerstörungstendenzen verantwortlich. Neuere Beiträge zur Freudschen Theorie hoben die Rolle der Triebe und Objektbindungen hervor, die in der präödipalen Entwicklungsphase des Über-Ich gebildet werden. Diese prägenitalen Vorläufer des Über-Ich spiegeln Projektionen der eigenen sadistischen Triebe des Kindes und einen primitiven Gerechtigkeitssinn auf der Basis von Vergeltung wider.

Freuds revidiertes Modell von der Psyche beinhaltete auch eine neue Theorie der Angst, jenem Symptom, das das Kernproblem der dynamischen Psychiatrie darstellt. In der ersten Theorie Freuds wurde die biologische Grundlage der Angst im Sexualtrieb gesehen. In den sogenannten »Aktualneurosen« — der Neurasthenie, der Hypochondrie und der Angstneurose — wurde die Angst auf unangemessene Abfuhr libidinöser Energien, etwa im Zusammenhang mit abnormen sexuellen Praktiken (Enthaltsamkeit oder coitus interruptus), und den daraus resultierenden Mangel an angemessener psychischer Verarbeitung sexueller Spannungen zurückgeführt. Die »Psychoneurosen« hatten ihre Ursache in der Störung der normalen Sexualfunktion durch psychische Faktoren. Die Angst wurde als das Produkt verdrängter Libido betrachtet. Diese Theorie berücksichtigte aber nicht die objektive Angst, die als Reaktion auf eine realistische Gefahr auftritt. Sie beinhaltete zudem einen logischen Zirkelschluß: die Angst wurde als das Ergebnis der Verdrängung libidinöser Impulse erklärt, die Verdrängung selber aber war das Resultat unerträglicher Emotionen, zu denen natürlich auch die Angst gehörte.

In seiner neuen Angsttheorie unterschied Freud zwischen Realangst und neurotischer Angst, die beide eine Reaktion auf Gefahren für den Organismus darstellen. In der Realangst handelt es sich um eine konkrete Gefahr, die von außen kommt, in der neurotischen Angst ist die Gefahrenquelle nicht bewußt. Im Säuglings- und Kindesalter tritt Angst als Folge übermäßiger Triebreizung auf. Später hat sie den Charakter der Antizipierung von Gefahr und nicht den einer Reaktion auf sie. Die Signalangst mobilisiert Schutzvorkehrungen, entweder Vermeidungsmechanismen, um einer realen oder nur phantasierten Gefahr von außen zu entfliehen, oder psychische Abwehrmechanismen, um mit der übermäßig starken Trieberregung fertig zu werden. Die Neurosen sind das Ergebnis eines teil weisen Versagens des Abwehrsystems. Ein vollständiger Zusammenbruch führt zu Störungen psychotischen Ausmaßes, die mit starken Verzerrungen des Ich und der Wahrnehmung der Realität einhergehen.

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Wie die Freudsche Theorie weist auch das psychoanalytische Konzept der Behandlungssituation und der eigentlichen therapeutischen Technik eine starke Beeinflussung durch das kartesianisch-Newtonsche Denken auf. Das therapeutische Grundarrangement — der Patient liegt auf der Couch und der Therapeut sitzt unsichtbar für ihn hinter seinem Kopf — verkörpert das Ideal des »objektiven Beobachters«. Es läßt die feste Überzeugung der mechanistischen Wissenschaft durchblicken, daß eine wissenschaftliche Beobachtung ohne störende Einwirkung auf den untersuchten Gegenstand oder Vorgang möglich ist. Die kartesianische Dichotomie zwischen Geist und Körper findet ihren Ausdruck in der psychoanalytischen Praxis, sich ausschließlich auf psychische Prozesse zu konzentrieren. Körperliche Äußerungen werden im psychoanalytischen Prozeß als Widerspiegelungen oder umgekehrt als Auslöser psychischer Ereignisse aufgefaßt. Die therapeutische Technik selber beinhaltet aber keinerlei direkte physische Intervention. Jeder Körperkontakt mit dem Patienten wird streng tabuisiert. Manche Psychoanalytiker warnen sogar davor, dem Patienten die Hand zu schütteln, weil sie darin eine potentielle Gefährdung der therapeutischen Beziehung aus der Sicht des Übertragungs-Gegenübertragungs-Prozesses erblicken.

Die Spaltung zwischen Geist und Körper in der Psychoanalyse wird dadurch vervollständigt, daß das therapeutische Problem von seinem breiteren zwischenmenschlichen, sozialen und kosmischen Umfeld rigoros isoliert wird. Psychoanalytiker weigern sich in der Regel, mit Ehegatten oder anderen Familienangehörigen des Patienten in engeren Kontakt zu treten oder sie anderweitig in die Behandlung einzubeziehen, übergehen die meisten sozialen Umstände des Lebens ihrer Patienten und sperren sich gegen jegliche echte Anerkennung transpersonaler und spiritueller Faktoren. Die dynamische Grundlage für die beobachtbaren äußeren Erscheinungen sind Triebimpulse, die nach Abfuhr drängen, und die verschiedenen Gegenkräfte, die hemmend wirken. Die therapeutischen Bemühungen des Analytikers konzentrieren sich auf die Beseitigung der Hindernisse, die eine mehr unmittelbare Äußerung dieser Kräfte verhindern. In dieser Widerstandsanalyse verbleibt man ausschließlich auf der verbalen Ebene. Der Therapeut hat die Aufgabe, aus bestimmten äußeren Anzeichen die Konstellation der symptombildenden Kräfte zu rekonstruieren, diese Kräfte in der therapeutischen Beziehung wieder aufleben zu lassen und durch die Übertragungsanalyse die ursprünglich verdrängten infantilen Sexualwünsche freizulegen, sie in die reife Sexualität des Erwachsenen umzuwandeln und in die Persönlichkeitsentwicklung zu integrieren.

In einer psychoanalytischen Sitzung befindet sich der Patient in einer passiven, unterlegenen und höchst unvorteilhaften Situation. Er liegt auf der Couch, sieht den Analytiker nicht, und soll ohne Fragen zu stellen frei assoziieren. Der Analytiker übt totale Kontrolle über die Situation aus. Er beantwortet normalerweise keine Fragen, behält es sich vor, zu schweigen oder Interpretationen zu geben, und wertet jede Mißhelligkeit als Anzeichen für den Widerstand des Patienten.4)

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Die auf der Freudschen Theorie basierenden Interpretationen des Therapeuten bestimmen explizit oder implizit den Behandlungsverlauf und lassen keinen Raum für Exkursionen in neue Bereiche. Vom Therapeuten wird erwartet, daß er sich nicht persönlich engagiert, daß er objektiv und kühl bleibt und jedes Anzeichen für eine »Gegenübertragung« unter Kontrolle behält. Der Patient produziert freie Assoziationen, doch als die therapeutisch wirksamen Elemente werden der Therapeut und seine Interpretationen betrachtet. Er gilt als eine gereifte und geistig gesunde Persönlichkeit mit den nötigen theoretischen und praktischen Kenntnissen. Der Einfluß des medizinischen Modells ist deshalb sehr stark und unverkennbar, trotz der Tatsache, daß die Psychoanalyse ein psychologisches Verfahren zur Behandlung emotionaler Störungen ist. Der Hauptschwerpunkt einer Analyse ruht auf der Rekonstruktion der traumatischen Vergangenheit und ihrer Wiederbelebung in der Übertragungsdynamik. Dieses Verfahren basiert also auf einem streng deterministischen, historischen Modell. Freuds Auffassung vom therapeutischen Erfolg ist mechanistischer Natur. Er betont das Freisetzen aufgestauter Energien und ihre konstruktive Verwendung (Sublimierung). Im Hinblick auf den außergewöhnlichen Aufwand an Zeit, Geld und Energie nimmt sich Freuds explizite Formulierung des Therapieziels recht bescheiden aus, nämlich das extreme Leiden des Neurotikers in die normale Misere des Alltagslebens umzuwandeln.

 

Nach diesem kurzen Überblick über die Grundkonzepte der klassischen Psychoanalyse und ihrer theoretischen sowie praktischen Wandlungen möchte ich gern Freuds Beiträge aus der Sicht von Beobachtungen im Rahmen intensiver Selbsterfahrungstherapien, insbesondere aber der LSD-Forschung, diskutieren. Im allgemeinen kann man die Regel aufstellen, daß die Psychoanalyse einen nahezu idealen theoretischen Rahmen abgibt, solange sich die LSD-Sitzungen auf der autobiographischen Ebene des Unbewußten bewegen. Wäre das Wiedererleben vergangener Ereignisse die einzige Kategorie von Phänomenen, die in diesem Zusammenhang beobachtet werden können, dann ließe sich die LSD-Psychotherapie geradezu als Laborbeleg für die psychoanalytischen Grundanschauungen verwenden. 

Die psychosexuellen Zusammenhänge und die Grundkonflikte der menschlichen Psyche, wie sie von Freud beschrieben wurden, treten mit ungewöhnlicher Klarheit und Lebendigkeit sogar in Sitzungen mit völlig unbefangenen Personen zutage, die noch nie analysiert worden sind, keine psychoanalytischen Bücher gelesen haben und auch sonst nicht explizit oder implizit mit einer bestimmten Lehre indoktriniert worden sind. Unter der Einwirkung von LSD regredieren solche Personen in die Kindheit und sogar in das frühe Säuglingsalter, erleben verschiedene psychosexuelle Traumen und komplexe Empfindungen in Verbindung mit der infantilen Sexualität wieder, und werden mit Konflikten in bezug auf Aktivitäten in verschiedenen libidinösen Zonen konfrontiert. 

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Sie müssen die elementaren psychischen Probleme, die die Psychoanalyse beschrieben hat, erneut durcharbeiten, etwa den Ödipus- oder den Elektrakomplex, das Trauma der Entwöhnung, die Kastrationsangst, den Penisneid und Konflikte im Zusammenhang mit der Sauberkeitserziehung. Die LSD-Forschung bestätigte auch Freuds dynamische Kartographie der Psychoneurosen und psychosomatischen Störungen mit ihren spezifischen Verbindungen zu verschiedenen libidinösen Zonen und Stadien der Ich-Entwicklung.

Freuds Theorie muß Naber in zwei wichtigen Punkten revidiert werden, um bestimmte bedeutsame und allgemein beobachtbare Erlebnisse auf der autobiographischen Ebene des Unbewußten zu verstehen. Einmal muß das Konzept der dynamischen Steuerungssysteme, die emotional relevante Erinnerungen ordnen und für die ich die Bezeichnung COEX-Systeme geprägt habe, eingeführt werden. Ich habe sie schon weiter oben kurz dargestellt. Eine nähere Beschreibung findet sich in meinem Buch Topographie des Unbewußten (67). Der zweite Punkt betrifft die außerordentliche Bedeutung körperlicher Traumen, etwa von Operationen, Krankheiten und Verletzungen, die die Freudsche Psychologie nicht erkannt und berücksichtigt hat. Solche Erinnerungen spielen eine wichtige und eigenständige Rolle bei der Entstehung verschiedener emotionaler und psychosomatischer Symptome. Außerdem stellen sie die Verbindung zu entsprechenden Elementen der perinatalen Ebene her.

Dies sind aber relativ geringfügige Probleme, die sich ohne weiteres beseitigen ließen. Der grundlegende Irrtum der Psychoanalyse besteht in der ausschließlichen Betonung von Ereignissen in der Lebensgeschichte eines Menschen und des individuellen Unbewußten. Sie versucht, Untersuchungsergebnisse, die für einen oberflächlichen und engen Bereich des Bewußtseinsspektrums höchst relevant sind, auf andere Bewußtseinsebenen und die gesamte menschliche Psyche zu übertragen. Ihr Hauptfehler ist also der, daß sie die Bedeutung der perinatalen und der transpersonalen Ebene des Bewußtseins nicht gebührlich anerkennt. Nach Freud ist die Entstehung und die Dynamik emotionaler Störungen nahezu ausschließlich auf Erlebnisse nach der Geburt zurückzuführen.

ii den Selbsterfahrungstherapien wird aber in überwältigender Weise deutlich, aß Kindheitstraumen nicht die primären pathogenen Ursachen sind, sondern lediglich Bedingungen für die Manifestation von Energien und Inhalte aus tieferen Bewußtseinsschichten schaffen. Die Symptome emotionaler Störungen besitzen in der Regel eine komplexe dynamische Struktur mit vielschichtigem und multidimensionalem Charakter. Die autobiographischen Faktoren machen nur eine Komponente in diesem schwer überschaubaren Netzwerk aus. Wichtige Ursachen für emotionale Probleme finden sich fast immer im perinatalen und transpersonalen Bereich.

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Abb. 17  

Aus einer transpersonalen LSD-Sitzung, in der die Patientin Elemente des kollektiven Unbewußten erlebte. Sie wurde Mitglied einer alten Kultur, die sie jedoch weder dem Namen noch der historischen Zeit oder der geographischen Lage nach identifizieren konnte

 

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Abb. 21. 

Szenen des Hexensabbath zeigen die traditionellen Fortbewegungsmittel des magischen Flugs: Ziegenböcke, Schweine und Besen. Das Bild verbindet Elemente mittelalterlicher Schnitzereien und Kupferstiche.

 

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Abb. 20. Das Gemälde von Clovis Trouille »Mon Tombeau« (Meine Grabstätte) weist viele Charakteristika der dritten perinatalen Grundmatrix auf, die in satanischen Orgien und in den Ritualen Schwarzer Messen vorkommen. Diese Mischung aus Sex und Tod wird durch das ganze Arrangement dieser seltsamen Orgie ausgedrückt: den Friedhof, einen Grabstein mit vaginaler Öffnung, nackte Frauen, die in Särgen und auf Gräbern liegen und ein phallisches Monument auf dem Friedhof verehren. Das Element der Blasphemie ist dargestellt durch frivole nackte Nonnen, die in einem Nachtgeschirr aufgestellte Monstranz und den verunstalteten, schreienden Christus. Ein breites Spektrum sadomasochistischer Motive und skatologischer Tiere (Kröte, Eidechse und Fledermäuse) vervollständigen das Bild.

 

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Abb. 19.  Das erste und letzte Bild einer fünfteiligen Serie von einer perinatalen LSD-Sitzung, die die enge Verbindung zwischen Sexualität und Geburtstrauma veranschaulicht. Im Verlauf des Prozesses von Tod und Wiedergeburt verwandeln sich die mütterlichen Genitalien von einem mörderischen Instrument in ein Symbol der Sicherheit, des Nährenden und der Transzendenz (Wechsel von der zweiten und dritten 7ur vierten und schließlich zur ersten perinatalen Grundmatrix).

Das erste Bild (a) zeigt die mütterliche Vagina als eine Verbindung aus Gefängnis, Folterkammer und gigantischer Presse. Vom zweiten bis vierten Bild tritt, entsprechend dem Verlauf des Geburtsprozesses, ein steter Wandel vom Abstoßenden und Erschreckenden zum Dekorativen und Spirituellen ein. Im letzten Bild (b) erscheint dann die Klientin in einem Mandala, getragen von zwei kosmischen Händen. Die Vagina der Mutter, ihre eigenen Genitalien und die unterstützenden, nährenden Hände tragen die gleichen Pfauen-Ornamente. Die Vorstellung von weiblichen Genitalien ist nun nicht mehr von der Erinnerung an die Geburt beeinflußt, sondern von der an vorgeburtliche Existenz.

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Die Einbeziehung der perinatalen Ebene in die Kartographie des Unbewußten hat für die psychoanalytische Theorie weitreichende Folgen. Sie klärt viele ihrer Probleme und rückt sie in ein vollkommen anderes Licht, ohne dabei den Freudschen Ansatz in seiner Gesamtheit in Frage zu stellen. Was eine Verschiebung des Schwerpunkts von der lebensgeschichtlich determinierten Dynamik psychosexueller Zusammenhänge zur Dynamik der perinatalen Grundmatrizen ermöglicht, ohne dabei die meisten bedeutsamen Untersuchungsergebnisse der Psychoanalyse anzweifeln zu müssen, ist eine im Erleben gegebene tiefe Verbindung zwischen dem Muster der biologischen Geburt, dem sexuellen Orgasmus und den physiologischen Aktivitäten in den einzelnen erogenen Zonen (oral, anal, urethral und phallisch). Die dynamischen Zusammenhänge zwischen diesen biologischen Funktionen habe ich auf der Übersicht über die perinatalen Grundmatrizen (S. HOf) dargestellt.

Die Erkenntnis der perinatalen Dynamik und ihre Eingliederung in die Kartographie des Unbewußten ermöglichen ein einfaches, elegantes und schlüssiges Erklärungsmodell für viele Phänomene, die für die theoretischen Spekulationen Sigmund Freuds und seiner Nachfolger eine Crux waren: Im Bereich der Psychopathologie gelang es der Psychoanalyse nicht, befriedigende Erklärungen für den Sadomasochismus, die Selbstverstümmelung, den sadistischen Mord und den Selbstmord zu geben. Sie wurde auch nicht mit dem Rätsel des wilden und grausamen Anteils des Über-Ich fertig, der ein Abkömmling des Es zu sein scheint. Freuds Vorstellungen von der weiblichen Sexualität und der Weiblichkeit im allgemeinen gehören zweifellos zum Schwächsten, was die Psychoanalyse zu bieten hat, und grenzen ans Bizarre und Lächerliche. Es mangelt ihnen an jedem echten Verständnis der weiblichen Psyche oder des weiblichen Prinzips und stellt Frauen mehr oder weniger mit kastrierten Männern gleich. Die Psychoanalyse hat auch nur oberflächliche und nicht überzeugende Interpretationen für ein ganzes Spektrum von Phänomenen bei psychiatrischen Patienten zur Hand. Auf diesen Punkt werde ich in einem späteren Kapitel noch ausführlich zu sprechen kommen.

Wenden wir das Freudsche Denken auf kulturelle Phänomene an, so müssen wir feststellen, daß es keine überzeugende Erklärung für eine Reihe anthropologischer und historischer Beobachtungen zu geben vermag, etwa für den Schamanismus, die Übergangsriten, die visionären Erlebnisse, die Mysterienreligionen, die mystischen Traditionen, die Kriege, die Völkermorde und die blutigen Revolutionen. Alle diese Erscheinungen lassen sich nur mit dem Konzept der perinatalen (und transpersonalen) Ebene der Psyche angemessen begreifen. Die geringe therapeutische Effektivität der Psychoanalyse sollte an dieser Stelle ebenfalls als ein ernsthafter Mangel dieses sonst faszinierenden Gedankengebäudes erwähnt werden.

Bei einer ganzen Reihe von Gelegenheiten kam Freuds Genie nahe an die Erkenntnis der perinatalen Ebene des Unbewußten heran. Er diskutierte wiederholt einige ihrer wesentlichen Elemente, und viele seiner Aussagen befassen sich — wenn auch nicht explizit — mit Problemen, die in enger Verbindung mit dem Tod- und Wiedergeburtprozeß stehen. 

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Er war der erste, der mutmaßte, daß die Angst im Zusammenhang mit dem Geburtstrauma die tiefste Wurzel und der Prototyp für alle weiteren Ängste im Leben sein könnte. Leider ging er diesem faszinierenden Gedanken nicht weiter nach und machte keinen Versuch, ihn in die Psychoanalyse zu integrieren. Später übte er heftige Kritik an den Spekulationen seines Schülers Otto Rank (163), der dem Elementarerlebnis der Geburt eine universelle Bedeutung zuschrieb und auf dieser Grundlage eine drastische Revision der Psychoanalyse vornahm. In den Schriften Freuds und seiner Nachfolger findet man eine überraschend klare Trennung zwischen der Interpretation und Auswertung prä- bzw. perinataler und postnataler Ereignisse. Das Material in freien Assoziationen und Träumen, das in Verbindung mit der Geburt oder der intrauterinen Existenz steht, wird durchweg als »Phantasie« bezeichnet, wohingegen dem Material aus der Zeit nach der Geburt gewöhnlich der Charakter von Erinnerungen an tatsächliche Ereignisse eingeräumt wird. Ausnahmen von dieser Regel sind die Schriften von Otto Rank (163), Nandor Fodor (43) und Lietaert Peerbolte (117), die ein echtes Verständnis der peri- und pränatalen Dynamik beinhalten.

Wie man aus der Literatur der klassischen und heute vorherrschenden psychoanalytischen Richtungen entnehmen kann, ist der Tod im Unbewußten nicht repräsentiert. Die Angst vor dem Tod wird abwechselnd als Kastrationsangst, Angst vor Kontrollverlust, Angst vor einem heftigen sexuellen Orgasmus oder als vom Über-Ich gegen die eigene Person gekehrte Todeswünsche gegenüber einer anderen Person interpretiert (40). Freud war nie ganz mit seiner These zufrieden, daß das Unbewußte oder das Es den Tod nicht kennen, und hatte immer mehr Schwierigkeiten, die Bedeutung des Todes für die Psychologie und Psychopathologie zu leugnen.

In seinen späten Schriften führte er den Todestrieb oder Thanatos als ein zumindest gleichwertiges Gegenstück zu Eros oder Libido ein. Freuds Auffassung vom Tod zeichnet aber kein richtiges Bild von seiner Rolle im perinatalen Erleben. Er war weit von der Erkenntnis entfernt, daß im Rahmen des Tod- und Wiedergeburtprozesses Geburt, Sexualität und Tod eine untrennbare Triade bilden, die im engen Zusammenhang mit dem Erlebnis des Ich-Todes steht. Freud hatte aber in bemerkenswerter Weise die psychologische Bedeutung des Todes erkannt und war damit — wie in vielen anderen Hinsichten — seinen Nachfolgern weit voraus.

Ein Modell, das die perinatale Dynamik einbezieht, hat immense Vorteile. Es vermag nicht nur eine angemessenere und umfassendere Interpretation vieler psychopathologischer Phänomene und ihrer dynamischen Zusammenhänge zu leisten, sondern diese auch in logischer und natürlicher Weise mit den anatomischen, physiologischen und biochemischen Aspekten des Geburtsprozesses zu verbinden. Wie ich später noch im einzelnen darstellen werde, läßt sich das Phänomen des Sadomasochismus mühelos aus der dritten perinatalen Grundmatrix — mit ihrer engen Verknüpfung zwischen Sexualität, Schmerz und Aggression — ableiten. 

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Die Mischung aus Sexualität, Aggression, Angst und skatologischen Aspekten, die ein anderes wesentliches Charakteristikum dieser Matrix darstellt, schafft einen natürlichen Rahmen für das Verständnis anderer sexueller Abnormitäten und Störungen. Auf dieser Ebene sind Sexualität und Angst zwei Facetten ein und desselben Prozesses, und keine läßt sich aus der anderen erklären. Damit rücken auch Freuds frustrierende Bemühungen, die Angst aus der Verdrängung libidinöser Gefühle und umgekehrt die Verdrängung aus der Angst und anderen negativen Emotionen abzuleiten, in ein neues Licht. 

Die dritte perinatale Grundmatrix ist auch dadurch gekennzeichnet, daß in einer äußerst brutalen, lebensbedrohlichen und Schmerzen bereitenden Situation verschiedene Triebimpulse im Übermaß produziert werden, die Möglichkeit jeglicher motorischer Äußerung aber blockiert ist. Dies scheint die natürliche Grundlage für die tiefsten Wurzeln des Freudschen Über-Ich zu schaffen, das grausam, wild und primitiv ist. Seine Verbindungen zum Schmerz, zum Masochismus, zur Selbstverstümmelung, zur Gewalttätigkeit und zum Selbstmord (Ich-Tod) werden leicht verständlich und haben nichts Rätselhaftes mehr an sich, wenn man es als Introjektion des gnadenlosen Geschehens im Geburtskanal ansieht. 

Aus der Sicht der perinatalen Dynamik erscheint das Bild der »vagina dentata«, der weiblichen Genitalien, die töten oder kastrieren können — Freud hatte es als Produkt einer primitiven kindlichen Phantasie angesehen —, als eine realistische Einschätzung des wahren Sachverhalts, die auf einer bestimmten Erinnerung basiert. Im Laufe der Entbindung sind unzählige Kinder von diesem Organ getötet, beinahe getötet oder schwer geschädigt worden. Die Zusammenhänge zwischen der »vagina dentata« und den Kastrationsängsten offenbaren sich in unmißverständlicher Weise, wenn man ihnen bis zu ihrem tatsächlichen Ursprung nachgeht, nämlich dem Durchtrennen der Nabelschnur. Damit klären sich sowohl das Paradoxon, daß die Kastrationsangst bei beiden Geschlechtern auftritt, als auch die Tatsache, daß die Patienten in ihren freien Assoziationen in einer Psychoanalyse die Kastration mit Tod, Trennung, Vernichtung und Ersticken gleichsetzen. Das Bild von der »vagina dentata« ist somit eine Verallgemeinerung aus einer Situation, in der sie realistisch wahrgenommen wurde. Nicht die Wahrnehmung ist falsch, sondern ihre Verallgemeinerung. 

 

Die Entdeckung der perinatalen Ebene des Unbewußten löst auch einen schweren logischen Widerspruch im psychoanalytischen Denken auf, den man sich angesichts der Scharfsinnigkeit seiner Vertreter kaum erklären kann. Nach Ansicht Freuds, seiner Nachfolger und vieler durch ihn inspirierter Theoretiker können Ereignisse, die sehr früh im Leben des Kindes, nämlich während der oralen Phase auftreten, tiefgehende Auswirkungen auf die spätere psychische Entwicklung haben. Dies wird generell auch für relativ unscheinbare Aspekte in der Umwelt des Kindes angenommen. So meinte Harry Stack Sullivan (189), daß das an der Mutterbrust saugende Kind mit seiner oralen erogenen Zone feine Unterschiede wahrnehmen könne, etwa zwischen der »guten«, der »bösen« und der »falschen Brust« zu trennen vermag5. 

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Nun fragt man sich: wie können im Erleben ein und desselben Organismus, der sich als ein solcher Kenner der weiblichen Brust erweist, die nur wenige Tage oder Wochen zurückliegenden extremen Belastungen durch die Entbindung — der lebensbedrohliche Sauerstoffmangel, der extreme mechanische Druck, der quälende Schmerz und ein ganzes Spektrum von anderen alarmierenden Anzeichen für Lebensgefahr — spurlos vorübergegangen sein? Nach den Beobachtungen in einer psychedelischen Therapie sind verschiedene biologische und psychologische Aspekte des Stillens von großer Wichtigkeit. Wie man aber aus den obigen Ausführungen entnehmen kann, besitzt das Geburtstrauma wohl viel stärkere Relevanz. Das Kind muß erst sicher empfinden können, ob es den lebensspendenden Sauerstoff bekommt, und dann erst kann es auch Hunger oder Kälte empfinden, merkt es, ob die Mutter an- oder abwesend ist, und unterscheidet zwischen Nuancen beim Saugen an der Mutterbrust. 

Geburt und Tod sind Ereignisse von elementarer Bedeutung, die eine Metaposition gegenüber allen anderen Lebenserfahrungen einnehmen. Sie sind das Alpha und das Omega der menschlichen Existenz. Somit muß ein psychologisches System, das sie nicht einbezieht, zwangsläufig oberflächlich, unvollständig und begrenzt anwendbar bleiben. Die Tatsache, daß die Psychoanalyse vielen Aspekten des psychotischen Erlebens, einer Reihe anthropologischer Ergebnisse, parapsychologischen Phänomenen und historischen Greueltaten (Krieg und Revolution, Totalitarismus und Völkermord) nicht gerecht wird, verdeutlicht, daß an all diesen Dingen perinatale und transpersonale Faktoren maßgeblich beteiligt sind und damit die Reichweite der klassischen Freudschen Analyse überschritten ist.

Die obige Diskussion der Psychoanalyse wird vielleicht so manchen ihrer heutigen Adepten nicht zufriedenstellen, da sie sich auf die klassischen Freudschen Konzepte beschränkt und wichtige neuere Entwicklungen nicht berücksichtigt. Ich möchte deshalb diesen Abschnitt mit ein paar Bemerkungen über die Theorie und Praxis der Ich-Psychologie abschließen. Die Ursprünge der Ich-Psychologie lassen sich bereits in den Schriften von Sigmund und Anna Freud nachweisen. Zu ihrer heutigen Form ist sie in den letzten vier Jahrzehnten von Heinz Hartmann, Ernst Kris, Rudolph Löwenstein, Rene Spitz, Margaret Mahler, Edith Jacobson, Otto Kernberg, Heinz Kohut u. a. entwickelt worden (17). Die grundlegenden theoretischen Modifikationen der klassischen Psychoanalyse umfassen eine differenzierte Ausarbeitung des Konzepts der Objektbeziehungen, die Hervorhebung ihrer zentralen Rolle in der Persönlichkeitsentwicklung, sowie die Auseinandersetzung mit den Problemen der sozialen Anpassung, des angeborenen Ich-Apparates, den konfliktfreien Zonen in der Psyche, der durchschnittlich zu erwartenden Umweltbedingungen, des Narzißmus, usw. Die Ich-Psychologie hat das Spektrum der psychoanalytischen Interessen erheblich erweitert, angefangen bei der normalen menschlichen Entwicklung bis hin zu schweren psychopathologischen Formen. 

Die theoretischen Veränderungen spiegeln sich auch in den therapeutischen Techniken wider. Technische Neuerungen wie der Ich-Aufbau, die Dämpfung von Triebimpulsen und die Korrektur von Verzerrungen und Charakterstrukturen ermöglichten die Ausweitung der psychotherapeutischen Arbeit auf Patienten mit mangelnder Ich-Stärke und Borderlinesymptomen.

 

So wichtig diese Entwicklungen im Rahmen der Psychoanalyse auch sein mögen, sie beschränken sich wie die Freudsche Orientierung auf die biographische Ebene. Sie erkennen und akzeptieren nicht die Bedeutung der perinatalen und der transpersonalen Ebene der Psyche und sind damit unfähig, zu einem echten Verständnis psychopathologischer Erscheinungen zu gelangen. Sie befassen sich weiterhin in rart-pour-l'art-Manier mit der Verfeinerung von Konzepten für einen Bereich der Psyche, der für ihr Verständnis nicht wesentlich ist. An vielen Borderlinesyndromen und psychotischen Zuständen sind maßgeblich negative Aspekte der perinatalen Matrizen oder der transpersonalen Ebene beteiligt.

Gleichzeitig ist aber die Ich-Psychologie nicht in der Lage, hochwirksame Verfahren zur Heilung und Persön­lichkeitsumwandlung zu ersinnen und anzuwenden, die mit einem Vordringen des Erlebens in die transpersonalen Sphären der Psyche möglich sind. Aus der Sicht der in diesem Buch diskutierten therapeutischen Strategien geht es im wesentlichen nicht darum, mit raffinierten verbalen Manövern das Ich zu schützen und aufzubauen, sondern dabei behilflich zu sein, es im Erleben zu transzendieren. 

Die Erfahrung des Ich-Todes und die nachfolgenden Erlebnisse des Eins-Seins — sowohl in symbiotisch-biologischer als auch in transzendentaler Hinsicht — werden zu Quellen neuer Kraft und persönlicher Identität. Diese Konzepte und Mechanismen sind von den Vorstellungen der Ich-Psychologie aber ebenso weit entfernt wie von den Vorstellungen der klassischen Freudschen Analyse.

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