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14  "An die Güte der Schöpfung anknüpfen"

Ein Gespräch mit Dorothee Sölle über Schöpfungsspiritualität und Widerstand

Grober-1998

 

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"Eine Theologie der Schöpfung muß in der Lage sein, uns zu lehren, wie wir die Erde mehr lieben können." Ich fand diesen Satz in Dorothee Sölles Buch "Lieben und arbeiten" von 1983. Eine in den tiefen Schichten des Denkens, Fühlens und Glaubens verankerte Liebe zur Schöpfung und zu den Geschöpfen ist für viele Menschen die dringend benötigte spirituelle Basis, die es ihnen ermöglicht, gegen den Strom zu schwimmen. 

In den ökologischen, sozialen und auf Solidarität mit den Armen und mit der Dritten Welt gerichteten politischen Bewegungen finden sich überall Menschen, für die Dorothee Sölles Theologie diesen Weg frei gemacht hat. Meine Erfahrung war, daß diejenigen, die davon berührt sind, oft den langen Atem, das verläßliche, von zeitgeistigen Schwankungen unabhängige Element in diesen Bewegungen verkörpern. "Die schöpferische Kraft", sagt die Theologin, "besteht darin, für einen anderen Menschen oder für eine Gemeinschaft die Welt zu erneuern."

1968 begann mit den "politischen Nachtgebeten" in ihrer Heimatstadt Köln das öffentliche Wirken von Dorothee Sölle. In diesen Massenveranstaltungen, einer brisanten Mischung aus Meditation, Diskussion und politischer Aktion, entwickelten sich die ersten Elemente einer kapitalismuskritischen, feministischen, pazifistischen und in Ansätzen auch schon ökologischen "Theologie der Befreiung" (den Begriff hat sie später aus Lateinamerika übernommen). Seitdem hat sie ihre Art von Religiosität in unzähligen Schriften und Auftritten verkündet. Nicht nur in Deutschland, sondern weltweit. Besonders in den USA, wo sie viele Jahre lang einen Lehrstuhl hatte, und in Lateinamerika haben ihre Gedanken eine große Ausstrahlung.

Ein paar Wochen nach dem evangelischen Kirchentag in Leipzig — Kirchentage waren von Anfang an ein wichtiges Forum für sie — sprach ich mit Dorothee Sölle in ihrer Hamburger Wohnung. Sie hatte gerade ihr neues Buch abgeschlossen, eine Summe ihres Denkens mit dem Titel: <Mystik und Widerstand: du stilles Geschrei>.

 

Das Bild vom Garten Eden spielt im globalen Diskurs über Ökologie und nachhaltige Lebensweise eine Rolle. Sie haben sich intensiv mit Schöpfungs­theologie beschäftigt. Sehen Sie in der Garten-Eden-Geschichte eine Ressource, ein Potential für die Vorbereitung einer ökologischen Wende?

Ich glaube, dieses Potential liegt in der Anknüpfung an die Güte der Schöpfung. In der biblischen Geschichte wird es ja zusammengefaßt: Gott sah, daß alles sehr gut war. Das ist sozusagen der Schlußsatz. Und das ist eine erstaunliche Aussage, wenn man daran denkt, daß andere Leute den Kampf ums Dasein für das Wichtigste halten oder die absolute Macht einer Spezies über alle anderen. Während hier ein Zusammenspiel gedacht ist, das gut ist. Das hebräische Wort kann man auch mit schön übersetzen. Das ist eigentlich symbolisiert in dem Garten Eden. Es ist ein Hinweis darauf: Am Anfang war es sehr gut und sehr schön. Und ich glaube, ein solches Vertrauen in den, subjektiv gesagt, Sinn meines Daseins, daß ich also nicht zufällig entstanden bin und ebensogut hätte wegbleiben können, sondern daß ich gebraucht und gewollt hin, ist schon eine Einsicht in die Güte der Schöpfung, die mich auch als Individuum stärkt. Ich bin nicht irgend jemand. Ich bin nicht wegdenkbar, sondern ich bin da, von Gott gewollt, jetzt, hier, so, wie ich bin. Diese Bejahung des Daseins ist zum Beispiel ein elementarer Grundsatz jeder Erziehung. Wenn ich manchmal randalierende Jugendliche sehe oder arbeitslose Jugendliche, die dann rassistisch werden und die ja auch von einem ungeheuren Selbsthaß und Selbstverlust getrieben werden, die eigentlich nichts bejahenswert finden, dann denke ich, da fehlt jeder Grundgedanke von Eden, also von einer guten Schöpfung.

Die Vorstellung von einem "Eden" könnte diese Trostlosigkeit in den Köpfen überwinden helfen?

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Das ist eine spirituelle Kraft, glaube ich. Gott hat das Wasser wunderbar gemacht. Unsere Schwester, das Wasser, sagt der heilige Franz. Er wollte uns ja nicht vergiften wie die chemische Industrie. Das Wasser ist trinkbar. Wir gehen davon aus, daß das Wasser, das aus der Quelle, aus dem Boden kommt, dafür da ist, daß Mensch und Tier und Gras davon trinken dürfen.

Ein Lebens-Mittel.

Ja, es ist ein Lebens-Mittel und nicht ein Todes-Mittel und nicht ein Ausplünderungs-Mittel. Sondern das Wasser ist etwas, was eben in dieser Schöpfung gegeben ist. Genauso wie alles andere, wie der Halm, auf dem das Korn wächst, oder sonst etwas. Das ist nichts Feindliches, sondern darin steckt etwas Schönes und Gutes, das Respekt verdient. Ich glaube, mit einer rein materialistischen Einstellung, also einer Einstellung, die nur den Nutzen sieht, ohne die Schönheit zu sehen, kommen wir nicht sehr viel weiter als in das Elend, in dem wir jetzt sind. Da wird die natürliche Welt, die geschaffene Welt, zu einem Marktgegenstand, den man eben — klüger oder dümmer — benutzen kann. Das reicht, glaube ich, nicht aus.

Was fehlt?

Ein ursprüngliches Staunen. Das ist einer der wichtigsten Begriffe in diesem Zusammenhang. Was die Griechen thauma-zein genannt haben. Das Erstaunen darüber, daß etwas ist. Und schön ist. In unserem Haus wächst gerade ein kleines Kind heran, und das erste Wort, das es lernte, war: toll. Das lief also durch die Welt und sagte: toll, toll. Ich hab' das neulich erzählt, als ich in Amerika war. Um den Leuten zu erklären, was Staunen ist. Und dann fingen sie plötzlich alle an, mit amerikanischem Akzent zu wiederholen: toll, toll, toll. Das war sehr lustig. Die Fähigkeit, es als schön zu empfinden, daß da eine Pfütze ist und daß es platsch macht, wenn man einen Stein hineinwirft, ist etwas ganz Wesentliches. Es gehört dazu, wenn ich meine: Wir brauchen eine andere Spiritualität, einen anderen Respekt vor der Schöpfung. 

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Dieses Ding, was ich jetzt immer Schöpfung nenne, ist ja wissenschaftlich kein Begriff. Für die Wissenschaftler ist das ja mystisches Gerede. Das Ding heißt Natur. Aber ich habe immer mehr Angst vor dieser totalen Verwissenschaftlichung der Welt, die genau dieses Geheimnis, dieses Staunen, diese Schönheit, diese Ehrfurcht nicht bewahren kann.

Würden Sie in dieser Unfähigkeit zu staunen auch eine Ursache für die sich noch weiter vertiefende ökologische Krise sehen?

Ich glaube, dieses Fehlen von wirklicher Veränderung trotz aller analytischen und praktischen Erkenntnisse hängt mit einer spirituellen Zerstörung zusammen. Daß eine bestimmte Art von "Naturfrömmigkeit", so ist das immer wieder genannt worden, bei ganz vielen Menschen nicht mehr da ist.

Ist aber dieser Verlust nicht auch in der christlichen Tradition mit angelegt? "Macht euch die Erde Untertan" steht ja auch in der Schöpfungs­geschichte.

Ja, ja. Das wird ja manchmal so dargestellt, als sei es das Zentrale innerhalb der biblischen Tradition, dieses "Macht euch die Erde Untertan". Speziell auch die Tiefenökologen sind oft geradezu antichristlich. Da wird dieser eine Satz ziemlich isoliert. Es gibt sehr viele ganz andere Formen, mit Schöpfung umzugehen. Die Psalmen, etwa der 104. Psalm, reden einfach vom Lob der Schöpfung, vom Wasser, vom Land, von den Tieren, von der Saat, der Ernte und so weiter, und nicht von "Untertan machen". Das hieß, glaube ich, damals: wilde Esel fangen und zähmen, damit die auch mal eine Last tragen. Oder Obstbäume soweit züchten, daß sie etwas größere Apfel tragen. Das ist, glaube ich, noch ein bißchen etwas anderes als die totale Technifizierung. Das heißt nicht, daß wir diese Apparate haben müssen, die uns die chemische Industrie beschert. Das ist, glaube ich, eine falsche Ausdehnung. Also ich sehe eigentlich den Sündenfall eher mit dem Beginn der Neuzeit, also mit Descartes. Wenn wir alle wirklich maitres et possesseurs de la nature sind, Herren und Besitzer der Natur — das zerstört das Verhältnis zur Schöpfung.

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Ist da nicht auch wieder dieses "Mensch-als-Krone-der-Schöpfung"-Denken?

Diese Herrschaftskonstruktion, die den Gedanken der Schöpfung verunklart hat, hat es in der christlichen Geschichte natürlich gegeben. Das ist ja gar keine Frage. Ich sehe die Gefahren schon. Der — mit einem Wort — Anthropozentrismus ist sicher eine ganz katastrophale Entwicklung, die durch das Christentum mit gefördert worden ist, indem eben die anderen Seiten des Christentums zurücktraten. Also zum Beispiel die Aufgabe des Menschen, er solle den Garten hüten und bewahren. Mütterlicher geht's ja kaum. Das ist nicht ein Besitzverhältnis, ein Ausbeutungsverhältnis, ein Herrschaftsverhältnis, sondern eben ein ganz anderes. Eine Zugewandtheit, ein Eingebettetsein in eine Lebenswelt, in der Menschen sich natürlich auch jahrhundertelang von der Natur bedroht fühlten und dagegen Schutz suchten, in eine Höhle krochen oder in ein Versteck. Also das ist eine Geschichte, die wirklich sehr doppelseitig ist. Aber ich glaube, der eigentliche Sündenfall geschieht in dem Augenblick, in dem auch das, was allen gemeinsam ist, zu Privateigentum gemacht wird. Thomas Müntzer, der auch ein großer Mystiker war, hat sich dagegen gewehrt, daß die Fische im Wasser plötzlich den Herren, die das Land besitzen, gehören sollten. Marx hat das auch getan. Der hat in der Rheinischen Zeitung damals darüber geschrieben, daß das Holzsammeln im Wald jetzt plötzlich ein Kriminaldelikt ist, was es zuvor nicht war, als die Menschen noch freier waren. Das ist ja bei uns nun unendlich verschärft. Heute spricht man zu Recht von den Weltbesitzern, also den global players, die die Weltherrschaft an sich gerissen haben.

Sie sprechen in diesem Zusammenhang auch von Industriepatriarchat.

Ich glaube, es hängt ganz viel ab von diesem Gedanken des Besitzens. Das Patriarchat ist ja auch ein Versuch zu besitzen, also Frauen in Besitz zu nehmen. Das ist Vieh, davon kann man eine, zwei oder drei haben. Das besitzt man. Darüber waltet und schaltet man, und als anständiger Mensch behandelt man diesen Besitz pfleglich. Aber deswegen ist er immer noch Besitz. Während in der Schöpfungsgeschichte und auch in der jüdischen Auslegung der Schöpfung, und in der Mystik, etwas ganz anderes angelegt ist. Da ist wirklich eine Gemeinsamkeit etwa von Mann und Frau angelegt in dem Sinne, daß nicht erst einer da war, zu dem nachher noch in dieser Rippen-Story ein zweiter hinzukommt, sondern beide zusammen sind eigentlich nur adam.

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Das heißt "Mensch". Kommt von dort für Sie ein Impuls für die Befreiung vom Patriarchat? 

Ein Begriff, der mir sehr viel geholfen hat, das besser zu verstehen, ist Mutualität, Gegenseitigkeit. Jede wirkliche Beziehung ist ein gegenseitiges Geben und Nehmen. Indem ich gebe, bekomme ich auch etwas, werde ich auch beschenkt. Es gibt keine einseitigen lebendigen oder guten Verhältnisse. Einseitige Verhältnisse werden notwendigerweise neurotisch. Das läßt sich gar nicht vermeiden. Eigentlich ist das in jedem kreativen Akt so: Ich gebe etwas, aber ich bekomme auch etwas geschenkt. Und so verstehe ich auch die neueste Naturwissenschaft, die neueste Biologie. Das ist wirklich eine zentrale Entdeckung, daß das in den natürlichen Prozessen vorgegeben ist. Das Leben ist symbiotisch. Es ist nie nur egoman.

Der gesellschaftliche Trend scheint aber in Richtung Egomanie zu gehen. Auch in Richtung auf ein Kosten-Nutzen-Kalkül in den zwischen­menschlichen Beziehungen. Nach dem Motto: Ich gebe mehr als der andere oder die andere, und das mache ich nicht mehr mit.

Das ist in unserer Welt wahnsinnig schwer, weil die Individualisierung ein Ausmaß, geradezu eine Zwanghaftigkeit erreicht hat. Wenn Jugendliche über Zusammenleben und Wohngemeinschaften debattieren, da muß dann jeder plötzlich sein eigenes Müsli haben, weil er oder sie diese Haferflocken oder jene Haselnüsse nicht mag. Der Geschmack ist unterdessen so individualisiert, daß sie behaupten, das könnten sie nicht ertragen. Ich meine, das ist dummes Zeug. Aber es ist die Realität. Das ist das Egotripping, aber auf einer ganz primitiven Ebene, die vollkommen selbstverständlich vom Markt hervorgebracht wird.

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Ich habe 100 Sorten Haferflocken und Brotsorten zur Verfügung und nicht nur eine begrenzte Auswahl. Der Markt verführt mich also dazu, ein solches Ego auszubilden. Die Leute werden dann tatsächlich krank, wenn sie nicht ihre richtigen Haferflocken haben. Das ist eine absurde Entwicklung, in der wir leben, und das ist natürlich das Marktprinzip der Unbegrenztheit der Bedürfnisse. Darüber, ob die Bedürfnisse wirklich unbegrenzt sind, kann man noch reden. Aber die Art, wie wir mit den Bedürfnissen umgehen, die ist tödlich.

Wie wehren Sie sich dagegen?

Ich lebe jetzt hier mit meinen Kindern zusammen. Die haben ein Gemüseabonnement eingeführt. Das ist etwas sehr Schönes. Einmal jede Woche bringen sie, was da auf dem Biohof gerade gewachsen ist. Ich empfinde das wirklich als einen Fortschritt für mich persönlich, daß mir dieser Zwang zur Auswahl im Supermarkt, also diese idiotische Fülle, die ich ja weder brauche noch will, abgenommen wird. Es ist sozusagen, als hätte ich meinen eigenen Gemüsegarten, in dem eben dies und jenes jetzt reif ist. Und das ist sehr schön. Das empfinde ich als ein Stück anderen Konsums. Wir sind nicht perfekt. Wir machen natürlich noch tausend Fehler. Aber es wächst da, glaube ich, eine neue Gesinnung.

Der Begriff des Schöpferischen ist ja hochaktuell. Kreativ sein gilt überall als das höchste Ziel. In Ihrer Theologie sind Sie sozusagen zu den Wurzeln dieses Begriffes gegangen. Sie sprechen zum Beispiel in Ihrem Buch "Lieben und arbeiten" davon, daß die Schöpfung weitergehe. Ich zitiere: "Die schöpferische Kraft besteht in der Fähigkeit, für einen anderen Menschen oder für eine Gemeinschaft die Welt zu erneuern." Das scheint mir ein faszinierender Blickwinkel für alle, die etwas Neues aufbauen. 

Was meinen Sie, wenn Sie sagen, die Schöpfung finde auch heute noch statt?

Dieser Grundgedanke wurde erst klar, als die alten Schöpfungsmythen zerfielen und als die Aufklärung auftrat und sagte: In sechs Tagen kann das nicht passiert sein. Nun laßt

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mal diese Märchen beiseite. Da wurde eigentlich erst begriffen, daß Schöpfung mit Evolution zu tun hat und nicht ohne sie gedacht werden kann. Und daß die aufklärerische philosophische Vorstellung, daß Gott eine Art Uhrmacher war, der das Ding mal aufgezogen hat, und jetzt macht es immer tick tack, nicht reicht. Dieses Weitergehen der Schöpfung und des schöpferischen Prozesses, an dem wir Anteil haben, ist sicher eine theologisch neue Vorstellung. Daß dieser Prozeß der Schöpfung selber also nicht beendet ist, sondern eben in ein Werden und Vergehen eingebunden ist, in das auch wir mit unserer eigenen Kreativität eingebunden sind. Wenn wir wirklich Ebenbild Gottes sind, das ist ja die biblische Grundlehre, Mann und Frau sind das Ebenbild Gottes, dann kann das ja nicht irgendwo aufhören. Es findet vielleicht sein natürliches Ende durch die Zeit und die Vergänglichkeit, aber es hört nicht auf bei dieser Fähigkeit zu schaffen. Wobei ich immer zögere, wenn manche sagen, das ist etwas absolut Neues. Dann denke ich immer: Irgend etwas war ja schon vor dir.

Ich möchte auf die Geschichte vom Exodus zu sprechen kommen, vom Auszug aus der Knechtschaft. Sie ist ja auch ein Modell für eine Transformation. Diesen Raum verlassen, woanders hingehen, dahin, wo "Milch und Honig fließt". Mit sehr großen Krisen unterwegs fertig werden, der Attraktivität der alten Knechtschaft widerstehen, den Tanz um das goldene Kalb nicht mitmachen und so weiter. Sie halten die Exodusgeschichte für genauso wichtig wie die Schöpfungsgeschichte. 

Warum?

Es ist ein geradezu unvergeßliches Erbe dieser Tradition, daß das Göttliche nicht im ruhigen Sein verstanden wird, sondern auch als ein Auszug, als ein Herauskommen, als eine historische Evidenz. Das ist sicher ein Grundzug, ich glaube, aller drei abrahamitischen Religionen, die von solchen Auszügen leben. Also die Erfahrung, daß die Knechtschaft nicht ewig ist, sondern daß man heraus kann. Daß man sich nicht darein ergeben muß, sondern daß es möglich ist, frei zu werden. So wie du, Gott, es gewollt hast von Anfang an. Das ist ein Wiederrückgriff auf die Schöpfung: Als Adam grub und Eva spann, wo war denn da der Edelmann? 

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Das haben die Bauern, die Leveller in England gesungen und dann später Thomas Müntzer und seine Leute. Das heißt, die Klassenunterschiede oder auch andere Formen der Herrschaft oder des Patriarchats können nicht ewig bestehen. Sie sind zerstörerisch, und man muß da herauskommen. Man muß nicht sozusagen nach oben kommen wollen auf die Seite der winners, was jetzt alle wollen, sondern man muß das System von winners und losers abschaffen im Sinne einer Gegenseitigkeit. Das hieße für mich eigentlich Auszug aus dem Industriepatriarchat.

Das wäre für Sie die grundlegende Bewegungsrichtung: Auszug aus einer Knechtschaft? 

Ja. Befreiung von einer Übermacht, frei werden aus der Sklaverei. Ich meine, wir bauen jetzt in der Globalisierung eine Sklaverei auf. Die ist neu und grauenvoll. Ich hab' mich gerade mit diesen neuen Textilfabriken in den sogenannten Freihandelszonen, diesen Maquiladoras in Lateinamerika beschäftigt. Wie Frauen da ausgeplündert werden, 14 Stunden und 60 Cent pro Stunde, wie sie bei der Arbeit stehen müssen und zweimal am Tag einen Schluck Wasser trinken können — es ist wirklich grauenvoll.

Was wäre dem entgegenzusetzen?

Eine wirkliche Umkehr muß, glaube ich, begleitet oder getragen werden auch von Leuten, die diesen geistlosen neuzeitlichen Atheismus loswerden wollen. Es wird ja jetzt erst sichtbar in der Vollendung des Ganzen, der Globalisierung, nach dem Endsieg des Kapitalismus, was wirklich auch geistig los ist. Wie katastrophal das ist. Ich glaube und ich hoffe, daß die Zwiespälte zwischen der offiziellen Gesellschaft, der Industriegesellschaft, der Globalisierungsgesellschaft und den lebendigen Religionen sich verschärfen werden. Also Sozialwort oder das Verstecken von Flüchtlingen oder Kirchenasyl, solche Stichworte, die sind wichtig. Und ich denke auch an die Zapatisten, die von "einer Welt, in der alle Platz haben" sprechen.

Und der Aufbau des Neuen fängt im Hier und jetzt an?

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Viele mystische Christen haben immer wieder gesagt: In der alten Gesellschaft das Neue aufbauen. Also nicht so tun, als müßten wir warten. Sondern wir müssen jetzt leben und jetzt die falschen Früchte nicht mehr essen und jetzt den falschen Strom nicht mehr brauchen. Das sind ja tausend Aufgaben, die dann auf uns zukommen, wenn wir klarer sehen, was notwendig ist.

Auch der kleine Schritt, sein Gemüse vom Biohof zu kaufen?

Ja, zum Beispiel. So schwierig das ist. Wenn ich mit Arbeitslosen rede, kann ich denen das nicht anempfehlen. Das ist teurer. Das weiß ja jeder. Einer ganz großen Mehrheit aber würde das nichts ausmachen. In der Schweiz ist diese ökologische Landwirtschaft viel weiter, viel klarer. Und in Österreich, einem weniger wohlhabenden Land als die Schweiz, ist es auch besser als hier.

Um noch einmal auf das Neue zurückzukommen, das im Schoß der alten Gesellschaft aufgebaut werden muß: Das ist ja ein altes anarchistisches Motto.
Ja, natürlich, diese alten anarchistischen Züge spielen da auch eine große Rolle. Dorothy Day, eine Amerikanerin, hat den "Catholic Worker" gegründet, eine Bewegung, die für Obdachlose und für freiwillige Armut einstand. Daran war auch ein Franzose beteiligt, ein merkwürdiger Landstreicher und Kommunarde, der sich mit Landwirtschaft und allem möglichen befaßte, Peter Maurin. Der hat immer wieder darauf hingewiesen: Im Alten schon das Neue leben. Ich halte es für sehr, sehr produktiv, das zu durchdenken, auch daß Leute solche Versuche unternehmen, um zu sehen: Wie kann das denn funktionieren?

Die Fülle des Lebens, von der Sie oft sprechen, und freiwillige Armut — schließt sich das nicht aus?

Überhaupt nicht. Das ist eigentlich ein Wort aus dem Neuen Testament, pieroma. Fülle heißt das. Die Fülle des Lebens. Das wird dir gegeben, oder das wirst du erhalten. Und es ist eigentlich das, was wir vielleicht Glück, Zufriedenheit, Schönheit im Leben nennen. Erfülltsein. Es heißt auch, etwas geschenkt zu bekommen, mit etwas erfüllt werden. Das Bild, das mir dazu einfällt, das auch in der Bibel immer wieder auftaucht, ist das Wasser, das fließende, sprudelnde Wasser, das immer wiederkommt. Das ist ja auch ein Grund zum Staunen. Wieso hört dieser Bach denn gar nicht auf? Wieso ist der Brunnen noch nicht versiegt? Das ist ja zunächst mal unbegreiflich, jedenfalls für ein Kind. All das aber auch in seiner Wahrheit oder Schönheit zu lieben, das ist eine postmaterialistische Orientierung, die wirklich, wie soll ich sagen, die Fülle des Bankkontos hinter sich läßt. Der Punkt ist eben wirklich ein ganz, ganz anderer, der tatsächlich auch mit freiwilliger Armut oder freiwilliger Reduktion der Bedürfnisse, um es mal etwas weniger hart auszudrücken, zu tun hat. Aber eine bestimmte Bedürfnisreduktion bringt uns weiter.

Diese Fülle hat etwas mit der Mutualität zu tun, von der Sie sprachen.

Ja, natürlich. Und sie hat etwas zu tun mit der eigenen Kreativität. Also mit: etwas selber tun. Ich habe einen wunderbaren Satz gefunden über die Quäker, die ja auch Mystiker waren, und den habe ich am Schluß meines Buches eingebracht. Drei Eigenschaften, wie ein Quäker leben soll: Grenzenlos glücklich. Absolut furchtlos. Immer in Schwierigkeiten. — Ich find's herrlich. Das ist die Fülle des Lebens, glaube ich.

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