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5  Die Sonnenperspektive:  Energie- und Umweltzentrum am Deister (EUZ) 

Grober-1998

 

 

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Die Sonne stand hoch am Himmel und brannte heiß herunter. Jetzt, am späten Vormittag, näherte sich die Quecksilbersäule des Thermometers der prophezeiten 28-Grad-Marke. Sobald ich den Schatten verließ, mußte ich die Mütze ins Gesicht ziehen, um die Augen vor dem grell flimmernden Licht zu schützen. Der leichte Tau war längst getrocknet. Das Plastikgehäuse meines Fotoapparates, den ich im Schatten abgelegt hatte und nun in der prallen Sonne wiederfand, fühlte sich an, als oh es gleich schmelzen wollte.

Einer dieser langen Tage kurz vor der Sommersonnenwende. Sonnenaufgang 5.17 Uhr, Sonnenuntergang 21.45 Uhr. An diesem Tag würde man hier 11 Stunden und 18 Minuten Sonnenscheindauer messen können. Die erste kurze Hitzewelle dieses Sommers würde in den nächsten Tagen abklingen. Aber immerhin: 178 Kilowattstunden Globalstrahlung pro Quadratmeter im Raum Hannover würde die Tabelle der Meteosat-Strahlungsdaten für den Monat Juni melden. Ausnahmsweise einmal mehr als in den Sonnengürteln am Oberrhein oder an der Donau.

25 Kilometer südlich der EXPO 2000-Stadt Hannover, zwischen Springe und Eldagsen, liegt das Gelände. Nach Osten hin erstrecken sich weithin Wiesen und Acker. Abgesehen von Alleebäumen und Feldhecken, gibt es in diesem ebenen Landstrich kaum etwas, was Schatten spendet. Auf der Westseite jedoch grenzt Hochwald an. Wenn man ihn durchquert hat, steht man an der Einzäunung des Staatsforstes Saupark. Dahinter geht es bergauf in ein großes zusammenhängendes Waldgebiet hinein. Mit seinen bis zu 400 Meter hohen Erhebungen ist der Deister ein letzter Ausläufer der Mittelgebirge am Rand der norddeutschen Tiefebene. 

 

 

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Diese grüne Lunge der Hannover-Region ist bekannt für das Wisentgehege und für die Rotten von Schwarzwild, die sich hier tummeln und - ich habe es auf meinem Weg vom Bahnhof Springe erlebt - selbst am hellichten Tage über die Wanderwege wechseln.

Wo sind die Windmühlenräder? Nach diesen markanten Wahrzeichen der alternativen Energiegewinnung suche ich, als ich aus dem Wald komme, vergeblich. Windkraftanlagen, so höre ich später, hätten hier am Waldrand und im Windschatten des Berglandes keinen guten Standort. Aber sonst wird das ökologische Design dieser kleinen abgelegenen Ansiedlung sofort augenfällig. Natur und High-Tech sind organisch verbunden. Die ganze Anlage scheint — wie ein Sonnenblumenfeld — auf die Sonne ausgerichtet.

Vom Eingang des 18000 Quadratmeter großen Geländes aus sehe ich als erstes die blitzenden und bläulich in der Sonne schimmernden Flächen einer großen Photovoltaikanlage und gleich daneben das Schilfgrün einer Pflanzenkläranlage. Das Niedrigenergie-Gästehaus mit seiner solaren Architektur und dem großen Wintergarten auf der Südseite ist der nächste Blickfang. Davor ist ein Sonnenkollektortestfeld mit einem Dutzend verschiedener Flach- und Röhrenkollektoren aufgestanden.

Das Haupthaus ist alt. Die Bismarckschule Hannover hat es in den 20er Jahren für ihre Zöglinge als Schullandheim errichtet. Die Küche ist geblieben. Die Schlaf- und Unterrichtsräume wurden zu Wohnungen, Tagungsräumen, Büros und Ladenlokalen umfunktioniert. In einer Nische neben dem Eingang ist, schon etwas verblaßt, die Anti-AKW-Sonne zu sehen: Atomkraft? Nein danke! Die neuen Sprossenfenster mit der Doppelverglasung und die Sonnenkollektorflächen auf dem Dach sind äußerliche Merkmale dafür, daß dieser Altbau, seitdem er 1981 vom EUZ übernommen wurde, nach baubiologischen Kriterien saniert wurde. Um die mit dem wilden Wein bewachsene Natursteinwand zu erhalten, wurde teilweise von innen gedämmt.

Das Grundstück ist entsprechend der früheren Nutzung großzügig bemessen. Nach Süden hinaus liegt der Garten. Der Baumbestand ist wie der Bau inzwischen 80 Jahre alt und entsprechend hoch gewachsen. An der sonnigsten Stelle ist, umgeben von einem Feldsteinmäuerchen, die Kräuterspirale angelegt.

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Eine kleine Wasserfläche reflektiert das einfallende Sonnenlicht. Die zusätzliche Wärme wird von den Steinen gespeichert und kommt besonders den mediterranen Kräutern im oberen Bereich der Spirale zugute. Aus einigen in einem kleinen Kreis gepflanzten Weidenbäumen, deren Zweige zusammengebunden worden sind, ist eine grüne Laube mit mehreren schattigen Sitzplätzen entstanden. Und dann steht da noch, notdürftig abgeschirmt von ein paar Schilfmatten, mitten im Garten, einladend eine klapprige Dusche. Eine Solardusche. Sie arbeitet ohne Pumpsystem. Das Wasser fließt durch den Kollektor, wird aufgewärmt und steigt wegen der Dichteunterschiede des Wassers im Rohrsystem nach oben in den Speicher. Ab und zu duscht hier jemand nach der Gartenarbeit. Ansonsten ist diese simple Selbstbauanlage eine kleine Spielerei, ein Anschauungsobjekt, an dem man die elementaren Vorgänge der Solarthermik praktisch vermitteln kann. Hier Sonne, da heißes Wasser. Tatsächlich: Als ich den Hahn aufdrehe, fließt auf Anhieb warmes Wasser.

"Auf der Fläche der Erde kommt 10.000mal mehr Sonnenenergie an, als der gesamte kommerzielle Primärenergieumsatz beträgt", sagt Franz Möbius, Physikingenieur, Mitstreiter der Anti-AKW-Bewegung und einer der Gründer des Energie- und Umweltzentrums. "Auf der Landoberfläche ist es nur noch 3000mal soviel, in Deutschland 80mal soviel. Aber das muß man sich mal vorstellen: Auf jedem Quadratmeter Fläche steht nach einem Jahr zehn Zentimeter hoch das Heizöl!" Franz Möbius grinst, als er diesen schrägen Vergleich anstellt. Das sei natürlich eine erschreckende Vorstellung. Aber energetisch gesehen, sei es das, was die Sonne liefere. "Und da soll man nicht sagen, es wäre nicht genug."

Das Bewußtsein von der unerschöpflichen Fülle an Energie, die von der Sonne kommt, ist die Basis des Denkens hier in dieser etwa 20köpfigen Gruppe von Ingenieuren, Handwerkern und Pädagogen. Es ist der Ausgangspunkt für ihre Sonnenstrategie. Deren Grundzüge lassen sich in ein paar Stichworten, die hier immer wieder zu hören sind, skizzieren:
Die Sonne nutzen. In der Zukunft, langfristig, damit auskommen. Weg vom Kohlenstoff, weg von der Nukleartechnik.

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Mit der Fusion wegen der neuen Risiken gar nicht erst anfangen. Bis die Sonnenenergie übernehmen kann, ist das erste Gebot: Energie sparen, besser gesagt: Effizienzsteigerung in der Anwendung. Sparsame Haushaltsgeräte, gute Hausdämmung und effiziente Kraftwerke. Fossile Brennstoffe - solange sie überhaupt noch nötig sind - nach dem Prinzip der Kraft-Wärme-Kopplung nutzen, möglichst in dezentralen Systemen, zum Beispiel Blockheizkraftwerk-Technik. Und parallel dazu die Sonnenenergienutzung ausbauen: zur Stromerzeugung mit Solarzellen und Warmwasserbereitung mittels Sonnenkollektoren. Und mit Wind und Wasserkraft und Biomasse alles nutzen, was an sekundären Erscheinungsformen der Sonnenenergie da ist, also erneuerbare Energiequellen, nachwachsende Rohstoffe nutzen. Es gibt nicht den großen Rundumschlag, sondern viele differenzierte, individuelle Lösungen, dezentral, standortabhängig, technologieabhängig, den Ansprüchen der Nutzer angepaßt.

Das Anwesen hier am Fuß des Deisters ist gleichzeitig Ideenschmiede und Versuchsgelände für dieses Konzept, kleine Systeme dezentraler Erzeugung und effizienter Nutzung von Energie zu installieren und im Alltag praktisch anzuwenden. Das Know-how und die Hardware zu vermarkten und davon zu leben. Einen Lernort zu schaffen für Leute, die mit der Energiewende bei sich selbst, in dem Bereich, den sie selbst bestimmen, in ihrer beruflichen oder in ihrer politischen Praxis anfangen wollen. Ein Modell zu bauen, das übertragbar wäre: auf größere Gebäude, auf kleine Siedlungen, auf das gesamte Land.

Franz Möbius sammelt seine Besucher an diesem Tag der offenen Tür, der wie immer am ersten Sonnabend im Monat stattfindet. Er hatte zur Begrüßung von den Wurzeln des Projekts in der alternativen Bewegung der späten 70er Jahre erzählt. Nur "Atomkraft — nein danke" zu sagen reiche nicht. Man müsse vor allem zeigen, wie es anders geht. "Das, was wir anderen Leuten raten, wollten wir selbst ausprobieren und davon auch schon profitieren. Wir wollen ja unseren Kunden keine neue Lebensaufgabe verkaufen, sondern Dienstleistungen und Produkte anbieten, die funktionieren und das Leben erleichtern."

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Sein Publikum, etwa ein Dutzend Interessenten, hat mit wohlwollenden Mienen zugehört. Die Fragen der Gruppe, die jetzt gesammelt werden, sind fachbezogen und präzise. Eine junge Familie mit zwei Kindern plant den Neubau eines Einfamilienhauses. Was für Fenster und was für eine Verklinkerung brauchten sie, um die Werte eines Niedrigenergiehauses einzuhalten. Ein Paar aus dem Salzgittergebiet, ebenfalls dabei, sich ein Haus zu bauen, fragt nach Möglichkeiten der Regenwassernutzung: "Uns interessiert, wie man es schafft, entschuldigen Sie, die Scheiße nicht mehr mit Trinkwasser zu spülen, wo man doch im Grunde genommen über genügend Wasser von oben verfügt." Jemand aus Hannover erkundigt sich nach den Möglichkeiten, Fenster in einem Altbau zu sanieren. Ein anderer sucht nach passenden Kollektoren, um seine Warmwasserbereitung auf Solarenergie umzustellen. Ein älterer Mann mit umfangreichem Spezialwissen, das er ab und zu aufblitzen läßt, möchte über die neuesten Entwicklungen für die Langzeitspeicherung von Photovoltaikstrom fachsimpeln.

"Hier kommen wir schon an so einer kleinen Photovoltaikstation vorbei." Im Wintergarten, wo Franz Möbius seine Führung beginnt, brennt Licht. Die Lampe wird ebenso wie der Kühlschrank, der hier steht, mit Solarstrom betrieben. Auf dem Süddach des Altbaus - zwischen Glas und Metallrahmen eingekapselt - sind sechs Module polykristalline Solarzellen installiert. Der Strom, den sie aus dem Licht produzieren, wird in Akkus gespeichert. An der Meßstation hier unten lassen sich die Werte ablesen. Wir haben im Moment einen Ladestrom von 2 Ampere und eine Spannung von 28,2 Volt. Die Akkus sind voll. Es ist eine kleine Inselanlage, sie arbeitet also ganz autonom und ohne Verbindung zum Stromnetz. Hier Sonne, da Strom. In einem Campingmobil oder in einem Wochenendhaus oder einer Meßstation draußen in der Wildnis, wo es keinen Netzanschluß gibt, mache sie Sinn. Hier dient sie nur zur Vorführung des Verfahrens. Die ausgewachsene Photovoltaikanlage des Energie- und Umweltzentrums steht am Parkplatz und bringt 2,6 Kilowatt Nennleistung. "Kostet eine halbe Million", sagt jemand aus der Gruppe. Nee, lacht Franz Möbius, "nicht mal ein Zehntel". Auf die Frage: Rechnet sich das? wird er noch eingehen. "Die Photovoltaik macht keinen Krach, da gibt's keine Abgase. Da stinkt nichts ..."

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Die Begeisterung des altgedienten Ingenieurs überträgt sich, als wir vor einem brusthohen Stahlblech-Quader stehen, der an ein Rohrleitungssystem angeschlossen ist. "Hier beim Blockheizkraftwerk merkt man: Da steckt Energie drin." Die grundlegende Technik ist einfach zu erklären. Ein Verbrennungsmotor wird mit einem Generator gekoppelt. Die Abwärme aus dem Motor wird für Heizzwecke genutzt. Der erzeugte Strom dient dem eigenen Bedarf. Der Überschuß wird ins öffentliche Netz eingespeist und vom Stromunternehmen vergütet. Dezentrale Kraft-Wärme-Kopplung, so sagt Franz Möbius, sei gewiß die härteste Variante von sanfter Technik, aber sie sei wirklich die effizienteste Methode. Denn man müsse wissen: Bei der Stromerzeugung in Wärmekraftwerken werde nur ein Drittel der Brennstoffenergie in Strom umgewandelt. Es werde soviel Abwärme durch die Kühltürme rausgejagt, daß sie reichen würde, um ganz Deutschland zu heizen. Blockheizkraftwerke dagegen würden die Brennstoffenergie zu über 90 Prozent nutzen. Das heißt: Bei dezentraler Kraft-Wärme-Kopplung geht es nicht um ein paar Prozent Energie-Einsparung, sondern um 40 Prozent des Energiemarktes. Daran könne man auch ermessen, warum es so viele Widerstände gäbe. "Wenn Sie vorhaben, ein Blockheizkraftwerk zu installieren - ab zehn bis 15 Wohneinheiten fängt es an interessant zu werden, bei Niedrigenergiehaus-Bauweise sogar erst ab 30 Wohneinheiten."

 

Der Kollektor auf dem Gästehausdach hat jetzt gerade 136,5 Grad Kollektortemperatur. Es ist schon nach 12 Uhr. Im Erdgeschoß des Haupthauses zeigt Franz Möbius auf ein Display. Per Knopfdruck hat er eine Meßstelle gewählt, die diesen Wert anzeigt. Auf den zwei Displays kann visuell alles dargestellt werden, was an Energieströmen in den Gebäuden gerade pulsiert. Viel ist es nicht in dieser heißen Mittagsstunde. Franz Möbius erläutert deshalb mehr verbal, wie aus den vielen sinnvollen Einzelbausteinen auf dem Gelände ein Gesamtkonzept erwächst, das in der Summe Sinn macht: das integrierte Energiekonzept.

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Der Sommer ist brennstofffreie Zeit, weitgehend jedenfalls. Das warme Wasser für die Gäste und die Küche kommt von den Sonnenkollektoren. 55 Quadratmeter Sonnenkollektoren auf dem Haupthaus. Zwei 15 beziehungsweise 16 Quadratmeter große Anlagen für das Gästehaus. Den Strom erzeugt die 2,6-Kilowatt-Photovoltaikanlage am Parkplatz (die allerdings noch in der ersten Ausbaustufe ist). Wenn die Sonne nicht ausreicht, springt das Blockheizkraftwerk an. Im Sommer ist der Einsatz von fossilen Brennstoffen auf ein Minimum reduziert. In den sonnenärmeren Jahreszeiten übernimmt das noch mit Heizöl betriebene 6-Kilowatt-Block-heizkraftwerk die Hauptlast, liefert Strom und speist die Warmwasserheizung. Überschußstrom wird ins öffentliche Netz eingespeist. Umgekehrt kann bei Bedarf Strom aus dem Netz dazukommen. Sowohl die Photovoltaikanlage, also die solare Stromerzeugung, als auch das Blockheizkraftwerk arbeiten netzparallel.

Soweit das Konzept, das 1995 entwickelt wurde. Wie weit ist es schon verwirklicht? Auf dem Display kann man die Energiebilanz des letzten Jahres ablesen: 32.000 Kilowatt verbraucht. 2100 Kilowatt davon wurden in der Photovoltaikanlage erzeugt, im Blockheizkraftwerk 17000 Kilowatt. Ungefähr ein Drittel der Eigenerzeugung wurde ins Netz eingespeist, weil sie zu Zeiten anfiel, als der Strom auf dem Gelände nicht gebraucht wurde. Ebensoviel Strom, wie das Blockheizkraftwerk erzeugte, also etwa 17000 Kilowatt, wurden aus dem öffentlichen Netz entnommen.

 

Das Niedrigenergie-Gästehaus funkelt in der Sonne, als wir den kurzen Weg vom Haupthaus kommen. Die Kollektorfläche auf den roten Dachziegeln und die hellgrauen Wandflächen, die naturfarbenen Lärchenholzplanken des Obergeschosses und die leuchtend gelben Fensterrahmen, das Glas des zweigeschossigen Wintergartens, der Edelstahl der Dachrinnen und Rohrleitungen, das Metall der Balkongeländer und die Fassadenbegrünung - alles vermittelt den Eindruck von Leichtigkeit und Eleganz. Dabei ist es nichts weiter als ein Holzrahmenbau, der mit altem Zeitungspapier gedämmt ist, nämlich mit zehn Tonnen Isofloc, dem Zellulosedämmstoff, den man zwischen die Schalung geblasen hat. 

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Ökologisches Bauen also in mehrfacher Hinsicht: Das Gebäude besteht überwiegend aus einem nachwachsenden Rohstoff, nämlich Holz, und brauchte bei der Konstruktion wenig Primärenergie. Die Außenflächen sind winddicht und optimal wärmegedämmt, so daß der Verlust an Heizenergie auf ein Minimum reduziert ist. Und natürlich ist dieses Gästehaus mit 32 Betten an die integrierte Energieversorgung des EUZ angeschlossen. Das gilt auch für die Großküche, die die Gäste mit vegetarischer Vollwertkost verpflegt.

An diesem Niedrigenergiehaus ist nichts futuristisch. Alle Elemente sind im Handel zu bekommen. Seit 1992 steht und funktioniert es und hat sich bestens bewährt. Nun plant man, die Erfahrungen zu vermarkten. In der Ideenschmiede des EUZ wird im Moment das Konzept erarbeitet. Wie kann man mit dem Angebot eines kompletten, ökologisch durchdachten, schlüsselfertig errichteten Niedrigenergiehauses auf den Markt gehen?

Zukunftsmusik. An diesem Mittag steht die Vermittlung von Wissen im Zentrum. "Was empfehlen Sie denn als Außendämmung, wenn ich jetzt ein normales herkömmliches Haus habe, 30 Jahre alt, mit Außenwand aus normalem Ziegelstein und glattem Putz?"

Wir stehen vor dem Info-Pavillon neben dem Gästehaus. In den Wandaufbau sind die verschiedensten Möglichkeiten der Wärmedämmung im Querschnitt zum Sehen und Anfassen eingearbeitet. Von Isofloc über Perlitte, das aus Bimsstein herausgeschäumt wird, von Kork bis hin zu den preiswerteren Mineralfasern und Kunststoffen. "Wollen Sie ihr altes Gebäude auf Niedrigenergiestandard bringen, dann müssen Sie sich mit zehn und 15 cm Dämmstoffstärke anfreunden." Und erst solle man die Gebäudehülle auf undichte Stellen und Wärmebrücken untersuchen lassen und beim Einbau alle bauphysikalischen Details beachten. Welcher Dämmstoff nun der richtige sei, hängt dann von vielen Faktoren ab. Beispiel: Ich will einen umweltfreundlichen Baustoff, habe aber nicht soviel Geld. Also mache ich die Dämmung nur halb so dick. Natürlich alles innerhalb der zulässigen Grenzen der Wärmeschutzverordnung. Dann könnte es sein, daß nach ein paar Jahren Heizperiode die dickere Polystyroldämmung vielleicht unterm Strich die bessere gewesen ist, weil man viel mehr Energie und Schadstoffe eingespart hätte.

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"Also wenn man jetzt den Wärmebedarf der Bundesrepublik halbieren will", fährt Franz Möbius bei seiner Antwort fort, "durch vernünftige Wärmedämmung nach entsprechend verbesserten Wärmeschutzverordnungen, dann wird man fast alle Produkte brauchen, die auf dem Markt sind. Dann kann man nicht allein mit Kork und man kann auch nicht ausschließlich mit Isofloc arbeiten. Es wird immer eine große Vielfalt von Materialien geben. Jeder einzelne, wenn er denn ausreichend informiert ist, kann sich entscheiden nach den Kriterien, die ihm am wichtigsten sind."

Franz Möbius bückt sich und hebt einen schweren Deckel hoch, der im Boden neben dem Eingang zum Wintergarten eingelassen ist. Darunter liegt die Regenwasserzisterne. Sie ist aus aufeinandergesetzten Betonringen von zwei Meter Durchmesser konstruiert. Das Regenwasser läuft zunächst in eine Vorkammer, in der es mit einer Kokosfasermatte, die zwischen ein Streckmetall geklemmt ist, gefiltert wird. Materialien, die man für ein paar Mark im Baumarkt bekommt. Das reicht vollkommen aus, um das Laub, die Birkenblüten und gelegentlich eine tote Maus herauszufiltern und das Regenwasser für die Toilettenspülung aufzubereiten. Ein Großteil des Trinkwassers wird aus dem Brunnen im Garten gepumpt.

Wohin fließt es nach Gebrauch? Auf der letzten Station unseres Rundgangs bekommen wir das hauseigene Klärwerk zu sehen. Gleich am Eingang neben dem Parkplatz liegt die Pflanzenkläranlage, im Prinzip ein kleines, künstlich geschaffenes Feuchtgebiet.

Sämtliche Abwässer des Komplexes werden zunächst in eine Vierkammer-Ausfaulgrube geleitet. Der Überlauf wird von hier aus zweimal am Tag auf zwei Klärbeete gepumpt. Beide zusammen haben eine Fläche von 154 Quadratmetern. Diese Beete haben einen sandigen, schilfbewachsenen Untergrund. Aber das Schilf ist nur die grüne Abdeckung, die dafür sorgt, daß ein bißchen mehr Sauerstoff in den Sandboden hineingetragen wird. Die wirkliche Arbeit der Reinigung des Wassers leisten die Bakterien im Sandfilter. Und sie leisten gute Arbeit. Seit zehn Jahren ist die Anlage in Betrieb. 

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Die vorgeschriebene Reinigungsleistung, so hat Gunhild Höner, im EUZ die Expertin für Pflanzenkläranlagen, herausgefunden, werde problemlos erbracht. Sie berät Interessenten beim Bau solcher Anlagen, macht für Kunden Planungen und Bauaufsicht und bietet Kurse für den Selbstbau an.

 

In der aufgeklärten Gruppe, die in diesen heißen Mittagsstunden die Führung über das Gelände mitgemacht hatte, war die Frage nach der Wirtschaftlichkeit der Sonnenenergie nur leise, fast verschämt, angeklungen. In der Praxis scheint sie zentral zu sein. Die Leute vom EUZ haben differenzierte Antworten -und eine entscheidende Gegenfrage: Wie teuer darf denn der Quadratmeter Ozonloch in Zukunft sein? Die nächste Rechnung, die die Besucher aufmachen, ist die energetische Amortisierung. Wie lange dauert es, bis so ein Flachkollektorsystem komplett mit 40 Meter Rohr, Wärmedämmung, Kollektor, 400-Liter-Stahlspeicher, mit Wärmedämmung und allem Drum und Dran netto die Energie am Wasserhahn wieder abgeliefert hat, die bei seiner Herstellung verbraucht wurde? 

Franz Möbius hat es berechnet: Nach zweieinhalb Jahren hat sich die Anlage energetisch selber amortisiert und spart dann den Brennstoff ein, den das Konkurrenzsystem brauchen würde. Bei der betriebswirtschaftlichen Amortisation kommt man immerhin schon auf zehn bis 15 Jahre. Man kann aber ziemlich sicher sein, daß die Kollektoranlage länger hält, als die wirtschaftliche Amortisationszeit dauert. Im ungünstigsten Fall ist es unterm Strich ein finanzielles Nullsummenspiel gewesen. Anders sieht es bei der Photovoltaik aus. Die Produktion von Solarsilizium und Solarzellen, insbesondere die Beschichtungsvorgänge bei Temperaturen von 1400 Grad, ist heute noch enorm energieaufwendig. Kristalline Systeme brauchen zehn bis 20 Jahre, um die Energie einzusammeln, die zu ihrer Herstellung nötig war. Bis ein break-even point erreicht ist, an dem sie sich finanziell amortisiert haben, kann es gut und gern 20 bis 30 Jahre dauern — jedenfalls bei den jetzigen Preisen der konkurrierenden fossilen Brennstoffe und dem derzeitigen Stand der solaren Technik.

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Fast alle Energiesparmaßnahmen rechnen sich. "Um mal ein extremes Beispiel zu nennen", sagt Franz Möbius: "Wenn Sie eine 15 Jahre alte Heizung im Keller haben und meinen, daß Sie mit einer Sonnenkollektoranlage für Brauchwassererwärmung einen großen Schritt vorankommen, dann muß ich Ihnen sagen, leider nein. Geben Sie Ihr Geld lieber zunächst für einen neuen Heizkessel aus, und wenn Sie die Kollektoranlage nicht zusätzlich finanzieren können, dann warten Sie damit noch ein bißchen. Eine hocheffiziente Heizungsanlage spart unterm Strich mehr Energie und Geld, als wenn man auf die alte Dreckschleuder noch ein Öko-Accessoire oben draufsetzt."

Die Wirtschaftlichkeit ist dann interessant, wenn man sagt: Ich hab' eben nur 15000 Mark. Wenn ich mit diesen 15000 Mark den höchsten Effekt erzielen will, was muß ich dann machen? Und dann kommt leider die Enttäuschung:
keine spektakuläre Photovoltaikanlage, keine spektakuläre solarthermische Anlage. Im günstigsten Fall die Wärmedämmung eines älteren Gebäudes. Angefangen im Dachbereich, wenn er ausgebaut ist. Oder eine ganz effiziente Heizungsanlage, den alten Heizkessel rausschmeißen und den marktbesten Heizkessel kaufen. Effizienzsteigernde Maßnahmen sind zunächst das, was es bringt. Höchste CO2-Ersparnis pro investierter Mark. Und der nächste Schritt ist dann eben der Einstieg in die Sonnenenergie. Die Solaranlage für 15000 DM zur Warmwasserbereitung. Und Photovoltaik kommt sicherlich ganz am Schluß der Kette: Der eine kauft sich ein Auto, das einen besonderen Kick hat. Und der andere installiert halt dieses blaue Ding auf dem Dach. Das erzeugt einfach nur Strom. Sieht echt super aus. Und hat nicht jeder. Das spielerische Element muß dabeisein, das Leben ist sowieso schon traurig genug. Ein bißchen ist es auch: Hobby. Oder, ergänzt einer der Besucher, Sie haben es doch vorhin schon auf den Punkt gebracht: Verantwortung.

Die Sonnenscheinrevolution begann in den 70er Jahren als eine libertäre, sanft-anarchistische, jugendliche Bewegung. Sie sollte von der Allmacht der Großversorger befreien. Monopole, dachte man, bekommen sie schlecht in den Griff. Solarenergie ist kostenlos, wenn die Systeme einmal installiert sind. Sie macht Selbstversorgung möglich. Sie unterläuft die Zentralisierung, fördert dezentrale Vernetzungen. 

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Sie ist dem Menschen angepaßt, aber nicht auf Vereinzelung der Individuen ausgerichtet. Kleine Gruppen, Nachbarschaften, kleine Gemeinwesen, Ökodörfer, grüne Siedlungen könnten ihre Stromsouveränität gewinnen.

"Ein anderes Entwicklungsmodell... den Mut haben, sich dem unkontrollierten Fortschritt zu entziehen ... Die ganze Theorie der Bedürfnisse überprüfen ... Dem Modell der zentralistischen, kapitalistischen Organisation widerstehen ..." Beim Blättern in alten Jahrgängen der Rundbriefe aus dem EUZ, der vereinseigenen Zeitschrift, lese ich im Heft von 1991 diese Stichworte. Ein Beitrag der italienischen Genossen vom "Rete delle piccole cittä dell' Italia centrale" (Netz der kleinen Städte Mittelitaliens), einer Initiative, mit der das EUZ seit langem kooperiert. Ein Manifest aus der Toscana im Geiste von Antonio Gramsci und Franziscus von Assisi: "Die Natur, das Gedächtnis, die Behausungen, die Landschaft, der Lebensrhythmus des Landes sind nachhaltig geschädigt ... Wir müssen jede mögliche Form von Selbstorganisation ersinnen und ausprobieren und dabei auf den Verstand, auf konkrete Kenntnisse und auf die Weisheit der Bedürfnisse setzen, um den Menschen zu schaffen, in jedem Menschen und zum Wohle des Menschen. Die großen Themen der Freiheit, der Gerechtigkeit, der Geschwisterlichkeit, des Zusammenlebens, des Glücks, der menschlichen Tugenden müssen der Ausbeutung durch die ökonomische Weltherrschaft entrissen und der Ausgestaltung und Formung durch das soziale Bewußtsein konkreter Gemeinschaften wiedergegeben werden."

Die Zeit der Utopien scheint vorbei. Solarnutzung, so erfährt man hier aus erster Hand, ist High-Tech, Forschung, Entwicklung, effiziente Fertigung, Kampf um Preise, Marktanteile und kostendeckende Vergütung, Investitionen und Kampf mit den Monopolen der Energiewirtschaft.
Die Zeit verrinnt. Ich sitze mit einigen Leuten im Garten und frage, ob man im EUZ ein Szenario für den ökologischen Crash habe. Sie zögern mit der Antwort. Wie ein Crash aussehen könnte, interessiere sie nicht so sehr. Aber es wird, irgendwie, eine Veränderung des Klimas geben. Der Mittelwert der Temperaturen wird steigen. 

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Die Wellen werden höher. Der Wind weht stärker. Man wird dort, wo man es für lohnend hält, die Deiche erhöhen. Das alles wird langsam geschehen. Der Treibhauseffekt wird sich irgendwann auswirken und eine Bevölkerungswanderung hervorrufen, weil die Leute dann in bestimmten Gebieten nicht mehr leben können.

Ist diese schwarze Vision eine Motivation für die Arbeit im EUZ? "Ganz klar", sagt Wilfried Walther, der seit sieben Jahren als Diplomingenieur und Referent für ökologisches Bauen hier arbeitet. "Das ist für mich Motivation genug, etwas entgegenzusetzen. Die Chance, die wir haben, ist, gerade mal die schlimmsten Veränderungen oder die katastrophalen Klimaveränderungen ein bißchen abzumildern. Die Vorstellung, daß man alles wieder ins Lot kriegt, hat ja heute keiner mehr."

Wie sagt man in Kalifornien? Solar architecture is not about fashion. It is about survival ... Und wie hatten die italienischen Genossen im EUZ-Rundbrief von 1994 denselben Gedanken formuliert? "Ein System, wie das kapitalistische, das die unbegrenzte Expansion und die uneingeschränkte Ausbeutung der Ressourcen braucht, kann physisch auf Dauer mit einem begrenzten System wie der Erde nicht zusammenleben. Es gibt nicht viele Alternativen: entweder wir besiedeln den Mond oder wir verändern das System."

Mit dem erhobenen Zeigefinger, das wissen alle, ist nichts zu machen. Der Ton ist unaufgeregt und locker. Man hört in Eldagsen keine Oberlehrersentenzen. Die Argumentationslinien sind von nüchterner Klarheit. Aber es existiert im Bewußtsein und Unterbewußtsein dieser Gruppe wohl ein kollektiver Kernbestand an Visionen. Diese werden von allen mehr oder weniger geteilt. Es sind die lichten, freundlichen, von Sonnenschein durchspielten Zukunftsbilder - und die rabenschwarzen, apokalyptischen Visionen. Aus beiden Reservoiren schöpft man. Davon läßt man sich leiten und immer wieder neu motivieren. Dieser Vorrat an Gemeinsamkeit hat das Projekt durch alle personellen Fluktuationen und organisatorischen Transformationen hindurch zusammengehalten.

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"Wir wollen langfristig existieren", hatte man mir beim ersten Gespräch im EUZ gesagt. Dafür wolle man sich rüsten. Und deshalb sei man gerade in einem tiefgreifenden Transformationsprozeß, in dem die Strukturen auf den Prüfstand gestellt und verändert würden.

"Transformation ist eine Reise ohne Endziel", so Marylin Ferguson nach ihrer Erforschung der kalifornischen Subkulturen. "Sie umfaßt jedoch Stufen." Eine Rückblende auf die fast 20jährige Geschichte des EUZ:

Stufe 1: Das Ausstellungsprojekt. Am Anfang stand ein Unterrichtsprojekt. Eins von der Art, wie es heute alltäglich ist. Eine Handvoll junger Lehrer setzte 1979 an einer Schule in Bensheim an der sonnenreichen Bergstraße im Polytechnikunterricht das Thema alternative Energien auf den Stundenplan. Ein brisantes Thema damals und in dieser Region. Einen Steinwurf entfernt stand am Rheinufer das 1974 ans Netz gegangene Siemens-Atomkraftwerk Biblis. Die Szenarien für den GAU und die Nachrichten von realen und potentiellen Störfällen jagten der Bevölkerung kalte Schauer über den Rücken und brachten sie in Bewegung. Die Anti-AKW-Bewegung hatte in der Rhein-Main-Region einen starken Rückhalt. Auch die Bensheimer Lehrer und Schüler engagierten sich. Der Unterricht blieb nicht bei den physikalischen Theorien und beim Tafelbild stehen. Ein Projekt wurde in Gang gesetzt. Was heute an den Schulen so oft zur langweiligen Routine erstarrt, war damals neu und mitreißend. Eine Lehrer-Schüler-Arbeitsgemeinschaft "Sanfte Energie" entwickelte Schautafeln über das Thema Energie und baute kleine, funktionierende alternative Energieanlagen: Kollektoren, Windräder, was es so gab. Das Produkt dieses Projektunterrichts war eine Ausstellung. Ihr Name bezog sich auf Biblis: "Es geht auch anders." Die Ausstellung brachte man aus der Schulaula in die Öffentlichkeit. Mit Erfolg. Regionale Initiativen und Einrichtungen forderten sie an. Die Ausstellung wanderte. Die Gruppe der Ausstellungsmacher erweiterte sich. Aktivisten aus der Bewegung kamen dazu, die die Ausstellung betreuten und die Materialien und didaktischen Konzepte kontinuierlich weiterentwickelten.

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Stufe 2: Das Klostermodell. Der große Sprung nach vorn kam zwei Jahre nach Beginn des Ausstellungsprojekts. 1981 zogen sieben Erwachsene aus der Gruppe mit vier Kindern nach Norddeutschland, wo das Gelände eines ehemaligen Schullandheims bei Hannover zum Verkauf stand. Die Leitidee, "es geht auch anders", sollte konsequent auch im Zusammenleben umgesetzt werden. Gemeinsam leben, gemeinsam arbeiten. Heute spricht man rückblickend etwas ironisch vom Klostermodell: Jeder, der eintrat, mußte sein Vermögen in die Gemeinschaft einbringen. Die Einkünfte flössen in eine gemeinsame Kasse. Jeder war für alles verantwortlich. Jeder konnte sich frei entwickeln, aber nur aus eigenem Antrieb. Die gemeinsame Kasse, aus der man sich bedienen konnte, war regelmäßig am 15. des Monats schon ziemlich leer. Die Konsensfindung war zeitraubend. Der Druck war stark. Einige fühlten sich für alles und für nichts verantwortlich; wieder andere kümmerten sich um alles, andere um nichts. Die Qualifikationshierarchie wirkte unterschwellig. Es gab Leute, denen man zuhörte und die etwas zu sagen hatten. Andere gingen in der Gruppe unter. Alles in allem: Diese Struktur schien Energie zu vergeuden und Aktivitäten zu lahmen. "Wir waren sehr viel mit uns selbst beschäftigt." Und dennoch: In dieser Phase wurde das EUZ aufgebaut und sein Ruf als Ideenschmiede und Know-how-Werkstatt begründet. Hier wurde lebendig, lustvoll und weitblickend geforscht und entwickelt. Einige Innovationen auf den Sektoren Solarthermie und Niedrigenergiebau sind von diesem Testfeld ausgegangen.

Stufe 3: Der selbstverwaltete Betrieb. Das EUZ wurde zum Durchlauferhitzer. Leute gingen weg, machten sich selbständig, gründeten eigene Betriebe. Einige davon waren sehr erfolgreich in der Solar-Szene in Norddeutschland. Neue Leute kamen. Sie wollten sich in dem Projekt engagieren, aber nicht mehr mit Haut und Haar: "Miteinander leben ist eine Sache", schrieb jemand im EUZ-Rundbrief. "Das sollen die machen, die es wollen. Miteinander arbeiten ist eine andere Sache. Die wollen wir auf jeden Fall alle zusammen beibehalten." Die große Wohngemeinschaft löste sich auf. Die meisten suchten sich eigene Wohnungen in den Dörfern der Umgebung. 

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Statt der gemeinsamen Kasse gab es den Einheitslohn. Das Leben-&-Arbeiten-Projekt mutierte zu einem selbstverwalteten Betrieb. Ein Kooperationsrat mit Vertretern der Arbeitsbereiche leitete das Ganze. Die Phase dauerte von den frühen 90er Jahren bis zum Beginn des jetzigen Transformationsprozesses.

"Wenn man die Vorstellungen, die man hat, als Dogma betrachtet, dann muß man natürlich jedesmal, wenn man was ändert, heilige Kühe schlachten." Franz Möbius, der die Geschichte hier von Anfang an mitgemacht, auch die Krisen mit durchlitten hat, zieht sein Fazit: Wenn man die gemeinsamen Vorstellungen als Arbeitshypothese betrachtet und sagt, nach diesem Prinzip, nach diesen Verfahren, nach diesen Wertvorstellungen wollen wir arbeiten und dabei sehen, ob sie tragfähig sind oder ob man daran was ändern muß, dann kann man eine kontinuierliche Weiterentwicklung gewährleisten, ohne daß man jedesmal ein System bis zum bitteren Ende führt, dann alles abreißt und alles neu konstruiert. Dann wird die Kontinuität von allen mitgetragen. Keine Struktur ist der Endpunkt der Entwicklung, sondern die Entwicklung wird weitergehen und wird auch von allen Beteiligten mitgestaltet. Der Prozeß, wie man miteinander umgeht, wie man Veränderungen realisiert, muß selber ein Bestandteil der gemeinsamen Wertvorstellungen sein.

Ferdinand von Weymann, der vor einem Jahr aus Hannover kam, wo er bei der Vermarktung von Ökoprodukten und in der Umweltberatung tätig gewesen war, skizziert den Aufbau des EUZ: "Wir haben uns eine neue Struktur gegeben, die zwei Begriffe sehr stark in den Vordergrund gestellt hat: nämlich Selbstverantwortung in der Arbeit und unternehmerisches Handeln. Und in diesem Sinne haben wir unsere Tätigkeitsbereiche jetzt strukturiert."

Im Entstehen ist ein kleiner "Zellhaufen" von selbständigen Firmen unter dem Dach des EUZ: Sein Kern, in dem die wichtigsten Kompetenzen konzentriert sind, ist das Ingenieurbüro. Es entwickelt und vermarktet Know-how für Energie, Bauen und Wohnen, speziell im Bereich Niedrigenergiebauweise.

Die "Sanfte Energie" ist ein Handwerksbetrieb, der Solaranlagen und effiziente Heizungsanlagen baut und installiert.

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Die "Handelsvertretung Solvis" wiederum ist ein Zwischenhandel für Solarthermik und Regenwasseranlagen. Es gibt ein Büro für Planung, Bau und Wartung von Pflanzenkläranlagen, und eine Firma für Beratungs- und Trainingsleistungen zum Energiesparen an Schulen befindet sich in der Gründungsphase. Angedacht sind auch die Entwicklung und Vermarktung eines schlüsselfertigen Niedrigenergiehauses und ein Zeitschriftenprojekt.
Die Bildungsarbeit ist nach wie vor das wesentliche Instrument, um die Inhalte des EUZ zu vermitteln. Das Tagungshaus, in der Trägerschaft des gemeinnützigen EUZ e.V., kooperiert mit verschiedenen Volkshochschulen in der Region und bietet Wochenend- und mehrtägige Seminare mit Umweltthemen an. Es führt selber Tagungen, Fachseminare und Schulungen für Planer, Architekten und Handwerker durch oder stellt seine Übernachtungskapazitäten und die Vollwertverpflegung Gruppen und Institutionen als Dienstleistung zur Verfügung.

"Das Ganze muß ja zusammengehalten werden", sagt Ferdinand von Weymann. Zum einen ist es der Verein, der diese integrative Funktion hat, der gemeinnützige Verein EUZ e.V., zum anderen ist es eine Beteiligungsgesellschaft, die EUZ GmbH. Diese werde stiller Gesellschafter in all den genannten Firmen sein und obendrein mit einigen Sonderrechten ausgestattet, zum Beispiel dem Mitspracherecht bei grundlegenden Entscheidungen in diesen Firmen. "So können wir sicherstellen, daß diese Firmen erstens im Sinne unserer Leitlinien arbeiten und zweitens auch bei der Stange bleiben, also nicht weggehen oder verkauft werden, ohne daß wir das wollen."

Die Leute, die hier arbeiten, binden sich also neu in das Geflecht EUZ ein: Sie werden Mitbesitzer der Firmen, in denen sie arbeiten. Der bisherige Einheitslohn weicht einem "differenzierten und transparenten Einkommenssystem, das die Gegensätze Solidaritätsprinzip und Leistungsförderung ausgewogen verbindet". Als Mitglieder des Vereins, dem das Gelände und die Bauten gehören, behalten sie Verfügungsgewalt. Als stille Teilhaber der Beteiligungsgesellschaft haben sie einen zusätzlichen ökonomischen Hebel in der Hand. Mit diesem Modell, so hofft man jetzt, werde eine "demokratische Unternehmenskultur" erreicht. "Mit Organisationsstrukturen, in denen Verantwortung dort getragen wird, wo auch Konsequenzen zu tragen sind."

Das Wort "Energie" wurzelt im Griechischen und bedeutet: Tatkraft, Schwung. Es war gewiß ein weiter, anstrengender Weg vom Projektunterricht einiger junger Öko-Freaks zu einem "leistungs- und auch in schwierigen Wirtschaftslagen überlebensfähigen Unternehmen". Vom Klostermodell zu einer "hungrigen, auf Wachstum ausgerichteten Organisation".

 

Auf der Rückfahrt kaufte ich, beim Umsteigen in Hannover, noch schnell ein paar Tageszeitungen. Der IC hatte gerade die Weser überquert, als ich im Wirtschaftsteil der Süddeutschen auf die Schlagzeile "Kernenergie - eine alternative Quelle" stieß. In München - so las ich dort - sei in einem Festakt bei Siemens das 40jährige Jubiläum der Kernenergienutzung feierlich begangen worden. Aufgrund des Bevölkerungszuwachses und der nachholenden Entwicklung in den Schwellenländern werde sich der globale Strombedarf bis zum Jahre 2020 verdoppeln. Ein Gigawatt installierter Leistung koste auf der Basis konventioneller Kraftwerke ein bis zwei Milliarden DM, bei Einsatz der Photovoltaik dagegen 15 bis 20 Milliarden DM. Daraus ergebe sich, daß die einzige ergiebige alternative Energiequelle die Kernenergie sei.

Im Licht der untergehenden Sonne flogen draußen die bewaldeten Hügel des Weserberglands am Zugfenster vorbei. Die kleinen Systeme, die ich in Eldagsen gesehen hatte, kommen mir wieder vor Augen: Die klapprige Open-air-Solardusche im Garten, die Insel-Photovoltaikanlage, die ein Zimmer mit Strom für Lampe und Kühlschrank versorgte, Selbstbau-Regenwasserzisterne und Pflanzenkläranlage. Vielleicht, diese Möglichkeit spiele ich im Kopf durch, arbeitet man in diesem Energiezentrum gar nicht mehr für die nächste Zukunft, sondern für die übernächste, für die Zeit nach dem großen Crash.

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