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3  Bosch oder die Anarchie

Beispiele

 

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Immer wieder gab es in unserer Geschichte Minderheiten, die den divide-et-impera- (Teile-und-Herrsche-) Praktiken der jeweiligen Machthaber eine Haltung umfassender Geschwisterlichkeit - auch der Natur gegenüber - entgegenzustellen versucht haben.

Eine historische Rückschau würde vom Noah des Regenbogens (also vor dem atavistischen Sündenfall) über Franz von Assisi und seine Freunde, über Rousseau, Novalis und Thoreau bis zur nüchtern-experimentellen Mystik von Musils >Mann ohne Eigenschaften< und bis zum Monte Verità in Ascona reichen, und sie würde auch außereuropäische Traditionen einer praktizierten Verbundenheit von spirituellen Kräften, Mensch und Natur einbeziehen.

Stellvertretend für diese in den zeitgenössischen Ökobewegungen wieder auflebende Naturmystik sei ein Bildwerk von Hieronymus Bosch in Erinnerung gerufen.

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Bosch soll, im fünfzehnten Jahrhundert, zu den >Brüdern und Schwestern des Freien Geistes< gehört haben, einer religiösen Geheimgesellschaft, die schon auf Erden den Unschuldsstand des Paradieses erreichen wollte. Bosch hat einen Flügelaltar gemalt, der sich heute im spanischen Prado-Museum befindet und dessen verschlüsselte Symbolik bisher von niemandem vollständig enträtselt worden ist. Der nach Boschs Tod hinzugefügte Titel des dreiteiligen Bildes lautet: >El jardin de las delecias<, >Der Garten der Lüste< oder >Sinnenfreuden<. Was zeigt das Bild?

Wenn die Flügel des Triptychons geschlossen sind, wird die Himmelskugel sichtbar; in sie ist die Erde eingebettet. Oben links sehen wir ein Abbild des Schöpfergotts. Das Innere des linken Flügels zeigt den Garten Eden und Gottvater, der Eva dem Adam zuführt. Anders als bei zwei früheren Werken Boschs mit ähnlicher Thematik fehlen hier jedoch Sündenfall und Vertreibung. Der Mittelteil erscheint als Erweiterung oder Fortsetzung des Paradieses: überall regen sich nackte Menschen inmitten einer blühenden Natur. Auf dem rechten Flügel sehen wir die >Hölle<. Aber ist das die vertraute Hölle? Kein Gericht, keine Strafjustiz sind zu finden.

Dafür jedoch: Zerstörung, Brände, Ruinen. In der Mitte eine Art Baum-Mensch, aber das hohle Innere ist als Kneipe hergerichtet. Ungeheure Instrumente sind aufgestellt, in die Menschen eingespannt sind, als Teile des Apparats.

Der >Garten der Lüste< gilt als das widerspenstigste und vieldeutigste Werk Boschs. Die bisherigen Deutungen der Kunstwissen­schaftler haben Teilaspekte klären können, das Ganze bleibt auch heute noch dunkel.8)  Will Bosch mit diesem Werk vor der Sündhaftigkeit warnen? Will Bosch uns mit diesem Bildwerk eine Menschheitsutopie vor Augen stellen? Ist ein weit zurückliegender Zustand vor der Sintflut gemeint? Haben wir es mit dem Kultbild einer Geheimsekte zu tun? Ist die Nichtfestleg­barkeit womöglich beabsichtigt, die Deutungsoffenheit als Herausforderung unserer Kreativität also vielleicht bewußt gewollt? Manche Deutungen sehen in den Teilen des Triptychons eine zeitliche Abfolge, ähnlich anderen Bildern Boschs, bei denen Ursprung und Ziel der Geschichte erkennbar das Thema sind. Aber der >Garten der Lüste< reimt sich auf dieses Muster nicht.

Dazu einige Hinweise: Es fehlen Sündenfall und Vertreibung; die Landschaft auf dem Hauptbild setzt die Szene der linken Tafel fort. Wir befinden uns in einem paradiesischen Wundergarten, in dem Natur und Kunst ineinander übergehen. Es ist ein Garten mit exotischen Tieren und Pflanzen, aber auch mit phantastischer Architektur und vieldeutigen Details, die bisher jeder schlüssigen Enträtselung widerstanden haben. Aus Adam und Eva werden hier Paare und Gruppen nackter Menschen: kaum eine Stelle, wo nicht irgendwie das Männliche und das Weibliche zusammenkommen. Alles vermischt sich hier mit allem: Phantastisches und Natürliches, dazwischen Technisches, Kugeln, Lebensbrunnen, alchemistische Symbole. Ist dies Ganze aber eine Darstellung der Wollust und erotischer, verdrängter Wünsche, des >Lasters<, wie mancher Ausdeuter uns nahelegen möchte? Oder handelt es sich eher um ein Bild des sich entfaltenden Lebendigen, um ein Diesseits von Gut und Böse, um eine Welt ohne Sündenfall?

Die >Hölle<, wenn es eine ist, also die rechte Bildtafel, paßt ebenfalls nicht in die üblichen Vorstellungsmuster. Was verbindet sie überhaupt mit dem Mittelbild? Ein vorsichtiger Deuter, Carl Linfert, meint dazu:9) »Das ist keine Hölle mehr, so wie das Paradies kein Paradies ist. Es ist ein Land der Martern. Zieht man die Phantasmen ab, so könnte zwischen Erdbeben und Überfällen jede dieser Gewalttaten, wenn auch ohne so absonderliches Kostüm, in jedem Land der Erde vorkommen. Aus Boschs Paradies werden die Bewohner nicht vertrieben, in seine Hölle sind sie nicht hineingestoßen. Beide sind, wie zwischen ihnen das Land der Lust, Perspektiven auf Extremfälle.«

  wikipedia  Hieronymus_Bosch  (1450-1516)

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Extremfälle? Wenn ich die Tageszeitungen lese, dann wirkt das rechte Bild auf mich eher wie eine gleichnishafte Darstellung unserer eigenen Welt, einer Welt der Entfremdung, der Zerstörung und Zertrennung, der Kriege und Vernichtungen. Zu Boschs Kostümen müssen wir uns erinnern: es ist ausgehendes Mittelalter, als das Bild gemalt wird. In den Niederlanden rebellieren Städte und Bauern gegen die Herrschaft Habsburgs. Hier gibt es damals die ersten Aufstände und frührepublikanischen Erhebungen gegen den Feudalismus, die brutal niedergeschlagen werden von den herrschenden Mächten. Es ist die Zeit, in der die Menschen angehalten werden, den anderen zu überwachen und auszuspähen; auszuhorchen, ob der Nachbar nicht Umgang mit dem Teufel hat. In dieser Zeit stellt Bosch zwei riesige Ohren dar, als eine Maschine zum Töten. Ist das die >Hölle<? Oder ist es noch bis heute unsere Wirklichkeit, in der es >Lauschangriffe< auf systemkritische Wissenschaftler wie Klaus Traube und die Einkerkerung oder Verbannung von ketzerisch denkenden Intellektuellen wie Andrej Sacharow gibt? Ich finde, Bosch hat hier gültig und genau Aspekte unserer Wirklichkeit geschildert.

Das Mittelbild aber wäre dann ein Gegenbild zur wirklichen Welt; es wäre ein Bild unserer Möglichkeiten, eine Utopie. Obwohl dies eine figurenreiche, viel Freiheit demonstrierende Szene ist, enthält sie doch gleichzeitig Ordnung. Vielleicht läßt sich von einer Gesetzlichkeit sprechen, wie das Spiel mit seinen frei anerkannten Regeln sie kennt. Es ist eine festliche Daseinsordnung ohne Zwang. Gesetzlichkeit ohne Zwang. herrschaftsfreie Ordnung: darin besteht nach Immanuel Kant ein Wesenszug von >Anarchie<. Anarchie, wörtlich übersetzt: >Herrschaftsfreiheit<, ist entgegen einem heute vollständig auf den Kopf gestellten Wortgebrauch ursprünglich >Gesetz und Freiheit, ohne Gewalt< (Kant),10) also eine frei verabredete Ordnung des Zusammen­lebens. Hieronymus Bosch, so deute ich seine Bilddichtung, hat in diesem Triptychon eine solche Lebensmöglichkeit für uns ausgemalt.

Auffällig sind die vielen Vögel, Früchte und Fische, die sich, wenn man will, als Symbole der Sexualität interpretieren lassen. Sinnbilder des Lebens und der Fruchtbarkeit sind sie sicher. Aber erotische Momente kommen ja gleichzeitig ganz unverhüllt in zahlreichen sinnlichen Gestalten vor: als Nacktheit, Zärtlichkeit, Liebesspiel als gemeinsame Sinnesfreude – wir brauchen also gar nicht die entlarvende Aufschlüsselung eines Psychoanalytikers, der uns nachweist, daß auf diesem Bild überall die Liebe im Spiel ist.

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Selbstverständlich ist sie das, und zwar in einem umfassenden Sinne. Diese nackten Frauen und Männer – auch in verschiedenen Hautfarben – sind in zärtlich-liebevoller Verbindung miteinander und mit der Natur im ganzen dargestellt. Es wird auch nicht im Schweiße des Angesichts gearbeitet hier; die Natur sorgt für ihre Geschöpfe: Früchte scheint man mühelos zu ernten, man teilt die Lebensmittel untereinander und beschenkt sich gegenseitig damit.

>Es gibt ein Leben vor dem Tode<, singt Wolf Biermann. Ist der Garten der Lüste Boschs Traum vom Leben in Frieden und von der Liebe unter den Menschen? Ist er ein Gegenbild zur Wirklichkeit seiner Tage, die eine Wirklichkeit des Krieges, des Mordens, des Terrors und der Vergewaltigungen war? Vorstellungen von einem besseren, anderen Leben ohne Gewalttaten waren damals besonders in den Niederlanden, Boschs Heimat, verbreitet. Ideen von einem Gemeinschaftsleben in Freundschaft wurden begünstigt durch Erzählungen der Seefahrer, die damals neue Länder mit schönen Menschen, exotischen Pflanzen und Tieren entdeckten.

Ich entscheide mich für die Deutungsmöglichkeit, daß dieses Mittelbild ein Entwurf von den Fähigkeiten und Möglichkeiten des Menschen ist, eines zur Liebe begabten Menschen. Das Gegenbild rechts, unsere Wirklichkeit, wäre dann die Welt der herrschenden Verhältnisse, die unsere Liebesfähigkeit unterdrücken und verstümmeln.

Noch einmal zurück zum Triptychon: Die Kugelgestalt auf seinen äußeren Flügeln soll wohl bedeuten, daß hier mit künstlerischen Mitteln etwas über das Ganze von Welt und Kosmos gesagt wird. Daß Gottvater abgebildet ist, erinnert uns daran, daß dies eine geschaffene Welt ist, daß sie Geschichte hat, und daß Geschichte etwas mit Geschehen-Machen, mit Herstellen, mit Kreativität zu tun hat. Wir selbst sind zur Kreativität fähig und berufen; Boschs eigenes Werk bezeugt es. Zu keiner grenzenlosen Kreativität, gewiß; unser Leben ist endlich. Aber: wir können, innerhalb dieser Grenzen unserer Endlichkeit, unsere Geschichte selbst machen; wir können Archen bauen wie Noah, wir können unser Leben selbst gestalten, Frieden halten oder gewalttätig sein.

Bosch ist ein kühner Neuerer gewesen. Wilhelm Fränger schreibt: »Er hat auf seiner Mitteltafel den Heilsweg einer religiösen Liebeslehre, ein erotisches Mysterium geschildert und damit eine Werttafel der Vorstellung errichtet, daß Christenglaube und Naturergebenheit versöhnbar und der alte Zwiespalt zwischen Geist und Trieb im Zeichen einer neu begriffenen Gott-Natur, trotz Tod und Teufel, überbrückbar sei.«11

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Ähnlich wie Romantik und Tiefenpsychologie die unterdrückte Natur in uns selbst wiederentdeckt und zu rehabilitieren begonnen haben, schicken wir uns jetzt endlich an, die unterdrückte Natur außer uns neu zu entdecken und uns ihrer Zerstörung durch Raubbau, Ausbeutung und durch die Todesstrahlen der Atomspaltung zu widersetzen. Wie aber sieht eine Welt ohne Naturunterdrückung aus, eine Welt, in der Mensch und Natur miteinander befreundet sind, in der umfassende >Fraternité< geübt wird? Bosch hat sie uns in seiner Bilddichtung gleichnishaft vor Augen gestellt, und er hat uns damit ein Beispiel Freien Geistes und einer kreativen Neudeutung der Welt gegeben. Das >Böse< wird hier jedenfalls nicht mehr in der Natur oder in der Sinnlichkeit gesehen, sondern in der Herrschlust,

Folgerichtig wird bei Bosch die >Hölle<, der ihr im traditionellen Triptychon entsprechende Ort, als ein Bereich gezeigt, in dem über Menschen verfügt wird: sie werden hier zu Sachen gemacht, >verdinglicht< und zur Passivität gezwungen. Dies alles sind Herrschaftstechniken: Menschen gefügig machen, zum Opfer machen, zum >Objekt< machen. Auch eine bestimmte Art von Wissenschaft ist damit Teil der Hölle, die wir uns selbst einrichten. Die Festlegung, das >Feststellen< ist ein Aufspießen, eine gewaltsame Unterwerfung des Lebendigen unter arretierende Begriffe und Theorien. Bosch hat mit seinem Bild im Grunde unsere ganze Welt deutend dargestellt, in ihrer Realität und in ihren verborgenen Möglichkeiten. Zugrunde liegt hier ein Daseins­vertrauen, für das die welterhaltenden und Bindungen stiftenden Kräfte letztlich wirkmächtiger sind als die auf Getrenntheit und Zerstörung zielenden Gewalten.

 

 

Beispiele gelebter Utopien

 

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Ein amerikanisches Gemeinschafts-Experiment, das den Brüdern und Schwestern des Freien Geistes und auch dem Geist von Hieronymus Boschs Bild nahekam, waren im 19. Jahrhundert die >Perfektionisten von Oneida<. Ursprünglich ein reiner Bibelkreis, führten sie 1846 auch Gütergemeinschaft bei sich ein und lebten in einer besonderen Eheform, einer Mischung aus Polygamie und Polyandrie.

Die amerikanische Soziologin Rosabeth Kanter berichtet über diese Gruppe, die 33 Jahre lang existiert hat:12)  

»Obwohl kommunistisches Zusammenleben und Wirtschaften allein schon etwas sehr Ungewöhnliches für Amerika war, stellte die gegen alle Konventionen praktizierte >complex marriage< (Gruppenehe) der Gemeinschaft von Oneida (nach ihrem Siedlungsort genannt) in den Augen der Umwelt die größte Abweichung von der Normalität dar.

Die Ursprünge dieser Regelung entstammten den Lehren von John Humphrey Noyes, dem Gründer der Gemeinschaft, der 1850 eine Schrift mit dem Titel >Sklaverei und Ehe< veröffentlicht hat. In ihr heißt es: >Die Ehe ist keineswegs eine Einrichtung des Himmelreichs, und sie muß dem Kommunismus Platz machen. Das Aufgeben von Besitzansprüchen gehört zum Wesen der Liebesbeziehungen, wie sie zwischen Menschen bestehen sollen, die an Christus glauben.<  Das Gemeinwesen von Oneida führte daher die Gruppenehe ein. Diese Regelung bedeutete, daß jedes Mitglied sexuelle Beziehungen zu jedem anderen aufnehmen konnte, vorausgesetzt, der oder die Betreffende stimmten zu. Vielfältige sexuelle Kontakte wurden ermutigt, aber >stets geregelt und geleitet von spirituellen Überlegungen<.«

Die Überführung des Privateigentums in Gemeinschaftseigentum als Voraussetzung wahrhafter Solidarität und ein neuentwickeltes, über die Familie hinausgehendes Gruppenleben waren seit jeher Hauptmerkmale fraternitärer Gemeinwesen. Von allen Gruppen mit die faszinierendste sind wegen ihrer langen Lebensdauer die >Hutterer<, die seit über 450 Jahren ihre christlich-kommunistische Lebensform fast unverändert bis in unsere Gegenwart bewahrt haben und die größte Gruppe dieser Art mit rund 200 Kolonien zu je etwa 100 Mitgliedern sind.13)

Ihr Ursprung geht zurück auf die Wiedertäuferbewegung im 16. Jahrhundert, und sie nennen sich nach Jacob Hutter, einem ihrer damaligen religiösen Führer. Nach dem Vorbild der ersten Christen lebten und leben sie noch heute in vollständiger Gütergemeinschaft, verweigern konsequent den Wehrdienst und haben ihre patriarchal-demokratische Lebensform bis heute beibehalten. Sie wurden mehrfach verfolgt, flohen erst aus dem damaligen Osterreich nach Rußland und von dort vor hundert Jahren nach Nordamerika, wo sie sehr erfolgreiche, mit modernster Technologie ausgestattete Agrarkommunen aufgebaut haben.

 

Auch in diesem Jahrhundert sind – vorwiegend in den USA – noch zahlreiche neue kommunitäre Gemeinwesen auf religiöser wie auf nichtreligiöser Grundlage entstanden. Entweder waren es Europa-Flüchtlinge, wie die Bruderhof-Leute aus Deutschland,14) oder sie wurden von amerikanischen Protestanten gegründet, wie zum Beispiel die Gemeinschaftssiedlung >Koinonia< in Georgia, die seit 1942 ihre im Neuen Testament gründenden liebeskommunistischen Vorstellungen

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vom Zusammenleben und -arbeiten mit einer sehr weltzugewandten praktischen Nächstenliebe verbindet, die in diesem Fall die Form genossenschaftlich organisierter Entwicklungshilfe für verelendete schwarze Landarbeiter angenommen hat.15)

Bei kritischen Minderheiten und einer wachsenden Zahl von Bürgerinitiativen nimmt der Widerstand gegen den herrschenden Zustand der Dinge inzwischen weltweit eine neue Qualität an: er richtet sich nicht nur gegen den Bau eines neuen Kernkraftwerks hier, gegen die Zerstörung einer Parklandschaft dort oder gegen die profitträchtige >Sanierung< eines alten Wohngebiets. Der Widerstand richtet sich neuerdings auch in den USA umfassender, ähnlich wie bei unseren Grünen Bewegungen, gegen die zunehmende Lebensfeindlichkeit der Verhältnisse im ganzen, die einseitig auf wirtschaftliches Wachstum programmiert sind.

Die Kritik an der pyramidenkranken Raubbau-Zivilisation unserer führenden Industrieländer nimmt nicht nur die Gestalt der Großen Weigerung an, wie noch vor fünfzehn Jahren. Zunehmend wird vielmehr jetzt versucht, an die Stelle des Verweigerten etwas Neues zu setzen. Vielen Gruppen genügt es nicht mehr, nur gegen das Bestehende zu sein; sie orientieren sich an kommunitären Gemeinschaftsformen und engagieren sich mehr und mehr für domistische Alternativen. Dies drückt sich oft schon in ihrer Namensgebung aus: <Movement for a New Society> oder <Mobilization for Survival>. Die <Bewegung für eine Neue Gesellschaft> (Movement for a New Society, MNS) ist ein über die gesamten Vereinigten Staaten verbreitetes Netzwerk unabhängiger Gruppen, die für gesellschaftliche Veränderungen mit gewaltfreien Mitteln eintreten.16) 

Die impulsgebende Ausgangszelle dieser schon Anfang der siebziger Jahre ursprünglich von Quäkern mitgegründeten Bewegung befindet sich in Philadelphia. In einem verslumten Teil dieser Stadt haben MNS-Gruppen ein lockeres Netz von mehr als zwanzig Wohn- und Hausgemeinschaften eingerichtet, das sich Life Center nennt und den Kampf gegen die Elendsbedingungen der dort lebenden Menschen aufgenommen hat: Mit Lebensmittelkooperativen, mit Rechtsberatungen bei Hausbesetzungen und verschiedenen Formen von Nachbarschaftshilfe; mit praktischer Stadtteilarbeit also, die auf Grass-root-Ebene Anstöße zur Selbsthilfe gibt. 

Gleichzeitig wird aber auch überregional, beispielsweise mit AKW-Gegnern, zusammengearbeitet, die sich ihrerseits landesweit zusammengeschlossen haben. Einer dieser, hauptsächlich von kirchlichen Gruppen gebildeten Zusammen­schlüsse, zu dem bekannte ehemalige Führer der Bürgerrechts­bewegung gehören und der Protestaktionen in ganz Amerika veranstaltet, heißt <Mobilization for Survival>.

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Viele MNS-Gruppen arbeiten inzwischen mit den zahlreichen Ansätzen zur alternativen Ökonomie zusammen, die in den letzten Jahren in den USA sprunghaft zugenommen haben. Es gibt kaum einen Bereich in der Produktion oder bei den Dienstleistungen, in dem nicht damit experimentiert wird, bis hin zu Kliniken, Kreditbanken, Genossenschaftsfarmen, Handwerksbetrieben, Gemeinschafts­garagen usw. Gegen die Versuche der bestehenden Institutionen, solche Ansätze zu unterdrücken, haben sich bereits erste Netze überregionaler Kooperation gebildet, in denen die neuen Einrichtungen sich gegenseitig unterstützen, zum Beispiel mit gemeinsamen Hilfsfonds. In Virginia und seinen Nachbarstaaten wurde 1978 die erste Föderation von kibbuzartig aufgebauten domistischen Gemeinwesen gegründet, auf Initiative der seit 1967 bestehenden Genossenschaftssiedlung Twin Oaks: die Federation of Egalitarian Communities.17

Die >Farm< (in Tennessee) ist eine 1970 entstandene, spirituell orientierte Großkommune mit etwa zwölfhundert Mitgliedern und ebenfalls kibbuzartigem Aufbau. Aller Grund und Boden und alle Produktionsmittel werden in Gütergemeinschaft bewirtschaftet, und die Mitglieder teilen alles miteinander. Das Vorbild hierfür ist, wie bei den Hutterern und in Koinonia, die Apostelgeschichte: »Alle aber, die glaubten, waren beieinander und hatten alles gemeinsam. Sie verkauften Besitz und Habe und teilten den Erlös unter alle, je nachdem es einer nötig hatte (Apg. 2,44.45).« Leute von der >Farm< haben 1977 auch eine panindianische Delegation nach Genf begleitet, die dort bei einer UN-Veranstaltung über Menschenrechte vor der Weltöffentlichkeit gegen Unterdrückung und Landraub protestiert hat. Von indianischen Gruppen in den USA wird die >Farm< wie eine Art befreundeter neuer Stamm betrachtet, der so lebt, wie viele indianische Traditionen das vorschreiben.18

An den amerikanischen Universitäten, von denen in den sechziger Jahren eine weltweite Protestbewegung ihren Ausgang genommen hatte, herrschen zwar heute vordergründig Ruhe und Anpassung. Viele der durch jene Jahre geprägten Hochschul­absolventen arbeiten jedoch – von der etablierten Öffentlichkeit bisher kaum zur Kenntnis genommen – in basisnahen Projekten an der praktischen Umsetzung domistischer Zielvorstellungen für eine neue Gesellschaft. Sie konzentrieren sich dabei auf das Machbare. So gibt es in der amerikanischen Wirtschaft inzwischen rund zehntausend Alternativunternehmen, meist Kooperativen. Diese Bewegung ist regional verwurzelt, sie bringt inzwischen auch schon eigene Kandidaten bei Kommunalwahlen durch und mobilisiert oft Tausende zu Protesten gegen Atomkraftwerke und -raketen.

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Auch bei uns in Deutschland sind während der letzten Jahre erste Schritte in dieser Richtung getan worden: Seit November 1978 gibt es das zunächst in Berlin gegründete >Netzwerk Selbsthilfe< mit seinem Fonds für politische und alternative Projekte. Menschen aus sehr unterschiedlichen Gruppen, aus der traditionellen Linken, den Gewerkschaften, der Öko-Bewegung, den Bürgerinitiativen, der Frauenbewegung, aus Kunst, Wissenschaft und Kirchen überweisen regelmäßig dorthin einen Teil ihres Einkommens, als Starthilfe für Projekte, wie sie zum Beispiel im Mehring-Hof in Berlin unter einem Dach (>domistisch<) in selbstverwalteter Unternehmens­ordnung arbeiten.

Überregionale Föderationen alternativer Ansätze gibt es bisher nur wenige in Deutschland. Ein schon länger existierendes Netz dieser Art bilden die anthroposophischen Zirkel und Einrichtungen, zu denen etwa die Freien Waldorf-Schulen und die GLS-Gemeinschaftsbank gehören. Der linke Flügel dieses Netzes, der hauptsächlich aus Angehörigen der jüngeren Generation besteht, gruppiert sich um das >Kulturzentrum Achberg<. Den Anthroposophen nahe steht die >Free International University< (FIU).19) 

Ferner gibt es eine Anzahl christlicher Kommunitäten, die – auch wenn sie viel kleiner sind – der Koinonia-Farm oder den Bruderhof-Gemeinwesen ähneln, zum Beispiel die Laurentiushöfe. Einer dieser Laurentiushöfe mit zur Zeit rund vierzig Mitgliedern wurde im Dorf Weihen (bei Kassel) eingerichtet. Größere spirituell orientierte alternative Gemeinwesen wie die >Farm< in Tennessee oder kibbuzartige Gruppen wie Twin Oaks gibt es bisher in Deutschland nicht. Mit einer Vielzahl von Projekten alternativer Gruppen wird jedoch zur Zeit im Umkreis der Ökobewegung und ihrer regionalen Netze experimentiert.

 

Die hier in einer kleinen Auswahl genannten real existierenden Alternativprojekte sind Beispiele für kreative Regression. In ihrer Struktur ähneln sie häufig dem Kibbuz. 20

Der Kibbuz selbst stellt zur Zeit eine Mischform mit kreativ- und atavistisch-regressiven Zügen dar. Er krankt bis heute an seinen Widersprüchen zwischen Sozialismus und Zionismus. Das zionistische Erbe deckt zur Zeit noch die humanitäre Grundgestalt des Kibbuz wie eine gigantische Rüstung zu und behindert seine Weiterentwicklung. Trotzdem bleibt der Kibbuz eines der wichtigsten Beispiele dafür, daß ein gleichberechtigtes, selbstbestimmtes und solidarisches Zusammenleben nicht erst in einer fernen, klassenlosen Endstation der menschlichen Gattungsgeschichte möglich ist, sondern schon heute und hier.

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Die politische Einbindung der Kibbuzim in den jüdischen Staat, der dem arabischen Teil seiner Bevölkerung das Schicksal von Vertriebenen aufzwang oder sie zu Bürgern minderen Rechts deklassierte, hat das Gemeinschaftsexperiment des Kibbuz als Modell einer gerechten Gesellschaft gewiß fragwürdig gemacht. Dennoch bleiben diese lange vor der Entstehung des derzeitigen Staates Israel errichteten Gemeinschaftssiedlungen ein wichtiges Beispiel kooperativer Lebens- und Arbeitsformen in unserem Jahrhundert.

Nur der Kibbuzbewegung ist in der bisherigen Menschheitsgeschichte eine strukturelle Veränderung des Zusammen­lebens und -arbeitens gelungen, bei der im größeren als nur inselhaften Umfang die alte utopische Forderung verwirklicht ist: »Jeder nach seinen Fähigkeiten und jedem nach seinen Bedürfnissen.« Alle Mitglieder im Kibbuz sind gleich­berechtigt und werden in seiner genossenschaftlichen Solidargemeinschaft lebenslang versorgt. Mit seinen herrschaftsfreien Führungs­formen praktiziert der Kibbuz eine umfassende Mitbestimmung und Selbstverwaltung, also reine Basisdemokratie, Privat­eigentum an Produktionsmitteln gibt es nicht mehr; innerhalb des Kibbuz ist auch das Geld abgeschafft.

In Israel sind es heute über 250 solcher Gemeinschaftssiedlungen, in denen etwa 3,5 % der Bevölkerung des Landes leben, rund 120.000 Menschen. Ich vermute, daß der Kibbuz seine eigentliche Sinnerfüllung erst noch vor sich hat. Er hat sich im Laufe seiner kurzen Geschichte schon grundlegend erneuert. Die Industrialisierung, mit der Folge eines hohen Lebensstandards, gehört zum Beispiel dazu. Ebenso die Neubewertung der Familie und auch die Wiederentdeckung von Kunst, Wissenschaft und Religion. Diese Geschichtsfähigkeit des Kibbuz, seine Begabung zur Innovation, muß betont werden, um ihm seine wichtigste Erneuerung zutrauen zu können: die Möglichkeit zur Selbstbefreiung des Kibbuz aus völkischen Fesseln.

Anfangs war er nur ein Mittel, ein Vehikel der Selbstrettung von Gruppen des verfolgten Judentums. Die Baumaterialien für diese lebensrettende Archen-Konstruktion entstammen aber großenteils dem Fundus der emanzipatorischen Tradition, die den Atavismus des Nationenkults gerade überwinden wollte. Nach dem weltweit immer sichtbarer werdenden Scheitern des etatistischen Sozialismus, der bisher nirgends eine neue menschenwürdige Gesellschaft, sondern nur bürokratische Termitenstaaten hervor­gebracht hat, könnte sich der Kibbuz-Weg als eine hochaktuelle Herausforderung erweisen. Die Neuanlage dieses Wegenetzes wird vor allem die Verführung zum Atavismus, die jeder Regression innewohnt, zu vermeiden haben.

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Ohne ein Bündnis mit den kommunitär-alternativen Gruppen außerhalb Israels wird der Kibbuz vermutlich scheitern. Ohne internationale Zusammenarbeit und Bündnisnetze werden aber auch die domistischen Ansätze in anderen Ländern keine gesell­schaftlichen Veränderungen zuwege bringen. Sie brauchen gegenseitige Hilfe.

Die skizzenhaft geschilderten Beispiele zeigen: eine Erneuerung unserer Gesellschaft und unseres Bewußtseins ist in vielen Ländern bereits im Gange. Quer zu den überlieferten Frontlinien zwischen politökonomischen und sozial-kulturellen Gruppierungen und Institutionen bildet sich seit einer Reihe von Jahren neues gesellschaftliches Gewebe mit einer bunten Vielfalt alternativer Einrichtungen und Netze. Gemeinsam ist diesen Versuchen, bei allen zum Teil weitreichenden Unterschieden, die Ablehnung derjenigen Struktureigenschaften der bestehenden Gesellschaft, die Konkurrenz­verhaltensweisen, Profitinteressen und Naturzerstörung begünstigen. Sie wollen die Gesellschaft nicht gewaltsam, sondern durch vorgelebte Beispiele verändern, die auf der Utopie einer fraternitären, selbstbestimmten Sozialordnung beruhen. Indem sie <Gesetz und Freiheit ohne Gewalt> zu verkörpern suchen, machen sie modellhaft Grundzüge einer herrschaftsfreien Gesellschaft erfahrbar.

Ein Leitmotiv läßt sich in allen diesen Gruppen und Bewegungen wahrnehmen: Bei Bosch erscheint es in der Gestalt seiner Vision vom irdischen Paradies, und dieses Motiv behält in wie immer abgewandelter Form bis hin zum Modell von der klassenlosen Gesellschaft für viele Menschen eine offene oder auch uneingestandene Faszination. Das Erregende an den hier in einer Auswahl geschilderten Alternativen aber ist, daß ihre Gründer und Mitglieder nicht nur Visionen hatten, sondern ihre Utopien zu einer erstaunlich lebenskräftigen Wirklichkeit gemacht haben, die im einzelnen überhaupt erst noch auf ihre Entdeckung wartet. Die gelebte Utopie ist ja immer auch eine Absage an die vorherrschenden Lebensformen der jeweiligen Epoche. Sie ist die konstruktivste Form der Kritik an ihrer Zeit und damit ein auch unsere theoretischen Anstrengungen herausforderndes Zeugnis für den innersten Zustand unserer Gesellschaft. Die gelebte, nicht nur literarisch konstruierte Utopie hilft die verborgenen und unterdrückten Möglichkeiten dieser Gesellschaft sichtbar zu machen.

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Dabei soll nicht verschwiegen werden, daß gleichzeitig manche Eigenheiten der erwähnten Gruppen und Bewegungen auch Fehl­entwicklungen widerspiegeln, gegen die sich ursprünglich der Alternativ-Entwurf gerade richtete. So kann die selbstbestimmte Ordnung der neuen Lebensformen, ihre Freiheit also, dann problematisch werden, wenn sie sich abkapselt von der übrigen Welt und nicht offen für Bündnisse und Kooperation auch mit Andersgläubigen bleibt.

Mit anderen Worten: auch und gerade wenn kleine Gruppen intern weitgehend herrschaftsfrei aufgebaut sind, sich aber um die öffentlichen Angelegenheiten der größeren Gesellschaft nur wenig kümmern, dann wird den herrschenden Mächten das Spiel zu leicht gemacht, und das Feld bleibt ihnen kampflos überlassen. Dies ist eine Gefahr, die spirituell orientierte Gruppen und Sekten nicht immer vermeiden, und die wahrscheinlich mit Defiziten an dialogischer Grundhaltung sowie mit dem in religiösen Kommunen und Bewegungen oft noch stark nachwirkenden Pyramidensyndrom zusammenhängen. Gerade solche Gruppen zeigen eine Tendenz zur Konservierung hierarchischer Reststrukturen, etwa in der nachgeordneten Stellung der Frau gegenüber dem Mann, und eine Neigung zur Überidentifikation mit einer herausragenden Führerpersönlichkeit, meist dem Gründer.

Vom Glücks- und Liebesmotiv der utopischen Tradition, die ja auch die Tradition der Paradies-Vorstellungen ist, anerkennen und praktizieren überdies viele spirituelle Gruppen bevorzugt oder ausschließlich die religiös begründete Nächstenliebe. Das sinnlich-vitale Moment dieses Motivs bleibt meist in den Untergrund abgedrängt, und bis heute leiden viele Kommunitäten aus dem Umkreis des Protestantismus an dessen puritanisch-sinnenfeindlicher Entstehungskultur.

Dennoch, und dies bleibt das Entscheidende:

Brüderliche Lebensformen - das bezeugen die sehr verschiedenartigen historischen und zeitgenössischen gelebten Utopien - sind zu allen Zeiten der Geschichte möglich.

Bedeutet dies nicht für die Utopie vom <künftigen Reich der Liebe>, daß sie entweder jederzeit oder niemals verwirklicht werden kann? Die gelebten Utopien sind ein wichtiger Beweis für ihre Möglichkeit als Alternative. Ihre Bedeutung besteht darin, daß leibhaftig erfahrbar und nicht nur geträumt wird, wie Auswege aus den Sackgassen unserer lebenszerstörenden Gesellschaft beschaffen sein können. Sie sind Schrittmacher für herrschaftsfreie Formen des Zusammenlebens.

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