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4  -  Eros  

Liebe ist es, welche die Sonne 
und die anderen Sterne bewegt.
Dante  (L'amor che muove il Sole e l'altre stelle)

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Wir alle wissen im Grunde, daß es diese <Produktivkraft> gibt: eine Energieform, die uns befähigt, Diskriminierung, Ausschluß, Apartheid, Trennung, ja: Entfremdung aufzuheben. Wir können dieses Potential <Neg-Entropie> nennen oder, nach älterer Sitte, <Eros> oder auch einfach <Liebe>. Es gibt hier historisch begründete Benennungsprobleme. 

Hatte erst schon das Christentum nach Nietzsches bösem Wort dem Eros Gift zu trinken gegeben, so wurde spätestens im Materialismus des 19. Jahrhunderts christliche Liebestheologie selbst als Ideologie, als <Opium des Volks> abgeräumt. Zurück blieb die kahle Platte einer seelenlos zubereiteten Ökonomie, und zurück blieb die Tischordnung als Herrschaftsproblem, also Politik. Die Liebe war theoretisch und praktisch weitgehend »aus dem Verkehr gezogen«. Was blieb, war eine von allen guten Geistern verlassene Sexualität, deren Befreiung allenfalls, etwa bei Marx, eine politmessianische Hoffnung war, auf später vertagt, wenn das Reich der Freiheit erstritten sein würde.

Sigmund Freud nimmt in seiner klassischen Eros-Konzeption an, daß ein fundamentales dynamisches Prinzip im Menschen wirkt: es zielt auf Herstellung und Erhaltung <immer größerer Einheiten> also auf Bindung.21 Einheiten herstellen und erhalten, Bindung und Integration — so umfassend verstanden, befähigt dieses dynamische Prinzip uns im Denken zu geordneter Erkenntnis, zur Zusammenschau, zur <Theorie>. Im Fühlen befähigt es uns zu Liebe und Solidarität; hier nimmt diese Energieform <Eros> sozusagen einen anderen Aggregatszustand als im Denken an (die Bibel setzt, in der Paradiesgeschichte, Erkenntnis noch mit Geschlechtsliebe gleich). In unserem Handeln führt das Potential der Negentropie oder des Eros zu Bindungen, Bündnissen, Kooperation, also zur Entwicklung sozialer Gebilde und zu fraternitärem Verhalten.

Die domistischen Gemeinwesen und Einrichtungen sind dafür Beispiele. In ihnen wird diese Energiequelle neu entdeckt und erschlossen. Sie erweist sich dabei als eine Kraft, die wir in uns selbst vorfinden. Sie macht uns produktiv, befähigt uns, Neues hervorzubringen und unsere bisher nicht verwirklichten Möglichkeiten zu entwickeln. Die neuen Lebensformen sind gleichsam Kraftwerke, in denen diese Energie in besonderer Verdichtung und Intensität entsteht. Sie ist es, die letzten Endes >alles< zusammenhält: in unzähligen Alltagsakten gegenseitigen Helfens und Füreinander-Einstehens.

<Liebe ist es, welche die Sonne und die anderen Sterne bewegt>, sagt Dante, und vielleicht lassen sich sogar die geordneten Kräfte, die unser Planetensystem zusammenhalten, als eine Erscheinungsform des Eros deuten. In dieser Gestalt werden sie uns möglicherweise deswegen nur selten bewußt, weil uns seit langem akzeptable Vorstellungen und Symbole dafür fehlen. Wenn wir für diese Energien keine oder nur unzulängliche Vorstellungen in unserem Bewußtsein bilden, brauchen wir uns nicht zu wundern, wenn sie auch in unserer Motivation unentwickelt bleiben. Fehlen sie aber oder entwickeln nur verstümmelte Gestalten, dann täuscht alles Getöse unseres Zusammenlebens wahrhafte Produktivität nur vor, und >Abgestorbenheit< (Fromm) kennzeichnet unser Tun und Erleben: wir sind dann nur eine Gesellschaft von betriebsamen Toten.

Wahrscheinlich läßt sich sogar die These begründen, daß die unser Bewußtsein hypnotisierenden Großkata­strophen auf der sozialen Makroebene überhaupt nur angerichtet werden können, weil und insoweit auf der Mikroebene der Gesellschaft unerkannt alltäglich zahllose pervertierte Neg-Entropie­vorgänge geschehen. Das prägnanteste Beispiel dafür ist der Krieg, in dem sich Abertausende von opferbereiten Menschen von ein paar Experten im Generalstab und an den politischen Schaltstellen zu Tode manipulieren lassen, indem sie untereinander >Waffenbrüderschaft<, Kameradschaft, gegenseitige Hilfe und dergleichen praktizieren. Die großen Menschheitskatastrophen und Verbrechen werden also mit ermöglicht durch massenhaft irregeleitete erotische Energien.

Mancher Leser wird sich etwas unbehaglich fühlen, weil ich hier nicht den Versuch mache, Eros, Negentropie, Liebe, Solidarität oder fraternitäres Verhalten mit scharf konturierten Begriffen zu unterscheiden. Dieser scheinbaren Kon-Fusion liegt meine Überzeugung zugrunde, daß eine Fusion der Begriffe oder genauer: eine Fusion (Verschmelzung) von derzeit getrennten, teilweise auch unterdrückten Wirklichkeitsbereichen versucht werden sollte und möglich ist.

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Dahinter wiederum steht die zentrale Annahme, daß wir geschichtliche Wesen mit der Fähigkeit sind, uns in Verbindung mit anderen selbst hervorzubringen und neu herzustellen. Dies bedeutet: auch unsere grundlegenden Motivationskräfte sind für neue Entwicklungen offen und lassen Innovationen als möglich erscheinen, von denen frühere Generationen nicht einmal geträumt haben.

Eros oder Liebe sind etwas durchaus Verschiedenes in unterschiedlichen Kulturen und zu verschiedener Zeit, und wenn Erich Fromm in seiner >Kunst des Liebens< Mutterliebe, Vaterliebe, Geschwister-, sexuelle oder Nächstenliebe und andere Haltungen unterscheidet, die erlernbar sind, dann können auch Männer sich zu >mütterlicher< Liebe oder wir alle uns zu geschwisterlicher, brüderlicher und schwesterlicher Liebe qualifizieren. Eine elementare Energiewirklichkeit gilt es hier also neu zu entdecken, von deren Gestalten die etablierten Wissenschafts-Disziplinen immer nur Teilaspekte wahrnehmen und erkennen. 

Obwohl sie an jeder Produktivität und gesellschaftlichen Innovation wesentlich mitbeteiligt ist, läßt sich diese Realität nicht auf Ökonomie oder Politik (im vorherrschenden Verständnis) und auch nicht auf Sexualpsychologie reduzieren. Die Sexualität ist ja nicht etwa Voraus­setzung erotischer Bindungen (die dann >sublimierte< Formen der Sexualität sein sollen), sondern umgekehrt: Bindungs­fähigkeit ist eine Voraussetzung dafür, daß auch die Sexualität überhaupt partnerbezogen gelingt. Die Sexualität gehört — ähnlich dem ökonomischen oder politischen Aspekt — nur zu einer von mehreren Dimensionen des Eros. Unsere Liebes­fähigkeit auf Sexualpsychologie zu reduzieren, das wäre etwa so sinnvoll, als wollte man den Kölner Dom in der Mineralogie behandeln, weil er seinem Material nach aus Steinen besteht.

Verbindungen herstellen — das hat auch etwas mit Verbindlich-Machen von neugestalteten realen Beziehungen zwischen Menschen zu tun: unsere Liebesfähigkeit verweist uns auf andere, auf Gemeinschaft, und zwar in einem weit umfassenderen Sinn, als die klassische Vorstellung vom >zoon politikon< das nahelegt. Dieser Ausdruck orientiert sich an nur einem von mehreren Aspekten unseres Zusammenlebens, eben dem politischen. Wer diesen Aspekt allen anderen überordnet und — wie es die Regel ist — das im Sinne der herrschenden Pyramidenstrukturen tut, der unterwirft sich bereits dieser bestehenden Ordnung unserer Lebensverhältnisse. Die real existierenden Beispiele der gelebten Utopien demonstrieren jedoch, daß grundlegend andere, herrschafts­freie Ordnungen unseres Zusammenlebens möglich sind. In ihnen verkörpern sich >Gesetz und Freiheit ohne Gewalt<.

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Ohne frei vereinbarte und für Veränderungen offene Ordnungen zerfällt jedes Zusammenleben in chaotische Beziehungstrümmer und in Gestaltlosigkeit (Entropie = Auflösung von Ordnung). Komplexe Beziehungsgeflechte sind nur überlebensfähig, wenn sie sich Gestalt geben. Daher finden wir in allen domistischen Gemeinwesen und Alternativ-Einrichtungen Regelungen für das Zusammenleben, die von Formen für die Gliederung der Zeit (Tageslauf, Wochen-, Monats-, Jahresablauf) und des Raumes (Architektur der Gemeinschaftsräume, der Räume für individuellen Rückzug usw.) bis hin zur Regelung der Beziehungen bei der Arbeit, bei der Selbstverwaltung oder Kindererziehung, bei religiösen Feiern oder bei der Mitwirkung in Hilfswerken reichen.

Das Herz solcher Regelungen sind freiwillig verabredete Bindungen. Man könnte sie dialogische Ordnungen nennen, im Unterschied zu den vorherrschenden monologischen Ordnungen der Pyramidengesellschaft. Deren >ungezügelte< Ordnung mit ihrer Tendenz zur Erstarrung, zur Uniformität und zur Abstraktion ist die eine Erscheinungsform, ist der eine Aggregatzustand des Gegenprinzips zum Eros, das wir auch >Todesprinzip< nennen können. Sein anderer Aggregatzustand ist die totale Auflösung jeder Ordnung mit ihren alltäglichen Spielarten: dem Zerkrümeln von Zeit und Energie, der babylonischen Verwirrung von Sprachen und Dingen. Beiden Tendenzen zum Tode können wir mit herrschaftsfreien Ordnungen begegnen: Eros befähigt uns, zwischen Entropie und monologischer Zwangsordnung die lebendigen Gestalten frei verabredeter Bindungen herzustellen.

Die einem solchen Eros-Vertrauen widerstreitenden Erfahrungen sollen hier selbstverständlich nicht naiv oder realitätsvergessen geleugnet werden. Sie entstehen aber, wie ich glaube, großenteils auch durch eine verfälschende Berichterstattung über die Wirklichkeit. Diese Berichterstattung ist, etwa als Geschichtsschreibung, oft bereits selbst von der Pyramidenkrankheit in Mitleidenschaft gezogen und erklärt gehorsam zu Haupt- und Nebensachen, was den selbsternannten »Hauptsachen nützt. Sie hält sich nur an den rechten Flügel von Boschs Weltgemälde. Sie zeichnet, mit anderen Worten, oft nur in ergebener Treue die herrschenden Verhältnisse und vor allem das Pyramidenmoment an ihnen nach. Ganze Realitätsbereiche werden dadurch nahezu vollständig um ihre Chance zur Mitbestimmung bei der Repräsentation von Wirklichkeit in unserem Bewußtsein gebracht.

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Einen der wirklichkeits­verfälschenden Mechanismen, mit denen Pyramidensysteme sich im psychischen Haushalt ihrer Angehörigen Geltung und Halt verschaffen, möchte ich hier kurz erwähnen. In hierarchisch aufgebauten Gesellschaften werden wir nicht nur genötigt zu lernen, unsere unerwünschten, als anrüchig hingestellten Bedürfnisregungen vor uns selbst zu verleugnen, zu >verdrängen< und dann teilweise nach außen zu projizieren, zum Beispiel auf die Natur und auf Sündenböcke aller Art. Auch unsere in Sonntagsreden gepredigten, angeblich erwünschten Eigenschaften, zum Beispiel unsere Fähigkeiten zur Liebe, werden uns in Pyramiden­gesellschaften gleichsam hinter unserem Rücken weggestohlen: wir lernen, sie in uns selbst zu verleugnen und zu verdrängen und projizieren sie dann ebenfalls teilweise nach draußen, auf >Tugendböcke< aller Art.

Ich deute diese Zusammenhänge, die eine eigene Untersuchung wert wären, hier nur an: Im Grunde handelt es sich um einen Aspekt der Willensberaubung und Ichschwächung bei den Mitgliedern hierarchisch aufgebauter Gesell­schaften, deren Pyramidenstruktur sonst nicht aufrechtzuhalten wäre. Ohne daß hier planvoll handelnde Regisseure angenommen werden müssen, wird bei der Mehrheit der Mitglieder von Pyramiden­gesellschaften im Sozialisationsprozeß über vielfältige Vermittlungsschritte offensichtlich erwirkt, daß sie eine tiefreichende Angst vor der Liebe entwickeln, jedenfalls vor der Entwicklung des vollen Gestaltenreichtums dieses Energiepotentials. Seine Aktualisierung ist ja in der Tat für Pyramidensysteme höchst gefährlich, da sie Teile-und-herrsche-Strategien unmöglich macht, Apartheid, Rivalitäten, Diskriminierungen, Privilegien, Ausbeutung und wie die Begleiterscheinungen und Instrumente der Herrschaft sonst noch alle heißen mögen, aufzuheben droht.

 

Die Liebe reißt Schranken nieder, auch innere in uns selbst, und das kann eine zunächst höchst schmerzhafte Erfahrung sein, da sie Verzicht auf liebgewordene Gewohnheiten und Grenzbefestigungen bedeutet. Es gibt also viele Gründe, äußere und innere, die uns daran hindern, unsere Liebesfähigkeit wirklich zu praktizieren. Da bleiben wir in der Regel doch lieber die alten Mitläufer, tanzen nicht aus der Reihe und schieben unser lästiges Potential zur Liebe auf ein paar anerkannte Tugendböcke ab: auf Heilige, Genies des Herzens, moralische Helden und Heilande. Dort wird uns die Liebe wenigstens nicht gefährlich, wir können sie in Ruhe anhimmeln, und wir müssen nicht selbst diese beschwerlichen und angsterregenden erotischen Taten vollbringen: Grenzen überschreiten, Verbindungen herstellen zwischen Getrenntem, <alles neu machen>.

 

Hier aber könnten sich nun Romeo und Julia und alle Liebespaare der Weltgeschichte zu Wort melden. Angst vor der Liebe? Geschieht dies nicht immer aufs neue: Blicke treffen sich und Atemzüge gehen rascher, Nähe wird gesucht, grenzenlos nahe Nähe, Zeit und Welt werden vergessen, wenn zwei sich lieben.

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Für die meisten von uns ist ja Erotik schlechthin gleichbedeutend mit dem, was sich zwischen zwei Menschen abspielt, die sich lieben. Und daß solche Liebeserlebnisse etwas vom Paradies haben, von der Erfahrung aufgehobener Getrenntheit und von beseligender geistigseelisch-körperlicher Kon-Fusion, die uns zu einem neuen Menschen macht — die Poeten aller Sprachen haben es wieder und wieder beschrieben. Sie haben allerdings ihrem großen Ja zur Liebe meist auch ein doppeltes Aber hinzugefügt: Mit dem einen Aber erinnern sie uns daran, daß niemand andauernd im Zustand selig-konfuser Ekstase leben kann, in dem ja auch die Grenzen der Personen nicht wirklich aufgehoben, sondern allenfalls für eine Weile vergessen gemacht werden, so daß wir für >Augenblicke< in eine andere, zeitenthobene Wirklichkeit entrückt werden, in der es keine Vergänglichkeit gibt.

 

Diese Art von >Ewigkeit< suchen und erlangen wir (wenn wir Glück haben) und behalten doch in aller Entrücktheit ein Hintergrundwissen davon, daß die Endlichkeit uns wieder einholen wird. Dieses Endlichkeits- und Grenzbewußtsein ist wahrscheinlich mit ein Grund für die verzweifelte Intensität jeder großen Liebe und dafür, daß alle authentische Liebesdichtung einen Untergrund des Tragischen enthält. Das erste Aber erinnert also an unsere kreatürlichen Grenzen, die wir mit allen anderen Lebewesen teilen: Grenzen unserer Kräfte, Ermüdbarkeit, Krankheit, Altern, Tod; dies sind natürliche Schranken, an die unsere Liebe stößt.

Das zweite Aber wird manchmal vom ersten gar nicht unterschieden, obwohl es bei genauerem Hinsehen grundlegend andere Schranken sind, mit denen wir es hier zu tun bekommen: Die Feindschaft zwischen den Familien von Romeo und Julia, die Schranken zwischen Rassen, Sozialschichten oder politischen Lagern, aber auch das viel zu kurze Wochenende sind ja mit Sicherheit keine naturnotwendigen, sondern historisch entstandene und daher auch veränderbare Abgrenzungen. Muß nicht die Ahnung von der grundsätzlichen Überwindbarkeit historisch entstandener Schranken der Liebe von Romeo und Julia, die ja in ihrer eigenen Grenzüberschreitung diese verborgene Möglichkeit leibhaftig vergegenwärtigt, einen zusätzlichen Grad verzweifelter Intensität verleihen? Wenn wir unter Verhältnissen leiden müssen, von denen wir ahnen oder sogar wissen, daß sie nicht unvermeidlich sind wie der Tod, dann mischt sich Empörung in unsere Verzweiflung, auch wenn wir uns vielleicht gleichzeitig ohnmächtig fühlen müssen, was die Veränderung der Verhältnisse durch uns selbst und allein betrifft.

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Ich vermute, daß die Intensität, mit der Liebende ihre Grenzüberschreitungen erleben, sich zu einem Teil auch aus diesem Ohnmachtsbewußtsein speist, das die bestehenden Verhältnisse uns aufzwingen.

Anders gesagt: Wird die Liebe vielleicht als Befreiungserlebnis besonders intensiv erfahren, weil die Verhältnisse in der bisherigen Geschichte so viel Abgetrenntheit, Einschränkung, Unterdrückung und Unfreiheit enthalten? Dieser vorherrschenden, >normalen< Situation gegenüber stellt die Liebe zwischen zwei Menschen einen plötzlichen Ausbruch aus der Normalität dar, der gleichzeitig die Möglichkeit vergegenwärtigt, daß Grenzen, Trennung und Schranken überwunden werden können. Die Liebe zwischen zwei Menschen wird damit zum Modell von Befreiung: sie kann als radikale Alternative zur bestehenden pyramidenkranken Wirklichkeit erfahren werden.

Was geschieht aber, wenn wir diese Wirklichkeit verändern? Wenn wir uns Lebensformen schaffen, in denen es keine Familienrivalitäten oder Rassenschranken, keine Besitzansprüche und Herrschafts­strukturen mehr gibt, und in denen Unfreiheit, Ungleichheit und Lieblosigkeit schrittweise aufgehoben werden? Verlieren dann die individuellen Paarbindungen diesen Charakter der Alternative? Sie müssen sich dann ja nicht mehr als abgetrennt von der übrigen Gesellschaft erleben und können sich anderen Menschen gegenüber öffnen.

Schon bei Liebeserfahrungen in der bestehenden Gesellschaft gibt es manchmal Ansätze zum Übersteigen der Abgrenzungen des Paars von der übrigen Welt: die Liebenden möchten abgeben von ihrem Glück an andere, sie möchten >die ganze Welt umarmen<, alles erscheint ihnen zeitweise in einem freundlicheren Licht, ein heimlicher Jubel durchtönt die Wirklichkeit und läßt ihre herrschenden Grenzen durchlässiger werden. Wer liebt und geliebt wird, ist hilfsbereiter und verhält sich solidarischer; die Liebe macht uns zu einem neuen, >besseren< Menschen: Jede Liebe enthält ein Potential der Innovation.

Erinnern wir uns: als einen Grundzug innovativer Prozesse habe ich die >schöpferische Primitivierung< deutlich zu machen versucht (S. 19). In ihr kommt es zur Fusion von bis dahin voneinander getrennten Teilen; es kommt zur >atavistischen< oder zur >kreativen< Regression; Teilmomente, die bisher zu einem bestimmten Verbund integriert waren, werden aus diesem Ganzen herausgelöst und gehen neue Verbindungen in neuen Ganzen ein. Um es an einem Beispiel etwas konkreter zu verdeutlichen: Die Paarbindung zwischen Mann und Frau enthält bei einer guten partnerschaftlichen Beziehung immer auch nichtsexuelle Freundschaftsmomente.

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Sie enthält das ökonomische Moment des gegenseitigen Füreinandersorgens im materiellen Sinn und vielleicht noch eine Anzahl weiterer Bindungsmomente, wie sie sich aus der Arbeitsteilung, der gemeinsamen Verantwortung für Kinder, der Teilnahme am öffentlichen Leben und so weiter ergeben.

Freundschaftliche Bindungen zwischen Menschen müssen nicht darunter leiden, daß jeder der Freunde auch noch mit anderen befreundet ist. Ökonomische Beziehungen, die ja auch Sicherheit bieten, werden nicht notwendig gefährdet, wenn man sie ausweitet. Oft ist gerade das Gegenteil der Fall: der ökonomische Vorteil ist meist größer, wenn mehrere Menschen sich zusammentun, beispielsweise in Hausgemeinschaften. Auch sexuelle Beziehungen müssen nicht unbedingt darunter leiden, wenn sie gelegentlich auf andere ausgedehnt werden. Allerdings gibt es die nicht zu bestreitende Erfahrung: zwei Menschen können sich so umfassend und ausschließlich aufeinander beziehen, daß die übrige Welt dahinter (zumindest zeitweise) zurückstehen muß. Für Freunde, Verwandte und Berufskollegen sind die Betreffenden dann nicht mehr ansprechbar und erreichbar; ihre Adresse ist vorübergehend der siebente Himmel. 

Das Liebespaar hat sich völlig auf sich selbst zurückgezogen und ist gewissermaßen asozial geworden. Ein derartig radikaler Rückzug enthält Momente atavistischer Regression. Ich vermute, daß die Radikalität solcher Rückzüge mit davon abhängt, wie liebesfeindlich, unterdrückend und einengend die bestehenden Verhältnisse den Betreffenden erscheinen oder wirklich für sie sind. Ob, mit anderen Worten, die in jede Liebesbeziehung hereinspielende Regression eine atavistische oder eine kreative Wendung nimmt, wird wahrscheinlich mitbestimmt vom Grad der jeweils herrschenden Repression, teilweise auch von den Widerstandskräften der Liebenden, also von ihrer Ich-Stärke.

In der atavistischen Regression kündigt sich wohl meistens das Scheitern einer Liebe an; seine vorausgesetzte Unausweichlichkeit bildet den Stoff für Romeo-und-Julia-Tragödien. Im wirklichen Leben scheitern solche Liebesgeschichten bekanntlich nicht so dramatisch; sie enden oft stiller, manchmal im abgestorbenen Dauern einer verknöchernden Ehe. In der unveränderten bestehenden Ordnung müssen Romeo und Julia scheitern. Gleichwohl ist ihre Liebe ein Modell möglicher Überwindung der bestehenden Ordnung: Was Aufhebung trennender, historisch entstandener Schranken heißt, dies erfährt jeder Mensch, und sei es nur anmutungsweise, in der Liebesbeziehung zu einem anderen Menschen.

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Jedes Liebeserlebnis erinnert uns aufs neue an die Möglichkeit umfassender Grenzüberschreitungen; es vergegenwärtigt diese Möglichkeit, macht sie leibhaftig erfahrbar und ist so ein ständig in der Welt vorhandener Hinweis darauf, was wir tun können, um die bestehende, liebesfeindliche Ordnung zu überwinden: Wir können die schon in jeder Liebe sich regende Tendenz zum Übersteigen von Grenzen zu bestärken versuchen und statt der atavistischen, asozial machenden Regression eine kreative Liebe verwirklichen, die sich in neuen Formen herrschafts­freien Zusammenlebens verkörpert und umgekehrt in solchen erneuerten Lebensformen, den gelebten Utopien, überhaupt erst optimale Entfaltungsmöglichkeiten findet.

Im Überschreiten solcher tradierten Grenzen sind, etwa wie Hieronymus Bosch es uns in seiner gemalten Utopie vor Augen gestellt ha(, bisher wohl am kühnsten die Oneida-Leute und ähnliche Gruppen in Neuland vorgestoßen. Der alte John Humphrey Noyes hat vermutlich intuitiv vorausgeahnt, welche Innovationen auf diesem Feld möglich sind. Es geht aber nicht darum, solche Ansätze einfach linear fortzusetzen. Naive Intuition allein ist für uns angesichts der heute zugänglichen historischen Informationen und der unter anderem an Karl Marx anknüpfenden Ideologiekritik oder der auf Sigmund Freud aufbauenden Einsichten in die psychische Ökonomie unseres Bewußtseins nicht mehr verantwortbar.

Im Gemeinwesen von Oneida, aber auch in anderen gelebten Utopien kommt es zu einer Entmischung und Neuverbindung historisch entstandener Verhaltensmuster im Bereich des >Herstellens immer größerer Einheiten<, also des Eros: Die sexuellen Verhaltensmomente beispielsweise, die bisher in Paarbeziehungen eingebunden sind, werden dort aus diesem Ganzen herausgelöst und in die neue, übergreifende Ganzheit des Gemeinwesens eingebunden. In solchen Umstrukturierungen deutet sich die Möglichkeit grundlegender Veränderungen unserer Liebesfähigkeit an. Damit ist die bereits mehrfach erwähnte Tatsache erneut im Blick, daß unsere Liebesfähigkeit geschichtlicher Natur ist.

Auf unser hier in Rede stehendes Problem bezogen bedeutet dies, daß Zweierbeziehungen wie die von Romeo und Julia nicht naturnotwendig asozial machen. Sie werden es nur (fast möchte ich sagen: zu Recht) unter bestimmten historisch entstandenen Bedingungen, die aber grundsätzlich veränderbar sind. >Zu Recht< werden sie es als Modelle von Befreiung in einer Welt andauernder Unfreiheit. In der bestehenden Gesellschaft mit ihren Pyramidenstrukturen gerät die Liebesbeziehung von Romeo und Julia in Widerspruch zu den übermächtig herrschenden Verhältnissen und zieht sich deswegen aus ihnen zurück.

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Die gesellschaftlichen Verhältnisse lassen sich aber auch anders einrichten; die gelebten Utopien bezeugen es. Dort können Romeo und Julia ihre Liebe kreativ verwirklichen, weil keine feindlichen Familienverbände sie voneinander zu trennen versuchen: verfeindete Clans gibt es in dieser neuen Lebensordnung nicht mehr; Kooperation ist an die Stelle von Rivalität getreten. Romeo und Julia können jetzt viel Freundlichkeit in das Zusammenleben und in die gemeinschaftliche Arbeit einbringen und ihre Liebe auch in der Fürsorge für andere, in geschwisterlichen Kreuz-und-quer-Beziehungen und bei der gemeinsamen Kinderbetreuung betätigen.

So etwa geschieht es tatsächlich in Twin Oaks, im Bruderhof, auf der Farm oder in Koinonia und in anderen gelebten Utopien. Daß deren Mitglieder manchmal auch gegen hartnäckige Überbleibsel des Pyramidenleidens anzukämpfen haben, wird niemanden überraschen: wir alle tragen seine Spuren, wenn wir Regungen von Eifersucht, Neid, Faulheit oder Herrschsucht in uns vorfinden. Tiefreichende, geduldige Lernvorgänge in gegenseitiger Hilfe sind nötig, um solche Spuren zu löschen. Gelingt die Erneuerung, so geschieht ein Gestaltwandel des Eros: die bisher in Zweierbeziehungen von der übrigen Gesellschaft abgesperrten Formen und Teilmomente der Liebe verbinden sich zu neuen Ganzen, und dabei verändern auch Romeo und Julia ihre bisherige Identität. Ihr >Sozialcharakter< (Erich Fromm) erneuert sich. Auch ihre Liebe ändert sich. Sie wirft einen Teil ihres verzweifelten, tragödien­begründenden Moments ab; jedenfalls was die historisch überwindbaren Bedingungen des Scheiterns der Liebe von Romeo und Julia betrifft, geschieht dies so.

Die anderen Grenzbedingungen jeder Liebe bleiben jedoch erhalten, sie gewinnen jetzt vielleicht überhaupt erst ihre eigentliche Bedeutung. Unsere Endlichkeit und unser Wissen darum werden zum respektabelsten Gegenspieler des Eros vielleicht immer erst dann, wenn uns das Todesprinzip nicht mehr eingehüllt in die Gestalten der von Menschen hergestellten Blockaden unserer Liebe gegenübertritt: Dann wird die Liebe zu ihrer höchsten Produktivität herausgefordert; sie setzt an zur Überwindung von Tod und Vergänglichkeit selbst. Welche Innovationen sie dabei jeweils verwirklicht, darüber läßt sich im voraus nichts Bestimmtes sagen. Jede Prophezeiung wäre ein Versuch der Festlegung, und ein Wesenszug von Kreativität besteht gerade in ihrer Nichtverfügbarkeit.

Schon für Platon hieß Lieben >im Schönen Zeugen<22, wobei sich das >Zeugen< als >Neues hervorbringen< interpretieren läßt, während die Mitbeteiligung des >Schönen< auf das Gestaltungsmotiv und die (ästhetische) Aufhebung der Zeit verweist. Lieben bedeutet, die Endlichkeit zu überwinden, also etwas Dauerndes zu schaffen. Da aber bloßes Dauern in der Zeit zur Erstarrung führt, dem Gegenteil von kreativer Lebendigkeit, ist das Erneuern selbst der Vorgang, mit dem Endlichkeit dauerhaft überwunden wird. Bei Platon ist das Überwinden der Endlichkeit ein Schritt auf dem Wege zum höchsten Wahren, Guten und Schönen, und transzendiert, überschritten wird dabei auch das konkrete individuelle Du, mit dem ich die Liebe erfahre. Dieses Du wird bei Platon als bloße Stufe zu höheren Welten behandelt, als Mittel zum Zweck, wenn auch zu dem sehr edlen Zweck der Weiterentwicklung des eigenen Selbst.

Diese Himmelsleiterphilosophie ist ein monologischer Heilsweg, kein dialogischer, denn das Du wird zum Knecht dabei gemacht, auf dessen Schultern man für sich allein zu höheren Wonnen steigt, statt sie brüderlich miteinander zu teilen. Diese Vertikale wird erst mit der egalitären Orientierung durchkreuzt, die allen Menschen als >Kindern Gottes< Gleichberechtigung zugesteht und in der geschwisterlichen Verbindung das Grundmuster der Liebe sieht.

Eine Fusion der beiden Traditionen, der platonischen und der biblischen, könnte darin bestehen, sich zu verbinden, um Gemeinschaften zu bilden, von denen Erneuerung ausgeht als derjenigen Form von Dauern,* die uns in der Endlichkeit möglich ist.

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*detopia-2008:  So in meinem Original. Meint sicherlich sowas wie Dauerhaftigkeit.

www.detopia.de      ^^^^