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2.  Die Pyramidenkrankheit 

Gizycki-1983

 

Bei dieser Jugend - auch bei dem durch diese Ängste nicht betroffenen Teil - herrscht der Impuls vor: die Krankheit der Welt kann geheilt werden, wenn man den Virus, der sie krank macht und der in uns selber steckt, ausrottet: den Virus der Macht. In den <Grünen> sehen sie etwas, was einst die Stürmer und Dränger in dem Weltbild Rousseaus gesehen haben. Diese Jugend wird man nicht allein durch den Hinweis auf das Geleistete gewinnen können. Sie können nur gewonnen werden, wenn ihnen Aufgaben vor Augen gestellt werden, die das Grau des heutigen Alltags der verwalteten Welt aufhelt. Aber wo kann man diese Aufgaben – ohne Selbsttäuschung – finden?

Aus  "Carlo Schmids letzter Rat - Zur Besorgnis der SPD über das wachsende Desinteresse unserer Jugend am Parteienstaat"    In:  DIE ZEIT, 1979   Schmitt auf detopia

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Kehren wir noch einmal zurück zu Noah: er baut damals seine Arche, und die Menschheit überlebt. Angesichts des voraus­gegangenen Zerstörungs­werks, der Sintflut, hat deren Urheber womöglich selbst Reue empfunden. Jedenfalls setzt er damals ein sichtbares Zeichen, so berichtet die biblische Legende: von nun an will er mit der Erde im Bunde bleiben, mit Noah, mit dessen Angehörigen, aber auch mit allen anderen Lebewesen.

Der Regenbogen, Sinnbild dieser Koalition von Himmel und Erde, soll wohl vor allem auch den Himmel selbst daran erinnern, was er zugesagt hat: solidarisch zu bleiben mit dem Leben hier und nicht noch einmal den Großen Regen zur tödlichen Katastrophe ausarten zu lassen.

Die Kunst, Überlebensapparate zu bauen und profitable Geschäfte damit zu machen, ist inzwischen ihrerseits zu einem aus allen Rudern laufenden Großunternehmen angewachsen. Die Flut der von ihm ausgehenden Katastrophen droht inzwischen weltweit unsere Lebens­grundlagen zu vernichten.

Hilft uns da noch die Erinnerung an das schöne Regenbogensymbol, nachdem auch die Vermarktung von Sinnbildern und >Bildern< überhaupt, zum Beispiel im vorherrschenden Kunst- und Wissenschafts­betrieb, emsige Beihilfe zu diesem Zerstörungswerk leistet?

Betrachten wir die Geschichte Noahs noch einen Augenblick etwas genauer: Nicht nur vom Archenbau und vom Regenbogen berichtet die Bibel. Es gibt da ein weiteres Detail (1. Mose 9, 18-29), das uns noch ein anderes Gesicht Noahs zeigt und bis heute von beunruhigender Aktualität geblieben ist. Gott, so hörten wir, hatte einen Bund >mit der Erde< und auch mit allen Tieren geschlossen; warum also nicht auch mit dem >Animalischen< in uns selbst? Gegenüber dieser neuen Einbeziehung alles Natürlichen in die göttliche Liebe fiel Noah jedoch schon bald wieder zurück ins Atavistische: sein despotisch-repressives Patriarchen­verhalten Ham gegenüber paßt nicht mehr zu der schönen Parabel von der Gleichberechtigung aller Farben des Regenbogens und erst recht nicht zu dessen Bündnisbedeutung.* Mit der Verfluchung und Verknechtung Hams, deren nähere Umstände eine eigene Analyse lohnen würden, bleibt Noah weit zurück hinter dem moralischen Niveau des Archenbaus und der Bundesbesiegelung.

Ist die Geschichte Noahs, wie das Alte Testament sie erzählt, die Geschichte eines Neubeginns, dessen tiefreichende Bedeutung Noah selbst gar nicht wirklich verstanden hat? Noah sorgte zwar, durch den Archenbau, für das Überleben des Lebens. Sollte ihm aber dieser Erfolg im Geschichtemachen womöglich dermaßen zu Kopfe gestiegen sein, daß er sich nun auch gleich im Verfluchen und im Diktieren von Gesetzen mit Gott über-identifizierte? Sollte hier schon sehr früh, lange bevor wir uns nach Horst Eberhard Richters >Gotteskomplex<-Analysen Teilattribute wie Allmacht und Allwissenheit (beides Herrschaftsattribute!) angemaßt haben, eine folgenschwere Selbstüberhebung geschehen sein, die eine verhängnisvolle Rolle bei der Entstehung pyramiden­kranker Bewußtseins­strukturen gespielt hat?

Den Ausdruck <Pyramidenkrankheit> verwende ich als polemisch-anschaulichen Begriff zur Kennzeichnung eines historisch begründeten und daher prinzipiell heilbaren Leidens, das den hierarchischen, also pyramidenartig aufgebauten Sozialstrukturen im Bewußtsein ihrer Angehörigen korrespondiert. Als Fixierung auf Herrschaft nimmt die Pyramidenkrankheit vielfältige Formen an, darunter: Verfügungswahn, hierarchisches Geschichtsverständnis (Überprivilegierung von Zukunft), Wissenschaftsaberglaube, Entwertung der individuellen Lebensgeschichte, Subalternität, Abulie (Willenlosigkeit) und Kreativitäts­behinderung. Herrschaft begründet eine zerstörerische Ordnung der Dinge und Verhältnisse, die uns zu selbstentfremdeten, konkurrierenden Individuen und Kollektiven macht und vor allem die Verwirklichung unserer Liebesfähigkeit blockiert.

* Ham, <Kanaans Vater>, also spätere farbige Völker, werden ihrer angeblichen obszönen Interessen wegen von Noah diskriminiert und unterdrückt. >Knechte< sollen sie in Zukunft sein.

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In seinem Buch Die Alternative hat Rudolf Bahro vor einiger Zeit eine vieldiskutierte Insiderkritik am Herrschaftssystem der DDR und des Ostblock-Sozialismus geübt. Seine kritischen Analysen sind auch für das Pyramiden­system (West) bedeutsam. Der Virus, der seit Noahs Sündenfall <in uns selber steckt> (Carlo Schmid), hat jedoch auch Teile des Bahro-Buchs nicht verschont.

Daher zunächst einige Anmerkungen zu seinen Thesen: (7) 

Bahros Kritik am <real existierenden Sozialismus> will zu den Ursprüngen des Marxismus zurückgehen und plädiert für eine Wieder­herstellung auch des moralischen Anspruchs dieser Position. Sogar die unterirdische Verwandt­schaft der <Vision von Marx> mit spirituellen Traditionen wird von Bahro reklamiert. Sein Angriff richtet sich also gegen einen <römisch> gewordenen Klerus: gerettet werden soll die Substanz der ursprünglichen Lehre. Ein luthersches Reinlichkeits­bedürfnis spricht sich aus in seinem Buch. Wesentliche Bestandteile der marxschen Weltauslegung behält Bahro bei, jedenfalls in der Gestalt seines Denkens: so die bereits für Hegel zentrale Überzeugung von der Einheit des Logischen und Historischen mit der daraus folgenden Schlüsselrolle von Wissenschaft für diese Spielart des Sozialismus; so auch das in dieser Überzeugung mit wurzelnde gattungs­geschichtliche Credo vom generationen­langen Prozeß, den die Menschheit bis zur klassenlosen Zukunft jenseits von Entfremdung noch abwarten muß.

Ich sagte: in der <Gestalt> seines Denkens bleibt Bahro an solche Grundmuster der linken Hegeltradition fixiert. Gleichzeitig aber sprengt der Gehalt seines Buchs, namentlich in dessen drittem Teil, bereits selbst die Strukturen seines ursprünglichen Ansatzes, und ein existenzieller Sozialismus oder Kommunismus meldet sich zu Wort, der jene Gestalt mit ihren suggestiven Feldkräften schon abzustreifen beginnt, wenn er auch noch nicht seine neue Identität gefunden hat. Hier, im dritten Teil, ist keine Rede mehr von wissenschaftlich-analytischen Ableitungen aus der >Bewegung der realen Geschichte<, sondern ganz unverhüllt, geradezu hymnisch, ergeht Passagen lang an den Leser der Erweckungsruf als Aufforderung zur Kulturrevolution.

Versuchen wir Bahros Buch auf westdeutsche Verhältnisse zu übersetzen! Braucht unser Land eine Kulturrevolution nicht mindestens ebenso dringend wie sein östlicher Nachbar? Muß nicht auch bei uns >die Idee des Fortschritts... radikal anders interpretiert werden, als wir es gewohnt sind<? 

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Lautet nicht auch bei uns die geschichtliche Aufgabe >Überwindung der Subalternität<? Wird nicht auch bei uns >eine Führungsautorität mit von Grund auf erneuerter Legitimation< gebraucht, und nötigt uns diese Forderung nicht (in Verbindung mit der vorigen), neuartige herrschaftsfreie Führungsmethoden zu entwickeln? Gibt es nicht auch bei uns parasitäre Bonzen in Konzernen, Kirchen, Gewerkschaften, Ämtern und beim Militär? Und gibt es schließlich nicht auch hierzulande viele Menschen, die das Ziel verfolgen, >jene neue Organisation der Arbeit und des gesellschaftlichen Lebens zu schaffen, auf die sich endlich ein Gemeinwesen gründen kann, das den lange vorgeprägten Namen der freien Assoziation solidarischer Individuen verdient<?

Die Schlußfolgerung: kommunitäre Gemeinwesen und alternative Netzwerke als Schrittmachereinrichtungen zu gründen, wie es sie in einigen Teilen der Welt, vor allem in den USA, bereits konkret gibt, zieht Bahro noch nicht und kann sie wohl so nicht ziehen, mit der erwähnten theoretischen Rüstung und (während er sein Buch schrieb) mit den Stasi-Würgegriffen des >real existierenden Sozialismus< am Halse.

Wir aber hier im Westen: können wir nicht diese Schlußfolgerung ziehen und etwas Ähnliches wie den neuen Bund allmählich aufbauen, von dem Bahro träumte, als er sein Buch verfaßte? 

Allerdings meine ich, daß wir die Konzeption eines anderen als des >wissenschaftlichen< Sozialismus brauchen, um die Forderungen aus Bahros Buch zu verwirklichen: einen tiefreichend neubegründeten und existenziell vorgelebten Sozialismus, der den (bürgerlichen?) Wissen­schafts-Kult überwindet und als Symptom der Pyramidenkrankheit behandelt.

Mehr als nur Spuren dieser Pyramidenkrankheit finden sich auch noch in der Gestalt des Denkens von Bahro, das in seinen innovativen Impulsen – dort, wo das Herz dieses Autors hinter seinem altmodisch-sozialistischen Brustpanzer pocht – bereits diese Krankheit zu überwinden begonnen hat. Seine marxistischen Freunde haben ihm genau dies vorgehalten: Verrat an der Sache. Viele Marxisten pflegen ja emphatisch daran zu erinnern, daß im gesellschaftlichen Prozeß alles Moralisieren sinnlos sei; nur die >reale< Bewegung der Geschichte könne die Veränderungen bringen, und vor allem komme es darauf an, diese >reale Bewegung< zu erkennen; nur im Rahmen des so Erkannten sei planvolles Geschichtemachen möglich.

Bisher zumindest kann aber solche Erkenntnis offenbar nicht ganz verläßlich gewesen sein; sonst hätte es nicht so viele Über­raschungen und Pannen, soviel Unvorhergesehenes gegeben.

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Nein, gegen derartige Aufforderungen zur Treue gegenüber der ursprünglichen Theorie, Aufforderungen, denen Bahro in den ersten beiden Teilen seines Buchs ja von sich aus nachkommt, möchten wir anderen radikalen Humanisten ihm, vom dritten Teil seines eigenen Texts ausgehend, zurufen: Wirf doch dieses alte Theoriegerümpel weg; es behindert nur den Neuansatz, über dessen Dringlichkeit (und Möglichkeit) wir ja ganz einig sind!

Was, zum Beispiel, soll denn dieser Vorwurf an Stojanovic, er fordere zu Unrecht demokratisches Verhalten in einer sozioöko­nomischen Situation (in Jugoslawien), die das – nach marxistischem Verständnis – gar nicht zulasse? Hat die ganze umständliche Rekonstruktion der <asiatischen Produktionsweise> bei Bahro nicht noch den Zweck, die Verhaltensweisen der herrschenden Funktionäre letztlich als <notwendig>, als unvermeidbar begründet, in der polit-ökonomischen Entwicklung zu erweisen? Ist das aber nicht der aberwitzigste Versuch einer Rationalisierung des Irrationalen, den die Geschichte des Denkens seit langem kennt?

Er erinnert an die Versuche der vorkopernikanischen Astronomie, auch noch die bizarrsten Unregelmäßigkeiten der Planeten­bahnen unter der Voraussetzung des geozentrischen Weltmodells zu >erklären<, während es da gar nichts auf diesem Wege zu erklären gab, weil das Modell als Ganzes auf einer unsinnigen Zentralvoraussetzung beruhte. Die rationale Erklärbarkeit geschichtlicher Prozesse nach dem Muster der klassischen Naturwissenschaften: ist sie nicht selbst das zentrale Vorurteil, wie es nur aus einer maßlosen Überschätzung von Wissenschaft resultieren kann?

Und ist nicht ein kräftiger Hauch >Subalternität<, diesmal im Theoretischen, sogar noch bei Rudolf Bahro zu finden?  Zum Beispiel gegenüber den Klassikern seines Denkens: Marx, Engels, Lenin – sind sie nicht die großen theoretischen Vorgesetzten, bei denen Bahro vielleicht diesen oder jenen Einzelgedanken, nie aber die innerste Logik ihres Ansatzes im ganzen kritisch in Frage stellt? Dabei könnte man von einem >existenziellen Sozialismus< her Argumente finden, die auch den Marxisten nachdenklich machen müßten. Etwa auf der Linie, daß sozioökonomische Prozesse sich schließlich zwischen lebendigen Menschen abspielen, bei denen die mit den revolutionären Erwartungen verknüpften Enttäuschungen zu ganz bestimmten Reaktionen führen.

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Anders gesagt: Wenn inzwischen sechzig Jahre seit der Oktoberrevolution vergangen sind, der >Sozialismus< aber immer noch weltweit auf sich warten läßt, dann fangen die Leute verständlicherweise an zu stutzen und wollen nicht immer neue >Erklärungen< dafür, warum der Stalinismus und die Stacheldrahtknäuel der nachfolgenden Bürokratien zwangsläufig so entstehen mußten, sondern sie wollen noch in ihrer eigenen Lebensgeschichte die neue Qualität des Daseins erfahren und sich nicht immer nur auf das historische Jenseits einer fernen gattungsgeschichtlichen Zukunft vertrösten lassen. 

Diese Geschichts-Theologie ist im <real existierenden Sozialismus> das zeitgenössische Opium des Volks, mit dem es betäubt und in ablenkende Träume gelullt wird. Das Stutzen aber und der wachsende Widerwille gegen die immer neuen Märchen der Sozialismustheoretiker, dieses sehr reale und daher berechtigte Bedürfnis nach Selbstverwirklichung in der eigenen Lebens­geschichte ist das Kräftepotential, mit dem die Erneuerung rechnen darf. Werfen wir die lastenden und hemmenden Denk­schablonen ab, vertrauen wir nicht mehr länger hauptsächlich unserem Gedächtnis, das eine Agentur des Pyramidentums ist, sondern unserem eigenen Verstand: einem lebendigen, kreativen, Tabus beiseite räumenden, <aufgeräumten> Verstand, der für gegenwärtiges Leiden sensibler ist als für dessen Theorien aus der Vergangenheit.

 

Warum brauchen denn die Gesellschafts-Theologen die Legitimationshilfe durch <Wissenschaft>?

Sollen Aussagen über Geschichte und Gesellschaft dadurch unbezwinglich werden, daß sie allgemein anerkennbare Geltung nach dem Muster wissenschaftlich gesicherter Erkenntnis erlangen?

Eine solche Festungsbaulogik kann vielfältig motiviert sein: Sicherheits­bedürfnisse, Wünsche nach Anerkennung, Selbstbehauptung und Geltungsinteressen können im Spiel sein; ebenso wirkliche Achtung vor anderen Menschen, gegen deren Zustimmung nach demokratischem Selbstverständnis keine Regelung gemeinsamer Angelegenheiten zustande kommen soll, auch nicht die Einsicht in die >Bewegungsgesetze< der eigenen Geschichts- und Gesellschafts­prozesse. Solche Zustimmung scheint um so eher erreichbar zu sein, je >allgemeingültiger< die in Frage stehenden Aussagen begründet werden können. Ist das aber in Wirklichkeit so? Setzt diese Argumentation nicht bereits Vernunft­subjekte voraus, die noch gar nicht mehrheitlich existieren?

Die bisherige Geschichte zeigt wohl auch eher, daß Zustimmung, Anerkennung oder Geltung mit anderen Methoden als mit rationalen, in ihrer >Allgemeingültigkeit< einsichtigen Begründungen erreicht wurden. Außerdem: Wäre ein Zustand derartiger >Allgemeingültigkeit< nicht das Ende von Geschichte?

Sollte er für ein konstruiertes Endziel des gattungs­geschichtlichen Prozesses ernstlich ins Auge gefaßt werden, würde das eine umfassende Entwertung aller bisher stattgefundenen Geschichte und ihre Degradierung zu bloßen Vorstufen bedeuten.

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Darin sehe ich eine besondere Variante der Lieblosigkeit gegenüber früheren Generationen und ihrer Gleichberechtigung im historischen Prozeß, letztlich also ein Stück pyramiden­kranken Verfügens über die Geschichte.

Dadurch, daß wir den Geschichts- und Gesellschaftsprozeß als >Ganzes< denken können, lassen wir uns leicht dazu verführen, über Veränderungen dieses Ganzen zu phantasieren. Jedes reale Verändern ist aber ein praktischer Vorgang, und die Funktions­bedingungen menschlichen Handelns schließen aus, daß jemals >das Ganze< praktisch verfügbar ist; denken wir nur an das Mitspielen zufälliger Überraschungsmomente, etwa aus unserem Unbewußten. Historisch sind zwar inzwischen Ganzheiten mit gigantischen Ausmaßen, wie politische Großmächte, internationale Wirtschaftsriesen, Kirchen, UNO-Behörden und alle möglichen Diktaturen und Gangstersyndikate entstanden, deren Kräftespiel für eine Minderheit von Top-Managern und Spitzen­politikern Optionen des Handelns zu enthalten scheint. Insgesamt entstehen aber immer wieder Resultate, die so niemand vorausgesehen und gewollt hat, einfach weil die beteiligten Faktoren für niemanden vollständig erkennbar und verfügbar sind. Der Weltkrieg 1914 bis 1918 oder die Ölkrise 1973 sind nur zwei Beispiele aus einer beliebigen Anzahl von Belegen für diesen Sachverhalt.

Der Verfügungswahn besteht also in der illusionären Anmaßung, unser Denken und Handeln könne sich jemals regulierend auf >das Ganze< beziehen. Der politische Widerstand gegen diesen Wahn beginnt mit herrschaftsabbauenden, dezentralen und föderalistischen Praktiken, die den pyramidenförmigen Superstrukturen schrittweise den Gehorsam aufkündigen. Domistische Erneuerung zielt daher auf eine möglichst schwache Zentralmacht und auf ein kräftig wachsendes Netz autonomer Gemeinwesen und Einrichtungen. (Daß auch und gerade ein solcher Neuansatz eine alternative Sicherheitspolitik ermöglicht, die diesen Namen überhaupt erst verdient, darauf werde ich noch konkret zurückkommen.)

Die Vorbehalte gegen das >Verfügen< reichen bisweilen noch weiter, als ich sie gerade angedeutet habe. So läßt sich gegen den hier entwickelten Neuansatz selbst einwenden, daß doch auch die Liebe sich jeder Verfügbarkeit entziehe. Wer sie – technik-analog – unter bewußte, methodische Regie bringen wolle, der handle im Grunde ebenfalls herrschaftsorientiert. Daran ist etwas Wahres, und deswegen habe ich schon beim Skizzieren fröhlicher Wissenschaft darauf hingewiesen, daß sie sich offen hält für Unerwartet-Neues und dem Nichtverfügbaren mit einer neuen Gelassenheit begegnet.

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In einer heute nur noch von wenigen Menschen gesprochenen Sprache wird hierfür vielleicht auch >Gottvertrauen< gesagt. Lieblosigkeit und die Unfähigkeit zu lieben sind, mit allen Folgeerscheinungen der Herzenskälte, des Egoismus oder der Eitelkeit, nur in extrem seltenen Fällen eine Sache genetischer Defekte. Überwiegend sind sie, wie wir aus der Entwicklungs­psychologie wissen, eine Sache mißglückender Sozialisation, des Lernens also in einem weitreichenden Sinn: des Mangels an erfahrener Zuwendung, Fürsorge, Wärme und Zärtlichkeit. Wenn das so ist, müssen dann nicht Lernvorgänge ermöglicht werden, die unsere Liebes­fähigkeit zu entwickeln helfen? Der Beginn solcher Lernvorgänge kann darin bestehen, glaubwürdig zu erfahren, daß Liebe und ein Zusammenleben in Liebe nicht nur ein frommes Märchen sind, sondern immer wieder in der Wirklichkeit vorkommen. Kommunitäre Lebensformen aber sind nachweislich zu allen Zeiten der Geschichte möglich gewesen.

Unter Geschichtlichkeit wird hier ein Grundzug unserer Existenz verstanden, der uns von anderen Lebewesen unterscheidet. Auch bei Tieren gibt es kompliziert aufgebaute Gesellschaftssysteme; sie können die Formen ihres Zusammenlebens aber nicht verändern und erneuern. Geschichtlichkeit bedeutet also in erster Linie: offen zu sein für Innovationen. Auf der Ebene des Individuums korrespondiert den gesellschaftlichen Veränderungsprozessen, die wir >Geschichte< nennen, unsere Kreativität. Starr herrschende Traditionen sind daher, indem sie Innovationen verhindern, geschichtsfeindlich. Auch Entwicklungsmodelle der Gattungs­geschichte, nach denen die Zukunft gegenüber der Gegenwart überprivilegiert wird, können unsere lebens­geschichtlichen Entwicklungs­chancen blockieren, behindern also ebenfalls unsere Kreativität. Auf die Zukunft der Gattungs­geschichte zu hoffen, auf das späte, klassenlose Reich der Freiheit, halte ich für eine Flucht vor unseren Möglichkeiten in der Gegenwart. Das bedeutet eine Absage an das Paradigma eines messianischen Denkens, in dem immer hingenommen wurde, ganze Generationen vom Heil ausgesperrt zu sehen, das erst irgendwann künftig zu erwarten sei.

In säkularisierter Variante hat dieses Denken sich von der geschichtlichen >Entwicklung< hypnotisieren lassen. Viele sehen heute in diesem Denken eine verhängnisvolle Fixierung an die Lieblingskategorie des 19. Jahrhunderts, die >Evolution<. Hat hier nicht die Vorstellung von einem hierarchischen Ganzen in der Zeit bis heute nachgewirkt, einer Pflanzer- oder Gärtnerphilosophie, nach der die Rechtfertigung der Knospe in der Frucht gesehen wird, wobei die Knospe das Pech hat, zugrunde zu gehen und nie das finale Stadium zu erleben?

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Diese Form von Ungerechtigkeit, von Überprivilegierung der Endzeit, verdient Kritik. Wenn wir der Frage nachgehen, woher das gattungs­geschichtliche Knospe-Blüte-Frucht-Denken ursprünglich stammt, dann verlieren sich seine Herkunftsspuren in mythischen Vorstellungswelten, deren Grundstrukturen sich gleichwohl in immer neuen Einkleidungen bis in die neuzeitliche Philosophie erhalten haben.

Schon bei Kant (und nicht etwa erst bei Hegel und dann Marx) findet sich die Vorstellung von der hierarchischen Zeitordnung unserer Geschichte. Es ist lehrreich, seine kleine Schrift von 1784, >Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht< in Erinnerung zu rufen, da sie wesentliche Grundmotive eines von der Pyramidenkrankheit in Mitleidenschaft gezogenen Denkens bereits enthält: so den Wissenschafts­aberglauben, der auf einen Newton als Entdecker von Geschichtsgesetzen hofft; so die unser endliches Einzelleben degradierende Vorstellung, >Vernunft< sei nur als gattungsgeschichtliches Produkt realisierbar; so den puritanisch-sparsamen Naturbegriff, und so vor allem den vorübergehend sogar Kant selbst >befremdend< und >rätselhaft< anmutenden Kerngedanken (im >Dritten Satz<), daß die Generationenfolge im Lauf der Geschichte eine Stufenfolge sein soll, die immer höher und schließlich zur Glückseligkeit und vollständigen Vernunft führt.

Die Begründung, die Kant gibt: daß nämlich die Gattung unsterblich sei, während die Einzelwesen sterben müßten, und daher nur die Gattung als ganze >zu einer Vollständigkeit der Entwickelung ihrer Anlagen gelangen< könne, dieses fortschrittsoptimistische Credo ist für uns am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts mit Sicherheit nicht mehr evident. Die Selbstzerstörungs­möglichkeiten der Gattung, wie sie allein in den angehäuften Nuklearwaffen bereitliegen, erzwingen einen vollständigen Paradigmenwechsel auch im Geschichtsverständnis, und zwar im Sinne einer radikalen Aufwertung der individuellen Lebensgeschichte in ihrer Endlichkeit – unter anderem, damit Gattungsgeschichte, also eine Zukunft für das Überleben unserer Gattung, überhaupt möglich bleibt.

Dieser Argumentation liegt kein >ahistorisches< Denken zugrunde, wie mir von manchen Prozeß­theoretikern vorgehalten wird, sondern ein anderer als der ans Evolutions-Modell fixierte Geschichtsbegriff.

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Und auch Kants Diktum >Der Mensch will Eintracht; aber die Natur weiß besser, was für seine Gattung gut ist: sie will Zwietracht< (im >Vierten Satz<), bleibt diese Schlüsselformel nicht als bloßes Echo auf die vorgefundenen und bereits pyramidenkranken Verhältnisse fixiert? Was Kant hier auch >Ungeselligkeit< nennt, könnte doch der bereits deformierte Sozialcharakter von Menschen sein, die einer Pyramidengesellschaft angehören, also nie >frei<, >gleich< und >brüderlich< zusammengelebt haben.

Und schließlich: >Aus so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz Gerades gezimmert werden< (>Sechster Satz<). Wird mit diesem so vertrauenerweckend bescheiden und realistisch klingenden Spruch nicht die individuelle Lebensgeschichte gegenüber einer ins zeitliche Jenseits projizierten Gattungszukunft um alle ihre Möglichkeiten gebracht? Und warum hat sich dieses Selbstbild, wonach der Mensch im Grunde ein Krüppel, ein ohnmächtiges und elendes Wesen ist, so weit verbreiten können? Ist diese Selbstverkleinerung nicht eine treue Kopie der Pyramidenstruktur im seelischen Haushalt der Subalternität? Wird in den bestehenden Herrschaftsstrukturen nicht seit Tausenden von Jahren genau dieser Typ mehrheitlich gebraucht? Sogar aus den anthropologischen Reflexionen des Aufklärers Kant redet also bereits eine tief beschädigte Wirklichkeit, und dieses Selbstverständnis behindert bis heute den wirksamen Kampf gegen die Pyramidenkrankheit.

Herrschaft läßt sich nicht aufheben durch Errichten von Gegenherrschaft; damit infiziert sie sich fortwährend aufs neue an dem Zustand, der gerade überwunden werden soll. Herrschaft läßt sich grundlegend wohl nur bekämpfen durch Verweigerung der Voraussetzungen, die Herrschaft erst möglich machen: Gehorsamsbereitschaft, Subalternität, pyramidenkrankes Selbst- und Geschichts­verständnis. Wenn wir davon ausgehen, daß solche Verweigerungen aber nur praktische Bedeutung erlangen können, sobald sie nicht in bloßem Wunschdenken steckenbleiben, dann wird alles darauf ankommen, neue Lebensformen aufzubauen, deren Struktur und Funktionsweise das weitere Grassieren der Pyramidenkrankheit aufhalten.

Ein Hauptaspekt der Pyramidenkrankheit stellt sich dar als Willenlosigkeit (Abulie), als Lähmung unserer Fähigkeit zu bewußter Selbstbestimmung. Diese weitverbreitete Abulie wird mit ermöglicht durch die erwähnte Gärtnerphilosophie, die sich vermutlich als ein uralter Abwehrmechanismus interpretieren läßt: Die Problemlösungen werden in die Zukunft verschoben, und damit wird der jetzt notwendigen Anstrengung des befreienden Handelns ausgewichen. Die erlebte Ohnmacht beruhigt sich dann gern mit Theorien von der Unausweichlichkeit dessen, was geschieht.

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Die Selbstbestimmung wird aber nicht nur auf eine ferne Zukunft verschoben, sie wird auch delegiert an hierarchische Steuerungs-Agenturen vom Typus der Bürokratie. Dieser Transfer liefert unsere Selbstbestimmungs-Potentiale an die berühmten >Sachzwänge< aus, die uns dann (fremd-)bestimmen. Willensenergien für die Selbstgestaltung unserer Verhältnisse bilden sich auf diese Weise gar nicht erst in ausreichender Quantität und Qualität. Wo immer das Zusammenleben herrschaftsbestimmt ist und hierarchische Sozialstrukturen diesen Zustand befestigen, brauchen nur wenige Menschen zu bestimmen oder zu >wollen<; alle übrigen delegieren ihren Willen dorthin. Eine Aufhebung von Herrschaft (was nicht das gleiche ist wie jeder Verzicht auf Führung) bedeutet daher auch, daß jeder einzelne Mensch eine unterdrückte Fähigkeit neu entwickeln muß – seinen Willen:

»Wie können die Menschen >ihren< Willen ausdrücken, wenn sie keinen eigenen Willen, keine wirkliche Überzeugung haben, wenn sie entfremdete Automaten sind, deren Geschmacksrichtung, Meinung und Vorliebe von den großen, bestimmenden Apparaten geprägt werden?« (Erich Fromm in >Der Moderne Mensch und seine Zukunft<)

Zur Zeit haben die meisten Menschen in entscheidenden Lebensbereichen vielleicht Wünsche, aber keinen Willen. So ist heute auch die Sehnsucht, der Wunsch nach einem anderen Leben groß bei vielen von uns; unsere Kraft und unser Können reichen aber nicht aus, um wirklich etwas Lebensfähig-Neues aufzubauen. Es ist der Unterschied zwischen dem Traum vom Fliegen und dem wirklichen Fliegenkönnen. Viele Menschen wollen offenbar gar nicht wirklich frei sein, sondern sie wünschen es sich nur. Sie wünschen sich eventuell auch Gleichberechtigung und Brüderlichkeit, aber sie wollen sie gar nicht wirklich. In Pyramiden­strukturen müssen ja auch Regungen zur realen Verwirklichung dieser Forderungen mit Sanktionen belegt werden, die oft sehr subtil funktionieren; die hierarchischen Strukturen sind sonst nicht zu halten.

Neben den folgenlosen Tagträumen bloßen Wünschens gibt es auch die Ohnmachts­schwelgereien derjenigen, die fortwährend die Übermacht der herrschenden Verhältnisse (oft mit geheimer Lust an der Unterwerfung) betonen. Solche Impotenzphantasien lähmen im Effekt unseren Willen genauso wirksam wie die Omnipotenzillusionen des Verfügungswahns. Auch die konsumistische Landesreligion bietet reichhaltige Illusionen der Willensbetätigung: Ermöglicht nicht jedes shopping den Genuß, umworben zu sein, ja und nein sagen zu können, zu wählen, zu entscheiden und in mikroskopisch zerstäubter Form >Herrschaft< auszuüben? Ich, der Kunde, bin ich nicht König gegenüber dem riesenhaften Warenhauskonzern?

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Diese Attrappe von Freiheit, Selbstbestimmung und Willensausübung trägt mit dazu bei, die Entstehung wirklicher Willens­kompetenz gerade zu verhindern. Unser Wollen, sofern es über Trivialentscheidungen des Alltags hinausreicht, ist heute weitgehend an die sozialen Makrostrukturen delegiert. Von dort müssen wir es schrittweise zurückerobern! In vielen Bürger­initiativen wird das bereits ansatzweise praktiziert. Diese Initiativen bieten, ebenso wie andere domistische Neuansätze, Gelegenheit zur Willensentwicklung im meso-sozialen Feld.

Zu dem neu zu bildenden Willen gehört übrigens auch Gelassenheit, also die Bereitschaft, der Natur in uns (und außer uns) und allgemein: dem Nichtverfügbaren sein Recht zu lassen. Gemeint ist also mit dem Willen hier nicht die überanstrengte Haltung von sozusagen auf Dauer gestellten geschwollenen Adern oder vorgereckten Kinnspitzen. Im Gegenteil. Gelassenheit ist ein wesentlicher Bestandteil dieser neuen Willenshaltung, die erst hierdurch ihren entscheidenden kreativen Zug gewinnt.

Versuche, dem verbreiteten Willensanalphabetismus entgegenzuarbeiten, werden häufig als >Voluntarismus< und >Dezisionismus< angeschwärzt. Dabei sei das Wahrheitsmoment der Vorbehalte zugestanden, die sich gegen ein Willenskonzept nach dem Modell des Ego-Kults im Konkurrenz-Bürgertum mit seinen Abgrenzungsritualen, Freiheitsräuschen und Autonomie­illusionen richten. Die neuen domistischen Lebensformen brauchen aber gerade einen voll entwickelten, wenn auch nicht mehr auf Trennwände pochenden Willen. Psychologisch ist es bekanntlich in der Regel der sich bedroht und unsicher fühlende, der ängstliche Wille, der auf Trennwänden besteht, der sich einigelt, Grenzbefestigungen anlegt, Mauern und Stacheldraht braucht. Ein Wille, der wirklich zur gelassenen Selbstbestimmung fähig ist, reagiert auf Grenzüberschreitungen eher aus->gelassen< und übermütig. Gemeint ist hier also ein Selbstbewußtsein, das seine Türen und Fenster nicht verrammelt, das wenige Ängste kennt, obwohl es in der Wirklichkeit Bescheid weiß und daher nicht etwa aus törichter Naivität zutraulich und >offen< ist. Erst ein solches, nur in neuen und tiefreichenden Lernvorgängen sich bildendes Selbstbewußtsein ist auch wirklich zur Solidarität fähig, zum Niederlegen von Trennwänden und zum Aufgeben gepanzerter Schutzvorrichtungen: zur Liebe also und zur Kreativität.

Was aber ist die Kreativität anderes als der individuelle Aspekt dessen, was auf der Ebene gesellschaftlicher Prozesse >Geschichte< heißt? Geschichte zu haben, heißt – vom Individuum her gesehen – fähig zu Innovationen zu sein, und dieses Potential tritt mit jedem Neugeborenen immer wieder in die Welt. Da eine Neugestaltung unseres Lebens jedoch nur gemeinsam mit anderen Menschen gelingen kann, ist Gemeinschaftsbildung der zentrale anthropogenetische Akt: sie ist das, was uns eigentlich zu Menschen macht. Wenn unser Wesen unter anderem in unserer Geschichtlichkeit, also in unserer Fähigkeit zur Innovation besteht, so brauchen wir zur Verwirklichung unseres Wesens diese innovative Gemeinschafts­bildung, und jede neue Generation muß sich daran beteiligen dürfen.

Das schließt die Planung tausendjähriger Reiche aus. Die besonders fest gegründeten, stabil auch gemeinten und oft ja auch unerhört eigensinnig und starr herrschenden Pyramiden-Traditionen sind in diesem Sinne geschichtsfeindlich: sie verhindern Innovationen und damit Geschichte. Die Zeit (als Vergänglichkeit) wird anders bezwungen als durch bloßes Dauern: durch eine neue Qualität des Zusammenlebens, in dem es Geistes-Gegenwart gibt, in dem Menschen sich verbinden, um größere Einheiten zu bilden, von denen Erneuerung ausgeht als derjenigen Form von Dauern, die uns in der Endlichkeit möglich ist. Gerade solche geglückten >fraternitären< Kulturen sind ihrem Wesen nach nicht zu >ewiger Dauer< geeignet, sondern bleiben offen für schöpferische Veränderungen.

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