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  4. Katzenjammer — das Erbe der Neuzeit  

 

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Das materialistische Menschheitsverhängnis hat außer den zivilisatorischen Ursachen auch naturspezifische, also genetische Gründe, ohne deren Kenntnis das Phänomen Fortschritt kaum zureichend erklärt werden kann.

Alle Lebewesen, vom Einzeller angefangen, benötigen nämlich, um überhaupt leben und sich entwickeln, das heißt: im Lebensprozeß aktiv werden zu können, mehr Energie, als sie unmittelbar, zum bloßen Vegetieren also, brauchen. Sie speichern Energie-Reserven, die sie in die Lage versetzen, zu manövrieren, das heißt: ihre Umwelt nicht nur als ihre Wirklichkeit zu begreifen, sondern sich auch mit ihr dynamisch auseinanderzusetzen und sich in ihr oder auch gegen sie zu behaupten. 

Insofern verhält sich der Mensch, wenn er auf die Gewinnung und Bevorratung energetischer Reserven versessen ist, nicht nur vernünftig, sondern auch natürlich; als hochspezialisiertes, auf eine ungemein differenzierte Umwelt reagierendes und diese Umwelt nach seinen Wünschen umgestaltendes Wesen ist der homo sapiens auf solche Energiereserven weit entschiedener angewiesen als alle anderen, in den artspezifisch-beschränkten Regelkreis ihres Daseins eingeschlossenen Lebewesen des Planeten. 

Solange diese Aufstockung der menschlichen Energiereserven, wie zum Beispiel in frühgeschichtlichen Menschheitszeiten, noch vergleichs­weise naiv, das heißt: in a-perspektivisch-mythischen Vorstellungsbereichen erstrebt und vorgenommen wurde, löste sie bedeutende menschenbildnerische Wirkungen aus — Wirkungen, die keineswegs zuletzt, sondern die zuvorderst jenen metaphysisch-kulturellen Überbau betrafen, von dem die Rede war und noch sein wird.

Erst als der Erfahrungs- und Wissens-Stau am Ausgang des Mittelalters und zu Beginn der Renaissance die abendländische Welt sozusagen einem geistigen Energieüberdruck aussetzte, wurden die mythischen Fesseln, die auch noch das Christentum umspannten, gesprengt. Die freigesetzte geistige Energie — denn nur um diese handelt es sich, da der physische Energiehaushalt des Menschen seit Adams Zeiten der gleiche geblieben ist —, die freigesetzte geistige Energie also suchte sich nun neue Dimensionen, in denen sie sich verwirklichen und progressiv zu steigern vermochte. Sie fand die Wege dorthin geebnet durch das, was hier als Zivilisation beschrieben wurde. 


Dieser Zusammenhang erklärt auch, warum die aufbrechende Renaissance gerade in den oberitalienischen Stadtstaaten ihren günstigen Nährboden fand — in jenen Stadtstaaten, die zugleich die Metropolen frühkapitalistischer Machtballung waren.

Einmal auf diesen, um wieder mit Gebser zu reden, perspektivischen Weg geraten, begann der menschliche Energie-Zugewinnungs-Drang, zumal ihm keine Grenzen gesetzt schienen, eine unaufhaltsame Eigendynamik zu entwickeln. Sie äußerte sich zunächst in einer zunehmenden Verwissenschaftlichung menschlicher Erkenntnisvorgänge, die schließlich im Zeitalter der Aufklärung die Auffassung zeitigte, daß alle Phänomene dieser Welt rational begreifbar, erklärbar und damit durch menschlichen Willen auch beherrschbar seien. 

An dieser Auffassung hat sich, trotz heftigster Gegenbewegungen wie Sturm und Drang oder Romantik, bis auf den heutigen Tag wenig geändert. 

Von der Französischen Revolution bis zur russischen Oktober-Revolution, von den Anarchisten des 19. Jahrhunderts bis zu den Terroristen des 20. Jahrhunderts schwören die Systemveränderer ebenso auf die Flagge der Vernunft wie die Technokraten der entmenschlichten Industrie oder die Korsaren der freien Marktwirtschaft.

»Es gibt keine Helden mehr, es gibt nur noch den Chor«, schrieb Anfang der dreißiger Jahre unseres Jahrhunderts Ortega y Gasset in seinem berühmten Werk <Der Aufstand der Massen>. Sein Bonmot pointiert die Lage, in der wir uns zunehmend unsicher fühlen. Zwar werden Verfechter sozialistischer Ideen einwenden, daß gerade dies der Anfang aller sozialen Glückseligkeit sei. Wenn nur noch der Chor mit sich selbst Chorlieder austausche, ohne von Helden oder gar Herrschenden gestört zu werden, sei endlich eine Gesellschaftsordnung erreicht, in der jeder nach seiner Facon glücklich werden könne. 

Aber abgesehen davon, daß auch der Chor, um sich zu artikulieren, der Disziplinierung bedarf (die sozialistischen Staaten liefern dafür bemerkenswerte Beispiele) — abgesehen davon, kommen weder die Völker, noch kommt die Menschheit insgesamt ohne jene Helden aus, die den Blick über die engen Horizonte eines Jahrzehnts oder auch einer Epoche hinausschweifen lassen und Wegweiser in die Zukunft setzen — und die auch den Mut zum Widerspruch finden gegen den Geist ihrer Zeit. 

Es ist einer der gefährlichsten und wahrscheinlich auch folgenreichsten Irrtümer unserer Zeit, anzunehmen, das Ideal des kleinen sozialen Glücks genüge als Gegengewicht gegen die furchtbare und erbarmungslose Herausforderung der Weltgeschichte, um die Schicksalswaage der Menschheit günstig zu beein­flussen.

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»Der Krieg ist der Vater aller Dinge«, sagte Heraklit, und er sprach damit nicht nur eine Grundwahrheit allen natürlichen Geschehens aus, sondern er behielt damit auch im Hinblick auf die Geschichte der Menschen auf entsetzliche Weise recht. Der Krieg ist die Regel, der Friede die Ausnahme — und nicht umgekehrt. Die menschliche Geschichte ist eine Historie von Kriegen, deren Chronik sich um so beklemmender liest, je näher wir unserer Gegenwart rücken und dem schrecklichen Moloch der Zukunft ins Auge blicken — jenem Moloch, den sich die Menschheit selbst aus dem Arsenal ihres, mit unerhörten Energien aufgeladenen, zivilisatorischen Fortschritts schuf. 

Liegt auf diesem Weg menschliches Glück, oder ist der ungeheure Aufwand, den der Menschengeist mit seiner technischen Wirklichkeit treibt, nur ein absurdes Theater globalen Ausmaßes?

Einer, der solches bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht nur vermutete, sondern auch mit aller Entschiedenheit aussprach, war der Philosoph Arthur Schopenhauer. In seinem Hauptwerk <Die Welt als Wille und Vorstellung> zog er gleichsam eine grundpessimistische Summe aus der bisherigen Menschheitsgeschichte, wobei er einen ungemein scharfen Blick für die anthropologischen Realitäten der Spezies bewies. Über das »Glück« zum Beispiel schrieb er, es könne nie von langer Dauer sein, da es immer nur »von einem Schmerz oder Mangel erlöse, auf welchen entweder neuer Schmerz oder aber — Langeweile« folge.

»Glück kann«, sagt Schopenhauer, »nicht das ganze Leben, sondern nur Augenblicke desselben« füllen. Ein anhaltendes Glück, wie es zum Beispiel Faust ersehnte, sei, laut Schopenhauer, »nur lästige und nichtssagende Monotonie, der Langeweile entsprechend«. Und diese sei ja wohl kaum ein menschliches Ziel, aufs innigste zu wünschen...

Rund einhundertfünfundzwanzig Jahre später stellt Konrad Lorenz, indem er die seither gewonnenen Erkenntnisse der Evolutions- und Verhaltens­forschung zusammenfaßt, genau das gleiche fest, wenn er schreibt: 

»Die Anstrengungen früher Menschen, die nötig waren, ein Stück Beute zu erjagen, waren so gewaltig, daß man gut daran tat, nicht mehr Energie zu verausgaben als unbedingt erforderlich. Die Gefahren, die den Menschen auf Schritt und Tritt umlauerten, waren so drohend, daß das Eingehen jedes unnötigen Risikos unverantwortlicher Unsinn und äußerste, an Feigheit grenzende Vorsicht die einzig richtige Maxime allen Handelns war.

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Kurzum, zu der Zeit, als der Großteil der Instinkte programmiert wurde, die wir heute noch in uns tragen, brauchten unsere Vorfahren die Härten des Daseins nicht in <mannhafter> oder <ritterlicher> Weise zu suchen, denn diese drängten sich ihnen von selbst in gerade eben noch erträglicher Weise auf. Das dem Menschen von seinem phylogenetisch entstandenen Lust-Unlust-Mechanismus aufgezwungene Prinzip, allen vermeidbaren Gefahren und Energie-Ausgaben tunlichst aus dem Wege zu gehen, war damals durchaus richtig.

Die vernichtenden Fehlleistungen, die derselbe Mechanismus unter den Lebensbedingungen heutiger Zivilisation hervorbringt, erklären sich aus seiner phylogenetischen Konstruktion und aus den beiden fundamentalen physiologischen Eigenschaften der Gewöhnbarkeit und der Trägheit. 

Schon in grauer Vorzeit haben die Weisen der Menschheit ganz richtig erkannt, daß es für den Menschen keineswegs gut ist, wenn er in seinem instinktiven Streben nach Lustgewinn und Unlustvermeidung allzu erfolgreich ist. Schon in alten Zeiten haben es die Menschen hochentwickelter Kulturen verstanden, alle unlustbringenden Reizsituationen zu vermeiden, was zu einer gefährlichen, wahrscheinlich sogar oft zum Untergang einer Kultur führenden Verweichlichung führen kann. 

Seit altersher haben die Menschen herausgefunden, daß man die Wirkung lustbringender Situationen durch besonders schlaue Zusammen­stellung der Reize steigern und durch deren ständigen Wechsel vor der Abstumpfung durch Gewöhnung bewahren kann, und diese Erfindung, die in jeder höheren Kultur gemacht wurde, führt zum Laster, das indessen kaum jemals ebenso kulturvernichtend wirkt wie die Verweichlichung. Gegen beide ist gepredigt worden, solange weise Männer gedacht und geschrieben haben, und zwar stets mit der größeren Emphase gegen das Laster.«

 

Mit anderen Worten: die »Energie-Einsparung« durch technische »Ersatzleistung« ist genetisch vorprogrammiert. Der Sinn dieses genetischen Programms verflüchtigte sich im Verlauf des menschlichen Zivilisationsprozesses jedoch derart, daß schließlich Mechanik und Dynamik dieses Lust-Unlust-Verhaltens leerzulaufen und einen ebenso sinnlosen, sich gegen die Spezies richtenden energetischen Stoffwechsel auszulösen begannen, wie er sich bei der Krebs­erkrankung in der Zelle ereignet.

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Wie weit die zerstörende Krebskrankheit des nicht nur (buchstäblich genommenen) seiner Sinne nicht mehr mächtigen, sondern auch seines Sinnes beraubten Zivilisations­prozesses schon gediehen ist, dessen innezuwerden genügt bereits ein Blick in den verunsicherten Alltag unserer Gesellschaft. Schon stehen die jüngeren Generationen zornig, ratlos und auch zunehmend hoffnungslos vor einer kulturell zunehmend entleerten, dafür jedoch chemisch verseuchten, verbetonierten, ausgeraubten, verbrauchten, mit Massenvernichtungsmitteln vollgestopften sowie durch unvorstellbare geistige und materielle Schulden belasteten Lebenslandschaft der Zukunft, die angeblich die ihre sein soll. 

Zwar versichern ihnen die Väter, dies alles sei fürsorglich nur zu ihrem Wohl geschehen und werde auch, bringe man nur Geduld und Fortschritts­vertrauen auf, zu ihrem Wohl ausschlagen. Aber die Alten vergessen, indem sie dies vorbringen, zugleich zu fragen, ob die Jungen in dieser merkwürdigen Hinterlassenschaft einer unbewältigten Gegenwart und einer kaum mehr zu bewältigenden Zukunft auch nur entfernt so etwas wie ihr gesellschaftliches und geistiges Heil erblicken. Jede Generation, will sie nicht epigonal verkümmern, muß Gelegenheit finden, sich selbst einen Sinn zu geben, indem sie den schöpferischen Spielraum nutzt, den ihr die Älteren einräumen. 

Aber wer läßt heute schon wem Spielraum? 

Wo ein metaphysisches Bezugssystem mangelt und stattdessen das Bewußtsein vorherrscht, das Leben ende mit dem Tode, kann es nur ein Ziel geben: Dem Leben vor diesem Nihil am Ende so viel materielle Lust zu entreißen wie nur irgend möglich, in der faden Hoffnung, die Nachlebenden würden sich vielleicht mit dem Wiederkäuen dessen bescheiden, was ihnen ihre Altvorderen hinterließen. Was sie de facto hinterlassen, das werden jedoch nur die Trümmer einer Gigantomachie sein, mit der sie ihren Katzenjammer zu vertreiben versuchten. Insofern ist durchaus verständlich, daß die Jungen von dieser angeblich besten aller zivilisierten Welten immer weniger halten und ihrerseits in die Gesellschaft Konflikte hineintragen, um diese wieder annehmbar, das heißt: gestaltbar zu machen.

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Der Mensch mit seinem Widerspruch und seiner programmierten Unruhe ist nun einmal nicht für die beste aller zivilisierten Welten als Ergebnis einer machbaren Utopie geschaffen. Mit den heilen Welten, ob von links oder von rechts verheißen, kann er de facto wenig anfangen. Er braucht die Unlust und muß sie sogar wollen, wenn sie ihm der Kampf ums Dasein (oder wie immer man Lebensbehauptung definieren mag) nicht gewährt; er braucht die Widrigkeit des Lebens, um Lust gewinnen und empfinden zu können.

Lust als Dauerzustand entnervt und zermürbt. Es gibt kein Schlaraffenland. Selbst das Paradies, könnten wir wieder dorthin zurückkehren, wäre keines. Das behaupten übrigens nicht nur Schopenhauer und Lorenz. Vielmehr wurde diese anthropologische Grundansicht von Heraklit bis Lukrez, von Leonardo da Vinci bis Leibniz, von Goethe bis Nietzsche, von Max Planck bis Heidegger und Carl Friedrich von Weizsäcker von den verschiedensten denkerischen Ausgangspunkten her gewonnen und der Menschheit zwingend zur Kenntnis gebracht, woraus diese jedoch zu keinem Zeitpunkt ihrer Geschichte die Konsequenzen zog.

Wir sagten: man brauche sich nur umzuschauen, um des Katzenjammers ansichtig zu werden, den uns die Neuzeit hinterläßt. Den bedeutendsten Anschauungs­unterricht liefern derzeit die großen Städte der Welt. Denn dort, wo sich die Zivilisation formierte, führt sie sich auch besonders augenfällig und grotesk ad absurdum. Aufgebläht zu Megalopolen, wuchern die Betongebirge der Städte unaufhaltsam in ihr Umland hinein, keiner anderen zivilisierenden Idee mehr gehorchend als der ihres eigenen, unkontrollierten Wachstums. Auf diese Weise denaturieren sie zusehends zu einem kaum noch regierbaren, allenfalls gerade noch bürokratisch verwaltbaren Konglomerat aus überdimensionalem Supermarkt, Arbeitshaus, Wohnsilo, Bankzentrum und Rummelplatz, in dessen Bereich sich die Bürger, jetzt »Einwohner« genannt, gegenseitig physisch und psychisch auf die Füße treten. 

New York, Tokio, Los Angeles oder Frankfurt/Main sind hervorstechende Beispiele für diese urbane Gigantomachie, die längst nicht mehr nur für sich sprechen. Die alten Städte mit unzerstörtem, die eigene Geschichte repräsentierendem Stadtkern widersetzen sich dem inneren Zerfall am hartnäckigsten. Das zivilisatorische Zeugnis, das die urbane Architektur der alten Innenstädte für den gewesenen Sinn einer sich schöpferisch erfüllenden Stadtkultur ablegt, erweist sich selbst als museales Relikt noch den funktionalistischen Etagen-Staplern überlegen, die sie von den Randbezirken her barbarisch immer mehr einschnüren. 

Es ist allerdings nur eine Frage vergleichsweise kurzer Zeit, bis auch diese innerstädtischen Oasen, denen der Verkehr einen Kreislaufkollaps nach dem anderen beschert, endgültig erdrosselt werden.

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Aber damit nicht genug.  

Der urbane Wucherungs- und Kumulationsprozeß ergreift inzwischen auch die ländlichen Gebiete und zerstört durch Großraum-Zentralismus alle gewachsenen, auf individuellen Sozialkontakt bedachten Kernzellen gemeinschaftlichen Zusammenlebens, nämlich die dörflichen. Man nennt diesen Akt sozialer Selbstauflösung »Gebietsreform«.

Wie anfällig die modernen Massenzentren für jede Art von Erschütterung geworden sind, beweisen nicht nur gelegentliche Stromausfälle oder Natur­katastrophen sowie die Anfälligkeit der industriellen und energetischen Anlagen für jede Art von vernichtender Sabotage. Mehr noch sind es die sozialen Krisen, die den urbanen Großsiedlungen zusetzen. Kriminalität, Laster, Terror sowie psychische Verelendung potenzieren sich im Verhältnis zum inneren Zerfall der Stadt-Gesellschaften, der weitaus früher eintritt als der äußere. Neid, Rücksichtslosigkeit, Einsamkeit und Verzweiflung sind ebenso Symptome dieser Auflösung wie Lebensgier aus Hoffnungslosigkeit. Sie kennzeichnen eine Gesellschaft, die nichts mehr mit sich anzufangen weiß als dies: sich durch Wohlstand als einer Art Daseins-Ersatz-Befriedigung einigermaßen bei Laune zu halten — und um sich die Zeit, vor deren Verrinnen sie sich hysterisch fürchtet, um jeden Preis, auch um den der Sinnlosigkeit, zu vertreiben. Denn nichts ist dieser Gesellschaft fürchterlicher als der Gedanke an den Tod.

 

Als anthropologisches Verhängnis muß angesehen werden, daß ausgerechnet, aber leider auch folgerichtig, in der beklemmendsten Phase zivilisatorisch-urbanen Identitätsverlustes der technische Fortschritt in Form von Nachrichtenübermittlung und Verkehr ein Höchstmaß an globaler Kommunikation garantiert. Dadurch wird das, was sich in den Zentren der Welt ereignet, bis in die entferntesten Winkel des Planeten hinein-projiziert. Die Eskimos bleiben ebenso wenig davon verschont wie die Neger Innerafrikas oder die Einwohner Polynesiens. Sie alle werden hineingezogen in den Strudel zivilisatorischer Dekadenz, die einen längst fragwürdigen materiellen Lebensstandard anstelle schöpferischer Welt- und Wirklichkeitsbewältigung als höchstes Scheinglück anbietet.

So infiziert die an Sinnentleerung schwer erkrankte, abendländisch geprägte und amerikanisch verflachte Zivilisation durch ihre Kommunikations- und Verkehrsmittel die gesamte Menschheit. Die Städte erliegen dieser Infektion zuerst. Wird die Menschheit ihnen folgen? 

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Das ist die Schicksalsfrage, die man sich am Ende des 20. und an der Schwelle zum 21. Jahrhundert unerbittlich stellen muß, sofern einem mehr am Herzen liegt als die eigene Annehmlichkeit.

Bevor wir den Versuch einer Antwort wagen, sei hier der pathologische Befund des sogenannten Fortschritts noch einmal durch die Aufzählung jener »acht Todsünden der zivilisierten Menschheit« rekapituliert, die nach Konrad Lorenz »nicht nur unsere heutige Kultur, sondern die Menschheit als Spezies mit dem Untergang bedrohen«:

 

Das Bemerkenswerte an diesen Thesen von Konrad Lorenz ist, daß durch sie der Alleinvertretungsanspruch der Soziologie in Sachen Mensch und Menschheit in den Bereich jener Illusionen verwiesen wird, die sich Menschen über Menschen machen. Die Soziologie, so meint Lorenz in dem zitierten Buch, verwechsle die Ursachen mit den Wirkungen. Indem sie die Symptome gesellschaftlichen Zusammenlebens analysiere und zu deuten versuche, verabsäume sie, nach deren Herkunft zu fragen. Sie erkläre sozusagen die Symptome durch die Symptome.

Man hat Lorenz vorgeworfen, als Naturwissenschaftler und Bekenner der darwinistischen Evolutionstheorie mache er seinerseits den entscheidenden Fehler, den Menschen als eigenständiges und eigenwilliges Lebewesen mit dem Tier und dessen Verhaltensnormen nicht nur zu vergleichen, sondern auch auf eine Stufe zu stellen. Aber Menschen seien nun einmal keine Tiere, sondern ihres eigenen Schicksals und damit auch Glückes Schmied.

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Demgegenüber versuchten wir im Verlauf der vorgetragenen Betrachtungen wenigstens andeutungsweise und in großen Zügen darzustellen, daß der homo sapiens einerseits tatsächlich von seinem biologischen, sprich: genetischen Programm abhängig geblieben ist, und zwar nicht zuletzt im Willen zur geschichtlichen Verwirklichung, daß er andererseits aber humanisierend auf sein Dasein Einfluß zu nehmen vermochte, indem er kulturschöpferisch über sich selbst hinaus zu wachsen versuchte. Nur die kulturelle Tat gewährte ihm, nach einem Wort von Franz Kafka, das »Heraustreten aus der Totschlägerreihe«, und nur sie garantiert, um mit Gottfried Benn zu reden, das »Gegenglück des Geistes«. Man kann diese Zitate gar nicht oft genug vorbringen; sie markieren ebenso Schlüsselpositionen der Humanität wie der Satz des Novalis, daß Kunst »progressive Anthropologie« sei — und, so sei hinzugefügt, nicht nur Kunst, sondern auch und vornehmlich die Religion.

Die ausschließlich soziologische Diagnostik muß vor dem Dilemma der liquidierten Neuzeit versagen, weil ihre materialistisch-positivistischen, auch dialektisch genannten Methoden nicht ausreichen, auf die grundlegenden anthropologischen Fragen zuständige Antworten zu geben. Die naturwissenschaftlich-genetische Methode allerdings, so viel tiefer sie auch zu den Wurzeln menschlichen Verhaltens und Handelns vordringt, sie findet ihrerseits dort ihre Grenzen, wo die Metaphysik beginnt, das heißt: wo die letzten, kosmischen Geheimnisse des Lebens nur der menschlichen Phantasie sich ahnungsvoll offenbaren, wo sie seelisch erlebt und geglaubt werden. Erlebnisse dieser Art stellen sich her durch sinnliche Wahrnehmung, das heißt: durch den Empfang ästhetischer Reize und die Reaktion auf diese. Insofern ist Metaphysik keine irrationale oder gar illusionäre Dimension menschlichen Daseins, sondern sie ist ein wesentliches Element menschlicher Wirklichkeit schlechthin.

Ohne sinnliche Welt-Erfahrung ist Welt-Erkenntnis ebenso wenig möglich wie Wirklichkeits-Erlebnis, zumal das Erlebnis der Wirklichkeit diese selbst erst herstellt und erhält. Denn Wirklichkeit ist kein konstanter Wert, der sich unabhängig vom Menschen konstitutiert, sondern er erhält seinen Sinn durch den Menschen, der an ihn glaubt und ihm, als gesichertem Erlebnisraum seiner Existenz, vertraut. In dem, was wir »Wirklichkeit« nennen, findet der unablässige Austausch menschlichindividueller und menschlich-kosmischer Welterfahrung statt. Deshalb ist eine Wirklichkeit ohne metaphysischen Bezug ein Widerspruch in sich selbst. 

Nur als Meta-Physik ist Wirklichkeit in Wahrheit Wirklichkeit. Daß die sogenannte moderne Zivilisation diese meta-physischen Erlebnisräume der Menschheit durch materialistische Hybris von Jahrzehnt zu Jahrzehnt in einer Art Amok-Wettlauf mit sich selbst nachhaltig zerstört, ist ein schlimmeres Zeichen für Inhumanität und für Rückfall in die Barbarei als manche große Fatalität der Weltgeschichte.

 

Was also sollen wir, was können wir tun? Können wir überhaupt etwas tun? Oder ist uns auferlegt, um noch einmal mit Gottfried Benn zu reden, »schweigend die Verwandlung zu erwarten«?

Eine Antwort ist heikel, zumal dann, wenn sie sich, womit niemand gedient wäre, nicht in erbaulichen Floskeln erschöpfen möchte. Trotzdem wollen wir versuchen, sie illusionslos zu wagen. 

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