3-5.  

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5. Verzicht oder Apokalypse

 

 

 

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Eine der Hauptschwierigkeiten, die Diagnose der gegenwärtigen gesellschaftlichen und individuellen Malaisen der Menschheit mit therapeutischen oder gar reaktivierenden Vorschlägen zu beantworten, liegt darin, daß sich die Zeitgenossen noch immer nicht aus den perspektivischen Denkzwängen der Neuzeit zu befreien vermochten, obwohl der Bankrott dieser Neuzeit sich doch längst herumgesprochen haben dürfte. 

Das gilt insbesondere für die intellektuelle und politische Führungsschicht. 

Anstatt ihn entschlossen zu durchstoßen, vermessen Politiker wie Intellektuelle teils verzweifelt, teils mit masochistischer Wollust, stets aber mit enormem Energie­aufwand immer von neuem den Teufelskreis, den materialistisches Zweckdenken um sie schließt. Besessen von »der Dämonie von Wissenschaft und Technik«, huldigen sie einer Gesellschaftsordnung, die ihr ganzes Trachten in wirtschaftlichen Zuwachsraten erfüllt sieht. 

Selbst diejenigen, die sich dieser Dämonie zu widersetzen versuchen, tun dies zu einem nicht geringen Teil mit Argumenten aus dem Arsenal jener Epoche, die bereits im ersten Quartal des 20. Jahrhunderts den weltgeschichtlichen (und auch weltgeistigen) Offenbarungseid leisten mußte.

Die faschistischen Bewegungen der ersten Jahrhunderthälfte waren bisher die einzigen, die aus diesem Dilemma ernsthafte Konsequenzen zu ziehen und aus der Bannmeile der bankrotten Neuzeit-Hinterlassenschaft auszubrechen versuchten. Nicht zuletzt dies erklärt ihre mitreißende, die ganze Welt schließlich in Flammen setzende Wirkung. Es erklärt aber auch ihren gigantischen, durch keinen Einspruch der Vernunft aufzuhaltenden Höllensturz. 

Denn für den Ausbruch­versuch aus der Vorstellungs­welt des sich auflösenden bürgerlichen Zeitalters und dessen kapitalistischer Hybris bastelten sich die Faschisten ein ideologisches Weltbild zusammen, das zwar nicht der gerade eingestürzten Epoche entstammte, dafür aber so etwas wie eine heroische Vorzeit auf darwinistischer Basis wieder­herzustellen versuchte — ein historischer Aberwitz, der sich, wie historische Aberwitze oft, in ein Meer von Blut und Tränen auflöste.

Das Fatale an diesem makabren Jahrhundert-Zwischenspiel war und ist, daß die Liquidation der Neuzeit-Hinterlassenschaft dadurch nicht etwa beschleunigt, sondern im Gegenteil verzögert wurde. Schien doch das Scheitern des faschistischen Erneuerungsversuchs aus dem Geist rückwärtsgerichteten, mit biologischer Halbbildung versetzten Geschichtsbewußtseins denen recht zu geben, die dem Fortschritt nicht abschwören mochten: den Kapitalisten ebenso wie den Sozialisten, den Positivisten ebenso wie den Materialisten. 

Prompt puzzelten sie ihr Weltbild aus den Scherben des Alten unter Zuhilfenahme intellektueller Rabulistik erneut zusammen und richteten es auf den Trümmern der eigenen Vergangenheit erneut als Wahrzeichen der Zukunft auf. Dieses Wahrzeichen, das seine Legitimation einzig und allein aus der zweiten welt­geschicht­lichen Katastrophe des 20. Jahrhunderts bezieht, ist im Grunde ein reaktionäres Menetekel par excellence. Ihm die Reverenz zu verweigern, ist daher das eigentliche Gebot dieser Weltstunde am Ende des Jahrhunderts.

Diese Verweigerung, bei der es heiße zeitgeistige Eisen anzufassen und heilige Kühe zu schlachten sowie Tabus zu brechen gilt, hat allerdings Mühe, sich als solche überhaupt bemerkbar zu machen, weil geistige Zerfallsprozesse nämlich nur langsam voranschreiten und deshalb von den meisten Mitlebenden entweder gar nicht wahrgenommen oder aber in ihren jeweiligen Phasen aktuell nicht ernst genommen werden. Wie Häuser, in die sich der Schwamm einfrißt, äußerlich noch völlig intakt erscheinen, bis sie eine vergleichsweise bescheidene Erschütterung zum Einsturz bringt, so erwecken auch geistige Krisen lange Zeit hindurch den Eindruck, sie seien gar keine.

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Ja: sie werden zuweilen sogar als Zeichen besonderer geistiger Regsamkeit empfunden, weil sie die mephistophelischen Reize kritischen Verneinens auszulösen vermögen, für die sich von jeher die Intellektuellen besonders empfänglich zeigen. Dementsprechend anregend läßt es sich zweifellos mit der Krise, auch mit der geistig-kulturellen, leben.

Des weiteren stemmt sich der Verweigerung zeitgeistiger Gefolgschaft die Denkträgheit der Massen entgegen — und die daraus entspringende Entschluß­losigkeit, gegen den Strom zu schwimmen (oder, um mit heutigen Begriffen zu argumentieren: sich antizyklisch zu verhalten). Nur zu gern beruhigen sich die Zeitgenossen bei dem Gedanken, es werde sich irgendwie schon alles wieder einrenken.

 

Natürlich renkt sich hier nichts ein, schon gar nicht von selbst. Gerade der schöpferische kulturelle Akt bedarf der Herausforderung durch die Gesellschaft; bleibt sie aus, so erstirbt jede Initiative, und der große Ausverkauf beginnt. Aber auch dieser Ausverkauf bereitet vielen Mitlebenden mehr Vergnügen als Beklemmung. Die »Lust am Untergang« (Sieburg) scheint ihnen eine besondere Art von Reizbefriedigung zu verschaffen, weil sie glauben, diesen Untergang gleichsam in Pantoffeln genießen zu können wie jene Widrigkeiten in entfernten Ecken der Welt, die allabendlich per Mattscheibe ins Haus geliefert werden. Wie schrieb doch Karl Kraus bereits vor mehr als fünf Jahrzehnten? »Eine Welt, die ihren Untergang ertrüge, wenn ihr nur seine kinematographische Vorführung nicht versagt bleibt ...«

Nicht zu vergessen sind in diesem Zusammenhang auch die hypertrophen Ansprüche der zur Selbstverwirklichung aufgerufenen Neuzeit-Bürger auf Befriedigung individueller Freiheits- und Lust-Bedürfnisse sowie deren hemmungsloser gesellschaftlicher Egoismus nach dem Motto: Sozial ist alles, was mir nützt! Und: Jeder raffe für sich allein, koste es den anderen, was es wolle.

Man nennt dieses Verhalten zwar freien Wettbewerb, aber dieser Wettbewerb ist weder frei noch ein Wettbewerb, sondern vielmehr der barbarische Abbau jeglichen sozialen Gemeinschaftsgefühls zugunsten einer mehr und mehr unmenschlichen wirtschaftlichen Erfolgsgesinnung. Es hat nie zuvor, schreibt Hendrik de Man in dem Buch <Vermassung und Kulturzerfall>, »eine Gesellschaftsordnung gegeben, worin die wirtschaftliche Tätigkeit auf freiem Wettbewerb und dem uneingeschränkten Spiel des Gewinn-Motivs beruhte«.

Und es hat, dies wäre diesem Satz hinzuzufügen, auch nie eine Gesellschaftsordnung gegeben, die so wenig eine Ordnung war wie diese.

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Dies ist letztlich der Grund dafür, warum hierzulande und anderswo die Demokratie einerseits als Interessengemeinschaft zur Verwaltung des Sozialprodukts mißverstanden und zum anderen als Garant für den sogenannten freien Wettbewerb mißbraucht wird. Sie gibt sich dadurch im Ernstfall ihrer eigenen Hilflosigkeit preis, allen lautstarken Demokratie-Bekenntnissen zum Hohn. Das Demokratie-Mißverständnis und der Demokratie-Mißbrauch sind daher die schlimmsten, weil die Anarchie beschleunigenden und damit die letzten Stützen gesellschaftlicher Ordnung untergrabenden Faktoren des totalen Verfalls menschlicher Erneuerungs- und Widerstandskraft.

Denn die Demokratie ist diejenige Staatsform, die sich vor der Hybris der Geschichte noch am ehesten behaupten und Abwehrkräfte gegen den hemmungslos sich zum täterischen Wort meldenden Willen zur absoluten Macht und damit auch zum absoluten Verhängnis zu mobilisieren vermag. Demokratie kann das Leben in der Geschichte erträglicher machen, indem sie jedem einzelnen Bürger Mitverantwortung zuspricht und ihn dadurch aus einem Objekt der Geschichte in deren Subjekt verwandelt. Freilich: Kriege verhindern kann auch die Demokratie nicht; insofern sind Schwäche und Laisser-faire-Verhaltens­weisen, die sie sich am allerwenigsten leisten darf. Wenn sie nicht bereit ist, ihre Grundsätze auch vor der Geschichte und in der Geschichte zu verteidigen, ist sie bereits verloren.

Demokratie ist, gerade weil sie Freiheit garantiert, die Staatsform, die ihren Bürgern die entscheidendste Selbstdisziplin und Selbstverantwortung abverlangen muß, und zwar nicht als Lippenbekenntnis, sondern als politische Tat. Und keine Lebensform bedarf entschiedener der Erziehung als die der Freiheit; Mündigkeit sowie kritisches Bewußtsein, diese vielberufenen Grundtugenden des freien Bürgers, bedürfen ihrer nicht minder. Man kann nicht erwarten, daß sich Ethos sozusagen im Nachvollzug gesellschaftlicher Praxis herstelle; es muß am Anfang dieser Praxis stehen und jenen Grundkonsensus schaffen, dem sich die Glieder der Gesellschaft unterwerfen, weil er ihnen selbst-verständlich erscheint. 

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Freilich: wenn unter dem Vorzeichen einer tabuisierten Pressefreiheit Selbst-Verständlichkeiten intellektuell-rabulistisch immer und immer wieder in Frage gestellt und zerredet werden, bis nur noch schiere Relativität übrigbleibt — wenn freilich solches geschieht und das Hirn der Zivilisation (nach Karl Kraus) nur noch als »camera obscura« erscheint, »die mit Druckerschwärze ausgepicht ist«, dann nimmt es kaum mehr wunder, daß der Ruf nach kultureller Erneuerung der Humanitas von den Verwesern des Zeitgeistes als eklatante Schädigung ihrer geschäftlichen und intellektuellen Interessen (die sich ohnehin immer mehr decken) aufgefaßt wird.

Darum muß, wer die Verweigerung zu begründen versucht, anthropologisch fast wieder bei Adam und Eva anfangen, um die Augen für simple Grund­wahrheiten zu öffnen, die einer sich mehr und mehr selbst befriedigenden intellektuellen Denkwelt weitgehend schon abhanden gekommen sind.

Zu den folgenschwersten Illusionen, die sich im Zeichen postneuzeitlicher Scheinwert-Hörigkeit Menschen über Menschen machen, gehören die Utopie von der Gleichheit der menschlichen Individuen und die aus dieser Utopie aufsprießenden sozialen Ideologien. 

Selbstverständlich bezweifelt heute niemand mehr, daß der Mensch seiner Natur, aber auch seiner Selbstbestimmung nach, ein soziales Wesen sei. Bereits die Erstklässler werden mit diesem Faktum behelligt. Auch gilt längst als Binsenwahrheit, daß soziale Wesen in sozialen Gemeinschaften leben. 

Eine Binsenwahrheit ist zwar auch, daß die sozialen Wesen innerhalb ihrer sozialen Gemeinschaft individuell verschieden sind, sowohl nach Charakter als auch nach Intelligenz, aber dies wird bereits ungern und nur mit dem Einwand »ja, aber« hingenommen.

Vollends jedoch erhebt sich Widerspruch angesichts der nicht minder realistischen Feststellung, daß die soziale Gemeinschaft einer Rangordnung bedarf, um, sinnvoll strukturiert, gegen Gefahren von außen und innen gewappnet zu sein.

Gerade weil die sozial zusammenlebenden Individuen auf Gedeih und Verderb aufeinander angewiesen sind, müssen sie die Stärksten und Intelligentesten zur Führung der Sozietät verpflichten.

Kein Staat, insbesondere nicht der demokratische, kann auf diese Grundregel verzichten. Sie gehört sozusagen zum Überlebensprogramm der Spezies. 

Allerdings hat hier das geschichtliche Verhängnis der faschistischen Zwischenspiele dafür gesorgt, daß massive Zweifel an diesem Überlebens­programm vorgebracht werden, unter dem klassenkämpferischen Vorwand, dieses Programm sei von den Herrschenden zum Zweck gemeiner Ausbeutung der Unterdrückten erstellt worden.

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Als Alternative offerieren die Sozialtheoretiker eben jenes Gleichheitsprinzip, das jedem Glied der Gemeinschaft über die inzwischen selbst­verständliche Chancen­gleichheit hinaus, unbeschadet seiner Eignungen und Neigungen, auch Führungsfähigkeit zuspricht.

Auf diese Weise wird die Frustration und damit das soziale Unbehagen weiter Kreise der Gesellschaft ideologisch durch den Entwurf von Rollenbildern vorprogrammiert, denen die meisten Individuen nun einmal nicht entsprechen können. 

Anstatt die Möglichkeiten zu erfüllen, die ihnen das genetische Schicksal zusprach, streben nun schlechthin alle nach materiell definierten höheren Rängen, denen sie entweder nicht gewachsen sind oder für die eine Gesellschaft in diesem Umfang selbst im Massenzeitalter gar keine Verwendung hat.

Das sich derzeit ansammelnde akademische Proletariat ist nur ein Beispiel für derartige Fehlentwicklungen aus sozial-ideologischem Eifer — für Fehl­entwicklungen, die weitaus grausamer und inhumaner sich sowohl für die Betroffenen als auch für die Gesellschaft auswirken als manche Willkür hierarchischer Gesellschafts­formen.

Daß Herrschaft, die bekanntlich ohne Macht und Rangordnung nicht ausübbar ist, den Mißbrauch von vornherein niemals ausschließen kann, liegt auf der Hand. Aber ebenso liegt auf der Hand, daß ein Staat nicht regierbar ist, wenn ihm die Sozietät Herrschaft nicht zutrauen mag. 

Selbst dort, wo sich sozialistische Staaten etablieren, verwirklichen sie, kaum an die Macht gekommen, sofort und rückhaltlos diese gesellschaftliche Einsicht. Da diese Verhaltens­weise allerdings ihrer ideologischen Theorie diametral widerspricht, müssen sie Zuflucht zu dialektischen Tricks nehmen, um die sozialen Notwendigkeiten mit der sozialistischen Ideologie zu synchronisieren. Den mangelnden Wirklichkeitsbezug dieser Synchronisation überbrücken sie durch Diktatur.

Mit anderen Worten: 

Das vom menschlichen Ursprung her vorbestimmte soziale Rangsystem bleibt in allen Machtstrukturen das gleiche. Wo Lebewesen sozial beisammen leben, muß Macht ausgeübt und als sinnvoll anerkannt werden. Funktioniert dieses System nicht, so funktioniert auch die Sozietät nicht; sie kann gar nicht funktionieren, weil in der Gemeinschaft jeder nur so frei sein kann wie die Gemeinschaft selbst. Wollen die Individuen freier sich gebärden, als ihr Zusammenleben und Zusammenwirken in der Gemeinschaft dies zuläßt, dann sprengen sie das Gefüge der Sozietät und machen sie zum Gespött ihrer selbst. 

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Genau dies, so scheint es, erleben wir derzeit. Daß wir es erleben, hängt zweifellos mit dem materiellen Wohlstand der zurückliegenden zweieinhalb Jahrzehnte zusammen, durch den der Eindruck erweckt wurde, daß selbst sozialer Unsinn sich dadurch als sinnvoll erweise, daß er finanzierbar und somit realisierbar sei.

Auf diese Weise geriet jeder Konsensus über sozial unabdingbare Macht- und Rangordnungen ins Wanken, und die Vorstellung konnte sich befestigen, nicht jeder einzelne sei so frei wie die Gesellschaft, in der er lebe, vielmehr bedinge die Freiheit, die der einzelne für sich beanspruche, den Freiheits-Pegel der Gesellschaft. 

Diese Umkehr der sozialen Perspektive läßt sich durch die einfache Formel verdeutlichen: Das Mündel will Vormund sein. Dementsprechend schwierig ist es geworden, einen Staat zu regieren, dessen Individuen vornehmlich nur noch an ihren Egoismus glauben und die Grundpfeiler menschlichen Zusammenlebens, nämlich Recht und Ordnung, für eine lächerliche Ausgeburt repressiver Hirne halten.

 

»Es ist keineswegs der Gebrauch der Macht oder die Gewohnheit des Gehorsams, die den Menschen entwürdigen, sondern nur der Gebrauch einer Macht, die als unrechtmäßig angesehen wird«, schreibt Alexis de Tocqueville, einer der hellsichtigsten Interpreten demokratischen Selbst­verständnisses. Der Satz steht in seinem bis auf den heutigen Tag grundlegenden Werk <Die Demokratie in Amerika>.

 

Daß, ausgerechnet in der geschichtlichen Weltstunde unaufhaltsamer Fortschritts-Dämmerung, die an den Fortschritt verhängnisvoll geketteten Massen die einzige Macht, die politisch und damit geschichtlich zu einem gesellschaftlichen Rettungsakt aufgerufen wäre, nämlich den Staat (und zwar den freiheitlich verfaßten sogar im besonderen), wenn nicht als unrechtmäßig, so doch als lästig empfinden, ist mehr als makaber. 

Die Art und Weise, in der sich alle Interessenverbände, von den Gewerkschaften angefangen bis zu den Lobbies der Wirtschaft, staatliche Ermahnungen strikt verbitten und diese Renitenz sogar als demokratisches Freiheitsprinzip deklarieren, spricht in diesem Zusammenhang eine beredte Sprache. 

Von der Presse erst gar nicht zu reden, die ihr kritisches Mandat zwecks Herstellung von Öffentlichkeit nur allzuoft und allzu leichtfertig zu auflagenstärkender Interessant­macherei mißbraucht. 

Jeder vertritt seine Interessen, anstatt daß alle gemeinsam die Interessen der Gesellschaft als Gesamtorganismus ins Auge fassen ...

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Natürlich wäre staatlicher Dirigismus um den Preis demokratischer Selbstaufgabe von gleichem Übel wie staatliches Laisser-faire als Zeichen demokratischer Bequemlichkeit. Aber man darf auch nicht vor lauter Zeitgeist-Angst, es könne irgendwo nach Dirigismus riechen, das unterlassen, was zum tatsächlichen Sozial-Wohl aller dringend notwendig ist, nämlich dem Volk die Wahrheit zu sagen und aus dieser Wahrheit die politischen Konsequenzen zu ziehen, anstatt lediglich im Interessen-Ausgleich mit Wohlfahrtsversprechungen das Maß aller demokratischen Weisheit zu erblicken.

 

Tatsächlich sind die Politiker (und das wissen sie auch oder ahnen es jedenfalls) längst am Ende mit ihrem gleichmacherischen, wohlstands­versprechenden und pseudofreiheitlichen Neuzeit-Latein. Sie scheuen sich jedoch, das Volk über die tatsächliche Lage aufzuklären; stattdessen nähren sie durch ihre Hilflosigkeit jenes bedrohlich anwachsende Unbehagen unter den Menschen, das schließlich, nach einem wahrscheinlichen Zwischenspiel der Anarchie, den Boden bereitet für die Errichtung von Diktaturen.

Schließlich setzt Demokratie, wenn sie funktionieren soll, nicht nur Mut zur Öffentlichkeit, sondern mehr noch Mut zur Offenheit voraus.

Wo freilich soll eine demokratische Regierung diesen Mut hernehmen, wenn die geistige Führungsschicht der Gesellschaft ihr diesen Mut nicht nur nicht abverlangt, sondern ihn sogar als Zeichen unfreiheitlicher Gesinnung verketzert? Wäre diese Führungsschicht als Seismograph gesellschaftlicher Beben doch eigentlich eher berufen und aufgerufen, jenes schreckliche Wort Nietzsches zu widerlegen, wonach »das demokratische Europa auf eine sublime Züchtung der Sklaverei« hinauslaufe. 

Stattdessen versuchen die Wissenschaftler ebenso wie die Priester, die Künstler ebenso wie die Philosophen, die Soziologen ebenso wie die Futurologen sowie die Strategen der Wirtschaft ihr schlechtes Sozialgewissen durch moralisierende Lippenbekenntnisse zu beschwichtigen, indes sie, und sei es da und dort auch nur passiv, mitweben an jenem Netz der Unfreiheit, das unser 20. Jahrhundert im Zeichen der Zivilisation enger und enger einschnürt.

Enthüllen Begriffe wie »Selbstbestimmung«, »Menschenwürde« oder »Freiheit der Persönlichkeit« doch angesichts der technischen Wirklichkeit erschreckend ihren phraseologischen Widersinn — einen Widersinn, der weder durch Ferienreisen in die Karibik oder Schrebergarten-Idylle noch durch totale Sozialversorgung aufhebbar ist. Das »Modell Schweden« erteilt hier einen Anschauungsunterricht, der auch dem letzten Zweifler zu denken geben sollte.

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Ob der menschheitliche Bankrott des 20. Jahrhunderts noch abgewendet werden kann, ist angesichts der geschilderten Sachverhalte fraglich.

Die geistige Korruption durch das Fortschrittsdenken scheint jede Denkwende auszuschließen. Eine Denkwende aber wäre angesichts dieser Lage allein imstande, den drohenden Bankrott der Menschheit gerade noch in einen einigermaßen annehmbaren, allerdings unbequemen, dafür aber befreienden Vergleich umzuwandeln. Auf diese Denkwende als therapeutische Konsequenz aus der gestellten Diagnose zu verweisen, ist auch dann human-hippokratische Pflicht, wenn der Patient sich wenig gewillt zeigt, sie anzunehmen.

 

Das heißt: ohne die geistige Einsicht, daß der homo sapiens sich durch seine eigene Entwicklung hat korrumpieren und von dem hat wegführen lassen, woran ihm seit jeher am meisten liegt, nämlich an der Ausbildung der Humanitas — ohne diese Einsicht ist jeder Versuch, der gegenwärtigen Misere beizukommen, zwecklos.

Herstellbar wäre sie; immerhin gibt es Männer wie zum Beispiel Papst Johannes Paul II., die das Charisma besitzen, die Zeitgenossen aufzurütteln und sie, auch unabhängig von ihrer Konfession, mit den Grundfragen ihrer Existenz zu konfrontieren.

Gestützt auf die Einsicht, daß die Menschheit derzeit von den seelischen Zerfallserscheinungen der Spezies entschiedener bedroht ist als von den weltpolitischen Spannungen und wirtschaftlichen Verklemmungen, müßten die Regierungen der Welt durch Männer mit Gewissen, Entschlußkraft und Blick für zukünftige Entwicklungen mit entschiedenem demokratischem Nachdruck an den Eid erinnert werden, den sie auf die Verfassungen ihrer Länder ablegten und der sie verpflichtet, einzig und allein zum Wohl ihrer Völker tätig zu werden. Dieses Wohl kann nur in der Wiederherstellung der Humanitas und deren kulturell-ethischer Sinngebung auf der Grundlage realistischer Einschätzung von menschlicher Wirklichkeit bestehen.

Insofern müßte sich auch eine Institution wie die UNO zuvorderst herausgefordert und aufgerufen fühlen, weltpolitische Zeichen für ein radikales Umdenken in Sachen Fortschritt zu setzen. Denn nur die globalpolitische Initiative vermag angesichts der fortgeschrittenen Menschheitszeit hier noch etwas auszurichten. 

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Diese Initiative müßte ihre gesammelte Energie auf den einen anthropologischen Grundgedanken konzentrieren, die lebensbedrohenden Auswüchse des Fortschritts unter Kontrolle zu bringen und Schritt für Schritt zu liquidieren, unter der Devise, daß dieser Abbau der wahre Fortschritt zur Humanität hin sei. 

Auf diese Weise fänden auch die jungen Generationen wieder einen Sinn in ihrer Zukunft. Indem sie aufgerufen wären, die Welt wieder in menschen­würdige, das heißt: menschengemäße Ordnung zu bringen, böte sich ihrem energiegeladenen Tatendrang eine gewaltige Aufgabe. Hier wäre ein Kampf für die Humanität und gegen die Sklaverei zu führen, wie ihn noch keine Generation zuvor ausgefochten hat.

Freilich:  

Diese Idee der Humanität bedarf der Proklamation fern ideologischer Verblendungen und auch fern eines maschinenstürmenden Irrationalismus, der mehr Unheil anrichten würde als Heil. Sie muß ausgehen von der nüchternen Erwägung dessen, was der Mensch seiner biologischen und geschichtlichen Herkunft, aber auch seiner seelischen und geistigen Fähigkeiten nach leisten kann und was nicht. 

Dementsprechend wäre eine Bildungsreform zu fordern, die das Wissen um den Menschen und dessen Stellung im Gefüge des organischen Lebens auf dieser Erde zum Mittelpunkt der Erziehung erklärt — zu dem einen Mittelpunkt, dem sich alle anderen pädagogischen Notwendigkeiten zuordnen. Nur auf diesem Weg nämlich kann der zivilisierte Nachkomme der Neuzeit wieder auf den Weg zurückfinden, der vom Konsum der Wirklichkeit zu deren kultureller Gestaltung führt — das Adjektiv »kulturell« hier in seiner ursprünglichsten anthropologischen Bedeutung verstanden.

Die kulturelle Gestaltung der Welt bestimmt, wie wir sahen, den geistigen und seelischen Widerstandsrang einer Gesellschaft gegen deren selbst­zerstörerische geschichtliche Energie. 

Darum ist die Unabhängigkeitserklärung der Kultur vom Primat technisch-wirtschaftlicher Daseins-Diktatur auch die primäre Forderung zur Auslösung einer abendländischen Denkwende. Denn nur diese Unabhängigkeitserklärung vermag die Erlösung vom Materialismus einzuleiten, deren die Menschheit gegenwärtig so dringend zum Überleben bedarf. Sie garantiert auch jenen menschlichen Erlebnisraum, in dem sich wieder Religiosität als Zeichen gefestigten Welt- und Daseins-Vertrauens entwickeln kann. Ohne diesen metaphysischen Bezug wird der Mensch auf die Dauer nicht leben, vor allem aber nicht sterben können, es sei denn in Verzweiflung.

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Wir nähern uns dem Schluß unserer Bemerkungen, die so etwas wie eine Psychopathologie des Fortschritts und der Neuzeit zu skizzieren versuchten. Denn daß hier psycho-pathologische, aber auch physio-pathologische Sachverhalte, die gegenwärtige Gesellschaft betreffend, vorliegen — dieser Einsicht können wir uns wohl kaum verschließen. 

Unsere Gesellschaft ist krank, und sie wird jeden Tag kränker. Allerdings bedarf diese Feststellung einer Korrektur: Was krank und kränker wird gegen Ende dieses 20. Jahrhunderts, ist weniger die Menschheit selbst, sondern deren intellektuelle Führungsschicht; es sind diejenigen, die sie politisch und geistig repräsentieren. Deren Unterwerfung unter das Primat der Technokratie und Ökonomokratie hat jenen Prozeß der totalen Auflösung in Gang gesetzt, mit dessen Verwaltung und Moderation sich die Mächtigen dieser Erde jetzt mehr oder weniger begnügen anstatt sich gegen ihn aufzulehnen. 

Die Völker selbst spüren schon längst die Unsicherheit und Hilflosigkeit derer, die sie regieren. Sie hätten trotz Vermassung und zivilisatorischer Denaturierung noch Kraftreserven genug, den Regenerationsprozeß einer Emanzipation von der Technik durchzustehen. 

Die Spezies ist zäh. Sie hält viel aus. Um so fassungsloser starren die Zeitgenossen dem Debakel entgegen, vor dem sie nicht nur niemand bewahrt, sondern noch nicht einmal warnt.

In den nächsten Jahrzehnten wird dieses Unbehagen immer heftiger in Protest umschlagen und schließlich zur globalen Entladung drängen. Die Regierungen in Ost wie in West sollten vor dieser heraufdämmernden Weltrevolution mit anschließender Weltanarchie die Augen nicht kurzsichtig verschließen, sondern die Zeichen der Zeit so deuten, wie sie stehen: auf Orkan.

Diese Zeichen lassen sich, analog zu, aber nicht synchron mit den Thesen von Konrad Lorenz, in acht Grundforderungen zusammenfassen — in Grund­forderungen, von deren Beachtung sehr wahrscheinlich abhängt, ob eine menschheitliche Katastrophe vermeidbar sein wird oder nicht.

 

Forderung eins: 

Erkenntnis, daß Kultur, anthropologisch gesehen, einen unabdingbaren Regulator und Moderator menschlichen Verhaltens darstellt. Kultur ist der Hauptfaktor der Humanität. Die Konsequenz aus dieser Erkenntnis liegt in der Unabhängigkeitserklärung der Kultur vom Primat der Technik und der Wirtschaft — und auch von der Verabsolutierung des homo politicus zur anthropologischen Leitfigur. Damit Abkehr vom materialistischen Diesseitsdenken, das den Moloch Fortschritt nährt durch Machtgier, Besitzgier und Konsumgier.

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Forderung zwei:

Anthropologische Aufklärung als Erziehung zu menschengemäßem Verhalten anstelle pseudohumaner Phraseologie, die den homo sapiens dazu verführt, sich der Wirklichkeit seines Daseins illusionistisch zu entziehen und in sinnloses Tun auszuweichen.

Forderung drei:

Abbau individueller Egoismen zugunsten einer sozialen Wirklichkeit, die sich auf anthropologische Tatsachen wie Rangordnung, Leistung, Verantwortung und Fürsorge stützt, und zwar ohne Rücksicht auf ererbte oder bürokratisch erstarrte Privilegien.

Forderung vier:

Entthronung der sogenannten »Öffentlichen Meinung« als herausragendem und weitgehend mitbestimmendem Regulator demokratischer Gesellschafts­ordnung. Eine »Meinung« stellt keinen Wert an sich dar. Wer sich vornehmlich von Meinungen abhängig macht, kommt in ihnen um. Die uns gegenwärtig überschwemmende Gesetzesflut ist eine Folge dieser Meinungsabhängigkeit. Indem es der Staat jedem recht zu machen versucht, setzt er sich selbst immer mehr ins Un-Recht. Er wird rechts-unfähig. — Schwört die Gesellschaft auf ethische Grundwerte, braucht sie keine Gesetzesfluten. Sie unterwirft sich der Verbindlichkeit dessen, woran sich die Mehrheit der Sozietät als »selbst-verständlich«, weil durch sich selbst gerechtfertigt, hält. Als Moses seinem Volk die zehn Gebote stiftete, brachte er diese Grundregeln auf den einfachsten Nenner. Sie stimmen deshalb auch noch heute, weil in ihnen anthropologisch nicht geflunkert, sondern hart und wesentlich zur Sache geredet wird. »Es gibt Zeiten«, sagt Chamfort, »wo die öffentliche Meinung die schlechteste aller Meinungen ist.« 
Wir leben in einer solchen Zeit.

Forderung fünf: 

Eindämmung massenmedialer Reizüberflutung und Ächtung der Sensations- und Bordellpublizistik; diese Reizüberflutung muß nicht der pluralistische Preis sein, den wir angeblich für die Meinungsfreiheit zahlen müssen. Widerstand gegen die Macht der Werbung, die mit allen psychologischen Raffinessen in das Vakuum an sinnlicher Welterfahrung, das die hochtechnisierte Zivilisationsgesellschaft aufklaffen läßt, vorstößt, mit dem erklärten Zweck, Menschen sinnlich zu überreden und damit zu manipulieren. Das heißt: sie versucht genau das zu verhindern, was als Ziel menschenwürdigen Daseins erachtet wird, nämlich: mündiges Urteilen und Entscheiden.

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Forderung sechs:   

Wiederherstellung demokratischen Selbstverständnisses. Die demokratisch gewählte und eingesetzte Regierung muß in die Lage versetzt werden, auch tatsächlich zu regieren, und sie muß auch den Mut aufbringen, dies zu tun. Das heißt: die Gesellschaft soll einerseits wissen, daß sie die Macht besitzt, Macht zu delegieren; aber andererseits muß sie auch wieder lernen, daß Macht nur so viel wert ist wie die Bereitschaft, sie zu tragen und zu ertragen. Dies mit Faschismus zu verwechseln, wäre ein irrwitziger Kurzschluß. — Vielmehr wird diese Lehre unabhängig von allen Ideologien, die sie zu beeinflussen versuchten, von der Geschichte selbst erteilt. Darüber hinaus müssen die Regierungen erkennen, daß nicht Wohlstandsverwaltung ihrer Völker alleiniger Inhalt ihrer sozialen Fürsorge sein kann, sondern die Sinngebung der Sozietät ihr höchstes Ziel sein muß. Eine Regierung, die diese Sinngebung versäumt oder zu ihr nicht fähig ist, erweist sich als schwach und gereicht einem Volk, weil es dieses nicht schöpferisch herausfordert, zum Unheil.

Forderung sieben: 

Eine Gesellschaft ohne Konflikte ist eine leblose Gesellschaft. Leben ist Konflikt. Den Konflikt beseitigen wollen, heißt: neue Konflikte schaffen. Der Konflikt, den unsere Generationen und die kommenden auskämpfen müssen, ist der Konflikt zwischen Kultur und Technik, zwischen Metaphysik und Physik, zwischen Seele und Materialismus. Er ist bedrohlicher als der zwischen Ost und West oder zwischen Schwarz und Weiß. Er ist der Konflikt der Menschheit mit sich selbst. Er muß ausgetragen werden — und zwar mit den Mitteln der Vernunft.

Und Forderung acht:  

Die Konflikte werden um so größer und tödlicher, die Sehnsucht nach Erlösung wächst um so heftiger und die Chancen »vernünftiger« Konflikt­lösungen werden um so geringer, je entschiedener der Druck menschlicher Massenvermehrung auf diesem Planeten lastet und jede humane Sublimierung erstickt in einer zivilisatorischen Gigantomachie, die der Inbegriff der Inhumanität ist. — Wird die Aufgabe einer drastischen Einschränkung der Bevölkerungs­explosion nicht bald und global erkannt und bewältigt, bleibt den anderen Forderungen keine Chance, weil die Menschheit an sich selbst ersticken wird, bevor die hier angesprochene anthropologische Denkwende den Stein des menschlichen Anstoßes, den uns die Neuzeit als hartes Erbe hinterließ, überhaupt ins Rollen bringen konnte.

 

Die Zukunft kann gar nicht anders sich formieren als unter den hier aufgezeigten Vorzeichen und Spannungen, sofern Menschen noch in der Lage sein sollten, sie zu moderieren und zu verantworten. Das heißt: eine Zukunft keineswegs ohne Technik, aber nur mit einer Technik, die auf zivilisatorischen Führungs­anspruch ebenso verzichtet wie die sogenannte freie Marktwirtschaft auf diesen verzichten muß, um den Zivilisations­bürger aus seiner selbst­verschuldeten Unmündigkeit zu befreien.  

Diese Befreiung hat ihren Preis. Er heißt: Konsumverzicht und Einschränkung des materiellen Lebensstandards zugunsten des kulturellen. Aber wäre die Errettung aus Nihilismus und Todesangst diesen vergleichsweise honorigen Preis nicht wert?

Gewiß: das alles ist leichter gesagt als getan. Trotzdem gibt es nur diesen Weg.
Vorbereiten und geistig ebnen kann und muß ihn menschliche Intelligenz, und zwar unter entschiedenem Verzicht auf intellektuelle Selbstbefriedigung.

Gehen müssen ihn dann allerdings die Politiker, weil nur sie die Machtmittel besitzen, um Notwendiges und Unbequemes durch Zusammenfassen aller Kräfte durchzusetzen. Ihnen fiele die Aufgabe zu, den menschheitlichen Notstand auszurufen und damit das Signal zu geben für den Aufbruch in ein neues Jahrtausend.

Ansonsten würde Karl Kraus wohl recht behalten mit dem, was er 1908 unter der Überschrift <Apokalypse> notierte: 

»An allen Enden drängen die Gase aus der Welthirnjauche, kein Atemholen bleibt der Kultur, und am Ende liegt eine tote Menschheit neben ihren Werken, die zu erfinden ihr soviel Geist gekostet hat, daß ihr keiner mehr übrig blieb, sie zu nützen.«

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Ende

 

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