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1. Adam malte abstrakt

Vermutungen über die Stammesgeschichte menschlichen Gestaltens 

  1979:  Adam 

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An den Tatsachen der Evolution zweifeln heute nur noch unverbesserliche Ignoranten. Selbst die katholische Kirche, einst erbitterte Gegnerin der Evolutions­theorie, beugte sich den schlüssigen Beweisen der Biologen und ließ zu, daß ein Mann aus ihren Reihen, nämlich Teilhard de Chardin, Darwins Thesen mit dem christlichen Glaubensbekenntnis zu versöhnen trachtete. 

Allerdings war Gegenstand dieser Versöhnung nicht der »hochgekämpfte Affe« eines mißverstandenen Darwinismus, sondern die Tatsache, daß die heutigen Menschenaffen und der homo sapiens im Laufe der Evolution gemeinsame Vorfahren hatten. 

Die landläufige Bemerkung, der Mensch stamme vom Affen ab, ist nämlich zumindest unkorrekt. Mit gleichem ironischen Schauder könnten wir auf unsere Verwandten unter den Fischen hinweisen, da bekanntlich der menschliche Embryo im Laufe seiner neunmonatigen Entwicklung ein Kiemenstadium passiert, das an unsere stammesgeschichtliche Fischexistenz erinnert.

Der gemeinsame Stammbaum, der die Hominiden vor Millionen Jahren miteinander verband und der oft als ehrenrühriger Fleck im Adelskalender der Menschheit empfunden wird, läßt den Rückschluß zu, daß dieser Spezies bis zur Abspaltung des Menschen auch eine gemeinsame Erlebenswelt zugeordnet war, in der sich ihr Dasein vollzog. 

Denn jedes Lebewesen ist, wie die Verhaltensforschung herausgefunden hat, auf bestimmte Faktoren seiner Umwelt spezialisiert: Für den Regenwurm ist die Existenz eines Apfelbaums uninteressant, und eine Fliege bleibt gleichgültig, wenn ein Hund bellt. Wirklichkeit gewinnen für Regenwurm und Fliege nur Wahrnehmungen, die unmittelbar auf ihr Dasein Bezug nehmen und geeignet sind, der Erhaltung der Art zu dienen. So rationalisiert die Natur ihren Lebenshaushalt, indem sie den Geschöpfen die Auseinandersetzung mit der verwirrenden Vielfalt der Erscheinungen erspart und sie nur auf das aufmerksam macht, was ihnen nützt oder schadet.


Ihre Umwelt — oder genauer ausgedrückt: die ihnen zugeordnete Wirklichkeit — erfassen die Lebewesen durch die Sinne. Mit deren Hilfe empfangen sie die Informationen der Außenwelt und leiten sie an das Zentralnervensystem weiter, das sie verarbeitet und sie, um nur ein Beispiel zu nennen, auf dem Wege über chemische Veränderungen in den Muskelzellen in Bewegungsenergie umsetzt. Das heißt: Die wahrgenommenen und vom Zentral­nervensystem akzeptierten Informationen lösen eine körperliche Reaktion aus, die sinnvoll auf die Reize der Außenwelt antwortet, für die das Lebewesen, jeweils entsprechend seiner besonderen Organisation, eine »Antenne« besitzt.

Die Antennen des Regenwurms sind weniger kompliziert als die einer Fledermaus oder gar eines Hundes. Denn der Regenwurm bedarf nur relativ weniger Informationen, um sich in der Wirklichkeit seiner bescheidenen Existenz zurechtzufinden und zu behaupten. Die Fledermaus, auf nächtliche Beutejagd in der Luft angewiesen, wäre, mit den Sinnesapparaten des Regenwurms ausgestattet, a priori zum Tode verurteilt. Ihr verhelfen der mit Ultraschall ausgestoßene Schrei sowie ein phänomenales Raumgefühl und Raumgedächtnis zum blitzschnellen Orten der fliegenden Beute und zu einer sicheren Orientierung beim nächtlichen Flug.

Die Reaktionen, die sich aus der verschiedenartigen Organisation der Lebewesen ergeben, nennt die Wissenschaft »artspezifisches Verhalten«. Und sie unterscheidet zwei verschiedene Erscheinungsformen dieses »artspezifischen Verhaltens«, nämlich die »angeborenen« und die »erworbenen« oder »erlernten« Verhaltensweisen. Die angeborenen Verhaltensweisen sind Teil des Erbgutes und treten mit der Geburt des Lebewesens oder im Verlauf seiner Entwicklung selbsttätig in Aktion. Dazu drei Beispiele: —

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Auch der Mensch besitzt angeborene und erlernte Verhaltensweisen, die, auf ihre Urform reduziert, die frühere Spezialisierung auf eine bestimmte Umwelt­wirklichkeit erkennen lassen — nämlich die Spezialisierung auf die Umweltwirklichkeit der Hominiden. 

 

Greifen und Begreifen

Wie sah diese Wirklichkeit aus?

Die Hominiden waren Baumbewohner. Sie lebten sozial, das heißt: in Gruppen. Aufeinander angewiesen, mußten sie bestimmte Formen der Kommunikation entwickeln. Lautäußerungen und Gebärden, als Vorformen der Sprache, dienten zur Verständigung; bestimmte Gesten drückten Sympathie oder Abwehr aus, auch Ausdrucksbewegungen für differenziertere Gefühle wie Zärtlichkeit oder Trauer, wie wir sie heute noch bei den Menschenaffen beobachten können, dürften bereits in der grauen Vorzeit der Menschwerdung vorhanden gewesen sein.

Aber diese Formen der Kommunikation sind bei allen sozial lebenden Tiergattungen höherer Ordnung ausgeprägt, ohne daß sie jenen Schritt in die Helle des Bewußtseins förderten, der den Menschen ermächtigte, die Fesseln tierischer Spezialisierung und Umweltbefangenheit abzustreifen.

Entscheidend für diesen Schritt erwies sich vielmehr, daß so hoch entwickelte Wesen wie die Hominiden über eine Fertigkeit verfügten, die sie von anderen Kreaturen höheren Ranges unterschied: Sie waren mit Greifhänden ausgestattet, mit denen sie sich nicht nur von Baumkrone zu Baumkrone, von Ast zu Ast fortbewegten, sondern mit denen sie auch ihre Nahrung ergriffen oder Gegner abwehrten. Gekoppelt mit dieser Greifhand war und ist die besondere Fähigkeit der (nach Konrad Lorenz) binokularen, das heißt: stereoskopischen Tiefenwahrnehmung; denn, so schreibt Lorenz wörtlich, »Baumtiere mit Greifhand müssen (mit Hilfe einsichtigen Abschätzens und Urteilens) die kompliziertesten räumlichen Strukturen meistern«.

Versuche des Zoologen Wolfgang Köhler mit Schimpansen zeigten, daß die Tiere, bevor sie mit Hilfe eines mehrteiligen Bambusstockes eine hochhängende Banane herunterangelten, zunächst einmal nachdachten. Sie entwarfen die Situation, der sie sich gegenüber sahen, sozusagen ins »Unreine«, bevor sie handelten; das heißt: sie paßten sie ihrem Vorstellungsraum an, sie »stellten« sich das Problem »vor«.

Dieses raumzeitliche Abschätzen einer Situation repräsentiert bereits eine niedrige Stufe denkerischer Umwelterfassung. Denn offensichtlich löst hier ein Reiz, nämlich die lockende Banane, keine Spontanreaktion in Form einer Handlung aus, sondern läßt vorher die gedankliche Reproduktion der gestellten Aufgabe zu.

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Derartige Denkleistungen können verhältnismäßig oft beobachtet werden bei höheren Tieren, die nicht eng spezialisiert sind; die Natur räumte ihrem Verhalten einen Spielraum ein — jene Toleranzspanne nämlich, die auch der menschlichen Intelligenz den Schritt in die Willensfreiheit erleichterte. Trotzdem wäre es falsch, dem raumzeitlichen Vorstellungsvermögen höherer Tiere, auch dem Menschenaffen, menschlichen Rang zuzusprechen; ihm mangelt ein wesentlicher Faktor menschlichen Verhaltens zur Umwelt, nämlich die »dialogische Auseinandersetzung« mit der wahrgenommenen oder, wie die Wissenschaft formuliert, mit der »außersubjektiven« Wirklichkeit.

Konrad Lorenz erläutert dieses Dialogverhalten in seinem schon erwähnten Aufsatz über <Psychologie und Stammesgeschichte> mit folgenden Sätzen:

»Wenn ein Mensch einen Gegenstand bearbeitet, beruht diese Leistung darin, daß er während seines Tuns dauernd die <Antwort> des Objekts registriert und seine weitere Tätigkeit danach steuert. Beim Einschlagen eines Nagels zum Beispiel muß jeder Hammerschlag die unmerkliche seitliche Abweichung kompensieren, die der vorhergehende dem Nagel erteilte. Der Nicht-Tierkenner, der sich erfahrungsgemäß, trotz übertriebener Vorstellungen von der Sondergesetzlichkeit des Menschen, die höheren Tiere viel zu menschenähnlich vorstellt, pflegt nicht zu wissen, daß die Fähigkeit zu derartigem, durch laufende Beobachtungen des Erfolges geregelten, Handeln selbst den Menschenaffen fast völlig fehlt.

Beim Kistenbau der Schimpansen fällt dies besonders auf. Die Tiere stellen eine Kiste auf die andere, rücken sie aber niemals zurecht; nur wenn die eine ganz weit nach einer Seite überhängt, stellen sie vielleicht die nächste kompensierend etwas weiter nach der anderen Seite, das ist alles. Die beste bisher bekannte Leistung dieser Art vollbrachte Köhlers Schimpanse Sultan, der eine losgebrochene Wandleiste so lange benagte, bis sie sich zur Verlängerung seiner zusammensteckbaren Angelrute in die Höhlung des Bambusrohres einschieben ließ. Er probierte wiederholt, ob sie schon dünn genug sei, und nagte weiter, solange dies noch nicht der Fall war. 

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Um aber ein wirkliches Werkzeug, etwa einen Faustkeil, herzustellen, ist eine unvergleichlich viel höhere Differenzierung des dauernd durch Kontrolle des Erfolges geregelten Handelns nötig, und es will scheinen, als ob diese engste Bindung zwischen Tun und Erkennen, zwischen Praxis und Gnosis ein besonderes Zentralorgan zur Voraussetzung hat, das nur der Mensch besitzt, und zwar im Gyrus supramarginalis der linken unteren Schläfenhirnwindung. Bei Verletzung dieser Hirnteile, in denen vielsagenderweise auch das <Sprachzentrum> liegt, treten beim Menschen neben Sprachstörungen bestimmte Ausfälle des Tuns wie des Erkennens, <Apraxien> und <Agnosien>, auf, und es ist bisher nicht gelungen, bei Affen ähnliche Zentren nachzuweisen oder ähnliche Ausfälle hervorzurufen.« 

Nach Lorenz wäre demnach jene Schläfenhirnwindung verantwortlich für die Entwicklung des hominiden Greifhänders zum homo sapiens; versetzte sie ihn doch erst in die Lage, Werkzeuge herzustellen und sich eigenschöpferisch von den engen Bindungen an seine Umwelt freizumachen. Ja: er konnte seine »haptischen« Fähigkeiten — die Fähigkeiten des Greifhänders — somit auch zur geistigen, also nicht täterisch-handelnden, sondern reflektierenden Bewältigung der Wirklichkeit einsetzen.

 

Die Sprache 

 

Eines der wichtigsten Werkzeuge, die sich der homo sapiens schuf, nachdem er gelernt hatte, Tun und Erkennen miteinander zu verknüpfen, war die Sprache. Mit ihrer Hilfe gelang es ihm nicht nur, Erkenntnisse präzis zu formulieren und sinngerecht mit anderen Erkenntnissen zu kombinieren, sondern sie auch an seine Artgenossen weiterzugeben und dadurch zu potenzieren. Daß dieses sprachliche Werkzeug genau dem haptischen Wahrnehmungsverhalten des Menschen entspricht, beweisen Verben wie »begreifen«, »erfassen«, »einteilen«, »abschätzen«, »umkreisen«, »festhalten« und viele andere. Über ihren praktischen Sinn hinaus gewannen sie Zuständigkeit auch für die denkerische Erfassung der Welt. Probleme zum Beispiel werden »eingekreist« oder »erfaßt« und Erkenntnisse in Form von vereinfachenden »Begriffen« »festgehalten«. 

Das heißt: Auch wenn er denkt, verhält sich der Mensch wie ein baumbewohnender Greifhänder, der seine Umwelt binokular wahrnimmt und beurteilt — und der sich in dieser Umwelt durch »Begreifen«, »Erfassen« oder »Abschätzen« behauptet. Das dialektische Prinzip Hegels repräsentiert dieses Erbgut der Hominiden ebenso überzeugend wie die philosophische Gesprächstaktik des Sokrates. Jedes Abwägen von Für und Wider, ob im alltäglichen Leben oder in abstrakten Bereichen geistiger Spekulation, wiederholt das haptische Wahrnehmungsmuster, das die Stammesgeschichte der Menschheit ihren Individuen eingeprägt hat.

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Wir sprachen von der Toleranzspanne, die höher entwickelten Lebewesen ein gewisses Maß eigenwilliger Freiheit erlaubt. Anzufangen wüßten diese Geschöpfe allerdings nur wenig mit diesem Vorteil, wenn er nicht mit Neugierverhalten gekoppelt wäre — mit einer Gier nach neuen Einsichten, die (ebenfalls nach Lorenz) einen »gewaltigen Arterhaltungswert« dadurch darstellt, »daß das Tier in weitester Generalisierung schlechterdings alles Neue als potentiell biologisch bedeutsam behandelt«.

Was dieses Neugierverhalten für den mit einem so außerordentlichen Organ wie dem Gyrus supramarginalis ausgestatteten Menschen bedeutet, liegt danach fast auf der Hand: mit Sprache begabt und durch die Greifhand zu technischer Fertigkeit geradezu vorbestimmt, durch seine haptische Urteilsfähigkeit zur raumzeitlichen Abschätzung der Wirklichkeit hervorragend befähigt, vermag der Mensch seine Neugier zweifellos entschiedener zu befriedigen als jedes andere Lebewesen. Unablässig jagt er nach neuen Erkenntnissen und Einsichten, versucht er bohrender zu erfassen, was »die Welt im Innersten zusammenhält«. Vor dem Blick erscheint als Symbolfigur des vom Bewußtsein erleuchteten homo sapiens jener Doktor Faust, den Goethe in seiner genialen Weltdichtung beschwor. Er entwarf mit dieser Figur eine anthropologische Daseinsformel par excellence, in der Mephisto gleichsam den Gyrus supramarginalis versinnbildlicht, der das menschliche Neugierverhalten bis zu tragischer Verstrickung herausfordert.

 

Das Gedächtnis

 

Aber damit nicht genug. Auch der faustische Erkenntnisdrang, das unersättliche Neugierverhalten des Menschen würde nicht ausreichen, das biblische Gebot »Macht euch die Erde untenan« zu erfüllen, wenn nicht ein weiterer Faktor die schon aufgezählten Eigenschaften wirksam ergänzte, nämlich das Gedächtnis. Die wertvollsten Erfahrungen nützen wenig, wenn sie in dem Augenblick wieder zerfallen, in dem sie gemacht werden, das heißt: wenn sie unmittelbar zweckgebunden sind. Sie müssen »aufgehoben« werden. Dadurch ergibt sich nach Lorenz eine »Unabhängigkeit des explorativen Lernvorgangs von dem Bedarf des Augenblicks«.

Lorenz erklärt diese wissenschaftliche Definition durch folgende Sätze:

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»Die Unabhängigkeit von einem das Tier im Augenblick beherrschenden Triebziel bringt es mit sich, daß verschiedene, für verschiedene Triebziele relevante Eigenschaften des Gegenstandes gleichzeitig intim gemacht und ad acta gelegt werden, und diese <Akten> liegen als Engramme im Zentralnervensystem des Tieres offensichtlich nach Gegenständen geordnet. Denn nur das dinghafte Wiedererkennen des Gegenstandes, zu dem das ganze Arsenal der Konstanzphänomene der Wahrnehmung nötig ist, ermöglicht es dem Tier, auf Objekte zurückzugreifen und ihre latent gewußten Eigenschaften zu benutzen, wie dies nachweislich geschieht, wenn die Appetenz des Ernstfalles auf den Plan tritt. Durch dieses Erlernen der den Dingen anhaftenden Eigenschaften, unabhängig vom augenblicklichen physiologischen Zustand und Bedarf des Organismus, wirkt das Neugierverhalten objektivierend in des Wortes buchstäblicher und gewichtigster Bedeutung. Erst durch das Neugier-Lernen entstehen Gegenstände in der Umwelt des Tieres wie des Menschen.« 

 

Neugier und Freiheit

 

Überblicken wir die bisher gewonnenen Einsichten in tierisches und menschliches Verhalten, so wird unschwer offenbar, daß die Eigenschaften höher entwickelter Lebewesen, insbesondere aber der Hominiden, eine enge Spezialisierung auf bestimmte Umweltfaktoren sprengen. Im gleichen Verhältnis, in dem durch Erfahrung und Lernen als Folge ausgeprägten Neugierverhaltens immer größere Bereiche der Umwelt überschaubar und damit verfügbar werden, verliert die Spezialisierung an Sinn. Ihre Stelle nimmt eine mehr oder minder unspezialisierte Weltoffenheit ein, die das zunehmende Gefühl relativer Freiheit des Handelns vermittelt.

Allerdings erreicht das Tier nicht die gleiche Unabhängigkeit von seiner Umwelt, die es dem Menschen ermöglicht, sich, nach einem Wort von Arnold Gehlen, auf das »Nichtspezialisiertsein zu spezialisieren«, das heißt: sich der Erfassung und dem Verständnis aller ihm zugänglichen Phänomene der Wirklichkeit zu widmen und, wie dies heute geschieht, sich sogar Bereichen zuzuwenden, die seinem natürlichen Wahrnehmungsapparat unzugänglich sind. Die Atomphysik liefert dafür ein eindrucksvolles Beispiel.

Warum aber gelingt höher entwickelten Tieren, einem Schimpansen zum Beispiel oder einem Haushund, die den Zwang enger Spezialisierung abstreifen konnten und, nach Lorenz, »kosmopolitisches« Neugierverhalten zeigen — warum gelingt ihnen nicht der entscheidende Durchbruch in das Geviert menschlicher Freiheit, das heißt: in den Bezirk uneingeschränkten »Nichtspezialisiertseins«?

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Schließlich hätte die Evolution, der so atemberaubende Organisationen des Lebendigen gelangen, ja auch diese Neugierwesen mit einem Zusatzorgan versehen können, durch das die letzten Schranken spezialisierter Umweltgebundenheit überwindbar geworden wären.

Lorenz gibt zwei Antworten auf die Frage Herders, was »dem menschenähnlichsten Tier, dem Affen«, fehle, »daß er kein Mensch ward«. Und zwar nennt er die Faktoren »Domestikation« und »Neotenie« als entscheidende Voraussetzungen für das nichtspezialisierte, im übertragenen Sinn »freiheitliche« Verhalten des Menschen.

 

Domestikation und Intelligenz

 

Im homo sapiens begegnen wir nämlich einem Wesen, das sich selbst »domestizierte«, das heißt: das sich, von besonderen Lebensumständen begünstigt, den harten Daseinsbedingungen wildlebender Tiere entziehen und, vereinfacht ausgedrückt, den Luxus eines relativ gesicherten Wohllebens leisten konnte, ohne dadurch im arterhaltenden Lebenskampf zu unterliegen. Domestikation aber bedingt folgenreiche Erbveränderungen, die das domestizierte Tier von der wildlebenden Spezies deutlich unterscheiden — Erbveränderungen, die meist auf eine Herabsetzung der Lebenstüchtigkeit gegenüber dem Wildtier hindeuten. Erinnert sei in diesem Zusammenhang nur an das Hausschwein, dessen Extremitäten im Vergleich zum Wildschwein geradezu verkümmert anmuten, und das eine Fettlast mit sich herumschleppt, die ihm in freier Wildbahn den sicheren Tod garantieren würde. Auch die Aufhellung der Haut oder die scheckig gefleckten Felle sind typische Domestikationsmerkmale. Hinzu kommt durch den Wegfall der natürlichen Auslese eine größere Variationsbreite der verschiedenen Artformen (man denke nur an die zahlreichen Hunderassen!).

Der homo sapiens konnte sich diese Einbuße an Lebenstüchtigkeit sozusagen leisten, weil sie durch seine hohe Intelligenz und das hervorragende Werkzeug seiner Greifhand ausgeglichen wurde. Ein Haustier, sich selbst überlassen, geht an der geminderten Lebenstüchtigkeit zugrunde; der selbstdomestizierte Mensch aber schuf sich zugleich auch genial die Umwelt, die ihm das Luxusdasein eines der Wildbahn entwöhnten Geschöpfs ohne Sicherheitseinbuße garantierte.

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Zu den Veränderungen, die der selbstdomestizierte Hominide erfuhr, zählen nicht nur der aufrechte Gang, die Rückentwicklung des Felles zur glatten, in den verschiedenen Klimazonen unterschiedlich stark aufgehellten Haut oder die Umbildung der Schädelform, sondern auch eine für die Menschwerdung und für das menschliche Verhalten wichtige Entwicklungshemmung, die Lorenz als »partielle Neotenie« definiert.

Was versteht man unter diesem Begriff? 

Übereinstimmend stellten die Zoologen fest, daß sich das Neugierverhalten höherer Tiere, die spielerisch-lernende Erfassung der Außenwelt und der empirische Dialog mit den Dingen meist in der Jugendzeit erschöpfen. Werden die Tiere älter, so verfallen sie einem »Lebensernst«, der die weltoffene Neugier ihrer Jugendzeit fast völlig verdrängt und ihr Interesse auf eine zunehmend zweckgebundene Daseinsbewältigung richtet. Nur junge Füchse spielen zum Beispiel, und nur junge Menschenaffen lassen sich animieren, zum Pinsel zu greifen und Farbkleckse auf ein Stück Papier zu werfen. Selbst in der Gefangenschaft, die sie doch von der Sorge ums Dasein völlig entlastet und ihnen genug Muße zu spielerischer Entfaltung bietet, bleibt dieses Desinteresse älterer Wildtiere weitgehend erhalten. Nur manche Haustiere sind auch im vorgeschrittenen Alter noch zum Spielen bereit.

Das höher entwickelte Tier, und zwar vornehmlich das Wildtier, konzentriert sich also, nachdem es in seiner Jugend alle ihm zugänglichen Erfahrungstatsachen »durchgespielt« hat, auf die wesentlichen Informationen oder Reize der Außenwelt, die sein Dasein im Rahmen des gesamten Naturhaushalts in sinnvollen, das heißt: arterhaltenden Grenzen absichern.

Für den domestizierten homo sapiens entfallen diese Sicherungen, da er sie, wie gesagt, durch intelligent-einsichtiges Verhalten ersetzen kann. Als Folge dieser Entwicklung bilden sich Degenerationserscheinungen instinktiven Verhaltens heraus, die zum Beispiel die eindeutige Auslösung angeborener Mechanismen durch bestimmte Reize stören oder gar außer Kraft setzen. Mit anderen Worten: Instinkthandlungen sind nicht mehr unbedingt zweckgebunden; sie verlieren ihren ursprünglichen Sinn und können sogar durch Ersatzreize willkürlich ausgelöst, das heißt: sie können manipuliert werden. Auf den Gebrauch, den zum Beispiel die moderne Werbung von diesen Möglichkeiten manipulierter Steuerung von Instinkthandlungen macht, sei hier nur ganz am Rande hingewiesen ...

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Der Mensch

Aus diesen Überlegungen folgt:

Der Mensch, eingespannt in das Kraftfeld freigesetzter, nicht mehr unmittelbar zweckgebundener Instinkte, altert zwar körperlich, aber sein Geist bleibt jugendlich-neugierig auf spielerische Erprobung tausendfältiger Umwelterfahrungen erpicht. Bis in die höchsten Lebensjahre versucht er in immer neuen Varianten ein Bild von der Welt zu entwerfen, in der er lebt. Nur der Mensch, so sagt Lorenz, »bleibt bis in sein Alter ein >Werdender<«. Diese Tatsache ist zumindest partiell die Folge jener durch die Selbstdomestikation hervorgerufenen Entwicklungshemmung, die von der Wissenschaft »Neotenie« genannt wird.

Fassen wir diese Faktoren zusammen, so sagen sie bereits Wesentliches über das geistige Verhalten des Menschen aus; denn zweifellos sind faustischer Erkenntnisdrang, dialektisches Urteilen, sprachliche Begriffsbildung, Handfertigkeit und teilweise Freistellung von instinktiven Reaktionen (als Folge der Selbstdomestikation) grundsätzliche Voraussetzungen dessen, was wir als geistige Bekundung des Menschengeschlechts bewundern. Aber diese Feststellung genügt nicht, um das Phänomen des menschlichen Geistes umfassend zu erklären — es sei denn, wir verfielen in den Fehler, die entwicklungsgeschichtlichen Fakten geistiger Leistungsfähigkeit mit den Informationen gleichzusetzen, die der Mensch über die geistigen Antennen seiner leib-seelischen Existenz empfängt.

Es ist immerhin ein Unterschied, ob die Intelligenz eines hochbegabten Lebewesens wie zum Beispiel des Schimpansen nur dazu befähigt, primitive Denkleistungen zu vollbringen, oder ob sie, wie beim Menschen, in tiefere Geheimnisse des Daseins vorzudringen vermag.

 

Welt und Bild

 

Daß der Mensch Vorstellungsbilder, auf einfachen Sinngehalt reduziert, entwerfen und dadurch auslösende Reize (ästhetische Reize, Wahrnehmungsreize) eigenwillig schaffen kann, kennzeichnet seinen einsamen, aber auch höchst riskanten Rang unter allen Lebewesen. Riskant erscheint dieser Rang deshalb, weil er dem nicht mehr instinktgesicherten Wesen Mensch die Möglichkeit eröffnet, sich selbst zu belügen, das heißt: durch willkürlich arrangierte Reize Reaktionen auszulösen, die sein Dasein nicht fördern, sondern es verwirren und nivellieren.

Daher rangen die großen Geister der Menschheitsgeschichte immer wieder verzweifelt um die Wahrheit des künstlerischen Ausdrucks, damit die Kunst nicht zu einer billigen Täuschung der Sinne verflache. Von Plato und Aristoteles bis hin; zu Nietzsche, Benn oder Brecht stand die entscheidende Frage nach der Wahrheit des Kunstwerks, nach den Wirkungen des Schönen und Häßlichen und nach den Gestaltungsgesetzen ästhetischer Schöpfungen nachdrücklich zur Debatte — und sie wird so lange zur Debatte stehen, so lange der Mensch denken und das heißt: Modelle seiner Erfahrungen entwerfen und mitteilen kann.

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Denn alle Kunstwerke sind Erfahrungsmodelle: Wie der Schimpanse, der eine Banane vom Käfigdach herunterholen will, zunächst einmal die vorgefundene Situation ins Unreine entwirft, so entwirft auf ungleich höherer geistiger Ebene auch der Mensch seine Fragen an die wahrgenommene Wirklichkeit als Bild, um anhand dieses Modells nachdenken und reflektieren zu können. Selbstverständlich muß in diesem Zusammenhang das Wort Bild in seinem weitesten Sinn verstanden werden; auch Töne sind raumzeitliche Klangbilder, und Begriffe erweisen sich ebenso als verkürzte, zu abstrakten Chiffren zusammengezogene Bilder wie geometrische Darstellungen oder mathematische Formeln. Der Modellcharakter des Vorstellungsbildes bleibt in allen diesen Ausdrucksformen oder Verkleidungen erhalten.

Nicht ohne Grund verbietet die Bibel den Gläubigen, sich von Gott ein Bild noch Gleichnis zu machen; das Gebot antwortet dem fundamentalen anthropologischen Sachverhalt, daß der homo sapiens von jedem Problem, auf das er trifft, ein Bild zu entwerfen trachtet — also auch von dem Unbegreiflichen, von Gott. Der Sprachgebrauch des Alltags bekräftigt diesen Sachverhalt durch die häufig gebrauchte Wendung, »man müsse sich erst einmal ein Bild von einer Sache machen«.

Wie entstehen nun diese Wahrnehmungsmodelle unserer Phantasie? Das ist eine wichtige Frage, denn zweifellos nehmen unsere Sinne nur einen Ausschnitt der tatsächlichen Wirklichkeit wahr; sie wählen aus der Fülle des natürlichen Geschehens nur relativ wenige Komplexe aus. So registriert unser Ohr zum Beispiel nur einen Teil der Geräusche, die von der Außenwelt unablässig produziert werden, und auch unser Auge verzichtet auf viele Detailwahrnehmungen zugunsten größerer Gestaltkomplexe. Betrachten 'wir ein Stück Holz, so bietet sich unserem Blick ein fester Körper dar. Die Atome, die in ihm kreisen, bleiben verborgen, obwohl die Bewegung der Atome entscheidend die Wirklichkeit des Holzes mitbestimmt. Diese Erkenntnis veranlaßte zum Beispiel Kant zu der Annahme, die Gestaltmuster seien im menschlichen Geist a priori vorgeprägt, und Friedrich Nietzsche vertrat in einem Aphorismus die sehr bestimmte Auffassung:

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»Unsere Außenwelt ist ein Phantasieprodukt, wobei frühere Phantasien als gewöhnliche, eingeübte Tätigkeiten wieder zum Bau verwendet werden. Die Farben, die Töne sind Phantasien, sie entsprechen gar nicht exakt dem mechanischen, wirklichen Vorgang, sondern nur unserem individuellen Zustand.«

Die moderne Physik, die den Glauben an die absolute Wirklichkeit der wahrgenommenen Außenwelt gründlich erschütterte, scheint dieser Vermutung recht zu geben. Demnach würden wir zwar die Erscheinungen unserer Umwelt subjektiv richtig, aber objektiv falsch oder doch zumindest unzulänglich sehen. Aus dieser Annahme zogen nun vorschnelle Fortschrittsdenker kurzerhand den Schluß, die Menschheit habe von dem Augenblick an, da sie in die Helle des Bewußtseins getreten sei, vornehmlich aber seit ihrem Schritt in die Geschichte, in einem Wahn gelebt, oder primitiver ausgedrückt: sie habe sich etwas vorgemacht, indem sie die Projektionen ihrer Phantasie als Wirklichkeit ausgab. Vornehmlich die bildenden Künstler nahmen solche Interpreten entschlossen beim Wort und verzichteten hinfort auf die Darstellung vertrauter Wirklichkeitsbilder zugunsten abstrakter Raum-Zeit-Visionen.

Aber ist unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit tatsächlich ein holder Wahn, ein Wunschtraum unserer Phantasie, oder verbirgt sich dahinter ein anthropologischer, ja: ein biologischer Sinn?

Als Nietzsche seinen Aphorismus niederschrieb, wollte er keineswegs einen menschheitsalten Irrtum entlarven und das Vertrauen auf die menschliche Wahrnehmung erschüttern, sondern die ordnende Gestaltungskraft des homo sapiens unterstreichen; defnn, so sagt er an anderer Stelle, »wir sind Gestalten schaffende Wesen gewesen, lange bevor wir Begriffe schufen«.

Mit diesem Satz rührt Nietzsche an ein Grundproblem nicht nur menschlicher, sondern auch tierischer Welt- und Umwelterfahrung, nämlich an die Gestaltwahrnehmung.

Ohne Gestaltwahrnehmung, das heißt: ohne Aufgliederung und Abgrenzung der wahrgenommenen Eindrücke müßte jedem Lebewesen die Welt regellos, amorph, verwirrend und im gegenständlichsten Sinn des Wortes »unbegreiflich« erscheinen. Selbst der moderne, nach universellen Kenntnissen strebende Mensch, der so vieles weiß, was ihm sein natürlicher Wahrnehmungsapparat nicht unmittelbar zugänglich macht — auch dieser moderne Mensch ist nach wie vor auf die Orientierung in der ihm sichtbaren Welt angewiesen. Die Erkenntnis zum Beispiel, daß sich rotierende Atome auf ihn zu bewegen, hilft ihm wenig

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im Straßenverkehr. Wenn er diese Atomballung nicht als die Gestalt eines Autos erkennt und anerkennt, ergeht es ihm übel. Trotz seiner universalen Einsicht in die innerste Wirklichkeit der Materie fiele er seiner »Weltfremdheit« zum Opfer, weil er sich nun einmal in der ihm zugewiesenen Welt, in seinem Lebensraum, nur durch Gestaltwahrnehmung zurechtfinden kann.

Auch für dieses Phänomen hält die Wissenschaft eine Erklärung bereit — eine Erklärung, die sowohl die Verhaltensforscher als auch die Biokybernetiker, die Biochemiker und die Biophysiker verantworten.

1959 schrieb Konrad Lorenz zum 80. Geburtstag von Karl Bühler einen bedeutsamen Aufsatz mit dem Titel >Gestaltwahrnehmung als Quelle wissenschaftlicher Erkenntnis<. Darin weist er schlüssig nach, daß die tierischen wie die menschlichen Individuen die Quantität des Naturgeschehens zu Qualitätskomplexen, das heißt: zu Gestalten umformulieren. Dieses wahrnehmungsgerechte »Umformulieren« ist eine enorme Leistung, die durch die in den Erbanlagen programmierten Wahrnehmungsstrukturen oder -muster garantiert und darüber hinaus durch Erfahrung und Lernen gesteigert wird. Entscheidende Hilfe für die Wahrnehmung komplexer Gestalten leisten die Faktoren der Konstanz. Sie stabilisieren, sehr vereinfacht ausgedrückt, die wahrgenommenen Einzelheiten eines Gegenstandes, sie halten sie fest, bis alle Informationen über sie im Zentralnervensystem verarbeitet und zu einem Bild, zu einer Gestalt zusammengefügt wurden.

Denn Wahrnehmung ist ja nicht nur ein räumlicher, sondern auch ein zeitlicher Vorgang: Wir glauben, einen Gegenstand »auf einmal« zu erfassen, aber das Schaltwerk unseres Hirns benötigt de facto eine Zeitabfolge, um die von den Sinnen, in diesem Fall von den Augen gelieferten Daten zu verarbeiten und sie mit gespeicherten Erinnerungsbildern zu vergleichen. Fehlen diese Erinnerungsbilder, so brauchen wir, jeder kann das leicht an sich selbst beobachten, »mehr Zeit«, um sie als Gestalt zu erfassen, als in Fällen, in denen "wir Bekanntem begegnen.

Wir deuteten schon an, daß jedes Lebewesen mehr oder weniger auf seinen Lebensraum spezialisiert sei. Dementsprechend reich oder weniger reich sind auch die Gestaltqualitäten, die verschiedene Geschöpfe aus der Quantität alles Wirklichen auswählen können. Ein Maulwurf zum Beispiel ist in dieser Bezie-

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hung schlechter dran als etwa ein Hund oder gar der nicht spezialisierte Mensch, der nicht nur eine erstaunliche Fülle von Gestaltqualitäten erkennt, sondern diese Qualitäten auch eigenschöpferisch umformt und sich — ob als Ergebnis der Technik, ob als Ergebnis der Kunst — damit eine zweite, künstliche Umwelt erschaffen kann.

Daß die Informationen über die vom Menschen als wirklich empfundene, in Gestaltqualitäten wahrgenommene Welt nicht Spiegelungen seiner eigenen Vorstellungsbilder sind, sondern absoluten, um nicht zu sagen: kosmischen Realwert besitzen, betont Lorenz unmißverständlich:

»Die Organisation unserer Wahrnehmung, unserer Anschauungsformen und Kategorien, kurz unseres ganzen >Weltbild-Apparates<, enthält aber gar nicht so wenig Informationen über die realen Gegebenheiten, von denen sie uns in Form von Phänomenen Kunde vermittelt. Es sind nicht die apriorischen Schematismen unserer Anschauung und unseres Denkens, die willkürlich und beziehungslos der außersubjektiven Realität die Form vorschreiben, in der sie in unserer phänomenalen Welt erscheint; stammesgeschichtlich gesehen war es umgekehrt die außersubjektive Realität, die den in äonenlangem Daseinskampf entwickelten Weltbild-Apparat des Menschen gezwungen hat, ihren Gegebenheiten Rechnung zu tragen. So wenig es die Fischflosse ist, die dem Wasser seine physikalischen Eigenschaften vorschreibt, so wenig das Auge die des Lichtes bestimmt, so wenig sind es unsere Anschauungs- und Denkformen, die Raum, Zeit und Kausalität >erfunden< haben. Gewiß bestimmt die Flosse in maßgebender Weise die Art, in der ein Fisch das Wasser erlebt, oder das Auge diejenige, in der das Licht sich in unserer phänomenalen Welt malt, und gewiß haben Wasser und Licht Eigenschaften, die durch jene Organe dem Erleben ihrer Träger nicht vermittelt werden. Gewiß sind die Dinge an sich nie restlos erkennbar. Aber ebenso gewiß haben die grundsätzlich unvollkommenen und groben Meldungen, die unsere Weltbild-Apparatur uns über die Außenwelt macht, ihre realen Entsprechungen in Eigenschaften, die den Dingen an sich zukommen.«

Es würde hier zu weit führen, nun auch noch genau darzustellen, durch welche komplizierten Schaltungen das Nervensystem des Menschen die wahrgenommenen Quantitäten des gesamten Naturgeschehens ständig filtert und nur bestimmte Informationen auswählt, um sie in komplexe Qualitäten zu verwandeln.

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Jedenfalls konnten die Biokybernetiker und die Biophysiker, vielfach angeregt durch die Konstruktion moderner Computer, den Schleier erheblich lüften, der bisher das Geheimnis des menschlichen Denkapparates bedeckte — und sie kamen dadurch auch dem Geheimnis seelischer Vorgänge auf die Spur. Unbeschadet jedoch dieser interessanten Aspekte wollen wir zunächst lediglich festhalten, daß, wie Lorenz sagt, »die groben Meldungen, die unsere Weltbildapparatur uns über die Außenwelt macht, ihre realen Entsprechungen in Eigenschaften haben, die den Dingen an sich zukommen«.

Verknüpfen wir nun diese Feststellung mit den Fakten geistigen Verhaltens und erinnern wir uns an den Aphorismus Nietzsches, wir seien Gestalten schaffende Wesen gewesen, lange bevor wir Begriffe schufen, so bedarf es nur noch eines ergänzenden Hinweises1, um das Grundmuster zu vervollständigen, das die biologischen Voraussetzungen eigenschöpferischer, insbesondere künstlerischer Leistungen des Menschen entwirft.

Otto Koehler, der bekannte, inzwischen verstorbene Freiburger Zoologe, wies anhand zahlreicher Tierversuche nach, wie Tiere denken, obwohl sie keine Sprache besitzen. Er stellte nämlich fest, daß beispielsweise eine blinde Maus, die durch ein Labyrinth zu ihrem Futterplatz geschickt wird, nach einigen Wiederholungen des Versuchs den richtigen Weg auf Anhieb einschlug. Das ist an sich noch kein sensationelles Ergebnis. Aufregend wurde der Versuch jedoch nach einer Variation der Labyrinth-Anlage. Koehler schreibt:

»Bietet man ihr jetzt das Labyrinth abwechselnd in vier neuen Formen, nämlich erstens linear verdoppelt, ferner winkelverzerrt, so daß die Maus statt wie bisher stets um 900, im zweiten neuen Labyrinth immer um 450, im dritten um 1350 wenden muß, und baut viertens das Dressurlabyrinth in sein Spiegelbild um, so macht die Maus in den vier neuen Labyrinthen, ohne Neudressur, sogleich fast ebenso wenig Fehler wie zuvor im alten. Das Gelingen dieser Umstellungen, wie wir es nennen, wenn ein Tier die neue Situation, ohne neu lernen zu müssen, sogleich versteht, beweist, daß die Maus eine anschauliche Vorstellung vom richtigen Weg im Dressurlabyrinth hat, die sie auf die neuen Labyrinthformen sinngemäß übertragen kann; sie kann von den Streckenlängen und Winkelgrößen anschaulich abstrahieren, zudem versteht sie auch sogleich die Übertragung ins Spiegelbild. Ihre Wegvorstellung ist also transportierbar, ist im Sinne Wolfgang Köhlers eine echte Gestalt, ein anschauli-

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cher Begriff, vergleichbar unseren Buchstaben, die wir beliebig klein und groß, steil oder schräg nach rechts bzw. links überhängend, ja auch in Spiegelschrift schreiben und lesen können. Haben wir ferner einen Weg gefunden, indem wir uns eine Reihenfolge von Wegweisern einprägten, bei denen wir so und so wenden mußten, so finden wir ihn auch wieder zurück, indem wir Rechts und Links spiegelbildlich vertauschen und die Reihenfolge der Zwischenziele rückläufig lesen. Viele Tiere können das mindestens ebenso gut wie wir. Endlich urteilt die Maus an jeder T-Stelle: Dieser Weg ist richtig, die anderen beiden sind falsch. Solches Operieren mit Vorstellungen, Begriffen und Urteilen, die auf Anschauung beruhen, aber keine Namen tragen, weil eine Wortsprache fehlt, nennen wir unbenanntes Denken. Nur wir Menschen haben seine Elemente für unseren Gebrauch benannt, nur wir sprechen also. Aber vorher denken wir, auf vergleichbaren Stufen, genau so unbenannt wie Tiere.«

Das Ergebnis dieser Versuche unterstreicht überzeugend die Fähigkeit höherer Tiere, aus der Erfahrung (das heißt: durch Lernen) gewonnene raumzeitliche Vorstellungsmodelle einer vorgefundenen Situation so weit zu abstrahieren, daß sie sich auch auf ähnliche Fälle anwenden lassen. Eine Art Analogieschluß, aus dem Vorstellungsmodell gewonnen, meistert das neu gestellte Problem.

Der Begriff »unbenanntes Denken«, den Koehler für diese Leistung prägte, besticht. Obwohl nur auf das tierische Lernverhalten angewendet, entschlüsselt er nämlich auch die gedankliche Vorstellungswelt der frühen Menschen. Wie das höher entwickelte Tier konnte dieser frühe Mensch nicht nur Gestaltqualitäten aus der Außenwelt herausfiltern, sondern er besaß, wie das höher entwickelte Tier, die geniale Gabe, imaginäre Gestaltqualitäten zu entwerfen und sie rational auf ihre wesentlichen Bezugspunkte zu beschränken, sie (wie das Wort rational seinem ursprünglichen Sinn nach auch besagt) »berechenbar« zu machen.

Jede geistige Vorstellung rationalisiert (und abstrahiert damit) die wirklichen Wahrnehmungsbilder und bringt sie auf den kleinsten Nenner. Man könnte auch sagen: Sie verdichtet das wirklich Geschaute und speichert es im Gedächtnis als Modell, das bei Abruf wieder zur Verfügung steht. Nicht anders arbeiten die komplizierten Maschinen der modernen Datenverarbeitung; sie werden mit Informationen gefüttert, deren Inhalt auf

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radikal komprimierte Symbole beschränkt wurde. Diese abstrakten Symbole ruft die Maschine je nach dem Programm ab, auf das man sie schaltet, und verarbeitet sie zu einer, zunächst ebenfalls abstrakt-symbolischen Aussage. Diese gewinnt nur dann Sinn, wenn sie entschlüsselt und in wirkliche Gestaltqualitäten umgewandelt, das heißt: als Realität aktiviert wird. Auch die abstraktesten mathematischen Formeln repräsentieren, was vielen geplagten Mathematikschülern nie so recht einleuchten will, raumzeitliche Wirklichkeiten und somit (wenn auch oft sehr schwierige) Definitionen von Gestaltqualitäten und deren Beziehungen zueinander.

Das höhere Tier vermag also unbenannt zu denken und beweist damit im engen Rahmen seiner nervlichen Leistungsfähigkeit Vernunft. Der frühe Mensch, obwohl ebenfalls unbenannt denkend, konnte mehr: Er besaß nicht nur das Genie, Gestaltqualitäten der Außenwelt wahrzunehmen und sie zu rationalen Vorstellungsmodellen umzuformen, sondern seine hochentwickelten Fertigkeiten verschaffen ihm auch die Möglichkeit, diese Vorstellungsbilder als selbstgeschaffene Wirklichkeit zu fixieren und sie sich damit unabhängig von den Reizauslösern der natürlichen Umwelt verfügbar zu machen. Die Höhlenbewohner von Altamira zum Beispiel malten auf die feuerbeschienenen Felswände Szenen ihres täglichen Lebens: Jäger und Bisons erscheinen vor dem Blick. Die Tiere wurden mit großer Kunstfertigkeit — die gelegentlich als »Naturalismus« mißdeutet wurde — in verschiedenen Bewegungsphasen abgebildet, die Menschendarstellungen hingegen erinnern eher an Umriß-Chiffren, zu räumlicher Ordnung gruppiert.

Diese Bilder sind Gestaltmodelle, Vorstellungsbilder, gewonnen aus dem Erlebnis der daseinsnotwendigen Jagd. Sie erinnerten ihre Betrachter auch dann, wenn sie nicht ihrem gefährlichen Geschäft nachgingen, an bestandene und noch zu bestehende Situationen — und Erinnerung bedeutet in diesem Zusammenhang nichts anderes als Reizauslösung durch imaginäre Beschwörung der Wirklichkeit. Denn zweifellos geben diese Felsmalereien nur wirkliche Vorgänge wieder, die sie, auf ihre wesentlichen Merkzeichen beschränkt, deskriptiv wiederholen, um ihre Betrachter auf die tatsächlich oder zumindest wahrscheinlich wiederkehrende Begegnung mit den Bisons aufmerksam zu machen und sie für diese Wiederbegegnung zu aktivieren. Das heißt: die Felsbilder von Altamira und die anderen uns bisher bekanntgewordenen Zeugnisse frühmenschlicher Kunst

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waren sehr wahrscheinlich Stimulantien, mit deren Hilfe der zur Selbstdomestikation angetretene Mensch den teilweisen Verlust an tierischer Lebenstüchtigkeit, an tierischer Reaktionspräsenz ausglich. Einerseits ermöglichten ihm diese Jagdmodelle ein anschauliches Begreifen und Beherrschen zukünftiger Zwischenfälle, und andererseits sprachen sie, auch wenn er nicht jagte, seinen Jagdeifer, um nicht zu sagen: Jagdinstinkt an, so oft er zu ihnen hinaufschaute.

Ein weiteres Moment erscheint an dieser Stelle bedenkenswert: Indem er seine Jagdgelüste durch die Felsbilder stimulierte, konnte der Frühmensch die Darstellungen auch genießen — das heißt: indem sie ihn erregten, erweckten sie in ihm auch Empfindungen. Sie erregten ihn, ohne daß sie ihm täterischen Einsatz abverlangten. Die Vermutung, daß die Höhlenzeichnungen auch frühreligiöse Gefühle und Vorstellungen im Sinne von bildlichen Beschwörungsformeln etwa ausdrückten, fügt sich dem vorgebrachten Argument durchaus ein. Steckt doch in jeder Gestaltqualität, die wir wahrnehmen, und auch in den Vorstellungsbildern, die wir nach ihr entwerfen, nicht nur die flache, auf die Netzhaut des Auges projizierte Vordergrundwirklichkeit, sondern sie birgt zugleich auch Weltwirklichkeit — oder ein wenig pathetischer formuliert: kosmische Wirklichkeit. In dem angeführten Zitat von Konrad Lorenz über die Eigenschaften der wahrgenommenen Gegenstände klang dieser Sachverhalt deutlich an. Noch deutlicher umreißt ihn Friedrich Nietzsche mit dem Satz: »Jedes Individuum wirkt am ganzen kosmischen Wesen mit — ob wir es wissen oder nicht — ob wir es wollen odef nicht.«

Das besagt: die Modelle des Wirklichen, die der Mensch entwirft, würden ihn kalt lassen, wenn sie nicht formelhaft kosmische Wirklichkeit mitteilten und nicht Lebensäußerungen enthielten, auf die er anspricht. Der Schauder des Kosmischen, der den Höhlenzeichnungen innewohnt und der auch den heutigen Betrachter noch ergreift, bewegte sicherlich noch weitaus intensiver den frühen, zum Selbstbewußtsein gerade erst erwachten und über sich selbst nachdenkenden Menschen. Erinnern wir uns an das Goethe-Wort, nach dem das »Schaudern der Menschheit bestes Teil« sei, so erspüren wir vielleicht den tieferen Sinn dieser stimulierenden Erregung, die jene Felsbilder auslösten, und wir ahnen vielleicht auch, daß der Genuß, der hier dem Menschen zuteil wurde, höchsten Rang einnahm. Mit den landläufigen Genußvorstellungen unseres 20. Jahrhunderts hat er, obwohl auch sie der gleichen anthropologischen Wurzel entsprießen, qualitativ wenig gemein.

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Der von Mißverständnis und Mißbrauch leider arg verschandelte Begriff »Genuß« erweitert die biologische Argumentation um eine weitere Dimension. Denn der Akt des Genießens setzt Anschauungsqualitäten voraus, die sowohl geistige als auch körperliche Reaktionen auslösen. Ein »häßliches« Bild zum Beispiel stößt uns ab; es kann uns Schrecken oder sogar Ekel einflößen. Ein »schönes« Bild hingegen stimmt uns glücklich; es übt gleichsam eine harmonisierende Wirkung aus. Derartige Reaktionen, die sowohl auf die Wahrnehmung von Naturbildern als auch auf die Wahrnehmung von Bildern der Kunst oder der Technik zutreffen, erörtern die Geisteswissenschaftler unter dem Fachbegriff »Ästhetik«.

Allerdings klammern manche Interpreten dieser Fachdisziplin (die sich nach Brockhaus »mit den Gesetzen und Formen des Schönen, und zwar sowohl des Naturschönen als auch des Kunstschönen befaßt«) häufig den Anteil des Körperlichen an der Wahrnehmung des Schönen aus. Sie möchten die ästhetischen Gestaltqualitäten als rein geistige Phänomene darstellen und ihre stofflichen Bindungen kurzerhand leugnen. Aber dieser Weg muß notwendig in die Irre unkontrollierbarer Spekulationen führen, weil er sich nicht an der menschlichen Lebenswirklichkeit orientiert. Unerklärlich bleibt, warum diese Verfechter dualistischer Ansichten nicht bereits über die Tatsache stolpern, daß der Mensch die von seinen Sinnen wahrgenommenen und geistig »rationalisierten« Gestaltqualitäten unwillkürlich positiv oder negativ beurteilt, und diese Urteile auch körperlich, nämlich durch entsprechende Empfindungen, bekräftigt.

Diesen physiologischen Vorgang können weder kühne philosophische Theorien noch feinsinnige Spekulationen hinwegdiskutieren; er ist evolutionär bedingt und widersetzt sich interpretatorischer Willkür. Wir müssen unser Dasein leben nach dem Gesetz, nach dem uns die Schöpfung hat antreten lassen. Und ein wesentlicher Bestandteil dieses Gesetzes ist die leibseelische Einheit der Lebewesen; sie können ihren Wahrnehmungsapparat nicht isolieren und die Verbindungsleitungen, die vom zentralen Nervensystem zu den Körperzellen führen, wie mit einer imaginären Kombizange abkneifen.

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»Jedes Lebewesen ist ein historisch gewordenes System, und jede seiner Lebenserscheinungen kann grundsätzlich nur dann verstanden werden, wenn die rationalisierende Kausalforschung den Gang ihres stammesgeschichtlichen Zustandekommens zurückverfolgt. Diese Erkenntnis ist heute jedem biologisch Denkenden selbstverständlich. Dagegen bricht sich jene andere Erkenntnis nur sehr langsam und mühsam Bahn, daß gleiches für alle Erscheinungen des seelischen Verhaltens gilt, daß auch unsere seelischen und geistigen Leistungen nicht unabhängig von allem übrigen Lebensgeschehen zustande kommen. Die Einsicht, daß allem, aber auch allem, was sich in unserem Bewußtsein abspielt, auch ein nervenphysiologischer Vorgang entspricht und parallelgeht, begegnet auch bei den heutigen Geisteswissenschaftlern immer noch merkwürdigen Widerständen.« (Konrad Lorenz)

Das heißt: jeder Bewußtseinsvorgang ist, da er sich auf Wahrnehmung gründet, auch sinnlicher Natur. Denn die Wahrnehmung bedarf der Sinne, um aktiv werden zu können. Sobald jedoch die Sinne in Tätigkeit treten, wird der gesamte Organismus angesprochen, da Wahrnehmung und Reaktion a priori miteinander kausal verknüpft sind; sie bilden eine Wirkeinheit. Selbst eine mathematische Formel, mit den Augen erfaßt und an das Zentralnervensystem weitergemeldet, gewinnt in diesem realanthropologischen Sinn die Bedeutung eines Reizes, der eine auf unseren körperlichen Zustand einwirkende Reaktion auslöst, und zwar durch Veränderungen elektrischer und chemischer Natur im Organismus. Die Tatsache der Abstraktion, die uns gelegentlich dazu verleitet, einen Denkvorgang als »rein geistig« zu bezeichnen, erweist sich demnach von einfachen Sinneswah'rnehmungen nur graduell verschieden — ein grundsätzlicher Unterschied zwischen der optischen Erfassung eines Baumes und einer abstrakten mathematischen Formel und deren nervenphysiologischer »Verarbeitung« ist nicht erkennbar und im Hinblick auf die naturgeschichtlichen Tatsachen der Evolution auch nicht diskutabel.

Die Wirkeinheit von Wahrnehmung und körperlicher Reaktion bedingt eine spezifische Antwort des Organismus, die 'wir »Empfindung« nennen. Wir empfinden zum Beispiel die wahrgenommenen Eigenschaften hart oder weich ebenso gegensätzlich wie heiß und kalt, weiß und schwarz, naß und trocken, laut und leise oder wie schön oder häßlich, dissonant oder harmonisch. Analog befriedigt uns ein geglückter logischer Schluß, eine gelöste Gleichung oder ein gemeistertes technisches Problem entschieden mehr als ein verkorkster philosophischer Ge-

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danke, eine fehlerhafte Rechnung oder ein mißglücktes Experiment — ein Beweis mehr für die sinnlich-körperliche Komponente sogenannter »rein geistiger« Bewußtseinsvorgänge. Schließlich sagen wir ja auch nicht ohne Grund, eine philosophische Erkenntnis oder eine technische Konstruktion sei erregend oder gar atemberaubend; in solchen Wendungen enthüllt der unbewußte, nicht kontrollierte Sprachgebrauch unversehens die entwicklungsgeschichtlichen Perspektiven, die ebenso unversehens wie folgerichtig den Blick auf das Phänomen des Ästhetischen freigeben. Denn die Tatsache der »Empfindung« verweist nachdrücklich auf die »Wissenschaft vom Schönen« und damit auf das künstlerische Genie des Menschen. Ohne Zweifel ist nämlich Empfindung ein wesentlicher Faktor ästhetischer Reizauslösung, was zugleich besagt, daß die körperlichen Reaktionen, die wir als Empfindungen registrieren, sich nicht als motorische, also rein mechanische Reflexe, sondern als Qualitäten zu erkennen geben. Jede Empfindung besitzt nämlich sowohl eine reizabhängige Stärke, von den Physiologen als »Intensität« gekennzeichnet, als auch einen bestimmten, ebenfalls vom Reiz mitbestimmten Inhalt, der »Qualität« genannt wird.

Aber bevor wir nun auf diese Eigenschaften der Empfindungen näher eingehen und sie als Schlüssel verwenden, um das Geheimnis ästhetischer Wirkungen aufzuschließen, sei uns noch ein Exkurs über die Voraussetzungen gestattet, unter denen ästhetische Schöpfungen und Wahrnehmungen überhaupt erst möglich werden.

Es leuchtet sicher ein, daß für biologisch scheinbar so nutzlose Erscheinungen wie die Werke der Kunst in einem Lebenshaushalt kein Platz sein kann, der sozusagen »mit dem Nötigsten auskommen« muß, um im Daseinskampf die Erhaltung der Art zu sichern. Hier regeln streng zweckgebundene Empfindungen lediglich die aktive, lebenstüchtige Auseinandersetzung mit der Außenwelt. Sie schließt die Reflexion und Reproduktion des Wahrgenommenen und damit auch dessen Genuß weitgehend aus. Eingezwängt in die Existenznotdurft des Tages, unablässig zu Taten herausgefordert und durch sein artspezifisches Verhalten eingeengt, kann sich ein wildlebendes Geschöpf nicht den Luxus leisten, seine Umwelt auch noch reflektierend zu genießen. Selbst der Mensch verzichtet auf Kultur und auf die Wahrnehmung von Naturschönheiten, wenn es ihm an den Kragen geht und er sich seiner Haut wehren muß. Wer einen Krieg miterlebte, weiß das.

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So drängt sich folgerichtig der Schluß auf, daß ästhetische Wahrnehmungen »Zeit«, daß sie »Muße« benötigen. Das Geschöpf, das sich ihnen hingibt und sie auskostet, muß vom Kampf ums Dasein zumindest zeitweise freigestellt sein, um seine Aktivität sowohl auf die Reproduktion ästhetischer Formen als auch auf deren Genuß richten zu können. Das einzige Lebewesen auf diesem Planeten, dem die Evolution durch die Kombination günstiger Erbfaktoren Muße zusprach, ist der homo sapiens; die Selbstdomestikation half ihm, diese Chance zu nutzen und sich jenen Bereich geistiger Freiheit zu erobern und ihn eigenschöpferisch abzusichern, der seinem Blick den Himmel, aber auch die Hölle öffnet.

Fast will es scheinen, als habe der Schöpfer der Natur mit dem Menschen ein gefährliches Experiment riskiert — ein Experiment, das die Bibel in der weltweiten Parabel vom Sündenfall und von der Vertreibung aus dem Paradies aus der Tiefe der Vorzeit beschwor. Etliche tausend Jahre später schrieb Goethe als Einleitung für seinen >Faust< den Prolog im Himmel, in dem er deutlich zu verstehen gibt, daß die nachfolgende dramatische Dichtung nichts anderes zum Thema habe als dieses Risiko, das Gott mit dem Menschen einging. Als der Herr mit Mephisto um Faustens Seelenheil wettet, läßt ihn Goethe die bedeutsamen Worte sprechen:

»Zieh diesen Geist von seinem Urquell ab

und führ ihn, kannst du ihn erfassen,

auf deinem Wege mit herab —

und steh beschämt, wenn du bekennen mußt:

ein guter Mensch, in seinem dunklen Drange,

ist sich des rechten Weges wohl bewußt.«

Diese Verse formulieren die Erkenntnis, daß Gott dem Menschen die Freiheit erlaubt, sich bis zur Hybris der Gottähnlichkeit emporzuschwingen; sie verweisen aber auch zugleich auf den »dunklen Drang« im Menschen, der sich dieser Hybris entgegenstemmt und den irrenden Erdenwanderer auf den rechten Weg zurückgeleitet in die Grenzen, die ihm die Schöpfung zuwies. Unmöglich kann er sich von der Nabelschnur lösen, die ihn mit der Natur verbindet; und auch da, wo der Mensch, wie Doktor Faust, seinen Geist bis an die Sterne weit schweifen ließ, mußte er schließlich erkennen, daß er sich dem hoffnungslosen Nichts ausliefert, sobald er menschliches Maß überschreitet.

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Dieses riskierte Wesen, der homo sapiens, dem die Schöpfung »Freizeit« und damit Freiheit zur Verfügung stellte, begann sich geschichtlich zu verwirklichen. Aus den vorzeitlichen Horden entwickelten sich staatliche Völkergemeinschaften, die Städte bauten, Kriege führten, ferne Länder erkundeten und miteinander Handel trieben. Sie fertigten Waffen, um sich zu schützen oder andere zu erschlagen; sie erfanden das Rad und verständigten sich miteinander in artikulierten Lauten — und sie entdeckten das ästhetische Phänomen der Kunst.

Die Höhlenzeichnungen von Altamira gehören zu den frühesten uns überlieferten Kunstwerken des Menschen. Technik und Formqualität dieser Bilder berechtigen zu der Vermutung, daß sie nicht den Anfang, sondern bereits einen Höhepunkt frühmenschlicher Gestaltungskraft repräsentieren; die Vorstufen, die zu diesem Höhepunkt führten, kennen wir nicht. Ihre Spuren verlieren sich im Dunkel der Vorzeit. Aber es ist kaum anzunehmen, daß sich die bildnerischen Fertigkeiten des Cro-magnon-Menschen unvorbereitet auf diesem hohen Niveau entfalten und eine derart bewundernswerte Freiheit des Ausdrucks erreichen konnten.

Ein Blick auf die früharchaischen Epochen späterer, geschichtlicher Kulturen belehrt uns nämlich darüber, daß die freie figurative Darstellung nie den Beginn eines künstlerischen Stilwillens markiert, sondern sich erst allmählich aus abstrakten Formen heraus entwickelt. Die Geometrik leitet zum Beispiel nicht nur die griechische Kunst ein, sondern wir finden sie überall dort, wo junge Kulturen entstehen, die ihren Gestaltungswillen zu dokumentieren wünschen. Das heißt: bildnerische Abstraktion kennzeichnet nicht etwa, wie heute gelegentlich noch angenommen wird, den vergeistigten Gipfel künstlerischen Fortschritts, sondern dessen Basis.

Zunächst mag diese Tatsache verblüffen, aber die hier erörterten Faktoren menschlichen Verhaltens liefern den Schlüssel zu ihrer Erklärung. Gibt man nämlich, wie der Tierpsychologe Desmond Morris eingehend beschrieb, einem intelligenten jungen Menschenaffen Papier und Bleistift in die Hand, so beginnt er wild drauflos zu kritzeln. Aber der aufmerksame Betrachter entdeckt bereits in diesen wirren Linien (wenn auch für unsere Begriffe recht primitive) rhythmische und räumliche Ordnungsprinzipien, die auf Ansätze gestalterischen Wollens hindeuten. Wird der malende oder zeichnende Jungaffe durch

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Wiederholung der Versuche erneut mit dem Problem konfrontiert, ein leeres Blatt mit dem Bleistift oder Farbpinsel auszufüllen, was ja letztlich nichts anderes heißt, als auf einer leeren Fläche eigenwillig eine raumzeitliche Ordnung oder auch Unordnung herzustellen, so bekunden seine bildnerischen Antworten ein zunehmendes Formbewußtsein. Jungaffen balancieren zum Beispiel vorher eingezeichnete Markierungen der weißen Fläche, etwa Dreiecke oder Vierecke, durch ihre Kritzeleien derart aus, daß sich wieder eine Art räumliches Gleichgewicht herstellt. Das heißt: betont das markierende Viereck die rechte Seite des Blattes, so versucht das Tier durch Linienbündel auf der linken Seite ein Gegengewicht zu entwerfen, um damit die proportionale und symmetrische Balance zu sichern. Wurde je ein Viereck auf dem linken und auf dem rechten Blattrand vorgezeichnet, so setzte der Schimpanse entweder seine Striche in die Mitte der Fläche, wodurch er sie zentrierte, oder er bekritzelte beide Vierecke und unterstrich dadurch das räumliche Spannungsverhältnis zwischen der linken und rechten Betonung des weißen Blattes. Auch zeigten sich einige Versuchstiere durchaus der Aufgabe gewachsen, ein nur fragmentarisch vorgezeichnetes Dreieck (wenn auch manuell ungeschickt) zu vollenden. Übereinstimmend vermieden alle Versuchstiere, mit ihren Strichen und Farbklecksen den Rand der Zeichenblätter zu überschreiten. Sie suchten sich die Bezugspunkte ihres bildnerischen Spiels jeweils innerhalb der vorgegebenen Fläche.

Aus seinen Beobachtungen zog Morris, nachdem er sie auch mit den bildnerischen Affentests anderer Forscher verglichen hatte, den naheliegenden Schluß, daß man aus diesen Affenmalereien zumindest eine deutlich ausgeprägte Vorliebe für bestimmte ästhetische Ordnungsprinzipien herauslesen könne. Und er verweist auf den deutschen Zoologen Bernhard Rensch und dessen Publikation über die »ästhetischen Faktoren bei Färb- und Formbevorzugung von Affen«, die seine Beweisführung und These bekräftigt. Wörtlich schreibt Morris:

»Rensch fand heraus, daß die Tiere in bestimmten Situationen, in denen sie zwischen einer geordneten und einer ungeordneten Form zu wählen hatten, sich für die bestimmtere und rhythmischere Form entschieden. Er machte ferner die sehr bezeichnende Entdeckung, daß die Tiere, wenn man einen farblichen Bevorzugungstest nach gewissen Zeitabschnitten wiederholte, ihre Vorliebe geändert hatten. Rensch bezeichnete die Fähigkeit zu solchen Änderungen im Verhalten des Menschenaffen und Kleinaffen als ästhetische Mode.«

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Eine ebenfalls von Desmond Morris zitierte Wissenschaftlern!, Rhoda Kellogg, die das Phänomen der Kinderzeichnungen untersuchte, stellte einen Katalog der Entwicklungsstationen zusammen, die das kindliche Formgestalten durchläuft. Sie gliederte diesen Katalog in »fünf Grundstufen bildnerisch-graphischer Differenzierung beim menschlichen Kind«, die sie im einzelnen folgendermaßen kennzeichnet:

1. die Kritzeltypen;

2. die Diagramme;

3. die Kombinationsformen;

4. die Häufungsformen;

5. die Darstellungsstufe.

Wer Kinder verschiedener Lebensalter einmal beim Zeichnen aufmerksam beobachtete, wird die Zuständigkeit dieses Schemas bestätigen. Er wird aber auch beim Betrachten bildnerischer Versuche malender Schimpansen mit Erstaunen feststellen, daß sich diese Blätter im Prinzip kaum von den Kleinkinderzeichnungen unterscheiden: Beide Zeugnisse primitiver Graphik gehorchen nämlich den gleichen Formgesetzen — sie bekunden den gleichen raumzeitlichen Ordnungswillen. Im Gegensatz zum Kind allerdings gelang bisher auch den zeichnerisch begabtesten Menschenaffen nie der Vorstoß zur Darstellungsstufe. Ihre Zeichnungen verharren in der unbeholfenen Gliederung rhythmischer und räumlicher Verhältnisse, wobei jedoch immerhin schon einfache Formdifferenzierungen als diagrammähnliche Gebilde auftauchen, die sogar miteinander kombiniert werden.

Mit diesen Vorformen künstlerischen Gestaltens korrespondieren offensichtlich die schon angedeuteten geometrischen Stilelemente früharchaischer Epochen — eine Tatsache, die uns den Analogieschluß geradezu aufdrängt, daß auch die uns bekanntgewordenen Höhlenzeichnungen bereits die »Darstellungsstufe« bildnerischen Gestaltens repräsentieren. Wären uns Zeugnisse früherer Kunstbemühungen des Vormenschen überliefert, so würden sie mit Sicherheit geometrische Muster zeigen.

Was bürgt für die Wahrscheinlichkeit dieser Annahme?

Desmond Morris erleichert uns die Antwort auf diese Frage, indem er die bildnerische Tätigkeit seiner Schimpansen als eine »Aktivität um ihrer selbst willen« deutet, als eine Aktivität, die

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— nach seinen Worten — »kein biologisches Ziel« hat: »Sie kann im allgemeinen nur bei Tieren auftreten, die ihre fundamentalen Existenzgrundlagen gesichert wissen und infolgedessen über eine zusätzliche nervliche Energie verfügen, für die sie ein Ventil suchen.«

Infolgedessen sind aktive Tiere geradezu prädestiniert, ihre ungenutzte Energie ohne biologisches Ziel, das heißt: ohne arterhaltenden Zweck abzureagieren, sobald sie über Freizeit verfügen. Für Tiere, die auf Abwarten und Lauern, wie z. B. die Schlangen, spezialisiert sind, stellt sich dieses Problem nicht; die Evolution stattete sie mit genug Phlegma aus, um die Langeweile ertragen zu können. Sie verspüren auch nicht das Bedürfnis, zu spielen. Der Mensch hingegen leidet unter der Langeweile mehr als jedes andere höhere Lebewesen; nicht zuletzt beweist sein unersättliches Neugierverhalten einen Tatendrang, den er biologisch zweckgebunden nicht mehr befriedigen kann und für den er neue Objekte, neue Ziele sucht.

Jeder Mensch kennt die Situation der inaktiven Langeweile. Und gewiß erinnert er sich auch daran, wie er diese Situation gelegentlich überbrückte: Er furchte mit einem Stock Figuren in den Sand, malte mit verschüttetem Bier Kringel auf den Wirtshaustisch oder kritzelte auf die Schreibunterlage, die vor ihm auf dem Konferenztisch lag, sinnlose Lineaturen. Nur selten stellen diese' Figurationen etwas dar; allenfalls wird ein Männchen erkennbar, das jedoch eher einer Kombination aus abstrakten Diagrammen ähnelt als der Abbildung einer wirklichen Gestaltqualität. Das geometrische Prinzip herrscht zweifellos vor; und wie der Schimpanse, der seine Aktivität um ihrer selbst willen in graphische Gebilde umsetzt, balanciert auch der phantasiebegabte Mensch seine aus der Langeweile geborenen Kritzeleien raumzeitlich aus; er füllt die Fläche nicht willkürlich mit seinen Zeichen, sondern versucht, ohne daß er sich dessen recht bewußt wird, Proportionen und Symmetrien herzustellen. Damit aber gehorcht seine Hand, indem sie gestaute Aktivität in biologisch sinnlose Ausdrucksbewegungen umsetzt, dem Gesetz, das Goethe treffend als »die Form in deinem Geist« charakterisierte, und das uns wieder auf die Tatsachen der Evolution zurückverweist.

Denn die baumbewohnenden Urzeitvorfahren des homo sapiens waren, wie wir gehört haben, auf ihren Lebensraum dadurch spezialisiert, daß ihnen die Fähigkeit des binokularen Sehens und damit urteilenden Abschätzens einer raumzeitlichen

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Situation zuteil geworden war. Wollten sie unter Einberechnung der eigenen Körperschwere beim Hangeln von Ast zu Ast nicht in Gefahr geraten, abzustürzen, so mußten sie darauf bedacht sein, sich stets im Gleichgewicht zu halten. Das heißt: sie mußten, sobald sie den nächsten Sprung wagten, nicht nur die Tragfähigkeit des Geästes kalkulieren, sondern auch jenen Punkt ins Auge fassen, der ihnen Gleichgewicht, also: gleiche Gewichtsverteilung versprach. Aus diesem Grund werden wir noch heute ärgerlich, wenn zum Beispiel ein Bild schief hängt oder sonst Unordnung in der Wohnung herrscht. Wir rücken die Dinge zurecht und bringen sie in ein ausgewogenes Spannungsverhältnis zueinander, weil wir uns darin sicherer fühlen als in einer Umgebung, die uns - wie auch der Sprachgebrauch des Alltags besagt - »aus dem Gleichgewicht bringt«.

Das hergestellte Gleichgewicht in einer an sich sinnlosen Kritzelei ist gleichsam die einfachste ästhetische Form und zugleich das Grundmuster künstlerischer Vollendung - ob sich nun das Kunstwerk im Material der Sprache, des Steins, der Farbe, der Töne oder durch die Ausdrucksbewegung des menschlichen Körpers als Tanz oder mimische Darstellung verwirklicht.

Der frühe Mensch war biologisch nicht gezwungen, die •wahrgenommenen und »im Geist« als Modell reproduzierten Gestaltqualitäten seiner Wirklichkeit graphisch zu fixieren. Die Fähigkeit, »unbenannt« denken zu können, reichte aus zur arterhaltenden Daseinssicherung. Deshalb kam er, vereinfacht ausgedrückt, auch gar nicht auf die Idee, die Kritzelprodukte seiner Mußestunden zu Umrißlinien von Bildern aufzuwerten. Er begnügte sich vorerst damit, die Ergebnisse zweckloser Ausdrucksbewegungen spielerisch in eine gewisse Ordnung zu bringen, wobei ihm das von der Evolution überlieferte Wahrnehmungserbe das Grundgesetz dieser Ordnung, nämlich das raumzeitliche Gleichgewicht, eindeutig vorschrieb. Allmählich aber begann dieses Spiel den homo sapiens, der sich seiner planetarischen Überlegenheit über die anderen Geschöpfe zunehmend bewußt wurde und sich dadurch den »Kampf ums Dasein« wesentlich erleichtern konnte, stärker zu fesseln. Er erkannte, daß sich ihm hier eine Möglichkeit bot, die (nach Morris) freigewordene, biologisch ungenutzte »überschüssige Nervenenergie« in eine Tätigkeit zu investieren, die Empfindungen, also körperliche Reaktionen vornehmlich angenehmer Qualität, hervorrief.

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Indem er raumzeitliche Dissonanzen, etwa in Form wilden Gekritzels, in Harmonien, also in gegeneinander ausgewogene Lineaturen, verwandelte, wurde ihm Genuß zuteil - ein Genuß, den er, erst einmal auf den Geschmack gekommen, durch immer neue Formerweiterungen und -verschränkungen zu erhöhen und zu verfeinern trachtete. Schließlich fand er heraus, daß die bisher nur als raumzeitliche Spannung erlebten »Formgenüsse« in noch höherem Maße zugänglich wurden, wenn die graphische Notiz die Grenze wohlgeordneten geometrischen Dekors überschritt, und versuchte, Wirklichkeitsbilder oder besser: zu Vorstellungsmodellen verdichtete Wirklichkeitsbilder darzustellen.

Aber diese Bilder waren, obwohl auch sie keinen unmittelbaren biologischen Bezug erkennen ließen, nun nicht mehr spielerisch geordnete Zufallsprodukte einer sich selbst genügenden Aktivität, sondern offenbarten einen »Sinn«. Sie repräsentierten Informations- und damit auch Bildungswerte, die das Nachdenken des Menschen über die eigene Existenz und über die wahrgenommene Außenwelt entschieden förderten.

Das heißt: durch die Fähigkeit, seine Erlebniswelt in Bildern festzuhalten, wurde dem homo sapiens sowohl das eigene Dasein als auch die wahrgenommene Wirklichkeit »verfügbar«. Er konnte sich selbst und die Welt, in der er lebte, reflektierend anschauen und seine Erkenntnisse und Visionen kommunikativ mitteilen. Indem er jedoch die Bilder seiner Erlebniswelt fixierte, benannte er sie auch; aus dem »unbenannten« Denken wurde benanntes Denken, das sich nicht zuletzt als Sprache in des Wortes zutreffendster Bedeutung »verwirklichte«.

Halten wir fest, daß offenbar zwei Faktoren den Reizwert eines reproduzierten Vorstellungsmodells vorherrschend bestimmen, nämlich deren stoffliche Erscheinungsform und die ihr innewohnende Intensität. Das heißt: jede Form gewinnt erst dann Leben (und kann demnach auch »erlebt« werden), wenn sie energetisch aufgeladen wird, und jede Intensität hinwiederum kann sich nur durch das Medium der Form - oder in unserem Sinn genauer formuliert, der Gestalt mitteilen. Es gibt keinen Raum (und damit keine Form) ohne Zeit, und Zeit kann nicht erscheinen und erlebbar werden ohne Raum. Materie und Energie sind aufeinander angewiesen, sie bilden eine polar gespannte raumzeitliche Einheit.

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Heraklit, der Urvater der abendländischen Philosophie, ahnte intuitiv diese Zusammenhänge, als er den Rhythmus von Werden und Vergehen, dem sich alles Lebendige unterwerfen muß, als »Dauer im Wechsel« begriff und das Leben selbst als »ewiges Werden«, als unablässigen Prozeß also, definierte. Die moderne naturwissenschaftliche Forschung bekräftigt zweieinhalb Jahrtausende später diese Einsicht durch faktische Beweise. Wenn Wolfgang Wieser, einer der scharfsinnigsten Interpreten organischer Strukturen, heute schreibt, das »Wesen der biologischen Organisation« bestehe »in der Entfaltung des organischen Materials, der Eiweißstoffe, Kohlehydrate und Fette, in einer ganz spezifischen Raum-Zeit-Ordnung« - so liest sich das wie ein naturwissenschaftlicher Kommentar zu den spärlich überlieferten Fragmenten des großen Vorsokratikers.

Die raumzeitlichen Ordnungen, die von der Natur geschaffen werden, »stimmen« sozusagen a priori. Sie sind in sich vollkommen, da sie mit dem gesamten Naturgeschehen in Einklang stehen. Wird die polare Spannung zwischen Körper und Energie in einem Organismus nachhaltig gestört, so zieht dieser gleichsam die Konsequenz, indem er sich auflöst. Die labilen Organstrukturen, die sich in ständigem Werdeprozeß immer wieder neu aufbauen und erhalten müssen, zerfallen und geben sowohl die Bausteine der Materie als auch die Kräfte der Energie für die Geburt anderer Organismen frei. Der Gesamthaushalt der Schöpfung gerät dadurch keineswegs aus dem Gleichgewicht, sondern erhält sich in diesem ewigen Erneuerungsprozeß jung und produktiv. »Der Tod«, so heißt es in einem, dem jungen Goethe zugeschriebenen Aufsatz des <Tiefurter Journals>, »der Tod ist ein Kunstgriff der Natur, viel Leben zu haben...«

Über die universale Fähigkeit, polare Prozesse zu harmonisieren, verfügt der schöpferische Mensch allerdings nicht, wenn er versucht, die Gestaltqualitäten seiner Einbildungskraft festzuhalten und zu veranschaulichen, es sei denn, ihm würde, wie Heinrich von Kleist in seinem genialen Aufsatz >Über das Marionettentheater schrieb, ein unendliches (und das heißt: göttliches) Bewußtsein zuteil. Da ihm dieses unendliche Bewußtsein jedoch unerreichbar bleibt, muß er danach trachten, wenigstens in Übereinstimmung mit den ihm eingeborenen Naturgesetzen seinen selbstgeschaffenen Werken jene ausgewogene raumzeitliche Spannung mitzuteilen, die mitmenschliche Wirkung verbürgt - und zwar Wirkung im Sinn einer Reizauslösung und einer darauf erfolgenden leibseelischen Reaktion.

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Mit anderen Worten (und übertragen auf unser besonderes Problem): Ein formal gelungenes Bild kann dennoch blaß und langweilig anmuten, weil ihm die energetische Spannung mangelt, und umgekehrt überzeugt eine Darstellung kaum, in der sich ungebärde Kraft ohne formale Zucht manifestiert.

In der >Geschichte der Farbenlehre< sagt Goethe: »Gehalt ohne Methode führt zu Schwärmerei, Methode ohne Gehalt zum leeren Klügeln; Stoff ohne Form zum beschwerlichen Wissen, Form ohne Stoff zu einem hohlen Wähnen.«

Sind Form und Gehalt nicht miteinander im Einklang, verschränken sie sich nicht zu einer polar gespannten Einheit, so leidet unter diesem Verhältnis die dargestellte Gestaltqualität, und wir beantworten die Wahrnehmung derartiger Gebilde mit »gemischten Gefühlen«. Auch hier also gibt der allgemeine Sprachgebrauch treffenden Aufschluß über die eigentümliche physiologisch-psychologische Reaktion unseres Organismus auf die Reize unausgewogener Wirklichkeitsmodelle. Wir ziehen das Vollkommene dem Unvollkommenen, das Harmonische dem Dissonanten und Klarheit dem Unklaren effektiv vor, weil uns der Ausgleich polarer raumzeitlicher Lebensspannungen fasziniert und uns Glücksgefühle spendet.

Auf diesen Zusammenhang verweist zum Beispiel auch Friedrich Schiller in seiner Schrift <Über das Vergnügen an tragischen Gegenständen>:

»Daß der Zweck der Natur mit dem Menschen seine Glückseligkeit sei, wenn auch der Mensch selbst in seinem moralischen Handeln von diesem Zweck nichts wissen soll, wird wohl niemand bezweifeln, der überhaupt nur einen Zweck der Natur annimmt. Mit dieser also, oder vielmehr mit ihrem Urheber haben die Schönen Künste ihren Zweck gemein, Vergnügen auszuspenden und glücklich zu machen.«

Diese Einsicht entsprang keineswegs einer idealistischen Marotte Schillers, sondern sie verrät eine geradezu hellsichtige Erkenntnis leibseelischer Vorgänge. Da Organstrukturen labil sind und sich, wie wir bereits andeuteten, in einem ständigen Werdeprozeß immer wieder neu herstellen, versucht der Organismus die auf ihn eindringenden Informationen stets so zu verarbeiten, daß sie das Gleichgewicht der Organstruktur nicht stören, sondern es vielmehr stützen.

Hierzu schreibt Wolfgang Wieser: »Die Hauptaufgabe der Gesamtfunktionen des Nervensystems sind die Übersetzung von Umwelteinflüssen in motorische Leistungen sowie die Koordination physiologischer Prozesse zur Aufrechterhaltung des <inneren Gleichgewichts> der Organismen.«

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Dieses »innere Gleichgewicht des Organismus« ruft ein Wohlbefinden hervor, das wir gern akzeptieren. Und das heißt: indem die Natur auf Ausgleich ihres Lebenshaushaltes bedacht ist, spendet sie uns »Glück«. Nichts anderes wollte Schiller aussagen, als er den bedeutsamen Satz niederschrieb, der »Zweck der Natur mit dem Menschen« sei auf dessen »Glückseligkeit« gerichtet. Daß wir diese Bemerkung in einem Aufsatz mit dem scheinbar paradoxen Titel <Über das Vergnügen an tragischen Gegenständen> entdecken, entrückt den Begriff »Glück« profaner Ausdeutung; gerade in diesem Zusammenhang gewinnt er seine antikische Dimension zurück.

Äußert sich doch das »Vergnügen an tragischen Gegenständen« nicht zuletzt in der von Aristoteles beschriebenen Katharsis, der Reinigung, die das Erlebnis der Tragödie auslöst. Diese Katharsis kennzeichnet im Grund nichts anderes als das leibseelische Wohlbefinden, das sich einstellt, sobald der tragische Konflikt (der ja die lebensproblematische Störung eines Gleichgewichtes an einem Lebensmodell exemplifiziert) sich löst und die Lebensordnung wiederhergestellt ist.

Der Zuschauer nimmt teil an einem Prozeß, der ihm die Vermessenheit menschlicher Taten und das Walten des ausgleichenden, die Einordnung des Menschen in die kosmische Ordnung des Naturgeschehens gebieterisch fordernden Schicksals vor Augen führt. Indem er diesen Prozeß in seiner schrecklichen, die Existenz des Individuums auslöschenden Tragik erlebt, wird ihm zugleich Einsicht in die höhere, auf harmonischen Ausgleich bedachte Weltordnung zuteil. Der Untergang des tragisch aufbegehrenden Einzelnen bestärkt auf dem Weg über die ästhetische Empfindung der Katharsis das Seinsvertrauen der Nachlebenden und bescheidet ihnen damit im tiefsten Sinn des Wortes »Glück«.

Daß sich dieses »Glück«, dieses »Vergnügen an tragischen Gegenständen« und damit an den polaren Spannungen des Daseins als erotisches Leib-Seele-Erlebnis mitteilt, hat Friedrich Nietzsche in seinem genialen Frühwerk >Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik< mit hinreißender Beredsamkeit geschildert. Er interpretierte in dieser Schrift den dionysischen Urgrund des Lebens; Dionysos versinnbildlicht die zeugende und zerstörende Urkraft der Natur, jenen kosmischen Eros, den Sophokles einen »Allsieger im Kampf« nennt. Kein Unsterblicher, so heißt es in dem berühmten Chorlied der Antigone-Tragödie, »kein Unsterblicher ist je dir entflohn, auch kein sterblicher Mensch entgeht dir. Wen du ergreifst, der raset.«

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Rasend erscheint auch Dionysos, und im Rausch erotischer Lebenssteigerung huldigen ihm die Menschen, weil er ihnen das einige, glühende Leben verkündet. »Erst aus dem dionysischen Geist der Musik heraus«, sagt Nietzsche, »verstehen wir eine Freude an der Vernichtung des Individuums. Denn an den einzelnen Beispielen einer solchen Vernichtung wird uns nur das ewige Phänomen der dionysischen Kunst deutlich gemacht, die den Willen in seiner Allmacht gleichsam hinter dem principio individuationis, das ewige Leben jenseits aller Erscheinung und trotz aller Vernichtung zum Ausdruck bringt. Die metaphysische Freude am Tragischen ist eine Übersetzung der instinktiv unbewußten dionysischen Weisheit in die Sprache des Bildes: der Held, die höchste Willenserscheinung, wird zu unserer Lust verneint, weil er doch nur Erscheinung ist und das ewige Leben des Willens durch seine Vernichtung nicht berührt wird. <Wir glauben an das ewige Leben>, so ruft die Tragödie; während die Musik die unmittelbare Idee dieses Lebens ist.«

Der von Dionysos verneinte Held und das Glück, das wir über dessen Vernichtung empfinden, verweist uns zugleich auf die tragische Komponente des unspezialisierten und durch den Gewinn von Muße zur Freiheit verurteilten homo sapiens - sie verweist uns auf den Täter, der seiner Natur nach auch dann handeln muß, wenn biologisch kein Anlaß zur Aktivität gegeben ist. Die überschüssige Energie seiner Nerven bedarf eines Ventils - und dieses Ventil heißt Aggression.

Daß Aggression den Lebenshaushalt entscheidend reguliert, demonstrierte Konrad Lorenz in seinem Werk >Das sogenannte Böse< an überzeugenden Beispielen. »Der Krieg ist der Vater aller Dinge«, sagte schon Heraklit, und Johann Wilhelm Ritter, der frühverstorbene Physiker der deutschen Romantik, notierte: 

»Die Natur ist ein Handeln, und nur insofern ist sie Natur. Handeln erfordert aber ein Mannigfaltiges, denn nur dadurch wird ein Handeln, und mit dem Mannigfaltigen fällt auch das Handeln weg. Handeln setzt also Differenz voraus. Diese aber ist Gegensatz, Polarität. Und da Natur ist, wo Handeln ist, so muß deshalb auch überall Polarität sein.«

Das Gesetz des Handelns, von Goethe im <Faust> lapidar durch den Satz unterstrichen: »Im Anfang war die Tat!« - dieses Gesetz des Handelns, der tätigen, aggressiven Auseinandersetzung mit der Umwelt, hypertrophiert also bei der Spezies homo sapiens zur tragischen Hybris: Der Mensch lehnt sich auf gegen die ihm auferlegte Ordnung der Welt, er verstrickt sich, vom eigenen Willen verführt, in ausweglose Situationen und begeht Taten, deren biologische Sinnlosigkeit ihrem Pathos geradezu hohnlacht.

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Unter dem Eindruck dieser heroischen Vergeblichkeit und erschauernd vor der kosmischen Ironie, die für die Freiheit der Täter keine Lorbeerkränze, sondern nur Vernichtung bereithält, entstanden nicht nur Mythos und Religion, sondern entstand auch die Kunst. Religion und Kunst wollen den Menschen mit seiner Existenz und mit der Schöpfung wieder versöhnen, indem sie ihn die höheren Ordnungen des Daseins ahnen oder ihm sogar zur Gewißheit werden lassen im Erlebnis des kosmischen Eros.

Nietzsche bestätigt diese Erkenntnis in einem knappen Aphorismus, der besagt: »Das Verlangen nach Kunst und Schönheit ist ein indirektes Verlangen nach den Entzückungen des Geschlechtstriebes, welche er dem Cerebrum mitteilt: die vollkommen gewordene Welt durch Liebe.«

Mit anderen Worten: der Künstler stellt die Welt, wie sie sein soll, im Kunstwerk wieder her; er schafft, um mit Hölderlin zu sprechen, »Versöhnung mitten im Streit«, indem er die raumzeitliche Spannung des polaren Naturgeschehens durch seine schöpferische Tat in das beglückende Erlebnis einer dynamischen Harmonie, nämlich der heraklitischen »Dauer im Wechsel« verwandelt. Er kommt der Natur zu Hilfe in dem von Schiller so klar erkannten Bemühen, die Glückseligkeit des Menschengeschlechts zu befördern und dem homo sapiens die verriegelten Pforten des Paradieses wieder zu öffnen.

In diesem Sinn begreifen wir auch den tiefsinnigen Realismus der Bemerkung Nietzsches, Kunst sei »eine organische Funktion«. In der Tat übernimmt, wie wir darzustellen versuchten, die Kunst die Rolle eines Regulators, der die Hybris menschlicher Freiheit und damit verhängnisvoll freigesetzter täterischer Energie eindämmt, bevor sie in zynisch-selbstzerstörerischem Nihilismus endet.

Mit dem Verlust der Kunst begibt sich der Mensch seines wichtigsten Kommunikationsmittels, das ihm die Zwiesprache mit der Schöpfung als Erlebnis, und das heißt: als Wirklichkeit erlaubte. Gedanke und Reflexion können diesen Verlust niemals ersetzen, wie die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft drastisch beweist. Sie fördern einerseits die Spekulation und andererseits eine vordergründige materialistische Gesinnung; beide Verhaltensweisen aber entfernen sich von der menschlichen Wahrheit mit verhängnisvoller Konsequenz, weil

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sie den Menschen seinem Ursprung entfremden, dem er durch seine leibseelische Organstruktur jedoch verpflichtet bleibt. Dieser Zwiespalt gebiert jene Zivilisations-Neurose, unter der wir leiden und die uns zu den geschilderten Übersprungbewegungen in Gestalt technischer und wirtschaftlicher Gigantomachie aufstachelt.

Nicht ohne tieferen Grund schlössen daher in Zeiten kulturellen Aufbruchs Religion und Kunst stets ein inniges Bündnis; bediente sich doch die Religion der Kunst, um das Walten kosmischer Harmonie anschaulich zu vergegenwärtigen und dadurch erlebbar zu machen. Nur die Kunst eignete sich für diese Vermittlung göttlicher Offenbarung, weil nur sie über die Sinne jene leibseelische »Stimmung« des menschlichen Organismus auslösen konnte durch das Gleichnis der Harmonie, das sie in Bild, Ton, Wort und körperlicher Ausdrucksbewegung beschwor. Die evolutionären Faktoren der Menschwerdung, die für diese Beschwörung die, ein wenig profan und vereinfachend ausgedrückt, »technischen« Voraussetzungen lieferten, stellten wir bereits ausführlich dar. Jedoch sei uns noch ein Wort erlaubt über das erotische Moment der Kunst, das nicht zuletzt deren faszinierende Wirkung bedingt.

Wenn Nietzsche sagte, Kunst sei die »vollkommen gewordene Welt durch Liebe«, so versuchte er durch diese knappe Formel den kosmischen Vereinigungs­drang aller Teile der Schöpfung, die »ewige Werdelust« als Grundmotiv künstlerischer Phänomene zu pointieren. Die differenzierten polaren Spannungen der vielfältigen Lebenserscheinungen erzwingen, wie wir dem Zitat von Johann Wilhelm Ritter entnahmen, Handlung. Nur Handlung kann Gegensätze ausgleichen und sie zu einer Einheit zusammenschließen. Wo Handlung, wo Geschehen sich offenbart, ist Leben. Je heftiger die Spannungen zwischen Materie und Energie, zwischen Raum und Zeit in Erscheinung treten, je nachdrücklicher sie vom Organismus wahrgenommen und »verarbeitet« werden, desto intensiver bekundet sich die Lust, die der Organismus nach derartiger Steigerung an der Lösung dieser Spannungen gewinnt. Er nimmt an einem Lebensprozeß teil, er erlebt ihn mit allen Fasern seiner Existenz und wird durch ihn aktiviert. Die Entspannung aber dokumentiert nichts anderes als das Glücksgefühl über den Spannungsausgleich polarer Gegensätze in einer neu hergestellten raumzeitlichen Einheit.

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Um das Gesagte zu unterstreichen, seien hier noch drei Aphorismen von Nietzsche angeführt, die folgendermaßen lauten:

»Alle Kunst wirkt als Suggestion auf die Muskeln und Sinne, welche ursprünglich beim naiven künstlerischen Menschen tätig sind: sie redet immer nur zu Künstlern - sie redet zu dieser Art von freier Beweglichkeit des Leibes.«

»Alle Kunst wirkt tonisch, mehrt die Lust.«

»Schönheit ist deshalb für den Künstler etwas außer aller Rangordnung, weil in der Schönheit Gegensätze gebändigt sind, das höchste Zeichen von Macht, nämlich über Entgegengesetztes; außerdem ohne Spannung - daß keine Gewalt mehr nottut, daß alles so leicht folgt, gehorcht, und zum Gehorsam die liebenswürdigste Miene macht - das ergötzt den Machtwillen des Künstlers.«

In diesem Sinn kann in der Tat, wie Nietzsche vermutet, nicht nur jede künstlerische Schöpfung, sondern auch jedes Erlebnis schlechthin als Zeugungsakt aufgefaßt werden, weil sich in ihm das Leben - auch hier drängt sich erneut Heraklits Weltformel auf - als »Dauer im Wechsel« erneuert. Ist also der Krieg der Vater aller Dinge, so erweist sich die Liebe als die Mutter aller Dinge, da sie den Widerstreit des Lebendigen immer wieder ausgleicht und aus ihm neues Leben gewinnt. Das Sinnbild der Urmutter, das Johann Bachofen in den Nekropolen der alten Welt entdeckte und tiefsinnig interpretierte, verleiht dieser Anschauung naiv-großartigen Ausdruck. Wie überhaupt die Götterwelt mythischer Zeiten ein intuitives Weltverständnis bekundet, das die Spekulationen spätzeitlicher Philosophie weit überragt.

Geburt und Tod erscheinen, wie Bachofen aus einer Fülle von archäologischen Belegen zur Gräbersymbolik schlüssig darstellt, im Toten- und Ahnenkult früher Menschheitsepochen eng verschwistert. Im Symbol des Eies faßt der frühgeschichtliche Mensch das Erlebnis des mütterlichen Kosmos genial in das einfachste Bild: »Das Ei umschließt in sich alle Teile der stofflichen Welt, Himmel und Erde, Licht und Finsternis, die männliche und weibliche Naturpotenz, den Strom des Werdens und Vergehens, den Keim aller tellurischen Organismen.«

Im Bild des seilflechtenden Oknos schließlich verdeutlicht Bachofen an einem der großartigsten Beispiele mythischer Bildsprache die frühmenschliche Welterfahrung. Das Bild selbst ist einfach, ja primitiv: Oknos flicht ein Seil, das von einer Eselin aufgefressen wird. Aber das scharfe Auge des Psychologen entdeckt die tieferen Bezüge:

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»Unter dem Bilde des Spinnens und Webens ist die Tätigkeit der bildenden, formenden Naturkraft dargestellt. Die Arbeit der großen stofflichen Urmütter wird dem kunstreichen Flechten und Wirken verglichen, das dem rohen Stoffe Gliederung, symmetrische Form und Feinheit verleiht ... In das Gewebe, aus welchem jeder tellurische Organismus besteht, wird der Faden des Todes mit hineingewoben. Untergang ist das oberste Naturgesetz, das Fatum des stofflichen Lebens, vor dem selbst die Götter sich beugen ... So wird das Gewebe der tellurischen Schöpfung zum Schicksalsgespinst.«

Die Eselin, das heilige Tier, vertritt im Bilde des seilflechtenden Oknos das zerstörende Lebensprinzip; denn sie frißt das kunstvoll geflochtene Seil unablässig wieder auf. Als Inkarnation der Mutter versinnbildlicht sie »die Örtlichkeit, aus welcher der (unter diesem Sinnbild bestattete) Tote bei der Geburt hervorging und in die er beim Tode wieder zurückging«. So verdeutlicht das Symbol nicht nur kosmische Wirklichkeit, es stellt sie nicht nur dar, sondern sie wohnt ihm inne: Das Symbol ist Wirklichkeit, weil es die Gesetze der Schöpfung am lebendigen Modell veranschaulicht.

Mit anderen Worten: der Mensch könnte die Botschaft der Kunst unmöglich unabhängig von ihrem Entstehungsprozeß und aus der zeitlichen Distanz von Jahren, Jahrzehnten, Jahrhunderten oder gar Jahrtausenden erlebend genießen, wenn sie nur stoffliche Abbilder der wahrgenommenen Außenwelt vermittelte. Vielmehr muß in ihr eine Kraft wirksam sein, die sich über die Schranken von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft hinwegsetzt und Allgegenwart, das heißt: kosmische Ewigkeit - oder einfacher ausgedrückt: Leben repräsentiert. Da der Künstler seine Vorstellungsmodelle unmittelbar aus der Natur gewann - woraus er sie heute nur beschränkt gewinnt, weil ihm die vom Menschen geschaffene künstliche Umwelt den Blick verstellt - und da er diese Modelle durch die naturgesetzlichen Fähigkeiten, die ihm die menschliche Entwicklungsgeschichte zusprach, festhielt und reproduzierte, wurde ihnen Wahrheit zuteil. Sie stimmten mit der Schöpfung überein. Goethe sagt in den >Maximen und Reflexionen<: »Das ist die wahre Symbolik, wo das Besondere das Allgemeine repräsentiert, nicht als Traum und Schatten, sondern als lebendig augenblickliche Offenbarung des Unerforschlichen.«

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Wodurch aber wird die von Goethe vermerkte symbolische Offenbarung zum Kunstwerk? Wodurch gewinnt sie ihre erregende, aufregende und schließlich Glückseligkeit stimulierende Ausdruckskraft? Warum kann sie nicht auch die detailgerechte Photographie der wahrgenommenen Wirklichkeit mitteilen? Und warum sprechen wir dem Kunstwerk, sofern es Originalität, das heißt: Ursprünglichkeit besitzt und sich nicht zum kitschigen Klischee erniedrigt - warum sprechen wir diesem Kunstwerk die Qualität des Wesentlichen zu, dem Produkt der »naturgetreu« abbildenden Photolinse jedoch nicht?

Nun, wer diesen Ausführungen bis hierher aufmerksam folgte, ahnt vielleicht bereits die Antwort auf diese Grundfragen. Sie kann nur lauten: es sind die Qualitäten des Stils, die das Kunstwerk prägen. Nietzsche, einer der bedeutendsten Ergrün-der ästhetischen Verhaltens, auf den wir uns im Verlauf unserer Darstellung oft beriefen - Friedrich Nietzsche prägte den Satz: »Simplizität des Stils sei das Merkmal des Genius«, und er fügte hinzu: »Das höchste Gefühl von Macht kommt in dem zum Ausdruck, was großes Stil hat.«

Was aber ist Stil? Erinnern wir uns an die Eigenschaften, die wir an den Vorstellungsmodellen des unbenannten Denkens feststellen, so erkennen wir, daß die Reproduktion wahrgenommener Wirklichkeitsbilder deren Merkmale auf wesentliche Bezugspunkte beschränken, sie dadurch vereinfachen. Dieser Vorgang der Abstraktion, fermentiert durch die subjektive »Stimmung« des schöpferischen Individuums, verdichtet die Bildinhalte und verstärkt damit ihre reizauslösende Kraft. Das heißt: durch die Form wird der Gehalt des Bildes komprimiert, seine bewegenden und erregenden Kräfte kommen deutlicher zum Ausdruck.

Je überlegener und einfacher dieser Ausdruck erreicht wird, um so überzeugender »wirkt« das reproduzierte Bild. Umgekehrt jedoch verliert der durch wesentliche Merkmale ausgelöste Reiz seine allgemein verbindliche Wirkung durch raffinierte Differenzierung; er avanciert sozusagen zur Exklusivität, die nicht mehr der Menschheit schlechthin, sondern nur einer Elite zugänglich wird. An dem Unterschied zwischen Volkskunst und Hochkunst, aber auch an dem Unterschied zwischen archaischen und spätzeitlichen Kunstwerken läßt sich dieser Prozeß kultureller Verfeinerung unter Verzicht auf allgemeine Verbindlichkeit beweiskräftig ablesen.

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Halten wir fest, daß die Tatsache der Wirklichkeitsverdichtung dem dargestellten Wirklichkeitsmodell die Faszination verleiht, der wir uns unter angenehmen Empfindungen gerne ausliefern. Wir gewinnen, indem wir uns an den Vorstellungsmodellen ergötzen, sozusagen Wahrnehmungszeit, oder besser gesagt: Zeit wird energetisch gerafft und dadurch intensiviert. In den Wirklichkeitsmodellen, die der Mensch entwirft, spricht sich die Schöpfung »nachdrücklicher« aus als in der de facto wahrgenommenen Wirklichkeit.

Mit dieser Feststellung erhalten wir auch Antwort auf die Frage nach der Naturnachahmung, die in der Auseinandersetzung über ästhetische Phänomene eine erhebliche Rolle spielt. Nach all dem, was hier gesagt wurde, kann es nie Aufgabe der Kunst sein, die Natur im Sinne eines möglichst getreuen Abklatsches nachzuäffen, sondern sie wird - nach dem ihr innewohnenden Gesetz - stets auf Verdichtung und Stil, auf Abstraktion im weitesten Sinne des Wortes drängen. Goethe sagt: »Im gemeinen Leben kommen wir mit der Sprache notdürftig fort, weil wir nur oberflächliche Verhältnisse bezeichnen. Sobald von tieferen Verhältnissen die Rede ist, tritt sogleich eine andere Sprache ein, die poetische.«

Die Abhängigkeit der poetischen Sprache von den Grundtatsachen natürlichen Geschehens und damit von dem Gang der menschlichen Entwicklungs­geschichte wird hier nicht zum ersten Mal vorgetragen. Seit Plato und Aristoteles, wie wir am Beispiel der Katharsis gesehen haben, bemühten sich die großen Geister des Abendlandes um die Entschlüsselung ästhetischer Phänomene, indem sie sich die Frage vorlegten, worin der Unterschied zwischen Naturwahrheit und Kunstwahrheit bestehe und was beiden gemeinsam sei. Keine Epoche aber befaßte sich intensiver mit diesem Problem, keine Epoche kam - ohne sich der Hilfsmittel moderner naturwissenschaftlicher Forschungsergebnisse bedienen zu können - den tatsächlichen Zusammenhängen gründlicher auf die Spur als die Zeit der klassisch-romantischen Bewegung in Deutschland, gerechnet von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts und kulminierend im Schaffen Goethes und Schillers.

Man könnte einen umfangreichen Katalog von Belegstellen aus jenen hundert Jahren anführen, die in faszinierender Vielfalt und von den verschiedensten Standpunkten her die Natur als den eigentlichen Urgrund und die große Lehrmeisterin der Kunst interpretieren und rühmen. 

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Selbst der kranke Hölderlin findet noch im Dunkel des Wahnsinns visionär stammelnde Worte für die zentrale Erkenntnis seines bewußten Daseins, daß dem Menschen durch die Kunst die göttlichen Harmonien des Kosmos erlebbar werden. Im zehnten Jahr seiner Umnachtung schrieb er die Verse:

»Die Linien des Lebens sind verschieden, 
Wie Wege sind, und wie der Berge Grenzen. 
Was hier wir sind, kann dort ein Gott ergänzen 
Mit Harmonien und ewigem Lohn und Frieden.«

Stellvertretend jedoch für die Einsicht der klassisch-romantischen Epoche deutschen Geistes in die Zusammenhänge von Natur und Kunst sei hier eine Rede angeführt, die einer der führenden Philosophen der Romantik, nämlich Schelling, am 12. Oktober 1807 zum Namensfest des Königs Maximilian Joseph von Bayern vor der Münchener Akademie der Wissenschaften hielt. Sie war dem Thema gewidmet <Über das Verhältnis der bildenden Künste zur Natur>, und darin heißt es:

»Die vielen Lehren, die über diesen Gegenstand (der Kunst) sich gebildet, sind doch noch immer viel zu wenig auf die Urquelle der Kunst zurückgegangen. Denn die meisten Künstler, ob sie gleich alle die Natur nachahmen sollen, erlangen doch selten einen Begriff, was das Wesen der Natur ist. Kenner aber und Denker finden es, der größeren Unzugänglichkeit der Natur wegen, meistens bequemer, ihre Theorien mehr aus der Betrachtung der Seele, als aus einer Wissenschaft der Natur herzuleiten. Solche Lehren sind aber gewöhnlich viel zu flach; sie sagen wohl im Allgemeinen manches Gute und Wahre über die Kunst, sind aber doch für den bildenden Künstler selbst unwirksam für die Ausübung.

Denn es soll die bildende Kunst, nach dem ältesten Ausdruck, eine stumme Dichtkunst sein. Der Erfinder dieser Erklärung wollte damit ohne Zweifel dieses sagen: sie soll, gleich jener, geistige Gedanken, Begriffe, deren Ursprung die Seele ist, aber nicht durch die Sprache, sondern wie die schweigende Natur durch Gestalt, durch Form, durch sinnliche, von ihr unabhängige Werke ausdrücken. Die bildende Kunst steht aber offenbar als ein tätiges Band zwischen der Seele und der Natur und kann nur in der lebendigen Mitte zwischen beiden erfaßt werden.

Ja, da sie das Verhältnis zu der Seele mit jeder anderen Kunst und namentlich der Poesie gemein hat, so bleibt die, wodurch sie mit der Natur verbunden und eine dieser ähnliche hervorbringende Kraft sein soll, als die ihr allein eigentümliche zurück: nur auf diese kann also auch eine Theorie sich beziehen, die für den Verstand befriedigend, für die Kunst selbst fördernd und ersprießlich sein soll.

Wir hoffen daher, indem wir die bildende Kunst im Verhältnis zu ihrem wahrhaften Vorbild und Urquell, der Natur, betrachten, einiges noch nicht Erkanntes zu ihrer Theorie beitragen zu können, einige genauere Bestimmungen oder Aufhellungen von Begriffen zu geben; vornehmlich aber den Zusammenhang des ganzen Gebäudes der Kunst in dem Licht einer höheren Notwendigkeit erscheinen zu lassen.«

Noch schärfer formuliert Friedrich Nietzsche, der philosophische Erbe klassisch-romantischen Geistes, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die biologischen Voraussetzungen ästhetischen Verhaltens, indem er den lapidaren Satz niederschreibt: »Ästhetik hat nur einen Sinn als Naturwissenschaft.«

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