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2. Jenseits von Schön und Häßlich.

Die Kunst als entscheidendes Element der Menschwerdung 

 

   1.Was ist Kunst?  

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Seitdem der Mensch über sich selbst und seine Stellung in der Welt nachdenkt, bedrängt ihn auch die Frage, was Kunst sei. Denn Kunst — das ist ein höchst merkwürdiges menschliches Phänomen: Ungeeignet zur Befriedigung täglicher Notdurft, wie überhaupt praktisch sehr unergiebig, üben die Kunst­werke dennoch eine eigentümliche Anziehungskraft auf die Menschen aus — eine Anziehungskraft, die selbst noch im Kunst-Surrogat, im trivialen Kitsch, nachwirkt.

Und das Merkwürdigste: mit der Generation, in der die Kunstwerke jeweils entstanden, stirbt, diese Anziehungskraft nicht dahin, sondern sie bleibt über Jahrtausende hinweg erhalten und ergreift die Nachlebenden wie etwas Gegenwärtiges. Die Verse der Sappho, des Praxiteles Bildwerke, die Trümmer des Parthenon, Mozarts <Zauberflöte>, die Dramen Shakespeares oder Rembrandts Selbstporträts — was ließ diese Werke nicht im Schutt der Geschichte untergehen, was machte sie unvergänglich?

Die Materie, in der sie sich erhalten haben, kann Unvergänglichkeit nur als stofflicher Träger gewährleisten. Die Farbe, die Leinwand, der Stein, das beschriebene und bedruckte Papier — sie sind Materialien, mehr nicht. Wohl sprechen auch diese Materialien, indem wir sie wahrnehmen, zu uns und lösen vielleicht sogar Empfindungen aus, je nachdem sie für unseren Lebenshaushalt notwendig erscheinen; aber zu fesseln über den Aspekt ihrer Nützlichkeit hinaus vermögen sie uns kaum. Erst wenn die Hand des Menschen dem Material Form verlieh oder ihm (in Form von Buchstaben) Formchiffren aufprägte, beginnt das Stoffliche Signale auszusenden, die mehr in uns erregen als nur kreatürliche Umweltneugier. Ein Dialog setzt ein, der den ganzen Menschen ergreift und das hervorruft, was man eine »Gemütsbewegung« nennt.

Dieser Vorgang erscheint um so merkwürdiger, als die Materie selbst auch im geformten Zustand doch die gleiche bleibt: Weder der Stein noch die Farbe noch die Leinwand verändern auch nur im geringsten ihre anorganische, also unlebendige Substanz - vom Papier, der Tinte und der Druckerschwärze erst gar nicht zu reden. Und doch gewinnen diese Materialien plötzlich Qualität durch ihre Bearbeitung oder Verwendung - was doch wohl bedeutet, daß der Mensch, der den Stoff bearbeitete oder Zeichen in ihn einritzte, diesem etwas hinzugefügt haben muß, das ihn, in des Adverbs tiefster Bedeutung, »wesentlich« verwandelte. 

Denn offensichtlich scheint die Materie durch die formende Tat des schöpferisch begabten Menschen derart mit »Wesen« beseelt worden zu sein, daß andere Menschen auf sie nicht nur wie auf etwas Lebendiges reagieren, sondern durch die Eigenart ihrer Reaktion auch noch zu erkennen geben, daß sie dem empfangenen Signal einen besonderen, über den animalischen Impuls hinausreichenden Wert beimessen - einen Wert, der ihr eigenes Lebensgefühl steigert, und zwar selbst dann noch, wenn er Furcht oder Schrecken erregt.

Was liegt nun näher als die Annahme, daß die Gestalt, in die der Mensch die Materie zwingt, der Auslöser dieser eigenartigen Wirkung sei? Doch diese Annahme trifft nur sehr eingeschränkt zu. Denn auch die Form bezeugt für sich genommen weder Seele noch ist sie lebendig; im Grunde ist sie nicht weniger starr und unfühlend als die Materie selbst. Der einzige Effekt, den sie beim Betrachter hervorzurufen vermag, ist allenfalls Staunen darüber, was Menschenhand rein technisch zu leisten vermag.

Demnach muß sich der Materie, indem sie geformt wird, wohl doch noch etwas mehr mitteilen als nur proportionales Arrangement, nämlich ein Sinn - und zwar ein Sinn, der ein zeitlich begrenztes Menschendasein zu überdauern vermag. Daraus wäre weiterhin zu folgern, daß das, was wir als den »Gehalt« eines Kunstwerks bezeichnen, offenbar so etwas wie einen überzeitlichen anthropologischen »Mehrwert« darstellt, der die Aufmerksamkeit ganzer Geschlechter­folgen auf sich zu ziehen und zu fesseln vermag - und das, obwohl, wie die Erfahrung lehrt, die menschliche Neugier, ist sie erst einmal befriedigt, gemeinhin sehr rasch zu erlahmen pflegt.

Worin besteht nun dieser Mehrwert und wie erfolgt dessen »Sinngebung«? Woher empfängt die beseelte Form ihre faszinierende, im großen Kunstwerk nie sich erschöpfende Kraft? Wird sie vielleicht erst wirksam, indem der Mensch sie reproduziert - so, wie der tote Buchstabe erst durch die Aktion des Lesens, die aufgezeichnete Note erst durch ihre tönende Verwirklichung zum Leben erwacht? 

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Oder projiziert der Mensch seine metaphysischen Wünsche immer wieder in das Kunstwerk hinein und beseelt es dadurch? Oder ist das Kunstwerk nur ein Spiegel, in dem sich der Mensch par distance betrachtet, um Aufschluß über sich zu erlangen? Oder emanzipiert das Kunstwerk gar, sobald der menschliche Schaffensprozeß, dem es sein Dasein verdankt, vollendet ist, sich zu einer eigenständigen, absoluten Größe, die sich von ihrem Schöpfer trennt wie der Mensch von Gott? Das sind Fragen, die seit Jahrtausenden die denkende und über den Sinn ihres Dasein grübelnde Menschheit an das Phänomen der Kunst knüpft, ohne daß dieses Phänomen selbst bisher eine andere Antwort gegeben hätte als die seiner sich nach außen hin ständig wandelnden und verwandelnden, im Kern aber sich unwandelbar treu bleibenden Existenz.

Bedroht ist dieser Kern jeweils immer nur dann, wenn menschlicher Zweifel an der Wirklichkeit des Lebens in intellektuellen Nihilismus umschlägt. Entsprechend geben schöpferische Krisenzeiten auch oft empirisch beweiskräftigere Aufschlüsse über das Wesen des Kunstwerks als kulturell sich überzeugend verwirklichende Epochen. Denn meist erkennt man erst, wenn man etwas verliert, dessen eigentlichen Wert, und zwar nicht nur ideell, sondern auch praktisch.

So deutet zum Beispiel der Zerfall der Kunst in unseren Tagen darauf hin, daß schöpferisches Gestalten offenbar nur gedeihen kann, wenn der Mensch an die Wirklichkeit des Lebendigen nicht nur glaubt, sondern sich ihrem Spannungsfeld im Angenehmen wie im Widrigen auch anzuvertrauen bereit zeigt - das heißt: wenn er sich als Teil dieser lebendigen Wirklichkeit fühlt und begreift. Verkehrt sich solches Seinsvertrauen jedoch in Zweifel und schließlich in Verzweiflung einerseits und in hoffärtige Ichsucht andererseits, so setzt die Hybris der intellektuellen Entwertung des Daseins selbstmörderisch ein. Entsprechend verlieren die Kunstwerke ihre unabdingbare naive Selbstverständlichkeit; sie beginnen sich selbst zu parodieren.

Schon in seinen ästhetischen Vorlesungen, 1835 posthum erstmals erschienen, hat Georg Wilhelm Friedrich Hegel, dessen philosophisches Zyklopen-Auge die geistigen Verhältnisse der Menschheit wie mit einem Röntgenstrahl durchdrang - schon in diesen philosophischen Vorlesungen hat Hegel die Selbstentwertung der Kunst diagnostiziert und sich unter idealistischen Vorzeichen als Konkursverwalter der Ästhetik empfohlen, allerdings nicht ohne vorher noch einmal ein philosophisches Gloria für die Kunst anzustimmen, dessen Text wie folgt lautet:

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»In dieser ihrer Freiheit nun ist die schöne Kunst erst wahrhafte Kunst und löst dann erst ihre höchste Aufgabe, wenn sie sich in den gemeinschaftlichen Kreis mit der Religion und Philosophie gestellt hat und nur eine Art und Weise ist, das Göttliche, die tiefsten Interessen des Menschen, die umfassendsten Wahrheiten des Geistes zum Bewußtsein zu bringen und auszusprechen. In Kunstwerken haben die Völker ihre gehaltreichsten inneren Anschauungen und Vorstellungen niedergelegt, und für das Verständnis der Weisheit und Religion macht die schöne Kunst oftmals, und bei manchen Völkern sie allein, den Schlüssel aus. 

Diese Bestimmung hat die Kunst mit Religion und Philosophie gemein, jedoch in der eigentümlichen Art, daß sie auch das Höchste sinnlich darstellt und es damit der Erscheinungsweise der Natur, den Sinnen und der Empfindung näherbringt. Es ist die Tiefe einer übersinnlichen Welt, in welche der Gedanke dringt und sie zunächst als ein Jenseits dem unmittelbaren Bewußtsein und der gegenwärtigen Empfindung gegenüber aufstellt; es ist die Freiheit denkender Erkenntnis, welche sich dem Diesseits, das sinnliche Wirklichkeit und Endlichkeit heißt, enthebt. Diesen Bruch aber, zu welchem der Geist fortgeht, weiß er ebenso zu heilen; er erzeugt aus sich selbst die Werke der schönen Kunst als das erste versöhnende Mittelglied zwischen dem bloß Äußerlichen, Sinnlichen und Vergänglichen und zwischen dem reinen Gedanken, zwischen der Natur und endlichen Wirklichkeit und der unendlichen Freiheit des ber greifenden Denkens.«

 

In dieser Laudatio auf die Kunst läßt der Idealist Hegel unmißverständlich durchblicken, daß er dieser zwar Bedeutung, aber doch nur eine mindere zuerkennt bei der erkenntnis-theo-retischen und erkennmis-kritischen Bewältigung der Welt. »Die harte Rinde der Natur und gewöhnlichen Welt«, so sagt er zwar, »machen es dem Geiste saurer, zur Idee durchzudringen als die Werke der Kunst.« Im Grunde aber ist für Hegel auch die Kunst, da ihr die Schlacken des Sinnlichen (und damit des von ihm als »geistlos« apostrophierten Natürlichen) anhaften, ein Phänomen des menschlichen Daseins, das vom objektiv erkennenden Geist überwunden werden muß, damit die Idee in der »unendlichen Freiheit des begreifenden Denkens« rein aufleuchten kann. Entsprechend eindeutige Sätze läßt der Philosoph denn auch auf diese freundliche Verklärung der Kunst folgen, um den Vorrang der Wissenschaft und des erkennenden Denkens für die Zukunft der Menschheit zu reklamieren.

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Es lohnt sich, diese nun folgende aufschlußreiche Stelle aus der Einleitung zu Hegels <Ästhetik> ausführlich zur Kenntnis zu nehmen, und zwar nicht nur wegen ihrer prognostischen Aktualität, sondern auch wegen des kunstphilosophischen Dilemmas, das in ihr aufscheint, eines Dilemmas, das zurückweist in das Zeitalter der klassischen griechischen Philosophie, wo es durch Sokrates, Plato und Aristoteles erstmals zur abendländischen Debatte gestellt wurde:

»Wenn wir nun aber der Kunst einerseits diese hohe Stellung geben, so ist andererseits ebensosehr daran zu erinnern, daß die Kunst dennoch weder dem Inhalte noch der Form nach die höchste und absolute Weise sei, dem Geiste seine wahrhaften Interessen zum Bewußtsein zu bringen. Denn eben ihrer Form wegen ist die Kunst auch auf einen bestimmten Inhalt beschränkt. Nur ein gewisser Kreis und Stufe der Wahrheit ist fähig, im Elemente des Kunstwerks dargestellt zu werden; es muß noch in ihrer eigenen Bestimmung liegen, zu dem Sinnlichen herauszugehen und in demselben sich adäquat sein zu können, um echter Inhalt für die Kunst zu sein, wie dies z.B. bei den griechischen Göttern der Fall ist. Dagegen gibt es eine tiefere Fassung der Wahrheit, in welcher sie nicht mehr dem Sinnlichen so verwandt und freundlich ist, um von diesem Material in angemessener Weise aufgenommen und ausgedrückt werden zu können. Von solcher Art ist die christliche Auffassung der Wahrheit, und vor allem erscheint der Geist unserer heutigen Welt, oder näher unserer Religion und unserer Vernunftbildung, als über die Stufe hinaus, auf welcher die Kunst die höchste Weise ausmacht, sich des Absoluten bewußt zu sein. Die eigentümliche Art der Kunstproduktion und ihrer Werke füllt unser höchstes Bedürfnis nicht mehr aus; wir sind darüber hinaus, Werke der Kunst göttlich verehren und sie anbeten zu können; der Eindruck, den sie machen, ist besonnenerer Art, und was durch sie in uns erregt wird, bedarf noch eines höheren Prüfsteins und anderweitiger Bewährung. Der Gedanke und die Reflexion hat die schöne Kunst überflügelt. Wenn man es liebt, sich in Klagen und Tadel zu gefallen, so kann man diese Erscheinung für ein Verderbnis halten und sie dem Übergewicht von Leidenschaften und eigennützigen Interessen zuschreiben, welche den Ernst der Kunst wie ihre Heiterkeit verscheuchen; oder man kann die Not der Gegenwart, den verwik-

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kelten Zustand des bürgerlichen und politischen Lebens anklagen, welche dem in kleinen Interessen befangenen Gemüt sich zu den höheren Zwecken der Kunst nicht zu befreien vergönne, indem die Intelligenz selbst dieser Not und deren Interessen in Wissenschaften dienstbar sei, welche nur für solche Zwecke Nützlichkeit haben, und sich verführen lasse, sich in diese Trockenheit festzubannen.

Wie es sich nun auch immer hiermit verhalten mag, so ist es einmal der Fall, daß die Kunst nicht mehr diejenige Befriedigung der geistigen Bedürfnisse gewährt, welche frühere Zeiten und Völker in ihr gesucht und nur in ihr gefunden haben; eine Befriedigung, welche wenigstens von Seiten der Religion aufs innigste mit der Kunst verknüpft war. Die schönen Tage der griechischen Kunst wie die goldene Zeit des späteren Mittelalters sind vorüber. Die Reflexionsbildung unseres heutigen Lebens macht es uns, sowohl in Beziehung auf den Willen als auch auf das Urteil, zum Bedürfnis, allgemeine Gesichtspunkte festzuhalten und danach das Besondere zu regeln, so daß allgemeine Formen, Gesetze, Pflichten, Rechte, Maximen als Bestimmungsgründe gelten und das hauptsächlich Regierende sind. Für das Kunstinteresse aber wie für die Kunstproduktion fordern wir im allgemeinen mehr eine Lebendigkeit, in welcher das Allgemeine nicht als Gesetz und Maxime vorhanden sei, sondern als mit dem Gemüte und der Empfindung identisch wirke, wie auch in der Phantasie das Allgemeine und Vernünftige als mit einer konkreten sinnlichen Erscheinung in Einheit gebracht enthalten ist. Deshalb ist unsere Gegenwart ihrem allgemeinen Zustande nach der Kunst nicht günstig. Selbst der ausübende Künstler ist nicht etwa nur durch die um ihn her laut werdende Reflexion, durch die allgemeine Gewohnheit des Meinens und Urteilens über die Kunst verleitet und angesteckt, in seine Arbeiten selbst mehr Gedanken hineinzubringen; sondern die ganze geistige Bildung ist von der Art, daß er selber innerhalb solcher reflektierenden Welt und ihrer Verhältnisse steht und nicht etwa durch Willen und Entschluß davon abstrahieren oder durch besondere Erziehung oder Entfernung von den Lebensverhältnissen sich eine besondere, das Verlorene wieder ersetzende Einsamkeit erkünsteln und zuwege bringen könnte.

In allen diesen Beziehungen ist und bleibt die Kunst nach der Seite ihrer höchsten Bestimmung für uns ein Vergangenes. Damit hat sie für uns auch die echte Wahrheit und Lebendigkeit

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verloren und ist mehr in unsere Vorstellung verlegt, als daß sie in der Wirklichkeit ihre frühere Notwendigkeit behauptete und ihren höheren Platz einnähme. Was durch Kunstwerke jetzt in uns erregt wird, ist außer dem unmittelbaren Genuß zugleich unser Urteil, indem wir den Inhalt, die Darstellungsmittel des Kunstwerks und die Angemessenheit und Unangemessenheit beider unserer denkenden Betrachtung unterwerfen. Die Wissenschaft der Kunst ist darum in unserer Zeit noch viel mehr Bedürfnis als zu den Zeiten, in welchen die Kunst für sich als Kunst schon volle Befriedigung gewährte. Die Kunst ladet uns zur denkenden Betrachtung ein, und zwar nicht zu dem Zwecke, die Kunst wieder hervorzurufen, sondern, was die Kunst sei, wissenschaftlich zu erkennen.«

 

Vergegenwärtigt man sich, daß diese Sätze zu einer Zeit vom Katheder herunter gesprochen wurden, als Goethe noch lebte und die romantische Bewegung in Europa noch einmal auf allen Gebieten der Kunst Höhepunkte markierte, dann begreift man erst die ungeheure Bedeutung dieser apodiktischen Feststellungen, die eine Zukunft rationaler Fortschrittsbesessenheit und rationaler Vergewaltigung der Natur mit den philosophischen Weihen des Idealismus versahen - mit Weihen, deren Verführungskraft selbst noch erhalten blieb, als Feuerbach, Marx und Engels die Hegelschen Gedanken zu einem materialist­ischen Sozialpragmatismus umfunktionierten.

Immerhin sollte es noch rund 150 Jahre dauern, bis unter dem Ansturm der technisch-industriellen Revolution mit ihren euphorischen materiellen Glückserwartungen vor nihilistischem Hintergrund der Auflösungsprozeß der Kunst tatsächlich bis zu jenem Tag gedieh, an dem über einer Ausstellung, die repräsentativ das zeigte, was die Kunst unserer Zeit genannt wird -bis zu jenem Tag nämlich, an dem über der documenta 5 in Kassel ein Spruchband entfaltet wurde mit der primitiv-eindeutigen Aufschrift »Kunst ist überflüssig«. Von Hegels idealistischer Negation der Kunst bis zu dieser primitiven Demonstration barbarischer Kunst-Ignoranz ist es noch nicht einmal ein Schritt ...

Freilich: In der Geistesgeschichte werden Merkzeichen solcher Tragweite nicht von einem einzelnen voraussetzungslos aufgerichtet. So versucht auch Hegels idealistische Liquidation der Kunst gleichsam nur Bilanz zu ziehen aus den leidenschaftlichen ästhetischen Debatten, die vom Ende des 17. Jahrhunderts bis in das 19. Jahrhundert hinein die philosophische Szene Europas, insbesondere aber Frankreichs, Englands und Deutschlands nicht unwesentlich mitbestimmten.

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Als mit dem Aufbruch der Renaissance das erwachende menschliche Individual-Bewußtsein den bergenden Glaubens-Mystizismus des Mittelalters ablöste und vornehmlich dem denkenden Menschen anstelle göttlicher Offenbarung die Last der Welterkenntnis aufzubürden begann, konnte davon auch die Kunst nicht unberührt bleiben. Denn gerade die Zwienatur der Kunst, in der sich stoffliche, sinnliche und geistige Elemente auf unerklärliche Weise durchdringen, gab dem nach Erkenntnis drängenden und sich beim reinen Anschauen der Phänomene nicht bescheidenden Geist die beunruhigendsten Rätsel auf.

Diese Rätsel vereinigten sich im Begriff der »Schönheit« zum ästhetischen Problem schlechthin; denn das, was den Menschen beim Erlebnis des Kunstwerks am eindringlichsten zu fesseln und zu ergreifen schien, war, für sich genommen, weder dessen sinnliche Anziehungskraft noch dessen geistige Botschaft, es war weder die dargestellte Handlung oder Situation noch der formale Reiz, sondern was wirkte, war dies alles zusammengenommen und noch ein Entscheidendes mehr: Es war die Schönheit als vollkommene Übereinstimmung aller dieser Elemente zu einem Ganzen. Aus welchem Grunde konnte nun diese Schönheit sowohl empfunden als auch geistig begriffen werden? Und wozu war sie nützlich, wem diente sie? Vor allem: welche Daseinsmacht repräsentierte sie?

Um auf diese Fragen in fortgeschrittener menschlicher Weltzeit und unter dem Vorzeichen vernunft-emanzipierten, menschlichen Bewußtseins Aufschluß zu erlangen, wandten seit der Renaissance die Philosophen und auch die Künstler ratsuchend den Blick dorthin zurück, wo die Erkenntnis des Schönen erstmals zur abendländischen Debatte stand - nämlich in die griechische Antike. Und tatsächlich offenbart eine derartige Retrospektive, daß bis in die neueste Zeit hinein die ästhetischen, kunstphilosophischen Grundprobleme, die zwischen dem sechsten und vierten vorchristlichen Jahrhundert definiert wurden, die gleichen geblieben sind, trotz der vielen Variationen, die seitdem die Kunstphilosophie zum Thema beitrug.

Der Begriff des »Schönen« durchstrahlt, wie Ernesto Grassi 1962 in einer bemerkenswerten Schrift über die >Theorie des Schönen in der Antike< zeigte, bereits das vorsokratische Hellas wie ein Kristall, in dessen Widerschein sich das Menschliche auf fast (im höheren Sinn des Wortes) heitere Weise veredelt. 

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Allein die häufige Verwendung des Adjektivs »schön« in den homerischen Epen, aber auch die Häufigkeit der zusammengesetzten Wörter im Griechischen, in denen »schön« eine charakterisierende Rolle spielt, sprechen hier in des Wortes zutreffendster Bedeutung eine »beredte Sprache«. Was kann hier »schön« besagen, fragt Ernesto Grassi, nachdem er darstellte, welche Bedeutung zum Beispiel Homer gegenständlichen Geschenken beimißt, wenn er sie »schön« nennt. Grassi schreibt:

»Was kann schön hier besagen? Verstünden wir es als rein sinnlich-schön, so müßten wir eine dauernde formelhafte Wiederholung eines nichtssagenden Ausdrucks, eine eigentümliche Schwäche der epischen Sprache darin sehen. Aber ist es möglich, daß bei der Darstellung einer für das gesellschaftliche Leben so wichtigen Form Homer eine nichtssagende Formel gebraucht? Die Wiederholung weist auf etwas Wichtiges hin. Für Homer steht das Ich der einzelnen Situation nicht als Subjekt seinem Objekt gegenüber, sondern ist, ohne sich wie der moderne Mensch seiner selbst im Gegensatz zur Umwelt bewußt zu sein, Teil dieser Situation, ist nicht der Spieler, der die Saite anschlägt, und damit die Situation schafft, sondern Resonanzboden, der das Schwingen der Saite verstärkend mitschwingt, der Situation Antwort gibt, und so die augenblickliche Lage mit den eigenen Vorstellungen und Wertungen absolut nimmt.

Von daher bekommt auch die Formel vom schönen Geschenk ihren hohen Sinn. Es ist nicht der Gastgeber, der, es dem Gastfreund zu schenken, ein schönes Geschenk holt, sondern es geht um die Situation. Der Gastfreund scheidet. Die Situation bringt es mit sich, daß der Gastgeber dem Gast ein schönes Geschenk gibt. Daß dieses Geschenk schön ist, gehört zu der obengenannten Verabsolutierung der Vorstellungen und der Werte: Gastfreundschaft ist etwas Hohes, Großes, Schönes; dann muß ihr Ausdruck auch etwas Schönes, Großes, Kostbares sein. Jedes Gastgeschenk ist schön, denn es existiert in der Sphäre eines über dem Alltäglichen liegenden, überzeitlichen Verhältnisses. Es ist Ausdruck einer höheren Sphäre des Seins.«

Zwei Gesichtspunkte sind in diesem Zitat im Zusammenhang des bereits Gesagten bemerkenswert, nämlich zum einen die Gleichstimmung und zugleich Höherstimmung, die das Schöne als Erlebnis eines Wertes auslöst, und zum anderen, daß dieses Erlebnis ein »über dem Alltäglichen liegendes, überzeitliches Verhältnis« vergegenwärtige. Das heißt: was als »schön« empfunden wird, hebt sich vom Alltag und vom Gemeinen ab als etwas Besonderes und Außerordentliches; es ist mehr als nur im Materiellen wertvoll, denn seine eigentliche Qualität enthüllt es erst in dem Sinn, den es repräsentiert.

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Die frühen Griechen in ihrer noch ungebrochenen sinnlichen Naivität genossen das Vergnügen, das sie am Schönen empfanden, sei es an schönen Gegenständen oder auch an der Schönheit der menschlichen Gestalt, an der Schönheit der Morgenröte oder am Kampf des Helden, vital und unreflektiert. Sie empfingen das Erlebnis des Schönen als Geschenk von den Göttern. »Das Schöne, wo es hervortritt, ist sofort als Göttliches zu erkennen, als Hineinwirken des göttlichen Seins in die Sphäre des Menschlichen« (Grassi). Und wie in der antiken Götterwelt Diesseits und Jenseits nicht auseinanderklaffen, sondern als sinnlich anschaubare und erlebbare Wirkeinheit, als Eines in Allem (Heraklit) empfunden wurden, so drängte sich den archaischen Griechen auch kaum ein Unterschied oder gar Zwiespalt zwischen dem Naturschönen und dem Kunstschönen auf - ja: auf sie mag der lebendige menschliche Körper als Inbegriff naiv empfundener Schönheit vielleicht sogar noch faszinierender gewirkt haben als dessen Abbild, das Künstlerhand aus dem Stein meißelte. Kunst war für sie Feier des Göttlichen im sichtbar Wirklichen.

Als jedoch die antiken Denker im Übergangsfeld vom Mythos zum Logos, vom bildhaft-unreflektierten zum begrifflichreflektierten Denken also, über den Kosmos und über den Menschen nachzusinnen begannen, geriet folgerichtig auch das Phänomen des Schönen in ihr Blickfeld. Hellsichtig erkannten sie, daß die Freude am Schönen mehr als nur eine menschliche Annehmlichkeit sei, sondern daß dieser Freude, wie Grassi anmerkt, »ontologische« Bedeutung zukomme, das heißt: daß sie nicht nur metaphysischen Aufschluß über das Wesen des Menschen, sondern darüber hinaus auch über das Wesen des »Seins«, des »Ewigen« schlechthin geben könne. So transzen-diert schließlich die mythische Vorstellung, daß dem Schönen stets etwas Göttliches innewohne, bei Sokrates und Plato zur geistig erfaßten Idee des Schönen, in der sich die Vollkommenheit des Seins selbst offenbart.

Die sinnlich anschaubare Schönheit ist für diese Philosophen nur ein Durchgang auf dem Weg zur Idee des Schönen. Denn noch ein letztes Mal sei Ernesto Grassi zitiert: »Die eigentliche Funktion der Schönheit im Ganzen des geistigen Lebens« sei »der königliche Weg zu den Ideen«; er führe aus der irdischen,

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materiellen Scheinwelt hinaus und hin zum Sein selbst. Diese Vorstellung vom Schönen greift Grassi zufolge weit über das Ästhetische hinaus und mündet in das Metaphysisch-Ethische. Entsprechend wenig hat Plato auch mit der Kunst selbst im Sinn. Denn nach seiner strengen, am Absoluten sich orientierenden Meinung ahmt die Kunst gemeinhin nur Schattenbilder des Seienden nach, ohne das Sein selbst aufleuchten zu lassen. Vor Piatos ontologisch prüfendem Auge gewinnt die Kunst erst dann wesentliche Züge, wenn sie ihre sinnliche Sphäre verläßt und die Ewigkeit der Idee als übersinnliche Wahrheit verkündet - das heißt: wenn sie ins Absolute transzendiert. In der Transzendenz, also im geistig-übersinnlichen Bereich menschlicher Vorstellungskraft, verschmelzen die ästhetischen und die ethischen mit den theologischen Postulaten, die Plato mit der Erkenntnis des Seins verbindet: Was schön ist, das ist auch wahr, und was wahr ist, das ist auch gut.

Aristoteles, der Schüler Piatos, versuchte diesen absoluten Anspruch, den sein Lehrer an die Kunst stellte, an der künstlerischen Praxis nicht nur zu überprüfen, sondern ihn auch für die künstlerische Praxis zu aktivieren. Einsehend jedoch, daß ihm diese idealistische Quadratur des metaphysisch-ästhetischen Kreises nicht gelingen könne, weil absolute Transzendenz das Kunstwerk wegen dessen Gebundenheit an die Materie notgedrungen verneinen muß - dies einsehend holte Aristoteles die Idee des Schönen gleichsam wieder in den Bereich menschlicher Wirklichkeit zurück.

Lebenspraktiker, der er, der erste große Universalist des Abendlandes, war, befragte er die Kunst nicht nur nach dem, was sie absolut sein müsse, aber möglicherweise nicht sein könne, sondern auch nach dem, was ihr machbar sei. So untersuchte r die Poiesis, das Machbare - ein Kennwort, das hier nicht nur "r die Poesie, die Dichtkunst also, sondern für die Kunst schlechthin steht -, und er stellte bei dieser Untersuchung fest, daß die Nachahmung des Wirklichen (Aristoteles nennt sie »Mimesis«) dem Künstler nur ein Mittel sei, um das, was sein könnte, dazustellen, und zwar immer mit Bezug auf den Menschen. Mit anderen Worten: Für Aristoteles ist Kunst ein Element der Ethik, geeignet, die Humanitas zu befördern, indem sie die Möglichkeiten und Grenzen menschlichen Tuns vor dem Postulat des Ewigen exemplarisch aufzeigt. Kunst ist nach Aristoteles nicht wiederholende Beschreibung des Wirklichen, sondern sie greift ethisch aktivierend in Leben und Denken der Menschen ein. Nichts anderes meinte 2300 Jahre später Franz Kafka, als er davon sprach, Kunst sei »Heraustreten aus der Totschlägerreihe«.

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Die ethisch-humanisierende Funktion, die Aristoteles der Kunst zuweist, moderiert die ontologische Forderung, die Plato an die Darstellung des Schönen knüpft, und er bewahrt damit das Kunstwerk im vierten vorchristlichen Jahrhundert vor jener philosophischen Liquidation, zu der Hegel (nach Kants denkerischer Vorarbeit) mehr als 2000 Jahre später ansetzte. Mit dem Votum des Aristoteles stand nicht mehr die Idee des Schönen allein, sondern stand auch die Poiesis, die Machbarkeit des Schönen und deren anthropologische Sinngebung, zur ästhetischen Debatte des Abendlandes.

Es liegt auf der Hand, daß die wenigen Hinweise auf die antike Kunstphilosophie, die hier im Zusammenhang des Themas vorgetragen wurden, nur höchst spärliche Stichworte zu dem grandiosen Thema beibringen konnten. Die Gedankenfülle dessen, was die antiken Denker von Heraklit über Plato und Aristoteles bis zu Plotin zum Problem des Schönen und zur Praxis der Kunst äußerten, kann um der gedrängten Übersicht willen hier nur gestreift werden. Immerhin aber dürfte trotzdem erkennbar geworden sein, wie entschieden Plato und Aristoteles die abendländischen Vorstellungen vom Wesen der Kunst geprägt haben. Alle kunsttheoretischen Erörterungen weisen seither, teils bewußt, teils unbewußt, auf die Erkenntnisse dieser Philosophen zurück, wobei, je nach zeitgeistiger Bewußtseinslage, entweder die platonische oder die aristotelische Auffassung in den Vordergrund des Interesses oder der Auseinander­setzung rückt. Oft aber verschränken sich, wie in der christlich-mittelalterlichen Kunstanschauung, auch beide Aspekte, der ontologische und der ethische, zu einer theologisch bestimmten metaphysisch-sittlichen Einheit.

Selbst die Abkehr von der Wirklichkeit und die Hinwendung zur Abstraktion, die wir in der Kunstentwicklung des 20. Jahrhunderts erleben, korrespondiert geistig mit Piatos Zweifel an den Schattenbildern der sichtbaren Welt. Sie mutet an wie ein erneuter, verzweifelter Versuch, die Realität der abbildbaren Erscheinungswelt aufzuheben und sozusagen die Idee dieser Erscheinungen mitteilbar zu machen als eine Art höhere Wirklichkeit.

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Paul Klee zum Beispiel, der sich bezeichnenderweise als »bildnerischer Denker« verstanden wissen wollte, notierte bereits 1902 in sein Tagebuch: 

»Nun will ich aber nicht mehr im Schemen davon profitieren, sondern so vorgehen, daß alles Wesentliche, auch das durch die optische Perspektive versteckte Wesentliche, auf den Plan tritt.« Und aus der Bauhauszeit des Künstlers sind die Sätze überliefert: »Es muß hier wesentlich unterschieden werden, was der Zweck des Sichtbarmachens ist. Ob nur Gesehenes zur Erinnerung notiert ist oder auch Nichtsichtbares offenbart. Dann sind wir, wenn wir diesen Unterschied festhalten, auf dem prinzipiellen Punkt der künstlerischen Gestaltung angelangt.« 

Und schließlich heißt es in Paul Klees <Schöpferischer Konfession> aus dem Jahr 1920: »Früher schilderte man Dinge, die auf der Erde zu sehen waren, die man gern sah oder gern gesehen hätte. Jetzt wird die Relativität der sichtbaren Dinge offenbar gemacht.«

Unüberhörbar rumort in solchen und vielen ähnlichen programmatischen Sätzen von Klee, Kandinsky oder Franz Marc etwas von jener platonischen Sehnsucht nach dem Absoluten im Kunstwerk, das sich gegen die Sinnentleerung einer geistig und seelisch verflachenden Gesellschaft auflehnt. Aber indem nun die Künstler begannen, das geistige Element im Kunstwerk gleichsam verabsolutiert zu verwirklichen und das geschwundene Vertrauen in die Wirklichkeit auf einer metaphysischen Ebene halbwegs entmaterialisiert neu zu stiften, leisteten sie der Liquidation der Kunst ungewollten Vorschub; sie lieferten schon im vorhinein denen die Waffen, die heute die Überflüssigkeit der Kunst proklamieren oder doch zumindest deren »höheren Wert« in Frage stellen. Indem diese Künstler nämlich (die Maler und Bildhauer ebenso wie die Poeten und die Musiker) mehr und mehr der Sinnlichkeit entrieten und auf Vergeistigung der Kunst drängten, verzichteten sie auf ein Grundelement künstlerischer Wirkung, das sich allen Theorien und spirituellen Spekulationen zum Trotz durch die Jahrtausende hindurch behauptet hatte - sie verzichteten auf die bewegende Kraft des Lebens selbst, ohne die das Kunstwerk zur theoretischen Formel erstarrt. Das heißt: Indem sie die entschiedenste Konsequenz aus den platonischen »Ideen« zogen, entkörperlichten sie das Kunstwerk; sie zerschnitten die Nabelschnur zu dem natürlichen Urgrund, der ihm die vitalen Impulse gibt. 

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Denn wie zeitbezogen Kunstwerke auch in Erscheinung treten mögen, wie entlarvend sie nach materialistischem Gesichtspunkt auch mehr die gesellschaft­lichen Verhältnisse als den Schein des Schönen widerspiegeln - würde sie der Funke des Lebens nicht energetisch aufladen, so bliebe ihnen Wirkung ebenso versagt wie jenen Versatzstücken der Wirklichkeit, durch die man heute glaubt, Kunst gesellschaftsaufklärerisch ersetzen zu können.

Versucht man von diesen spätzeitlichen Verklemmungen her das Für und Wider der abendländischen Ästhetik zu deuten, so erkennt man, daß sich das kunstphilosophische Dilemma immer wieder aus der Schwierigkeit ergibt, die sinnlich-stofflichen Aspekte des Schönen mit dem geistigen Vorherrschaftsanspruch des erkennenden Bewußtseins ontologisch in Einklang zu bringen. Fast zeitmotivisch schicksalhaft durchzieht die dualistische Aufspaltung der menschlichen Existenz in eine körperliche und eine geistige Sphäre die ästhetische Diskussion. Ob Schiller von der »Schaubühne als moralischer Anstalt« spricht oder Bert Brecht die »kulinarische« Kunst als Erzeugerin »unwürdiger Räusche« verdächtigt oder Kant allein der menschlichen Urteilskraft ästhetisch qualifizierende Eigenschäften zuordnet - stets schwingt in solchen Bekundungen ein Unbehagen an der unumgänglichen Tatsache mit, daß Kunst sich nicht restlos und vor allem nicht widerstandslos dem Zugriff logischen Denkens unterordnet. Ob sich dieses Unbehagen idealistisch oder materialistisch zu Wort meldet, spielt dabei nur eine sekundäre Rolle.

Es wird kaum verwundern, daß sich dieses Unbehagen insbesondere einem Zeitalter aufdrängte, das sich so unbedingt der Vernunft verschrieb wie der Rationalismus. Mit Descartes entbrannten im 17. Jahrhundert erneut (und mit bis dahin im Zusammenhang mit dieser Frage kaum beobachteter Intensität, ja Leidenschaft) die ästhetische Diskussion - und zwar mit dem Ziel, den autonomen Standort der Kunst in einer sich unter dem Vorzeichen der Vernunft verändernden Gesellschaft gleichsam rational zu vermessen und ihren aufklärerischen Charakter zu akzentuieren. 

Im Gegenzug aber gegen die rationalistische Ernüchterung und denkerische Archivierung der Kunst, wie sie im Deutschland des 18. Jahrhunderts etwa der Begründer der Ästhetik als Wissenschaft, Baumgarten, vornahm, beriefen sich die bedeutenden Geister der klassisch-romantischen Epoche auf die Natur als die eigentliche Quelle der menschlichen Existenz, aus der auch die Kunst als Menschenwerk das Elixier ihrer Wirkung beziehe. In scharfer Frontstellung gegen Kant und gleichsam auch den Protest gegen Hegel vorwegnehmend formuliert zum Beispiel Johann Gottfried Herder in der 1800 erschienenen Schrift <Kalligone> sein ästhetisches Credo. Dort heißt es in dem Kapitel <Natur und Kunst>:

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»Natur und Kunst setzen wir einander oft entgegen, oft schreiben wir der Natur selbst eine, und zwar die größte Kunst zu; woher dieses? Beides nicht ohne Ursache. In allem nämlich, wo viele und mancherlei Mittel angewandt werden, um Werke hervorzubringen, die als treffliche Zusammensetzungen ins Auge fallen, in denen bei einem System von Regeln ein offenbarer Zweck erscheinet, nennen wir mit Recht die Natur eine Künstlerin, die Kunstreiche Werkmeisterin. 

So nennet sie der orphische Hymnus; so siehet sie aller Menschen Sinn an: denn in einem organischen Wesen verkennet niemand die Zusammenstimmung des Vielen zu Einem. >Daß man von rechtswegen nur die Hervorbringung durch Freiheit, d. i. durch eine Willkür, die ihren Handlungen Vernunft zum Grunde legt, Kunst nennen sollte«, ist willkürlich geredet. Ob ein Werk aus Willkür oder aus Zwang gemacht sey, dies ändert seine Einrichtung nicht; und wer sagt uns, daß den Werken der Natur nicht Vernunft, d. i. vom Geist gedacht, eine allordnende Regel zum Grunde liege? Als eine lebendige Wirkerin, die Natur zu denken, ist dem gesunden Menschensinn gewiß angemessener als zu fragen: ob irgend auch Vernunft in der Natur sey? Die Werke der Bienen z.B., den Bau der Biber u.f. nennt jedermann Kunstreich, wenn ihren Arbeitern gleich menschliche Vernunft und Freiheit fehlet. Wie Ihr auch die Kräfte, durch welche sie hervorgebracht sind (wird man mit Recht sagen), nennen möget; die Werke selbst sind Kunstreich. Hätten wir alle die Mittel in unserer Hand, die die Natur hat, und könnten nach eben so großen Entwürfen so lange, so fest und unfehlbar, so leicht und angemessen wie sie wirken; gewiß nennten wir uns Allkünstler.

Eben nur unsere Eingeschränktheit macht, daß wir menschliche von der Naturkunst unterscheiden: denn wie arm und ohnmächtig sind wir gegen die mächtige Wirkerin, Natur! Erstens. Zu dem, was die Natur macht, findet sie überall Stoff, Mittel und Wege; sie kann, was sie will und will nur, was sie kann. Wo ihren strebenden Kräften Hinderungen in den Weg treten, wendet sie sich und braucht ihre Kräfte anders. Wir müssen Stoff und Mittel mit Mühe suchen, mit Vorsicht gebrauchen. Zweitens. Jedes Kunstwerk der Natur hat seinen Zweck in sich, daß es der ihm geschenkten Form, d. i. seiner selbst sich erfreue und in ihr lebe. Unsere Kunstwerke, tot in sich, sind nur für andre zu Zwecken berechnet. Drittens. Da die Werkstätte der Natur

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so groß ist, wie das All und ihre Energie wirkt, so lange Moment auf Moment folget, so kann sie nicht anders, als die entgegengesetzten Enden zusammenknüpfen; sie schafft, indem sie zerstört, und zerstört, indem sie schaffet, eine immer emsige Penelope, die ihren Schleier webt und trennt, trennt und webet. Individuen läßt sie sinken und erhält Geschlechter. Gegentheils, da dem Werk des menschlichen Künstlers des Lebens gebricht, dadurch es sich selbst fortpflanzen könnte, so hört dies zerstörende Schaffen, dies schaffende Zerstören bei ihm von selbst auf. Er schafft, daß sein Werk bleibe. Viertens. Im All muß Alles seyn, das Schwächste und Stärkste, das Größte und Kleinste; es ist da. Da dem Menschen ein solcher Umfang, eine solche Dauer nicht gegönnet ist, so muß er sich gegen die Anfälle der zerstörenden Natur, aus deren Schoos er seine Werkzeuge nimmt, aus deren Schoos er selbst entsprang, in deren Schoos er zurückkehret, waffnen; er muß sein Werk schnell, nutzbar, dauerhaft ausführen, so gut er kann, also das Beste, das er vermag, aufs Beste, mit Plan und Absicht. So und deßhalb setzt er seine Kunst der Natur entgegen. Ein böser Haushalter wäre er, wenn er es der großen Haushälterin nachthun wollte. Unbekümmert spräche sie zum Nachlässig-Stolzen: >Ich kenne dich nicht!< und ließe ihn sinken.«

 

Beim Wort genommen (und dieses Wort steht für vieles Ähnliche, was von Hamann über Schiller und Goethe bis hin zu Novalis und Schelling zwischen 1750 und 1830 in Deutschland zum Thema Ästhetik verlautbart wurde) - beim Wort genommen, besagen diese Sätze, nur wenige Jahre vor Hegels Verdikt der Kunst verlautbart, nichts anderes als dies: Die Formkräfte, mit deren Hilfe der Mensch das Schöne schafft, entstammen nicht vornehmlich seinem begrifflich absondernden Denken, sondern sie entstammen der Natur selbst. Denn die Natur ist nicht nur beseelt, sie hat auch Vernunft, und der Mensch steht diesem Naturreich nicht als das ganz andere Wesen gegenüber, sondern er ist mit seinem Geist ebenso wie mit seinen Empfindungen ein Teil desselben. Aus der Natur empfängt er die schöpferischen Impulse, die er, da ihm ein Spielraum der Freiheit zugestanden ist, in eigene Werke investieren kann. Aber die Natur stirbt durch die schöpferische Tat in diesen Werken nicht ab, sondern ihr Pulsschlag belebt auch sie.

So romantisch dies zunächst auch klingen mag, auf einem richtigen Weg war Herder, indem er solche Anschauungen ver-lautbarte, ebenso wie seine Zeitgenossen, als sie Natur und Kunst wieder miteinander zu versöhnen und die dualistische Kunstanschauung zugunsten einer Erkenntnis der sinnlich-seelischen Einheit künstlerischer Wirkungen aufzuheben trachteten. Natur und Kunst, sagt Goethe, »sie scheinen sich zu fliehen, und haben sich, eh man es denkt, gefunden«.

Es nimmt kaum Wunder, daß die kunstphilosophische Rückbesinnung auf die Natur, die dem idealistisch-rationalen Denkkanon und damit auch der abendländischen Denktradition widersprach, mit dem Vorurteil des Irrationalismus belegt und erkenntniskritisch angezweifelt wurde. Als Flucht vor der Wirklichkeit wurde verdächtigt, was tatsächlich eine Rückkehr zur anthropologischen Realität anzeigte. Denn das Bekenntnis zur naturgebundenen Gesamtwirklichkeit des Menschen schließt ja weder die metaphysischen noch die gesellschaftlichen Bezüge menschlicher Kunstäußerungen aus; es verzichtet nur auf deren dualistische Auffächerung und idealistische Überforderung. 

In diesem Sinn gewinnt die Überschrift <Dauer im Wechsel>, die Goethe einem seiner Gedichte gab, programmatische Bedeutung, indem sie ein Stichwort für die schöpferische Tat des Menschen zu geben scheint. Zugleich weist dieses Stichwort hinter Plato und Aristoteles zurück auf die vorsokratische Naturphilosophie, insbesondere aber auf Heraklit - womit auch die Gegenposition zu Hegel eindeutig markiert ist.

Dauer im Wechsel, Dauer in der Erscheinungen Flucht - das wäre denn auch die Formel, mit der das Bedürfnis des Menschen nach Kunst möglicherweise schlechthin erklärt werden kann:

»Laß den Anfang mit dem Ende 
Sich in Eins zusammenziehn! 
Schneller als die Gegenstände 
Selber dich vorüberfliehn! 
Danke, daß die Gunst der Musen 
Unvergängliches verheißt, 
Den Gehalt in deinem Busen 
Und die Form in deinem Geist.«

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