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10 - Alarm an den Polen

 

Eine Einheimische, allein und melancholisch in einem Krankenhauszimmer, erzählte [einem] Interviewer, sie hätte manchmal die Hände vor die Augen gehoben und sie angestarrt: »Genau da in meinen Händen konnte ich die Küsten, Strände, Seen, Berge und Hügel sehen, die ich aufgesucht hatte. Ich konnte die Robben sehen, die Vögel und das Wild.« Ein anderer Eskimo, der die Beziehung seiner Kultur zum Land zerbrechen spürte ... sagte einem Interviewer, es wäre am Besten, wenn die Inuit überall zum »Geist über dem Land« würden. Ihr Geist, der, wie er glaubte, nach den Konturen des Landes geformt war, könnte es sich gut genug vorstellen, um zu wissen, was zu tun ist.   —Barry Lopez, Arktische Träume, 1986—

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In den letzten Tagen des Jahres 2004 erreichte eine erstaunliche Nachricht die Städte der Welt: Von der Nordspitze her ergrünte die Antarktis. Die Antarktische Grasschmiele (Deschampsia antarctica) ist eine von bloß zwei Arten höherer Pflanzen, die noch südlich des 56. Breitengrades vorkommen. Bislang hatte sie ihr Leben notdürftig in Form vereinzelter Büschel an der Nordseite eines Felsbrockens oder an einer anderen geschützten Stelle gefristet.18 Im südlichen Sommer des Jahres 2004 jedoch sprossen große grüne Flächen der Grasschmiele und bildeten im einstigen Reich der Schneestürme ausgedehnte Wiesen. Man kann sich kaum etwas vorstellen, das die Veränderungen in den Polarregionen unserer Erde besser symbolisieren könnte.

Doch die Vorgänge an Land verblassen zur Bedeutungslosigkeit, wenn man sie mit denen vergleicht, die im Meer zu sehen sind: Das Packeis verschwindet.

Die subantarktischen Meere zählen zu den reichhaltigsten der Erde, und das ist ein gewisses Paradox, denn diesen Reichtum gibt es, obwohl der Nährstoff Eisen fast völlig fehlt. Das Meereis kompensiert diesen Mangel irgendwie, denn am halb gefrorenen Saum zwischen dem Salzwasser und dem schwimmenden Eis wächst in erstaunlichen Mengen mikroskopisch kleines Plankton, das die Basis der Nahrungspyramide ist. Trotz der dunklen Wintermonate gedeiht das Plankton unter dem Eis und ernährt den Krill, der einen siebenjährigen Lebenszyklus hat. Und wo immer es Krill im Überfluss gibt, gibt es meistens auch Pinguine, Robben und große Wale. Der Einfluss des Eises auf das Plankton ist so erstaunlich — und damit auch auf den Krill und die Tiere, die sich davon ernähren —, dass der Unterschied zwischen den eisbedeckten und eisfreien Bereichen des Südpolarmeers fast so groß ist wie der zwischen dem Meer und dem nahezu sterilen antarktischen Kontinent selbst.

Dr. Angus Atkinson vom British Antarctic Survey interessiert sich brennend für die Zusammenhänge zwischen Plankton, Krill und den Säugetieren, die sich davon ernähren. Atkinson und seine Kollegen werteten die Aufzeichnungen von Fischereiflotten aus neun Ländern über ihre Krillfänge im Südwestatlantik aus.ls Dieser ist die wahre Heimat des Krills, denn 60 bis 70 Prozent der Gesamtpopulation auf der Südhalbkugel sind hier zu Hause. Atkinson und seine Kollegen unterteilten die Aufzeichnungen in zwei Zeitabschnitte: 1926 bis 1939 und 1976 bis 2003. Als sie die Krillmengen im Verlauf der beiden Perioden miteinander verglichen, stellten sie fest, dass es vor 1939 zwar von Jahr zu Jahr Schwankungen gab, sich aber bei den Mengen kein Trend nach oben oder unten abzeichnete. Anders ausgedrückt: Die Krillpopulation war stabil. In den Jahren nach 1976 zeigt sich jedoch ein ganz anderes Muster: Die Krillbestände gingen seither drastisch zurück, sie reduzierten sich um nahezu 40 Prozent pro Jahrzehnt. Atkinson und seine Kollegen berichten: »Das ist kein lokaler, kurzfristiger Effekt — er betrifft rund 50 Prozent des [Krill-] Vorkommens und die Datenspanne 1926 bis 2003 ...«

Während die Krillbestände abnahmen, nahmen die einer weiteren hauptsächlich Plankton fressenden Spezies zu: der gallertartigen Salpe. Salpen waren zuvor nur in nördlicheren Gewässern verbreitet, und sie brauchen keine große Planktondichte, um zu gedeihen; ihre Ernährungsbedürfnisse sind wirklich so bescheiden, dass ihnen die magere Tafel der eisfreien Teile des Südpolarmeers genügt.

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Aus Sicht eines Wales aber sind Salpen so nährstoffarm, dass ihm selbst ein bis zum Rand damit voll gestopfter Ozean nichts nützen würde. Faktisch gibt es unter den Säugetieren oder Vögeln der Antarktis keine, die sich die Mühe machen, Salpen zu fressen. Atkinson kommt in seiner Untersuchung zu dem Schluss: »Diese Veränderungen bei den Schlüsselspezies haben tief greifende Folgen für die Nahrungsketten des Südpolarmeers. Pinguine, Albatrosse und Wale ... fallen einem Krillmangel zum Opfer.«20)

Nachdem sie eine so wichtige Veränderung entdeckt hatten, versuchten die Wissenschaftler herauszufinden, was die Krillmengen steuert. Alljährlich schien die Population mit dem Ausmaß des Meereises zu fluktuieren; viel Eis bedeutete viel Winternahrung für den Krill. Vor Beginn der Satellitenaufzeichnungen in den achtziger Jahren war es unmöglich, unmittelbare Daten über die Ausdehnung des Meereises um die Antarktis im Winter zu erhalten. Mittlerweile können aber auch dank einer genialen Untersuchung der im antarktischen Eis erhaltenen (bitte Luft holen) Methansulfonsäure die jährlichen Veränderungen des Meereisvolumens geschätzt werden.21 Nachforschungen ergaben, dass die Eisausdehnung zwischen 1840 und 1950 stabil blieb, seither aber deutlich zurückgegangen ist, und zwar so sehr, dass sich die nördliche Eisgrenze von 59,3° Süd auf 60,8° Süd verlagerte. Das entspricht einer Abnahme des Packeises um 20 Prozent.22 Der Rückgang der Krillmengen passt so genau zum Rückgang des Eises in der fraglichen Zeit, dass kaum Zweifel bestehen: Der Klimawandel bedroht ernsthaft den produktivsten Ozean der Welt und die größten hier lebenden Tiere.

Um ein Gespür für das Ausmaß der Veränderungen zu bekommen, stellen Sie sich vor, was es für die wilden Tiere der Serengeti bedeuten würde, wenn ihre Weideflächen seit 1976 pro Jahrzehnt um 40 Prozent zurückgegangen wären. Oder wenn Ihr eigener Haushaltsetat ähnlich zusammengestrichen würde. Es gibt bereits Anzeichen, dass ein Teil der antarktischen Fauna in Nöten ist. Die Population der Kaiserpinguine ist nur noch halb so groß wie vor 30 Jahren, und die Zahl der Adeliepinguine ist um 70 Prozent zurückgegangen.23 Solche Befunde legen den Schluss nah, dass in naher Zukunft der Punkt erreicht wird, an dem vom Krill abhängige Arten sich eine nach der anderen nicht mehr ernähren können. 

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Wenn das passiert, werden die Südlichen Glattwale, die erst seit kurzem wieder an die Küsten Australiens und Neuseelands zurückkehren, nicht mehr kommen, denn sie finden in so warmem Wasser nichts zu fressen, und sie müssen sich mit dem Winterkrill Speck anfuttern, wenn sie an ihren Geburtsort ziehen wollen. Die Buckelwale, die in ähnlicher Weise die Weltmeere durchqueren, werden ihre geräumigen Mägen nicht länger füllen können und auch nicht die unzähligen Robben und Pinguine, die in den südlichen Meeren herumtollen. Stattdessen werden wir einen Ozean voller gallertartiger Salpen bekommen — die letzten Erben einer auftauenden Kryosphäre.

Die Arktis ist fast ein Spiegelbild des Südens, aber während die Antarktis ein gefrorener Kontinent ist, der von einem unendlich reichhaltigen Ozean umgeben ist, handelt es sich bei der Arktis um einen gefrorenen Ozean, der fast vollständig von Land eingeschlossen ist. Die Arktis ist auch Heimat von vier Millionen Menschen, was bedeutet, dass sie besser erforscht ist.

Die meisten Bewohner leben am Rand der Arktis, und dort, in Gegenden wie dem südlichen Alaska, sind die Winter nun um 2 bis 3°C wärmer als vor gerade mal 30 Jahren. Zu den weltweit offensichtlichsten Auswirkungen des Klimawandels zählen die Machenschaften des Fichtenborkenkäfers. In den letzten 15 Jahren hat er gut 40 Millionen Bäume im südlichen Alaska umgebracht, mehr als jedes andere Insekt in der Geschichte Nordamerikas.24 Zwei harte Winter reichen in der Regel aus, um die Zahl der Käfer unter Kontrolle zu halten, aber eine Serie milder Winter in den zurückliegenden Jahren hat sie explodieren lassen. Die Fichtenknospenraupe stellt eine weitere Gefahr für die Bäume dar, denn die weiblichen Tiere legen bei 25°C 50 Prozent mehr Eier als bei 15°C.25) 

Was immer in der baumlosen Arktis lebt, muss zäh und anpassungsfähig sein, und in seinem wunderbaren Tribut an die Polarregionen, Arktische Träume, nimmt Barry Lopez den Hudson-Halsbandlemming (Dicrostonyx hudsonius) als Symbol für alles, was man dort zum Überleben braucht. Dieser bescheidene Geselle, schreibt er,

setzte sich in meinem Geist als ... Repräsentant der Winterhärte und Unverwüstlichkeit fest. Wenn man ihm im Hochsommer auf der Tundra begegnet, wo er Flechten oder die Wurzeln des Wollgrases erntet, stellt er sich auf die Hinterbeine und nimmt eine Haltung feindseliger Wachsamkeit ein, die einen dazu bringt, nicht mit ihm zu spaßen. Seine Kleinheit ändert daran nichts; er stellt einen Mut zur Schau, der auf diesem kargen Grund höchst verblüffend ist.26) 

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Halsbandlemminge sind wahrhaftig Kinder des hohen Nordens, denn sie überleben sogar an der feindseligen Nordküste Grönlands und sind der Kryosphäre hervorragend angepasst. Es sind die einzigen Nagetiere, deren Fell im Winter weiß wird und deren Klauen in dieser Jahreszeit zu ausgezeichneten, zweizinkigen Schaufeln werden, mit denen sie sich durch den Schnee graben. Ihre Population fluktuiert in einem Zyklus von rund vier Jahren, und an dessen Ende sind sie so zahlreich geworden, dass sie in Massen auf die Suche nach Nahrung gehen, was der falschen Vorstellung Nahrung gibt, dass sie Selbstmord begehen, indem sie sich von Klippen stürzen.

Trotz der Zähigkeit seiner Bewohner ist das Ökosystem der Arktis besonders fragil, und schon leichte Veränderungen wie eine Jahreszeit mit weniger Schnee und dafür mehr Regen kann enorme Folgen zeitigen. Im Jahr 2004 wurde ein Bericht mit dem Titel <Arctic Climate lmpact Assessment> veröffentlicht, der von Anliegerländern gesponsert worden war.27) Darin sind viele Veränderungen dokumentiert sowie kommende vorhergesagt, und zu den verblüffendsten Prophezeiungen gehört, dass bei anhaltender globaler Erwärmung die Wälder Richtung Norden bis zum Rand der Arktis expandieren und dabei die Tundra zerstören werden. 

Mehrere hundert Millionen Vögel ziehen zum Brüten in diese baumlose Gegend, und wenn die Wälder nach Norden vorrücken, werden diese gigantischen Scharen die Verlierer sein und immer seltener auf ihrem Zug nach Süden gesichtet werden. Faktisch sieht es danach aus, dass die Vögel über 50 Prozent ihrer Brutreviere allein in diesem Jahrhundert verlieren werden.28 Beim Hudson-Halsbandlemming sind die Tundra und sein Leben aufs Engste verflochten, und im Bericht heißt es, dass die Spezies noch vor dem Ende dieses Jahrhunderts ausgestorben sein wird. Alles was dann bleibt, wird vielleicht eine folkloristische Erinnerung an ein kleines, Selbstmord begehendes Nagetier sein. 

Die wahre Tragödie wird allerdings darin bestehen, dass die Lemminge nicht gesprungen sind. Sie wurden gestoßen.

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Das Arctic Climate Impact Assessment widmet sich in besonderem Maß jenen Spezies, die für die Arktisbewohner wichtig sind, und nichts ist in ihrem Leben von größerer Bedeutung als das Karibu (oder das Rentier, sein Vetter in Eurasien). Das Peary-Karibu ist eine kleine, blasse Unterart, die nur in Westgrönland und auf den arktischen Inseln Kanadas lebt. Herbstregen überziehen jetzt die Flechten, von denen sich die Tiere im Winter ernähren, mit einem Eispanzer, sodass viele hungern. Die Zahl der Peary-Karibus ging von 26.000 im Jahr 1961 auf 1000 im Jahr 1997 zurück. 1991 wurde die Spezies als gefährdet klassifiziert, was bedeutet, dass sie nicht mehr gejagt werden darf und somit für die Inuit-Wirtschaft nicht mehr von Belang ist.

Die Samen (Lappen) in Finnland haben eine ähnliche Vereisung der Rentier-Winternahrung bemerkt; die Details gab Heikki Hirvasvuopio den Herausgebern des Arctic Climate Impact Assessment im Jahr 2004 zu Protokoll:

Im Herbst wechselt das Wetter so stark, es gibt Regen und mildes Wetter. Das macht den Rentieren den Zugang zu den Flechten unmöglich. Es ist ganz einfach — wenn die Bodenschicht gefriert, können die Rentiere nicht zu den Flechten gehen. Das ist völlig anders als in früheren Jahren. Die Rentiere müssen kämpfen, um die Flechten herauszubekommen, und dann kommt die ganze Pflanze komplett mit der Basis heraus. Eine Flechte braucht sehr lange, um sich zu erholen, wenn man die Basis entfernt.29) 

Andere Faktoren dezimieren die Karibuherden weiter. Dazu zählen veränderte Schneefälle, die Nahrungsressourcen zudecken, und über die Ufer tretende Flüsse, in denen bei der Wanderung Tausende von Kälbern umkommen.30 Kurz gesagt, wenn der Klimawandel fortschreitet, wird die Arktis wohl kein geeignetes Habitat für Karibus und Rentiere mehr sein.

Wenn es ein Symbol für die Arktis gibt, dann ist es sicherlich nanuk, der große weiße Bär. Er ist ein Nomade und Jäger und in der weißen Unendlichkeit seiner Polarwelt jedem Mann gewachsen. Jeden Zentimeter der Arktis hat er im Griff: Nanuk wurde in 2000 Metern Höhe auf dem grönländischen Inlandeis gesichtet, man fand ihn unten an der Hudson Bay auf bloß 53° nördlicher Breite, und er stromerte zielgerichtet keine 150 Kilometer vom Nordpol entfernt über das Eis.

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»Ich habe immer geglaubt, das Land würde sie aufhalten«, bemerkte der kanadische Eisbärbiologe Ray Schweinsburg, »aber ich denke, sie können jedes Terrain bewältigen. Das Einzige, was sie aufhält, ist eine Gegend, in der es nichts zu fressen gibt.«31) Und genügend zu fressen zu finden heißt für Eisbären, viel Packeis zur Verfügung zu haben.

Es stimmt, dass Eisbären sich dazu herablassen, Lemminge zu fangen oder tote Vögel zu fleddern, wenn sich die Gelegenheit dazu bietet, aber Packeis und netsik — die Ringelrobbe, die dort lebt und ihre Jungen aufzieht — bilden den Kern ihrer Lebensweise. 1978 beobachteten ein Inuit-Jäger und der ihn begleitende Biologe einen Eisbären, der eine Robbe im offenen Wasser tötete, aber so ein Ereignis ist so selten wie Heidelbeeren im Frühling — die Ausnahme, die die Regel bestätigt.32

Netsik ist das im äußersten Norden am weitesten verbreitete Säugetier, mindestens 2,5 Millionen Exemplare schwimmen im von Eisbergen gekühlten Meer. Manchmal jedoch sind die Klimaverhältnisse so, dass sie sich einfach nicht vermehren können. 1974 schneite es über dem Amundsengolf zu wenig, sodass die Robben auf dem Packeis ihre Schneehöhlen nicht bauen konnten. Also zogen sie fort, einige bis nach Sibirien. Und die Eisbären? Diejenigen, die fett genug waren, folgten den Robben auf ihrer langen Reise, aber viele, die sich in der vorangegangenen Saison nicht genügend gemästet hatten, konnten nicht mithalten und hungerten.

Die Not der Sattelrobben (Pagopbilus groenlandicus) im Sankt-Lorenz-Golf gibt uns eine deutliche Vorstellung, wie die Dinge sich entwickeln werden. Wie die Ringelrobben können sie keine Jungen großziehen, wenn es zu wenig oder gar kein Packeis gibt — und das war in ihrer Heimat in den Jahren 1967, 1981, 2000, 2001 und 2002 der Fall.33 Die Folge von Jahren ohne Junge zu Beginn dieses Jahrhunderts ist beunruhigend. Wenn eine Strecke eisfreier Jahre sich über mehr als den reproduktiven Lebensabschnitt einer weiblichen Ringelrobbe erstreckt — wohl höchstens ein Dutzend Jahre —, wird die Population im Sankt-Lorenz-Golf, die sich genetisch vom Rest der Spezies unterscheidet, aussterben. Auch Ringel-, Sand- und Bartrobben brauchen das Packeis zum Gebären und zur Aufzucht ihres Nachwuchses. Selbst das mächtige Walross ist auf ein Leben im vereisten Meer angewiesen, denn der äußerst nahrungsreiche Eissaum stellt sein primäres Habitat dar.

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Während jeder Winter wärmer wird als der zuvor, verhungern die großen Bären allmählich. Eine Langzeituntersuchung von 1200 Tieren im Süden ihres Verbreitungsgebiets — entlang der Hudson Bay — ergab, dass sie im Durchschnitt bereits 15 Prozent magerer waren als noch vor ein paar Jahrzehnten. Die Futtersaison ist zu kurz geworden, die Bären finden nicht mehr genügend zu fressen, und 15 Prozent weniger Fett sind eine ganze Menge, wenn der Winterschlaf ansteht. Jahr um Jahr gebären die hungernden Weibchen weniger Junge. Noch vor einigen Jahrzehnten waren Drillingsgeburten üblich; heute gibt es sie nicht mehr. Und damals war die Hälfte der Jungen mit 18 Monaten entwöhnt und ernährte sich selbst, heute ist dieser Anteil auf weniger als eines von 20 gesunken.34 

Selbst die Weibchen, die erfolgreich gebären, sind mit Gefahren konfrontiert, die es früher nicht gab: Zunehmende winterliche Regenfälle lassen in bestimmten Gebieten die Höhlen einstürzen, in denen das Muttertier die Jungen zur Welt bringt, wobei vielleicht beide umkommen. Und das frühere Aufbrechen des Eises kann die Winterquartiere von den Nahrungsquellen abschneiden; da die Jungen noch nicht die Strecken schwimmen können, die dann bis zum Fressen zu bewältigen wären, verhungern sie einfach, wenn das geschieht.

Wie Schweinsburg sagte, ist das Einzige, was nanuk aufhalten kann, eine Gegend, in der es nichts zu fressen gibt. Und indem wir eine Arktis mit schwindendem Packeis erschaffen, entsteht eine Einöde aus offenem Wasser und trockenem Land, wo es zumindest für nanuk einfach keine Nahrung gibt. Ohne satte Schneefälle kann er nirgendwo seine Winterhöhle bauen. Und was wird ohne Eis, Schnee und nanuk dann aus den Inuit — den Menschen, die ihm den Namen gaben und die ihn wie keine anderen verstehen? Wenn nanuk bei Kräften und wohlgenährt ist, frisst er von einer fetten Robbe nur den Speck, den Rest überlässt er einem Gefolge von Mitessern, zu denen Polarfüchse, Raben, die graugrüne Thayer-Möwe und die Elfenbeinmöwe zählen. Zu bestimmten Zeiten und an bestimmten Orten hängen viele dieser Tiere von nanuk ab, denn keiner sonst versorgt sie in diesem abweisenden Land mit solchen Gaben.35 Wenn sich die Arktis mit hungrigen weißen Bären füllt, was wird dann aus den anderen Kreaturen? 

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Einige sind ebenfalls auf das Packeis angewiesen, beispielsweise die Elfenbeinmöwe und der Krabbentaucher. Faktisch ist der Bestand an Elfenbeinmöwen in Kanada in den letzten 20 Jahren schon um 90 Prozent zurückgegangen, und wenn das in dem Tempo weitergeht, überleben sie dieses Jahrhundert nicht. Es sieht danach aus, dass der Verlust von nanuk den beginnenden Zusammenbruch des gesamten arktischen Ökosystems markiert.

Wenn nichts unternommen wird, um die Treibhausgas-Emissionen einzuschränken, scheint gewiss, dass irgendwann in diesem Jahrhundert der Tag herauf­dämmern wird, an dem in der Arktis kein Sommereis mehr zu sehen ist, sondern bloß eine riesige, dunkle, aufgewühlte See. Ich vermute, die Welt wird nicht so lange warten müssen, bis nanuk verschwunden ist, denn noch ehe das letzte Eis schmilzt, werden die Bären die für sie nötige Konstellation von Winterquartieren, Nahrungsrevieren und Migrationskorridoren verloren haben, ohne die sie sich nicht vermehren können. Vielleicht wird sich noch eine Schar älterer Bären herumtreiben und Jahr für Jahr immer dürrer werden. Oder es kommt vielleicht der schreckliche Sommer, in dem nirgendwo Robben in ihren Höhlen hocken. Ein paar einfallsreiche Jäger halten sich dann vielleicht notdürftig mit Lemmingen, Aas und im Wasser gefangenen Robben am Leben, aber sie werden so abgemagert sein, dass sie nicht mehr aus dem Winterschlaf erwachen.

Die an den Polen zu beobachtenden Veränderungen sind von der schnellen Art, was heißt, dass es unter der einzigartigen Fauna und Flora der Region keine Gewinner geben wird, wenn die Treibhausgase nicht — und zwar rasch — eingeschränkt werden. Sonst müssen wir davon ausgehen, dass das Reich des Eisbären, des Narwals und des Walrosses einfach vom größten Habitat auf Erden — den großen gemäßigten Wäldern der Taiga — und von den kalten, eisfreien Meeren des Nordens ersetzt wird. In Gegenden, die der Wald nicht übernimmt, werden steigende Temperaturen (und damit zunehmende Verdunstung) Polarwüsten entstehen lassen, denn überraschend große Teile der Arktis weisen nur sehr geringe Niederschlagsmengen auf.36) 

Man könnte meinen, dass vorrückende Wälder durch ihren CO2-Verbrauch beim Wachsen helfen würden, den Klimawandel zu bremsen. Wissenschaftler schätzen jedoch, dass jeder Gewinn hier durch den Verlust der Albedo wettgemacht werden wird, denn ein dunkelgrüner Wald absorbiert viel mehr Sonnenlicht als die schneebedeckte Tundra und fängt daher viel mehr Wärme ein. Insgesamt wird die Bewaldung der nördlichen Breiten unseren Planeten also sogar noch schneller aufheizen, und wenn das passiert, wird es — was immer die Menschheit mit ihren Emissionen macht — für eine Umkehr zu spät sein.37) Jene Eisbären oder Robben in den Zoos, die man in der Hoffnung hält, sie könnten eines Tages ihr eisiges Reich wieder in Besitz nehmen, werden Gefangene bleiben, denn nach Millionen von Jahren ihrer Existenz wird die Kryosphäre des Nordpols für immer verschwunden sein.

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