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312 - Im Reich des Kommerzes 

13 Politik  

 

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Ein Jahr lang hatte ich gesucht und »meine Fühler ausgestreckt«, um vielleicht an einer anderen Klinik unter­zukommen, deren Chef mehr wissenschaftliche Anregungen erwarten ließ und eine etwas weniger gering­schätzige Behandlung, als sie bei einem Verbleib in Würzburg unfehlbar auch weiterhin zu erwarten war.

Ich stieß bei meinen Sondierungen gelegentlich auf wohlwollendes Interesse, da meine Veröffentlichungen hier und da Aufmerksamkeit gefunden hatten. Aber immer endeten diese Gespräche in der Sackgasse, sobald die Rede auf die Personalsituation in der betreffenden Klinik kam. Da wurde ich stets mit den älteren Rechten qualifizierter Kollegen konfrontiert. Alle Positionen, die für mich in Frage kamen, waren auf Jahre hinaus besetzt. Ich hätte mich in jedem Falle wieder hübsch hinten in der Schlange anstellen müssen. Dafür hatte ich sogar Verständnis. Dazu hatte ich aber keine Lust.

Kurz und gut: Zuletzt blieb allein der Wechsel in die Industrie. Schließlich trug ich bei allem wissen­schaft­lichen Interesse die Verantwortung für Frau und vier Kinder.

Der Entschluß kostete mich große Überwindung. Noch nach seiner Durchführung hatte ich wohl ein Jahr lang mit immer wieder aufkeimenden Minder­wertig­keits­gefühlen zu kämpfen, wenn ich früheren Universitätskollegen begegnete. Denn bei aller Kritik und allem Zorn auf die Zustände in der »Alma mater« hatten die Jahre an der Universität auch mich, wie ich erst jetzt zu spüren bekam, doch mit einer gehörigen Portion akademischer Arroganz imprägniert.

An der Universität herrsche der Geist, in der Industrie aber regiere das Geld, das war das Klischee, das auch ich mir zu eigen gemacht hatte. Der Assistent an einer Universitätsklinik mochte bitter arm sein (wenn er »von zu Hause« nichts mitbrachte, war er es damals in aller Regel tatsächlich), er konnte sich dafür aber in dem Gefühl sonnen, daß es ihm, der sich um »rein geistige Dinge« kümmere, auf die materiellen Seiten des Lebens im Grunde gar nicht ankomme. (Eine Fiktion, die sich immer dann als Selbstbetrug entpuppte, wenn wieder mal ein Kind — Kinder wachsen leider ohne Rücksicht auf das elterliche Budget — neu einzukleiden war).

Der »wissenschaftliche« Mitarbeiter eines Industriebetriebes, so lief die Litanei weiter, habe seine wissenschaftlichen Fähigkeiten dagegen in den Dienst des Mammons gestellt, was allenfalls darin eine gewisse Entschuldigung finde, daß es mit diesen Fähigkeiten (und den geistigen Voraussetzungen dazu) in seinem Falle ohnehin nicht allzuweit her sei. Niemand war taktlos genug, es in dieser Härte auszusprechen. Das war aber, in Kurzfassung, das seelische Korsett, mit dessen Hilfe ein Klinikassistent sein Selbstbewußt­sein aufrechthielt, wenn draußen vor dem Fenster der Kollege von der Industrie seinen funkelnagelneuen Opel Rekord neben dem eigenen altersschwachen Motorroller abstellte.

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Ich habe während meiner Tätigkeit in der Forschungsabteilung von Boehringer Mannheim später registrieren können, daß diese Einschätzung der beiderseitigen sozialen Rollen vom industriellen Gegenspieler durchaus geteilt wurde. Schlichtere Gemüter — und deren gibt es in der Industrie gewiß eine größere Zahl als an der Universität — hatten damit keine Probleme. Von meinen differenzierteren Mitarbeitern habe ich aber gelegentlich die bezeichnende Bemerkung gehört, daß sie bei Klinikbesuchen von dem Gefühl irritiert würden, auf der »falschen Seite des Schreibtisches« Platz nehmen zu müssen, wenn sie mit den Klinikassistenten sprachen.

In den »höheren Rängen« galt diese Rollenverteilung jedoch, hüben wie drüben, allenfalls noch in homöopathischer Verdünnung. Hier wehte, vor allem innerhalb eines größeren Industriebetriebs, eine Aufgeschlossenheit und Gesprächsbereitschaft, wie ich sie an der Universität schmerzlich vermißt hatte. Sehr bald merkte ich, daß der in meiner bisherigen »Welt« stets so abfällig apostrophierte Maßstab des kommerziellen Endeffekts auch seine positiven, von mir Universitätsflüchtling als geradezu befreiend erlebten Seiten hatte. Wichtigtuerische Schwätzer, wie sie sich in nicht wenigen akademischen Positionen ungefährdet und bisweilen bis zur Pensionsgrenze breitmachen konnten, hatten hier keine Chance. Und umgekehrt: Wo immer sich Leistungsbereitschaft zu erkennen gab, wurde sie nach Kräften unterstützt und nicht in der Sorge um eine Minderung eigenen Glanzes scheel ins Visier genommen.

Alles in allem wurden meine anfänglichen Vorurteile und Besorgnisse in einem überraschenden Ausmaß positiv enttäuscht. Ich gestehe ungeniert, daß ich dem Mannheimer Großunternehmen, bei dem ich damals landete, bis heute dankbar bin. Nachträglich ist mir so, als ob ich nach den tief deprimierenden Jahren an der Würzburger Universitätsnervenklinik in ein Sanatorium für psychisch Streßgeschädigte versetzt worden wäre.

Natürlich haben wir in Mannheim hart gearbeitet. Aber wenn wir das taten und, von vernünftigen Fragestellungen ausgehend, interessante Probleme in Angriff nahmen (die keineswegs etwa immer unmittelbare Gewinne verheißen mußten), dann wurde das anerkannt, und zwar auch dann, wenn ein solches Projekt nach Jahresfrist oder noch längerer Zeit wegen unerwarteter Schwierigkeiten abgebrochen werden mußte. Natürlich wurde kritisch, notfalls auch sehr hart diskutiert, wobei sich dann auch Affekte und Aggressionen melden konnten.

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Aber alle Aufregung galt primär der Sache, der Suche nach dem besten Weg zur Lösung eines Problems. Sie entfesselte sich nicht, wie ich es in den Würzburger Jahren mit so deprimierender Regelmäßigkeit hatte erleben müssen, an den beteiligten Personen, an der Frage ihrer Motive und ihrer charakterlichen Qualifikation. Niemand in unserer Forschungsabteilung wäre jemals auf die Idee gekommen, einen seiner Mitarbeiter vor den Kollegen »zusammenzustauchen« oder lächerlich zu machen. Jeder war sich, wenn er nicht ohnehin von Haus aus taktvoll genug war, solche Formen der »Menschenführung« abzulehnen, im klaren darüber, daß das dumm gewesen wäre. Er hätte sich als Vorgesetzter vor aller Augen selbst disqualifiziert. Denn es kam darauf an, seine Mitarbeiter zu motivieren, und nicht darauf, ihnen auf Kosten ihrer Arbeitsfreude zu demonstrieren, wer der Chef war und wer zu parieren hatte.

Ich begann meine industrielle Tätigkeit als Leiter des sogenannten »Psycholabors« des Unternehmens. Das bedeutete, daß ich — zusammen mit Chemikern und Pharmakologen — für die interne Entwicklung und die anschließende klinische Erprobung von Psychopharmaka verantwortlich war. Dazu gehörte auch die Aufgabe, sich in weltweitem Rahmen ständig über die Entwicklung auf diesem Gebiet auf dem laufenden zu halten. Ich war daher noch nicht ein ganzes Jahr bei Boehringer Mannheim, als ich 1960 vom Leiter unserer Forschungsabteilung zur Erweiterung meines Informationsstandes auf den Internationalen Psychiatriekongreß in Montreal geschickt wurde. Es war meine erste Überseereise, deren eine Strecke ich auf meinen Wunsch sogar mit dem Schiff zurücklegen durfte. Die ungewohnte Großzügigkeit und der Weitblick, die sich in einer solchen Fortbildungsmaßnahme kundtaten, beeindruckten mich nicht unbeträchtlich, wie ich gern gestehe.

Meine Aufgabe war interessant und machte mir in den ersten beiden Jahren sogar Spaß. Man muß dabei berücksichtigen, daß es damals in meinem Bereich nicht etwa um die heute mit Recht ins Zwielicht geratenen »Tranquilizer« oder andere wissenschaftlich banale Sedativa wie Librium oder Valium ging. Ende der fünfziger, Anfang der sechziger Jahre war die Zeit der Entdeckung der sogenannten Neuroleptika und ihrer Einführung in die Therapie der Geistes­krankheiten, insbesondere der Schizophrenie.

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Den Fortschritt, den diese neuartige Wirkstoffgruppe in der Psychiatrie herbeiführte, kann nur ermessen, wer die Atmosphäre auf einer »Wachstation« — auf der die Patienten Tag und Nacht vom Pflegepersonal beaufsichtigt werden mußten — vor und nach der Einführung der neuroleptischen Behandlung aus eigener Erfahrung vergleichen kann. Ich habe die Jahre noch in lebhafter Erinnerung, in der wir gezwungen waren, akut an einer Schizophrenie Erkrankten die Hände am Bettgestell zu »fixieren« (mit Lederriemen zu fesseln), um sie daran zu hindern, sich Finger abzubeißen oder mit dem Zeigefinger ein Auge herauszureißen. Man konnte diese Unglücklichen auch nicht beliebig lange mit ausreichenden Dosierungen von Schlafmitteln »ruhigstellen«, weil sie dann früher oder später unweigerlich eine Lungenentzündung bekamen und anfingen, sich durchzuliegen. In manchen Wochen war der »Wachsaal« ein wahrer Alptraum, nicht nur für die Patienten.

Der Unterschied zu den Verhältnissen in einer geschlossenen Abteilung nach Einführung der Neuroleptika gleicht dem Unterschied zwischen Nacht und Tag. Unter der Wirkung der neuartigen Mittel waren die Patienten zwar in ihren Bewegungen sichtlich gehemmt (jedenfalls im akuten Stadium ihrer Krankheit, wenn die Dosierung relativ hoch war), sie konnten aber selbständig herumgehen und sich beschäftigen. Entscheidend war der Umstand, daß ihre krankhaften Antriebe fast vollkommen gedämpft waren, ebenfalls ihre wahnhaften Ängste und Aggressionen, ohne daß sie sich im Zustand einer mehr oder weniger tiefen Benommenheit befanden. Das war eine bis dahin vollkommen unbekannte, revolutionär neuartige Wirkungsweise. Bei der Anwendung eines Schlaf- oder Beruhigungsmittels muß man stets eine sich mit der Höhe der Dosierung verstärkende Benommenheit in Kauf nehmen. Ein neuroleptisch behandelter Patient ist dagegen einem Gespräch zugänglich, er bewegt sich außerhalb des Bettes und kann sich, soweit seine psychotische Verfassung ihm das erlaubt, nach eigenem Wunsch beschäftigen.

Wir versuchten damals, die neuen Substanzen nach Möglichkeit zu verbessern, vor allem aber, neue Wirkstoffgruppen vergleichbarer Art zu entdecken. Unsere Chemiker synthetisierten, was das Zeug hielt, und kamen fast jede Woche mit einer neuen Formel angerannt, die, wie sie an deren Struktur ablesen zu können glaubten, zu den größten Hoffnungen berechtige. Sie betrieben, wie die Pharmakologen das spöttisch nannten, »Papierpharmakologie«.

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Unsere Pharmakologen bemühten sich, zur Erfassung der spezifisch neuroleptischen Wirkungsweise neue Tier­versuche auszutüfteln — woraufhin wir Kliniker sie damit aufzogen, sie seien dabei, »schizophrene Ratten« zu züchten. Denn das war das Problem, vor dem wir standen: Wie könnte es gelingen, neue Substanzen mit »antipsychotischer« Wirkung zu entdecken, wenn es kein psychotisches Versuchstier gab, an dem man sie hätte ausprobieren können?

Im Unterschied zu allen sonstigen Fällen — Bluthochdruck, Zuckerkrankheit, Infektionen, Herzleiden usw. — ging es bei der Suche nach neuen Neuroleptika um ein Medikament, das gegen eine Krankheit helfen sollte, die nur beim Menschen vorkommt. Was tun, da die Möglichkeit, noch so aussichtsreiche Substanzen nach ihrer Synthese im chemischen Labor direkt am schizophrenen Patienten zu testen, aus moralischen Gründen ausscheidet? Unsere Pharmakologen versuchten unter anderem, spezifische Wirkungsprofile herauszuarbeiten: körperliche Symptome, die bei den bereits bekannten Neuroleptika (und möglichst nur bei ihnen) auftraten, in der Hoffnung, daß ihr Nachweis bei neu zu untersuchenden Substanzen dann auf deren neuroleptische Wirkung schließen lasse.

Professor Johann-Daniel Achelis, der ideenreiche Leiter unserer Forschungsabteilung, hatte noch einen anderen, höchst interessanten Einfall. Das Neuartige der Neuroleptika bestehe offenbar doch, so erklärte er mir eines Tages, in der Tatsache, daß diese Stoffgruppe im Unterschied zu allen bis dahin bekannten Narkotika nicht zuerst an der Hirnrinde angreife (worauf deren bewußtseinstrübende Wirkung zurückzuführen sei), sondern daß sie, gleichsam »unter Umgehung der Hirnrinde«, direkt auf die daruntergelegenen, tieferen Zentren des Hirnstammes wirkten.* Und da gebe es nun im Max-Planck-Institut Seewiesen, in der Nähe des Starnberger Sees, einen gewissen Professor Lorenz, Konrad mit Vornamen, der die neue Forschungsdisziplin der »tierischen Verhaltensphysiologie« begründet habe. Ich hatte davon 1961 noch nie etwas gehört und glaubte im ersten Augenblick, daß es in Wirklichkeit »Verhaltenspsychologie« heißen müsse.

 

* Für diese Annahme sprach unter anderem das Auftreten von »extrapyramidalen« Bewegungsstörungen bei Überdosierung, da den Neurologen seit langem geläufig war, daß Bewegungsstörungen dieser Art (es handelte sich vor allem um parkinsonartige Hemmungen der Muskelaktivität) auf eine Störung in diesen tieferen Zentren zurückzuführen sind.

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Lorenz und seine Mitarbeiter hätten bei verschiedenen Tierarten, Gänsen vor allem und Hühnervögeln, angeborene Verhaltensprogramme nachgewiesen, die durch bestimmte Umweltsignale ausgelöst würden. Ich fand das alles hochinteressant, verstand aber nicht, worauf mein Chef hinauswollte. Diese angeborenen Verhaltens- oder Instinktprogramme, so fuhr er fort, seien allem Anschein nach im Stammhirn lokalisiert. Daher denke er, Achelis, an die Möglichkeit, daß sich die neuroleptische Wirkung chemischer Substanzen bei Tieren dadurch zu erkennen geben könnte, daß sie die von den Seewiesener Wissenschaftlern genau beschriebenen Verhaltensweisen unterdrückten oder beeinflußten, ohne die Tiere zu narkotisieren. Jetzt war ich fasziniert. Der Einfall erscheint mir noch heute hervorragend.

Nachdem Achelis sich von meiner positiven Reaktion überzeugt hatte (!), führte er das gleiche Gespräch in meinem Beisein mit unserem Chefpharmakologen. Auch dieser äußerte größtes Interesse an dem Vorschlag. Konrad Lorenz, telefonisch von Achelis in groben Zügen informiert, stimmte einem gemeinsamen Gespräch sofort zu. So lernte ich, wozu ich von Würzburg aus niemals die Gelegenheit bekommen hätte, durch die besonderen Umstände meines neuen Tätigkeitsfeldes Konrad Lorenz und seine wichtigsten Mitarbeiter in ihrem Seewiesener Institut persönlich kennen. 

Der erste Kontakt führte zu einer längeren Zusammenarbeit zwischen unserer Forschungsabteilung und »den Seewiesenern«, weshalb ich in den anschließenden beiden Jahren mehrfach, oftmals für eine ganze Woche, an den Starnberger See zog, um an den vereinbarten Versuchen teilzunehmen und Ergebnis­protokolle durchzusprechen. Der persönliche Kontakt zu dem von mir verehrten Lorenz und mehreren seiner Mitarbeiter blieb über die Zeit des dienstlichen Anlasses hinaus bestehen. Er endete erst, als das Institut Anfang der siebziger Jahre neu organisiert wurde, weil sein Leiter (fast gleichzeitig mit der Verleihung des Nobelpreises) das Pensionsalter erreicht hatte. »Konrad«, wie er von allen Seewiesenern angeredet wurde, ging zurück in seine Vaterstadt Altenberg bei Wien, und der Kreis seiner Mitarbeiter verstreute sich nach und nach.

Der Einfall von Achelis hat sich in den beiden Jahren der konkreten Zusammenarbeit übrigens als tragfähig erwiesen. Neuroleptika unterdrücken, wie insbesondere der Lorenz-Mitarbeiter Wolfgang Schleidt an Puten nachweisen konnte, tatsächlich mehr oder weniger isoliert angeborene Verhaltensweisen. Das war wissenschaftlich für alle Beteiligten von Interesse und führte auch zu einer gemeinsamen Publikation.

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Für das Unternehmen Boehringer in Mannheim kam dennoch nichts Verwertbares dabei heraus. Die Versuche erwiesen sich als viel zu mühsam und zeitraubend, und die Zahl der Versuchstiere blieb dementsprechend zu klein, als daß sich auf diesem Wege in einem praktisch vertretbaren Zeitraum eine für klinische Anwendungen ausreichende, statistisch auswertbare Erfahrungsgrundlage hätte gewinnen lassen. Die Zusammenarbeit schlief daher 1962 wieder ein. Für mich war damit nicht nur eine meinen Horizont beträchtlich erweiternde Zusammenarbeit zu Ende gegangen. (Mein seit dieser Zeit nie mehr erlahmtes Interesse für Evolutionsforschung und Evolutionstheorie geht auf den persönlichen Kontakt mit Lorenz zurück und die verschwenderische Fülle von Anregungen, die ich diesem geistvollen und liebenswerten Mann verdanke.)

Inzwischen war auch eine Entwicklung innerhalb meines Spezialgebiets erkennbar geworden, die mich abermals vor eine einschneidende berufliche Entscheidung stellte. Es zeigte sich immer deutlicher, daß auf dem Gebiet der Erforschung der Neuroleptika ein Stillstand eingetreten war, der mir prinzipieller Natur zu sein schien. Nach wie vor beherrschten zwei mir inzwischen zur Genüge bekannte Substanzgruppen das Feld. Seit Mitte der fünfziger Jahre, in denen sie mehr oder weniger durch Zufall entdeckt worden waren, hatte es bis auf wissenschaftlich ziemlich uninteressante halbsynthetische Variationen nichts Neues mehr gegeben.

Ich mußte folglich damit rechnen, daß das Terrain, auf dem ich arbeitete, bereits erschöpft war (die weitere Entwicklung hat diese Vermutung im wesentlichen bestätigt). Der Gedanke an die Möglichkeit, in den bevorstehenden Jahren in Routinearbeit zu versacken, behagte mir ganz und gar nicht. Was bot sich an Alternativen, dieser unersprießlichen beruflichen Aussicht zu entgehen? In der Forschungsabteilung gab es für einen Psychiater keine andere Aufgabe als die, der ich bisher nachgegangen war. Zu einer Rückkehr an die Universität verspürte ich nicht die geringste Lust. 

In dieser Situation unternahm ich einen Schritt, den so mancher Freund für »verrückt« hielt. Ich hatte jedoch erkannt, welche Freiheitsräume die Industrie bot, wenn man nur entschlossen genug war, von ihnen Gebrauch zu machen. So marschierte ich eines Tages frohgemut quer durch das Firmengelände hinüber zum zentralen Verwaltungsgebäude, in dem unter anderen auch der einflußreiche kaufmännische Leiter des Unternehmens residierte.

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Daß ich bei diesem Marsch naturgemäß auch quer durch alle Instanzen und dienstlichen Zuständigkeiten stiefelte, störte mich zwei Jahre nach dem Abschied von der Universität schon nicht mehr. In Würzburg hätte ich meine Habilitation riskiert, wenn Nr. 3 mich ohne Autorisierung im Gespräch mit dem Chef einer anderen Klinik erwischt hätte. Bei Boehringer Mannheim dachte man auf ganz anderen Geleisen.

Ich hatte damals längst meine Passion zum »Schreiben« entdeckt. Schon in den letzten Klinikjahren schrieb ich nebenher und in größeren Abständen, anfangs vorsichtshalber unter einem Pseudonym, allgemein­verständliche Wissenschaftsartikel für die »Zeit«, die damals noch kein Wissenschaftsressort hatte.* Der Umgang mit der Sprache zu — im weitesten Sinne — »aufklärenden« Zwecken wurde für mich rasch zu einer der befriedigendsten geistigen Beschäftigungen, die ich mir denken konnte.

Nun verteilte Boehringer damals eine alle vier Wochen erscheinende Zeitschrift an die Ärzteschaft, die nicht unmittelbarer Werbung diente, sondern versuchte, unterhaltend zu sein: Reisebeschreibungen, exotische Kochrezepte, Antiquitäten, medizinhistorische Betrachtungen waren typische Themen. Mich störte dabei von Anfang an nicht nur das gesichtslose Themenmischmasch, sondern auch die äußere Aufmachung, die mir kleinkariert erschien. Ganz von selbst hatten sich in meinem Kopf Vorstellungen darüber gebildet, wie man es — bei gleichem Aufwand — sehr viel besser machen könnte. Bei meinen Überlegungen, was sich mir nach der Ausschöpfung des Forschungsbereiches Neuroleptika an neuen Betätigungsmöglichkeiten bieten könnte, war ich deshalb auf den Gedanken verfallen, meine Besserungsvorschläge einmal dem für den Etat der Zeitschrift zuständigen Mann, eben dem kaufmännischen Direktor des Hauses, vorzutragen.

Bei diesem erschien also eines Tages zu einem telephonisch kurzfristig vereinbarten Termin der Mitarbeiter einer anderen Abteilung des Hauses, um ihm mitzuteilen, daß er die Zeitschrift, die seine Werbeabteilung produziere, für ziemlichen Mist halte (ich habe es bei unserer Unterredung selbstverständlich etwas diplomatischer formuliert), und ihm mit einigen Beispielen anzudeuten, wie man es bei gleichem Aufwand besser machen könne.

 

* Auch davor hatte ich schon einiges veröffentlicht. Mein erster Essay überhaupt erschien 1947 in der von Rudolf Pechel herausgegebenen »Deutschen Rundschau«; nachgedruckt in: »Unbegreifliche Realität«, Hamburg 1987

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Der so Angesprochene war über das harsche, sachlich freilich leicht zu begründende Urteil nicht im mindesten pikiert, er warf mich auch nicht kurzerhand hinaus, sondern hörte aufmerksam zu und kommentierte meinen Vortrag, als ich ausgeredet hatte, mit den aufmunternden Worten: »Na, dann machen Sie doch einmal einen Vorschlag, über den wir in größerem Kreise diskutieren können.«

Vierzehn Tage später legte ich mit großen Erwartungen mein Konzept für eine neue Zeitschrift vor. Sie sollte den mit Pflichtlektüre überlasteten Arzt ebenfalls mit jeglicher Werbung nach Möglichkeit verschonen und ihm dafür einen »Blick über den Zaun« eröffnen in den Bereich der zeitgenössischen naturwissen­schaft­lichen Forschung, wo immer sie zu neuen und interessanten Einsichten gelangt war. Ich behauptete kühn, daß ich namhafte in- und ausländische Wissenschaftler als Autoren würde gewinnen können, was der Zeitschrift ein angemessenes Niveau und entsprechendes Renommee sichern würde. Zusammen mit einem erstklassigen Graphiker, den ich vorsorglich gleich mitgebracht hatte, machte ich auch schon erste Vorschläge zur Verbesserung der äußeren Gestaltung der Hefte.

Der Kreis, in dem dies alles diskutiert wurde, umfaßte etwa ein Dutzend Teilnehmer aus verschiedenen Abteilungen des Hauses, auch der Forschungs­abteilung, der ich ja noch immer angehörte. Ich hatte die Sitzung mit einem an alle Geladenen vorab verteilten Memorandum sorgfältig vorbereitet. Die Entscheidung fiel nach wenigen Stunden: Ich bekam den Auftrag, die neue Zeitschrift- »Naturwissenschaft und Medizin«, abgekürzt »n+m«, sollte sie heißen — ins Leben zu rufen, wofür mir eine Redaktionsassistentin und eine Sekretärin bewilligt wurden.

Es gab anschließend dann doch noch einige Turbulenzen, weil mein bisheriger Chef, Professor Achelis, der sich von mir mit Recht »überfahren« fühlen konnte, keine Neigung an den Tag legte, mich für eine »forschungsfremde Aufgabe« freizustellen. Auch dieser Umstand kehrte sich für mich aber insofern ins Positive, als die Geschäftsführung daraufhin entschied, daß ich von nun an keiner bestimmten Abteilung mehr angehören solle, sondern ihr selbst direkt verantwortlich sei. Von größeren Freiheiten beflügelt hätte ich meine neue, selbstgewählte Aufgabe nicht anpacken können. Zwischen meinem Besuch beim kaufmännischen Direktor und der endgültigen Entscheidung hatten kaum mehr als vier Wochen gelegen.

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Die Zeitschrift »n+m« ist von Anfang 1964 bis Ende 1971 in zweimonatigen Abständen erschienen (und wurde dann von der Jahrbuchreihe »Mannheimer Forum« mit gleicher redaktioneller Konzeption abgelöst). Zu meiner großen Befriedigung (und nicht unbeträchtlichen Erleichterung) konnte ich mein Versprechen, prominente Wissenschaftler als Mitarbeiter zu gewinnen, von Anfang an einlösen.

Es half sehr, daß Konrad Lorenz für das erste Heft (ich konnte den Autoren für diese Ausgabe ja noch kein sichtbares Beispiel präsentieren!) auf meinen Wunsch einen brillanten Aufsatz »Über die Wahrheit der Abstammungslehre« beisteuerte, der in den folgenden Jahren von den verschiedensten Verlagen (und unter den verschiedensten Titeln) mehrfach nachgedruckt wurde. Für das anschließende Heft gelang es mir, den in Berkeley lehrenden Nobelpreisträger Melvin Calvin als Autor zu gewinnen. Im Laufe der Zeit kamen Wernher von Braun, Theodosius Dobzhansky, die Nobelpreisträger J.H. D. Jensen und A. I. Virtanen, der führende Evolutionstheoretiker George G. Simpson sowie der Basler Zoologe Adolf Portmann und andere prominente Autoren hinzu, und das Eis war gebrochen.

Die Auflage der Hefte mußte wegen zahlreicher Nachfragen laufend erhöht werden. Schon nach kurzer Zeit wurde »n+m« nicht nur von den Ärzten gelesen, sondern auch von Chemikern, Biologen und anderen Naturwissenschaftlern an vielen Universitäten und Instituten. Boehringer konnte mit der Resonanz also zufrieden sein. Für meine berufliche Entwicklung sind die Jahre der redaktionellen Arbeit an dieser Zeitschrift von entscheidender Bedeutung gewesen. Ich mußte jedes einzelne Manuskript gründlich lesen, oft genug auch mehr oder weniger »umschreiben«, und ich habe die englischsprachigen Beiträge fast ausnahmslos selbst übersetzt. Das zwang zu einer Gründlichkeit der Auseinandersetzung mit den naturwissenschaftlichen Themen aus vielen verschiedenen Bereichen, zu der ich mich sonst kaum mit der gleichen Intensität aufgerafft (und für die ich unter anderen Umständen auch kaum die Zeit gehabt) hätte.

Die Übersetzung eines Beitrags von Paul Couderc, Paris, über die Relativitätstheorie Einsteins fiel so jämmerlich aus (und der Text war so überreich mit mathematischen Formeln gespickt), daß ich mit der Unterstützung eines älteren Mitarbeiters des Heidelberger Universitätsinstituts für Theoretische Physik zwei Wochen gebraucht habe, um eine deutsche Fassung zu erarbeiten, die einem Nichtphysiker sinnvoll präsentiert werden konnte. Seitdem weiß ich, was es mit der Relativitätstheorie auf sich hat!

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Intern setzte der Erfolg der Zeitschrift eine Bewegung in Gang, die ich weder angestrebt noch zunächst überhaupt registriert habe. In kleineren oder größeren Abständen fielen mir immer neue Aufgaben zu. Es wurde eine Presseabteilung gegründet — ich wurde mit deren Aufbau und Leitung beauftragt. Die Geschäfts­leitung war zu ihrer Information an engeren Kontakten zum Bundesverband der pharmazeutischen Industrie interessiert. Daraufhin erging an mich die Order, regelmäßig an bestimmten Sitzungen dieses Gremiums in Frankfurt teilzunehmen. Obwohl offiziell nicht mehr dazugehörig, wurde ich im Laufe der Jahre immer häufiger auch zu wichtigeren Sitzungen in den medizinischen und biochemischen Forschungsabteilungen hinzugezogen.

Es dauerte eine Weile, bis ich den Braten roch. Gewisse Mitglieder der Geschäftsführung des Hauses, darunter der geschäftsführende Teilhaber, waren dazu übergegangen, mich probeweise, »für den Fall der Fälle«, als potentiellen Nachfolger »aufzubauen«. Achelis war, einige Monate vor dem Erreichen der Altersgrenze, auf einer USA-Reise unerwartet an einer Herzattacke gestorben. Der Nachfolger entpuppte sich innerhalb weniger Jahre als Fehlbesetzung, weshalb er schleunigst wieder hinauskomplimentiert wurde. (Eine lebenslängliche Beschäftigungsgarantie gibt es in der Industrie bei nachgewiesener Unfähigkeit nicht.)

Man war daher auf der Suche nach einem neuen Forschungsleiter auf der Ebene der Geschäftsführung. Eine neue Enttäuschung wollte man vermeiden, schon in Anbetracht der Unruhe, die ein abermaliger kurzfristiger Wechsel auf dieser Position in den Forschungsabteilungen mit sich gebracht hätte (in denen es damals, wenn ich mich recht erinnere, Hilfspersonal und Reinemachefrauen eingerechnet, immerhin schon um die 600 Mitarbeiter gab). Warum also »in die Ferne schweifen«, wenn eine interne Lösung im Bereich der Möglichkeiten lag?

Als ich merkte, wie der Hase lief, kamen in mir gemischte Gefühle auf. Selbstverständlich schmeichelte mir der Gedanke, daß man mir eine solche Aufgabe zutraute. Und ebenso selbstverständlich stellte die Aussicht darauf, mit den Möglichkeiten eines forschungsintensiven Unternehmens dieser Größenordnung weltweit operieren zu können, eine Versuchung dar. 

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Auf der anderen Seite war mir bewußt, daß ich meine naturwissenschaftlichen Interessen radikal würde einschränken müssen, von meiner schriftstellerischen Passion einmal ganz zu schweigen. (Die Weiterarbeit an meinem ersten Buch, »Kinder des Weltalls«, das ich gerade etwa zur Hälfte beendet hatte, würde ich mit Sicherheit einstellen müssen.) Die Position verhieß Macht und eine beträchtliche wirtschaftliche Besserstellung. Aber sie würde mich mit Haut und Haaren »fressen«, bis tief hinein in den Bereich der privaten Sphäre. »Sie paßt einfach nicht zu dir«, war der Kommentar meiner Frau. Deshalb reagierte ich, als eines Tages tatsächlich einer der Geschäftsführer bei mir erschien, um sich inoffiziell und »unter vier Augen« zu erkundigen, ob ich nicht Lust hätte, die auch mir zweifellos bekannte Lücke in der Geschäftsführung auszufüllen, mit einem etwas unkonventionellen Vorschlag: Ich erbat mir eine Probezeit von einem Jahr.

Man ging darauf ein, ernannte mich zum Direktor, stellte mir einen prestigeträchtigen Dienstwagen vor die Tür und stockte mein Salär um einen sehr ansehnlichen Betrag auf. Von Stund an nahm ich »kommissarisch« an allen Sitzungen der Geschäftsführung teil und trug die Verantwortung für die Forschungsbereiche Medizin und Biochemie, vorübergehend auch noch für die chemische Forschung, die ihren Leiter durch Tod verloren hatte. Für den Außenstehenden ist das nicht ohne weiteres einzusehen. Von Chemie verstand ich nichts und von Biochemie nicht viel mehr. Aber darauf kommt es in einer solchen Position nicht mehr entscheidend an. Zur Beantwortung aller fachlichen Fragen stehen einem exzellente Spezialisten in den verschiedenen Labors zur Verfügung. 

Die Aufgabe eines Forschungsleiters ist es, deren Zusammenwirken im Rahmen des ganzen Betriebes und hinsichtlich bestimmter Unternehmensziele zu koordinieren, ihre Etatforderungen und Personalwünsche unter übergeordneten Gesichtspunkten zu beurteilen und ihre Motivation dadurch zu bewahren, daß man allfälligen »Sand im Getriebe« rechtzeitig entdeckt und für seine Entfernung sorgt. Ich habe das erst während meines Probejahrs begriffen. Eines Tages wurde ich während einer Geschäfts­führer­besprechung gefragt, ob mir meine neue Aufgabe denn nun zusage. 

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Im Grunde durchaus, gab ich zur Antwort, nur sei es sehr lästig, daß ich an manchen Tagen kaum zum Arbeiten käme, weil fortwährend irgendwelche Mitarbeiter mich zu sprechen wünschten, die irgend etwas auf dem Herzen hätten: Querelen mit dem Personalbüro wegen Urlaubsvertretungen, Klagen über eine angebliche finanzielle Benachteiligung des eigenen Labors, Gehalts- oder Beförderungswünsche, Krach mit dem unmittelbaren Vorgesetzten und tausend ähnliche Probleme und Problemchen. Ich erinnere mich noch gut des verständnisvollen Gelächters, mit dem die Runde mein Klagelied quittierte. »Aber das ist doch Ihre Arbeit, Herr v. Ditfurth!« wurde ich belehrt.

Kurz vor dem Ablauf der Probezeit wurde ich dann vom geschäftsführenden Teilhaber gestellt. Ich sollte Farbe bekennen: »Machen Sie es nun oder nicht?« Nach langen Überlegungen und Diskussionen mit meiner Frau — die von Anfang an konsequent dagegen gewesen war, mir aber die letzte Entscheidung überließ — hatte ich mich dazu durchgerungen, das Angebot abzulehnen. Meine Absage löste im Management des Hauses, vor allem natürlich bei den Mitgliedern, die mich protegiert hatten, Enttäuschung und eine gewisse, mir gut verständliche Gereiztheit aus. (Im Verlaufe der folgenden Jahre stellte sich dann, aus der Distanz, das alte vertrauensvolle Verhältnis zu den meisten wieder ein.) Mir blieb nichts anderes übrig, als zum nächsten möglichen Termin zu kündigen.

Drei Monate später, im Januar 1969, stand ich daher mit Frau und vier Kindern im Wildwuchs der Freiheit einer marktwirtschaftlichen Gesetzen gehorchenden Gesellschaft, allein auf mich selbst gestellt. In den Händen einen verbindlich formulierten Abschiedsbrief meiner ehemaligen Firma, in dem »der guten Ordnung halber festgehalten« wurde, daß »unser Haus Ihnen gegenüber keine Verpflichtungen mehr hat«, eine höfliche Umschreibung der Tatsache, daß ich meinen Pensionsanspruch in den Kamin schreiben konnte. Mir war doch ein wenig blümerant zumute, meiner Frau verständlicherweise auch, wobei diese aber keinen Augenblick in ihrer Ansicht schwankte, daß meine Entscheidung trotz aller Unsicherheiten, denen wir uns nunmehr gegenübersahen, richtig gewesen war.

Es ist gutgegangen, was wir während der ersten Jahre der plötzlich über uns gekommenen Freiheit nicht mit Sicherheit wissen konnten. Rückblickend ist der Entschluß nicht nur richtig gewesen — es war der glücklichste Entschluß, den ich in meinem Leben, wenn auch unter Bangen, getroffen habe. 

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Es erscheint mir noch heute als ein seltsamer Gedanke, daß ich, wenn ich damals nicht durch das Angebot auf einen Managerposten vor die Entscheidung gestellt worden wäre, möglicherweise niemals den Mut aufgebracht hätte, mich mit Frau und schulpflichtigen Kindern in das kalte Wasser einer selbständigen Schrift­stellerexistenz zu begeben.

Wie auch immer, jetzt begann für mich mein eigentliches Leben, relativ spät — ich war schon fast fünfzig Jahre alt —, nach langen Lehr- und Wanderjahren, die aber entscheidende Voraussetzungen geschaffen hatten. Die Zeit, in der ich mich, ohne von irgendwelchen äußeren Faktoren behelligt oder »fremdgesteuert« zu werden, ganz den Themen widmen konnte, die mich seit der frühen Schulzeit geistig in ihren Bann gezogen hatten: der faszinierenden, das Geheimnis unserer Existenz aus immer neuen Blickwinkeln erhellenden naturwissenschaftlichen Grundlagenforschung.

Zunächst aber, 1969, kam es erst einmal darauf an, festen Boden unter die Füße zu bekommen. Als erstes stürzte ich mich auf die Fertigstellung des Buchmanuskripts. Zeit hatte ich jetzt in Hülle und Fülle. Dann aktivierte ich meine noch recht losen Fernsehkontakte. Seit 1964 hatte ich beim Westdeutschen Rundfunk in größeren Abständen, als »Hobby« nebenher, einige populärwissenschaftliche Sendungen produziert, die in den Sendehäusern und bei den Zuschauern ganz gut »angekommen« waren. 1968 hatte es sogar die ersten größeren Preise gegeben. Meine Verhandlungen mit dem WDR zogen sich jedoch von Monat zu Monat in die Länge, ohne daß eine Entscheidung fiel. Man war interessiert, hatte aber Probleme, mir die erbetenen sechs »Programmplätze« pro Jahr ohne Kooperation mit anderen Anstalten der ARD einzuräumen. Diese Arbeitsgemeinschaft aber war damals schon annähernd so unbeweglich wie heute.

Da der beruhigende Rhythmus regelmäßig auf meinem Konto eingehender Monatsgehälter abrupt geendet hatte, konnte ich nicht beliebig lange warten. Kurzentschlossen trug ich meinen Vorschlag einer zweimonatigen Sendereihe mit naturwissenschaftlichen Themen daher auch dem ZDF vor, woraufhin man mir dort innerhalb von vierzehn Tagen einen Vertrag anbot. Selbstverständlich schlug ich sofort zu. (Beim WDR hat man mir das, ohne jedes Verständnis für die Dringlichkeit meiner Lage, entsetzlich übelgenommen.) Es war die Geburtsstunde der Fernsehreihe »Querschnitt«, die bis zum Anfang der achtziger Jahre recht erfolgreich lief.

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Weil ich nicht wissen konnte, ob das ZDF meinen vorerst für ein Jahr abgeschlossenen Vertrag verlängern würde, hielt ich Umschau nach einem zweiten Standbein. Dabei beging ich, verleitet von dem Zeitdruck, den ich zu spüren glaubte, einen Fehler, dessen Folgen mich viel Nerven gekostet haben. Ich bot einem großen Hamburger Verlag ein selbstentworfenes Konzept für eine populärwissenschaftliche Monatszeitschrift an. Der Vorschlag wurde akzeptiert, und ich bekam einen Herausgebervertrag. Die erste schmerzliche Ernüchterung traf mich mit der Eröffnung des Verlages, daß ich (im Widerspruch zu einer allerdings nur mündlich vorab gegebenen Zusage) nach Hamburg umziehen müsse. Schweren Herzens (und unter nervenaufreibenden Schwierigkeiten) verkauften wir daraufhin unser eben erst bezogenes Häuschen im Odenwald und zogen nach Ahrensburg am Stadtrand von Hamburg.

Wir haben uns dort rasch eingelebt und wohl gefühlt (die Kinder klagten allerdings mit Recht über den Schulwechsel und den Abbruch bisheriger Freundschaften). Der eigentliche Anlaß des Umzugs jedoch, die Arbeit an der geplanten neuen Zeitschrift, erschien mir sehr bald, und dies mit jedem Monat mehr, als Katastrophe. Ich hatte nicht bedacht, was ich unbedingt hätte voraussehen müssen: Daß ich mit dieser Einbindung in die Redaktion eines großen Verlages die Freiheit, die ich mir durch die Kündigung bei Boehringer Mannheim gerade erst errungen hatte, mit den Arbeitsbedingungen einer Kaserne vertauschen würde, jedenfalls in diesem Bereich meiner beruflichen Tätigkeit.

So wenigstens kam es mir bald vor. Es mag sein, daß die meisten Mitarbeiter unserer neu entstehenden Redaktion das anders erlebt haben. Sie hatten sich vor allem mit der Produktion von Texten, also mit dem Inhalt der Zeitschrift, zu beschäftigen. Ich selbst fand mich dagegen als Herausgeber im Handumdrehen in genau der Rolle wieder, vor der ich gerade erst geflohen war: in einer Managerposition, in der mir die Aufgabe zufiel, zwischen einer Vielzahl verlagsinterner Gruppen mit höchst unterschiedlichen Interessenrichtungen zu vermitteln. Da kämpfte die Anzeigenabteilung (ohne deren Erfolg keine Zeitung oder Zeitschrift lebensfähig wäre) gegen redaktionelle Planungen, die ihrer Ansicht nach potente Werbekunden verprellen könnten. Da gab es zähe Bemühungen des Verlagsleiters, die redaktionelle Themenauswahl zu beeinflussen, die ihm nicht »publikumsnah« genug erscheinen wollte. 

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Endlose Querelen ergaben sich im Verlauf der sich immer von neuem entzündenden Diskussionen über den Unterschied zwischen wünschbarer und absolut notwendiger personeller Besetzung der Redaktion. Und in fast regelmäßigen Abständen bat mich der Verlagseigner zu sich, um mir mit trauervoller Miene und Grabesstimme lange Zahlenkolonnen vorzulegen, mit denen er mir vor Augen führte, daß ich ohne jeden Zweifel sein Unternehmen zugrunde richten würde, wenn ich mir die Ratschläge, Empfehlungen, Warnungen und Einsprüche seiner vielen Mitarbeiter, die sich ständig in unsere Arbeit einmischten, nicht ab sofort ernstlich zu Herzen nähme.

Es war zum Kotzen. Um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, stellte sich dann noch heraus, daß die von mir ursprünglich vorgelegte (und vom Verlag akzeptierte) redaktionelle Konzeption sich unter den von den widerstreitenden internen Interessengruppen ausgeübten Pressionen Schrittchen für Schrittchen zu wandeln begann. Bis sich schließlich das ganze Projekt zu einer in meinen Augen gesichtslosen und banalen Publikumszeitschrift gemausert hatte, mit der endlich alle zufrieden waren außer der Redaktion und mir. Als der Verlag dann auch noch einen Teil der von mir handausgelesen zusammengestellten Redaktion unter verschiedenen Vorwänden hinauswarf (aus »unabdingbaren Ersparnisgründen«, wie man es mir gegenüber nachträglich begründete), während ich im Ausland Urlaub machte, riß mir der Geduldsfaden. Ich schmiß, wie man so sagt, den Krempel hin und nahm mir einen Anwalt.

Der brauchte dann noch ein halbes Jahr, bis er für mich und einige andere Mitglieder der aufgelösten Redaktion, für die ich mich persönlich verantwortlich fühlte, eine Vertragsauflösung zu erträglichen Bedingungen ausgehandelt hatte. Die Abfindungen waren minimal, wogegen sich nichts einwenden ließ, denn das verunglückte Experiment hatte nur zwei Jahre gedauert. Es hatte mich viel Nerven gekostet. Aber man lernt auch aus solchen Erfahrungen. Schließlich hatte ich mir die Sache selbst eingebrockt.

Das Zwischenspiel stellte sich als völlig überflüssig heraus. Aber so etwas weiß man erst hinterher. Inzwischen war nämlich mein erstes Buch erschienen und weit über meine Erwartungen hinaus erfolgreich gewesen. So nahm ich denn — für mich bis heute die befriedigendste Tätigkeit überhaupt — sogleich ein weiteres Buch in Angriff, dessen Konzeption ich seit Jahren mit mir herumgetragen hatte, nunmehr in der beruhigenden Aussicht darauf, daß ich allein mit Fernsehsendungen und dem Schreiben von Büchern meine Familie würde ernähren können.* Es kehrte wieder Ruhe ein, und der Sorgendruck, der in den vorangegangenen beiden Jahren auf mir und meiner Frau gelegen hatte, wich der normalen Belastung eines normalen menschlichen Lebens.

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* <Kinder des Weltall>: 1970. Das nächste Buch, <Im Anfang war der Wasserstoff>, erschien bereits 1972.

    


 

   13  Rechtshändigkeit und linke Politik  

 

 

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Manchmal dauert es lange, bis einem ein Licht aufgeht. Als Volksschüler, noch in Klein-Glienicke, war ich einmal während eines Winterabends unversehens von einer mir völlig fremden Frau auf offener Straße lautstark beschimpft worden. Ich wußte nicht, wie mir geschah, und begriff erst nach einer Weile, womit ich den Zorn der Frau herausgefordert hatte: Sie hatte beobachtet, daß ich bei einer Schneeballschlacht mit Nachbarkindern meine Geschosse mit der linken Hand warf! Einigermaßen verständnislos nahm ich zur Kenntnis, daß sie meine Linkshändigkeit offensichtlich als tadelnswerte Unart ansah.

Zwar hatte ich in der Volksschule darunter zu leiden gehabt, daß man mich trotz heftigen anfänglichen Sträubens zwang, mit der rechten Hand zu schreiben (was mir im »Schönschreiben«, solange das als gesonderte Disziplin benotet wurde, Zensuren einbrachte, die beklagenswert von meinen übrigen Leistungen abstachen). Auch dauerte es bei mir, wenn ich mich recht erinnere, etwas länger als bei anderen Kindern, bis ich gelernt hatte, bei der Begrüßung von Erwachsenen das »schöne Händchen« zu geben. Daß meine wahrscheinlich erbliche Linkshändigkeit (auch ein Großvater war Linkshänder und eine meiner Töchter ist es ebenfalls) jedoch ein Ausdruck von Minderwertigkeit sein sollte, war mir neu. Mich bedrückte das Urteil nicht, dem ich in meinem Leben auch nur selten begegnet bin.

Gelegentlich beschäftigte mich aber die Frage, wie sich die Einschätzung von Linkshändigkeit als einer negativen Eigenschaft eigentlich begründete.

Ich bin ihr, weil ich es mit dringenderen Problemen zu tun bekam, erst Jahrzehnte später, aus zwei zufällig sich ergebenden Anlässen, nachgegangen und habe dabei zum x-ten Male die Erfahrung gemacht, daß man bei der genaueren Untersuchung von scheinbar banalen Sachverhalten auf die erstaunlichsten Zusammenhänge stoßen kann. Beide Anlässe ergaben sich aus unserem 1969 erfolgten Umzug nach Ahrensburg. In den günstig gelegenen ZDF-Studios in Wandsbek hatte ich nach einigen Einzelsendungen mit der Produktion der alle zwei Monate ausgestrahlten Wissenschaftsreihe »Querschnitt« begonnen. Und in Ahrensburg lernte ich Alfred Rust kennen.

Die Themen für die einzelnen »Querschnitt«-Sendungen konnte ich mir selbst ausdenken. Eines Tages verfiel ich darauf, einmal die eigenartige Asymmetrie zu behandeln, die sich in dem Unterschied zwischen »links« und »rechts« ausdrückt. Sie wirft hintergründigere Fragen auf, als die meisten glauben. (Eine Scherzfrage, mit der man seine Bekannten zumindest vorübergehend in Ratlosigkeit versetzen kann: Ein Spiegel vertauscht bekanntlich rechts und links — warum vertauscht er nicht auch oben und unten?)

Die »Händigkeit« — von »Chiralität« (nach griechisch cheira = Hand) spricht der Kernphysiker — reicht bis in die tiefste nachweisbare Ebene des materiellen Details. Die sogenannten »Fermionen« zum Beispiel, eine bestimmte Gruppe von Elementarteilchen, existieren in zwei spiegelbildlich verschiedenen Zuständen. Auch einige Stockwerke darüber, auf der Ebene der biologisch essentiellen Großmoleküle, gibt es eine analoge Asymmetrie: Die zwanzig Aminosäuren, aus deren unterschiedlicher Kombination (praktisch) alle bei lebenden Organismen vorkommenden Eiweißmoleküle bestehen (deren Zahl in die Tausende geht), stellen sämtlich Linksschrauben dar. Sie sind, anschaulicher ausgedrückt, umgekehrt »gewendelt« wie eine normale Schraube.

Warum der »Schraubensinn« bei allen diesen zwanzig als biologische Bausteine dienenden Aminosäure­molekülen der gleiche ist, leuchtet ohne weiteres ein: Der Zusammenbau unterschiedlich »drehender« Moleküle hätte, soweit er überhaupt möglich war, die Struktur eines von ihnen gebildeten Großmoleküls wesentlich instabiler (und damit weniger überlebensfähig) werden lassen, als ein Verbund von gleichsinnig gewendelten Bausteinen es ist. Daß es ausgerechnet linksdrehende Moleküle sind, die sich als Eiweißbausteine bei allen heute auf der Erde lebenden Organismen, Tieren wie Pflanzen, finden, dürfte allerdings reiner Zufall sein. Hinsichtlich ihrer biologischen Eignung unterscheiden sich die beiden Gruppen nämlich nicht im geringsten voneinander.

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Vermutlich hat es damals mehrere Anläufe zur Bildung von »Urzellen« gegeben, bei denen ursprünglich sowohl links- als auch rechtsdrehende Aminosäuren Verwendung fanden. (»Razematzellen«, zusammengesetzt aus einer Zufallsmischung beider Gruppen, schieden — sofern es sie überhaupt gegeben hat — bei der sofort anhebenden Überlebenskonkurrenz aus den genannten Gründen rasch aus.) Daß dann die aus linksgewendelten Molekülen bestehenden Urzellen die Oberhand gewannen und als einzige übrigblieben, dürfte irgendwelchen anderen Eigenschaften zuzuschreiben sein, die sie zufällig (das heißt unabhängig von ihrer Chiralität) zu überlegenen Konkurrenten machten.

Auf eine interessante Schlußfolgerung stößt man, wenn man der weiteren Frage nachgeht, warum eigentlich nicht Stammeslinien beider Organismentypen mit jeweils rein links- oder rein rechtsdrehender molekularer Zusammensetzung überlebt und im Verlaufe der weiteren Evolution miteinander konkurriert haben. Wenn, wie gesagt, die biologische Funktionstüchtigkeit von der jeweiligen molekularen Händigkeit gänzlich unabhängig ist, ist dieser Fall denkbar. Wie auch immer: Er liegt nicht vor. Es mag mehrere, vielleicht sogar unzählig viele Anläufe zur Hervorbringung von »lebenden« Strukturen gegeben haben, als die Erdoberfläche vor etwa vier Milliarden Jahren einen Zustand erreicht hatte, der den gewaltigen neuen Schritt möglich werden ließ. Vielleicht haben erste Generationen dieser verschiedenen Ansätze auch mehr oder weniger lange in friedlicher oder weniger friedlicher Koexistenz gleichzeitig um ihr Überleben gekämpft.

Übrig geblieben sind jedenfalls nur die Nachkommen eines einzigen dieser Ansätze. Alle heute die Erde bevölkernden Lebewesen sind »monophyletischen« Ursprungs. Sie sind »eines gemeinsamen Stammes«, Nachkommen einer einzigen Urzelle, die es vor fast vier Jahrmilliarden auf der Erde gegeben haben muß. Auch wir selbst stammen von ihr ab. Daher sind wir, wie auch von anderen Befunden bestätigt wird,* mit allen Lebensformen verwandt, die es heute auf der Erde gibt — von der kleinsten Amöbe bis zum Sequoiabaum.

* Weitere Indizien liefern die Identität des allen irdischen Lebensformen gemeinsamen genetischen Codes sowie Übereinstimm­ungen der Aminosäuresequenzen in den Enzymen aller bisher untersuchter Arten.

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Unausdenkbare Zeiträume später, etwa vor drei Millionen Jahren, entwickelte sich dann an der vordersten Front der sich seit dem ersten Schritt zu immer höheren Formen der Lebensrealisierung aufschwingenden Evolution eine ganz anders geartete Asymmetrie. Bei den damals (im Pliozän) die Erdoberfläche in noch spärlicher Zahl bevölkernden Hominiden oder Frühmenschen entstand jene Händigkeit im wortwörtlichen Sinne, die den vorangegangenen Fällen nachträglich ihren Namen verliehen hat. Unsere Urahnen wurden, ganz langsam, im Ablauf fast der ganzen bis zur Gegenwart führenden Zeit, zu einer Population, in der die Rechtshänder immer mehr überwogen. Vor rund 70.000 Jahren war das heute noch geltende Verhältnis erreicht: Etwa siebzig Prozent Rechtshändern standen nur noch dreißig Prozent Linkshänder gegenüber. Die Annahme einer immerhin doch noch so großen Minorität von Linkshändern in der heutigen Gesellschaft ist selbstverständlich eine Schätzung. Die automatisch erfolgende, mitunter »gnadenlose« kulturelle Umdressur von Links- zu Rechtshändern macht eine zuverlässige Auszählung ihrer genuinen Vertreter unmöglich. *

Daß sich damals überhaupt eine derartige funktionelle Asymmetrie, eben eine Händigkeit, bei den höchstentwickelten Primaten, den Hominiden, herausbildete, liegt im Grunde in der Logik der Entwicklung. Jedenfalls dann, wenn man einen »progressiven« Charakter der Evolution voraussetzt (an dem sich rückblickend nicht gut zweifeln läßt). Denn die Entstehung dieser Bevorzugung einer bestimmten Körperseite spiegelt äußerlich nur eine entsprechend fortschrittliche Arbeitsteilung zwischen den beiden Großhirnhälften dieses an der Spitze der Entwicklung stehenden Lebewesens wider.

Arbeitsteilung aber ist stets gleichbedeutend mit Spezialisierung. Sie bedeutet die Zerlegung bislang summarisch in Angriff genommener Aufgabenbereiche in mehr oder weniger zahlreiche Teilaufgaben, deren Erledigung an jeweils speziell angepaßte Funktionen delegiert werden kann. Arbeitsteilung ist folglich identisch mit dem Erwerb differenzierter Aktionsmöglichkeiten.

* Ich kann von ihr auch ein Lied singen: Schreiben kann ich heute nur noch mit der rechten Hand, aber meine Handschrift ist sicher nicht zuletzt aus diesem Grunde immer ziemlich unleserlich gewesen. - Wer häufiger in den USA war, wird bestätigen, daß man dort überraschend häufig auf Menschen trifft, die mit der linken Hand schreiben, eine Folge der im Vergleich zu den Verhältnissen bei uns sehr viel toleranteren amerikanischen Schulerziehung.

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Im Falle des Großhirns ist sie identisch mit einer Zunahme der intellektuellen Leistungsfähigkeit. Schon seit mehr als hundert Jahren ist bekannt, daß die Lokalisation bestimmter Funktionszentren in der menschlichen Großhirnrinde einseitig, also asymmetrisch ist. Die höchsten, nur dem Menschen eigenen Zentren für Sprachvermögen und Sprachverständnis sind immer nur auf einer Seite der Hirnrinde ausgebildet, und von dieser Hirnhälfte wird dann stets auch die »führende« (geschicktere) Hand des betreffenden Menschen gesteuert. Wegen eines »gekreuzten« Verlaufes aller das Gehirn mit der Körperperipherie verbindenden Nervenbahnen ist das im Regelfall, beim Rechtshänder, die linke Hirnrindenhälfte, während beim (echten) Linkshänder die Verhältnisse spiegelbildlich umgekehrt sind: Bei ihm liegen die Sprachzentren in der rechten Hirnhälfte, die auch seine »Führungshand« steuert, in seinem Falle die linke Hand. Bis vor wenigen Jahrzehnten bezeichneten die Neurologen die linke Hirnhälfte daher als die »dominante« Hälfte (und im Ausnahmefall des Linkshänders die rechte), da der jeweils anderen Rindenhälfte in ihren Augen nur eine zweitrangige Bedeutung zuzufallen schien.

Erst in den letzten Jahrzehnten kamen die Hirnforscher langsam darauf, daß diese Sicht der Dinge zu einseitig und daher irreführend ist. Die Rede von »dominanten« Hirnhälften legt letztlich ja den Gedanken nahe, daß diese in ihrer Entwicklung der jeweils gegenüberliegenden Hälfte gleichsam vorausgeeilt seien, was den »nichtdominanten« Hirnhälften die Rolle zurückgebliebener Hirnteile zuwiese. Davon aber kann, wie sich inzwischen ergeben hat, nicht die Rede sein. Die einseitige Lokalisation der Sprachzentren beim Menschen ist nicht Ausdruck oder Folge eines Entwicklungswettlaufs seiner beiden Hirnhälften, den eine der beiden (die angeblich »dominante«) gewonnen hätte. Einfallsreiche und mit Recht berühmt gewordene Untersuchungen, die der amerikanische Neurochirurg Roger Sperry und sein Mitarbeiter Michael Gazzaniga seit Anfang der sechziger Jahre bei Patienten durchgeführt haben, deren beide Hirnhälften wegen Tumoren oder zur Beseitigung lebensbedrohlicher Anfallsattacken chirurgisch getrennt werden mußten, ergaben ein anderes Bild. Die im menschlichen Gehirn nachweisbare Asymmetrie ist das Resultat einer echten Arbeitsteilung im Bereich der obersten, psychischen Hirnfunktionen.

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Vereinfacht kann man sagen, daß (beim Rechtshänder!) die linke Hirnhälfte für den sprachlichen Ausdruck und das Sprachverständnis, für das Rechenvermögen und andere von uns als »rational« charakterisierte Leistungen zuständig ist, während die gegenüberliegende, rechte Hirnhälfte die neurophysiologische Grundlage unserer emotionalen Sensibilität, unserer musischen Erlebnisfähigkeit und Kreativität, aber zum Beispiel auch der außerordentlich komplexen Fähigkeit zur Erfassung »ganzheitlicher« Zusammenhänge darstellt.

Die nähere Betrachtung führt zu der bedeutsamen Erkenntnis, daß uns nichts grundsätzlicher vom Tier unterscheidet als diese Aufteilung der genannten Funktionen auf verschiedene Hirnhälften. Vereinfacht gesagt, verleiht uns unsere eine Hirnhälfte — bei mindestens siebzig Prozent aller Menschen ist es die linke — die Fähigkeit zum intelligent planenden, kalkulierend vorausschauenden Umgang mit der Umwelt. Sie ist, so könnte man sagen, das zerebrale Fundament des Homo faber. Die andere befähigt uns demgegenüber zur Sozialisation, zum Eingehen zwischenmenschlicher Bindungen, aber auch zu musischer Kreativität, zu ästhetischer Sensibilität und zur Intuition.

Unbestreitbar lassen sich nun alle diese Fähigkeiten grundsätzlich auch schon bei Tieren nachweisen. Tiere sind bekanntlich — und das gilt nicht etwa nur für die Vertreter »höherer« Arten — fähig zur Bildung mitunter recht kompliziert organisierter Gesellschaften (Beispiel: Insektenstaaten). Die wiederholt angestellten »Intelligenztests«, bei denen Affen, aber auch Rabenvögel oder Delphine verblüffende Leistungen an den Tag legten, haben das auch für »rationale« psychische Funktionen (Unterscheidung von Mengen gleicher Elemente unterschiedlicher Zahl, vorwegnehmende Erfassung von einfachen Ursache-Wirkungs-Folgen) zweifelsfrei belegt. Hierher gehören ferner die von dem berühmten Zoologen Bernhard Rensch und anderen bei Menschenaffen nachgewiesenen ästhetischen (»künstlerischen«) Anlagen.

Das alles gab es also schon, noch bevor die erwähnte Arbeitsteilung in den Köpfen unserer Urahnen vor fünf Millionen Jahren einsetzte. Deren Gene haben das alles gewiß nicht aus dem Nichts heraus neu erfunden. Nur: Das alles existierte lediglich in Ansätzen, als bloße Andeutung, bis die Evolution das menschliche Gehirn durch die »Erfindung« einer asymmetrischen Funktionsaufteilung in den Stand versetzte, die in diesen Andeutungen schlummernden zukunftsträchtigen Möglichkeiten Schritt für Schritt auszuschöpfen.

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Alles, was den Menschen und die menschliche Kultur ausmacht, alles, was uns mehr als alle anderen Besonderheiten von allen übrigen Lebewesen auf dieser Erde unterscheidet, das beruht auf dieser einzigartigen Arbeitsteilung in unserem Kopf. Erst diese Spezialisierung hat uns die Freiheit eröffnet, alle jene Eigenschaften zu entwickeln und die Aktivität zu entfalten, die uns im planetaren Rahmen einzigartig haben werden lassen und durch die wir uns, im Guten wie im Bösen, von allen anderen irdischen Lebewesen unterscheiden.

Daß daraus eine Prävalenz der Rechtshändigkeit resultierte, ist, soweit wir wissen, reinem Zufall zuzuschreiben. Entscheidend war die Aufteilung bestimmter Funktionen und ihre anschließende Delegierung an die eine oder an die andere Hirnhälfte, weil das die Möglichkeit einer gesonderten, ihrer jeweiligen Eigentümlichkeit spezifisch angepaßten Weiterentwicklung eröffnete. Welche Kategorie dabei in die linke und welche in die rechte Kopfhälfte gelangte, war prinzipiell gleichgültig. Heraus kam, wie sich nachträglich zeigte, eine langsame Verschiebung in der Häufigkeitsverteilung in der frühmenschlichen Gesellschaft zugunsten der Rechtshänder, die sich jahrmillionenlang fortsetzte, bis das heute festzustellende Verhältnis von siebzig zu dreißig erreicht war.

Woher wissen wir etwas von dieser Verschiebung und von dem Tempo, in dem sie verlief? Es erscheint zunächst fast unglaubhaft, daß wir über die »Händigkeit« von Frühmenschen und sogar über die Geschwindigkeit, mit der sich die Rechtshändigkeit bei ihnen durchsetzte, noch heute, Jahrmillionen später, konkret etwas in Erfahrung bringen können. Der modernen Vorgeschichtsforschung stehen, was diese Fragen betrifft, heute aber verläßliche Anhaltspunkte zur Verfügung. Sie gehen zum größten Teil auf die Untersuchungen von Alfred Rust zurück, eines Forschers, der die ungewöhnlichste wissenschaftliche Karriere absolviert hat, die sich denken läßt. 

Rust wohnte bis zu seinem Tode in den siebziger Jahren in Ahrensburg, wo ich ihn kennenlernte und oft zu stundenlangen Gesprächen besuchte. Er war einer der originellsten und erfolgreichsten Spezialisten auf dem Gebiet prähistorischer, vor allem steinzeitlicher Kulturen. Ungewöhnlich war an diesem Mann, zu dessen 65. Geburtstag die Max-Planck-Gesellschaft eine zweibändige Festschrift herausgab und dem der Titel eines Dr. phil. h.c. verliehen worden war, daß er nie studiert, daß er nicht einmal das Abitur gemacht hatte.

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Rust war von Haus aus Handwerker. In den zwanziger Jahren war er gleich nach der Gesellenprüfung als Elektroinstallateur arbeitslos geworden. Während er in seiner reichlichen Freizeit als Naturliebhaber die Umgebung Hamburgs auf dem Fahrrad durchstreifte, fand er immer wieder neue steinzeitliche Artefakte, die in der Gegend relativ häufig vorkommen — von Steinzeitmenschen vor 20.000 oder mehr Jahren zu Schabern und Messern oder anderen Werkzeugtypen zugehauene steinerne Bruchstücke.

Der gewöhnliche Spaziergänger pflegt die unscheinbaren Objekte zwischen den vielen anderen Steinsplittern auf seinem Wege zu übersehen. Ich habe an mir selbst die Beobachtung gemacht, daß mir, nachdem ich niemals zuvor ein solches Artefakt gefunden hatte, nach längerer Bekanntschaft mit Alfred Rust und seiner nach Tausenden verschiedenster Typen zählenden Sammlung auf Spaziergängen plötzlich auch — an mir gar nicht bewußt werdenden Merkmalen — bestimmte Steine auffielen, von denen sich die meisten dann bei näherer Betrachtung als Produkte steinzeitlicher Werkzeugherstellung erwiesen. Hier macht sich die Wirksamkeit eines dem optischen Gedächtnis eingeprägten unbewußten »Suchbildes« bemerkbar, wie das bei vielen anderen Gelegenheiten auch der Fall ist. (So entdecken erfahrene Jäger zum Beispiel Wild, das zu sehen unerfahrene Begleiter selbst dann noch Mühe haben, wenn ihnen der Standort genau beschrieben wird.)

Rust fand seine ersten Artefakte ohne vorangegangene spezielle Erfahrungen. Dem im Umgang mit verschied­enen Materialien geübten (und zweifellos mit einer überdurchschnittlichen Beobachtungsgabe ausgestatteten) Handwerker dürften bestimmte Bearbeitungsspuren aufgefallen sein, durch welche sich seine Fundobjekte von gewöhnlichen Steinen unterschieden. Jedenfalls war das Interesse des Mannes geweckt, und von da ab verbrachte er einen Großteil der Zeit, über die er als Arbeitsloser in hohem Maße verfügte, in Museen und einschlägigen Universitätsinstituten. Der Rest ist eine Abenteuergeschichte, die ich hier nur andeuten kann. Rust begann gezielt nach Spuren der Erzeuger der Artefakte zu suchen.

Der in der Wissenschaft unbekannte Mann fiel in Fachkreisen erstmals auf, als es ihm, unterstützt von einigen gleichfalls arbeitslosen Helfern, gelang, im Tunneltal bei Ahrensburg die Überreste einer bis dahin unbekannten steinzeitlichen Rentierjägerkultur auszugraben.

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Mit einer fast unglaublichen Zähigkeit und einer bei einem Autodidakten nicht ohne weiteres zu erwartenden systematischen Akribie rekonstruierte er diese unbekannte Kultur im Verlaufe vieler Jahre mit Hilfe seiner Fundstücke bis in erstaunliche Details, einschließlich ihrer Opferbräuche.*

In dieser Zeit besuchte Rust auch mehrmals Kleinasien (mangels ausreichender Mittel ebenfalls mit dem Fahrrad), wo er bei Jabrud, einem im libanesisch-syrischen Grenzgebiet liegenden Dorf, die Spuren einer bis dahin ebenfalls unbekannten altsteinzeitlichen Kultur freilegte. Rust verfügte über eine geradezu unglaubliche Intuition hinsichtlich der Grabungschancen an bestimmten Punkten einer Region. Auf meine Frage, wie er es eigentlich fertigbringe, in einer ihm fremden Gegend (Libanon!) seine Grabung an einer erfolgreichen Stelle anzusetzen, gab er mir in seinem anheimelnden, gemilderten Platt einmal die schöne Antwort: »Ich versetze mich einfach in die Seele eines Steinzeitjägers und überlege mir, wo ich aufgrund bestimmter Landschaftsstrukturen meinen Lagerplatz oder eine neue Ansiedlung am liebsten einrichten würde.« Irgendeine Einfühlungsgabe dieser Art muß es gewesen sein. Hinzu kam ein mich immer wieder in Erstaunen versetzendes Kombinationsvermögen, mit dem Rust sein immenses Wissen über vorgeschichtliche Funde und deren mineralogische Besonderheiten zueinander in Beziehung setzte, um dann an geographisch oft weit voneinander entfernten Punkten ganz gezielt nach den Überresten bestimmter Kulturen zu suchen.**

Rusts berühmteste Entdeckung, die ihm die internationale Anerkennung der Fachwelt verschaffte, war die Auffindung 500.000 Jahre alter Artefakte des Homo Heidelbergensis, von dem bis dahin nur ein schon 1907 in Mauer bei Heidelberg entdeckter Unterkiefer existierte. Dutzende von Experten hatten vor ihm in derselben Sandgrube vergeblich nach diesen Kulturresten gesucht. Sie waren davon ausgegangen, daß es sich um Artefakte aus »Flint« (Feuerstein) handeln müsse. Damit aber gingen sie mit einem falschen Suchbild ans Werk. Aufgrund bestimmter Überlegungen, zu denen ihn Funde auf Helgoland (!) angeregt hatten, vermutete Rust dagegen, daß es sich um aus Quarzit gearbeitete Steinwerkzeuge handeln müsse, womit er recht behielt und fast auf Anhieb fündig wurde.

* Einzelheiten in: Alfred Rust, »Vor 20.000 Jahren. Rentierjäger der Eiszeit«, Neumünster 1972, sowie »Handwerkliches Können und Lebensweise des Steinzeitmenschen«, in: Mannheimer Forum 1973/74 (nur über Bibliotheken).
** Eher beiläufig schildert er einige Beispiele seiner Suchstrategie in der an zweiter Stelle in der oben stehenden Fußnote zitierten Arbeit.

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Seine Entdeckung ermöglichte es erstmals, der Verbreitung dieses frühen Menschentyps anhand der von ihm hinterlassenen Kulturreste in Mitteleuropa nachzugehen. Das Wissen, das dieser passionierte Vorgeschichts­forscher über steinzeitliche Werkzeuge besaß, war, dessen bin ich sicher, dem eines vor zwanzig oder mehr Jahrtausenden lebenden Steinzeitjägers ebenbürtig. Das galt nicht nur für den Umgang mit den Werkzeugen, sondern auch für ihre Herstellung. Wiederholt hat er mir demonstriert, wie sich ein paläolithischer Schaber, ein rasiermesserscharfes Messer oder ein »Faustkeil« unter Originalbedingungen (meist benutzte er Teile von Rengeweihen oder Schlagsteine) aus geeignetem Material (Obsidian, Flint, Jaspis und anderem) innerhalb weniger Minuten herstellen läßt, wenn man die Eigenschaften des Materials (Spaltungslinien!) kennt und die Abschlagtechnik beherrscht. Rusts Produkte glichen den urzeitlichen Originalen in allen Details.

Besonders interessierte ihn der Vergleich identischer Werkzeugtypen aus Fundstätten unterschiedlichen Alters. In mehreren Fällen konnte er dabei eine im Verlaufe langer Zeitabläufe erfolgte stetige Verfeinerung des Produkts, bis zur Berücksichtigung ästhetischer Aspekte, nachweisen, was ihn immer wieder veranlaßt hat, vor einer Unterschätzung des kulturellen Niveaus unserer steinzeitlichen Vorfahren zu warnen. Deren Fähigkeiten, insbesondere beim Zuschlagen der Griffpartien, waren, wie Rust nachweisen konnte, schon vor drei Millionen Jahren erstaunlich weit gediehen. Der Frühmensch wandte zu ihrer Glättung in vielen Fällen mehr als hundert Zuschläge auf. 

Das läßt nicht nur auf eine entsprechende große Sensibilität der Hand schließen, die diese Werkzeuge vor Jahrmillionen benutzte. Die in dieser Weise bis zur Anpassung an individuelle Ansprüche des Benutzers verfeinerte Ausführung gab Rust auch die Möglichkeit festzustellen, ob ein bestimmtes Artefakt von einem Rechts- oder von einem Linkshänder für den Eigenbedarf maßgearbeitet worden war. Der Vergleich von Hunderten von Artefakten aus Fundstellen unterschiedlichen Alters verriet in dieser Hinsicht eine eindeutige Entwicklungstendenz. Die ältesten Fundstücke, die eine Beurteilung zulassen, sind vermutlich zwei Millionen Jahre alt. Bei ihnen läßt sich bereits ein geringfügiges, 56 zu 44 Prozent ausmachendes Übergewicht von Rechtshändern nachweisen. Vor 500.000 Jahren war ihr Anteil auf 63 zu 37 Prozent angestiegen.

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Und bei den »nur« 70.000 Jahren alten Artefakten von Jabrud entspricht die Relation schon der heutigen Verteilung von 70 Prozent Rechts- zu 30 Prozent Linkshändern. Eine Majorität dieses Ausmaßes aber stellt in den Augen einer jeden Gesellschaft mehr als bloß eine quantitativ hervorgehobene Gruppe dar. Unvermeidlich nimmt sie alsbald den Charakter eines auch qualitativ ausgezeichneten Kollektivs an. Dies zunächst einfach als Folge der dem Menschen innewohnenden Neigung, numerische Majoritäten als »Norm« zu betrachten in einem Sinne, der alles andere als wertneutral ist, unter dessen Einfluß vielmehr jegliche Alternative leicht in den Ruf gerät, nicht nur »anders« zu sein, sondern auch »minder«, nicht nur an Zahl, sondern auch an sozialem Wert. Dies ist der Effekt, dessen trügerischen Charakter das bekannte Märchen vom »häßlichen schwarzen Entlein« (aus dem später der prächtige weiße Schwan werden kann) aufklärerisch bloßzustellen versucht: Wer — in welcher Hinsicht auch immer — »anders« ist, erregt bei der Majorität leicht Anstoß.

Dieser psychologische Schwarze-Entlein-Effekt wird fast immer gestützt und scheinbar bestätigt durch Fakten, die sehr handgreiflicher Natur sind. Die kulturelle Organisation oder (hier vielleicht besser) »Zivilisation« einer Gesellschaft ist stets das Abbild der Wünsche, Gewohnheiten und Erwartungen der Majorität ihrer Mitglieder. Eine (in ihrer Mehrheit) rechtshändige Gesellschaft bringt daher von selbst Strukturen hervor, mit deren Besonderheiten ein Linkshänder schlechter umzugehen vermag als sein »normaler«, spiegelbildlich umgekehrt orientierter Mitmensch.

Verhältnismäßig leicht kann ein Linkshänder noch verschmerzen, daß er mit einem »normalen« (rechtsgewendelten) Korkenzieher schlechter zurechtkommt als »ein normaler Mensch«. (Weil die rechte Hand aufgrund der Zugrichtung der sie bewegenden Muskeln eine Drehung im Uhrzeigersinn mit größerer Kraft und Geschicklichkeit zu verrichten imstande ist als eine linke Hand, für die das gleiche im Gegenuhrzeigersinn gilt.) Aber immerhin kann der Anblick eines mit einem »normalen« Korkenzieher hantierenden Linkshänders beim »normalen« Betrachter leicht das Vorurteil verstärken, Linkshänder seien ungeschickt. 

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Und immerhin existieren daher (bezeichnenderweise in dem Minderheiten gegenüber notorisch toleranten England) Spezialgeschäfte, in denen Korkenzieher mit Linksgewinde und zahlreiche andere den Bedürfnissen linkshändiger Mitmenschen angepaßte Gerätschaften (Scheren, Schrauben usw.) verkauft werden.*

Es gab — vielleicht drückt sich ein gewisser Fortschritt darin aus, daß über sie in der Vergangenheitsform geredet werden kann — weitaus gravierendere Handicaps für Linkshänder in unserer von Rechtshändern geprägten Kultur. Ein eindrucksvolles Beispiel liefert die Schraubenrichtung von Wendeltreppen in alten Schlössern und Burgen. Wer einmal darauf achtet, wird bestätigt finden, daß sie praktisch ausnahmslos — die wenigen Ausnahmen, die es geben mag, müssen von Dummköpfen erbaut worden sein — als Linksschrauben konzipiert sind. Der Grund ist leicht einzusehen: Auf einer solchen Treppe ist der von oben nach unten fechtende Verteidiger erheblich im Vorteil. Er hat — vorausgesetzt, er ist Rechtshänder! — ausreichend Platz, um mit seinem Schwertarm nach rechts über das Geländer hinaus weit auszuholen. Schlecht dran ist dagegen der von unten anstürmende Angreifer, der bei allen Ausholversuchen von der für ihn rechts gelegenen, tragenden Mittelsäule behindert wird. Eine Bauweise, die allen Zeitgenossen sicher aus bloßer Tradition selbstverständlich erschien — und die einen in dieser Kulisse agierenden Linkshänder unweigerlich zum unbeholfenen, für die Verteidigung der eigenen Gemeinschaft ungeeigneten Tölpel werden ließ.

Aber schon lange vor der Erfindung der Wendeltreppe und ihrem Einsatz zur Verbesserung der Verteidigungs­möglichkeiten »fester Häuser« dürften linkshändige Soldaten sich den Ruf eingehandelt haben, schlechte Kämpfer zu sein. Ihre gesellschaftliche Diskriminierung hat vermutlich bereits in der sehr frühen historischen Epoche eingesetzt, in der man dazu überging, Soldaten bei kriegerischen Auseinandersetzungen nicht mehr in losen, ungeordneten Haufen gegeneinander anstürmen zu lassen, sondern in wohlgegliederten Verbänden. In einer solchen Formation jedoch, die zur Erhöhung ihrer Kampfkraft auch als geschlossene Einheit militärisch gedrillt wurde, mußten nun, damit die nebeneinander fechtenden Soldaten sich nicht gegenseitig ins Gehege kamen, auch die Linkshänder, in Anpassung an die von der Majorität diktierte Norm, ihr Schwert mit der rechten Hand führen.

* Wohingegen in unserem weniger für seine Toleranz bekannten Lande, das dafür den ob seiner köstlichen Variationen zum Thema Schadenfreude berühmt gewordenen Wilhelm Busch zu seinem Lieblingshumoristen erkoren hat, linksdrehende Korkenzieher bezeichnenderweise in Scherzartikelgeschäften mit der Anregung feilgeboten werden, seine rechtshändigen Freunde mit ihnen zu foppen.

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Es konnte nicht ausbleiben, daß sie sich dabei den Ruf erwarben, minderwertige Soldaten zu sein. (Auch dies ist übrigens ein Einfall von Alfred Rust.)

Die Abschätzigkeit, mit der die gesellschaftliche Majorität auf ihre linkshändigen Mitglieder herabzusehen begann, muß sich in jedem Fall früh entwickelt haben. Anders ist es nicht zu erklären, daß sie auch in vielen (den meisten?) abendländischen Sprachen ihren eindeutigen Niederschlag gefunden hat. Im Lateinischen bedeutet sinister nicht nur »links«, sondern auch »finster«, »unheildrohend«. Wer in England left handed compliments macht, ist ein unaufrichtiger Schmeichler. Umgekehrtes gilt für die andere Seite: Wer, auf französisch, à droit ist, darf sich auf deutsch als »adrett« ansehen.

Unverhüllter noch gibt sich die unterschiedliche Wertschätzung in unserer Sprache zu erkennen. Wer aus Höflichkeit auf der linken Seite geht, ist darauf bedacht, seinem rechts gehenden Begleiter sichtbar zu demonstrieren, daß man sich selbst den geringeren Rang beimißt. Und wer es je fertigbringen sollte, ein sündenfreies Leben zu führen, würde als treues Kirchenmitglied einen Anspruch darauf erwerben, nach seinem Tode »zur Rechten Gottes« Platz nehmen zu dürfen. Generell stehen sich im Deutschen die Gleichsetzungen von links = linkisch und rechts = richtig wie selbstverständliche, gleichsam gottgegebene Synonyme auf den beiden Ufern eines tiefen Grabens gegenüber, der das Gute vom Bösen oder doch wenigstens das Tadelnswerte vom Tugendhaften eindeutig voneinander scheidet.

Diese uns längst und unreflektiert in Fleisch und Blut übergegangene semantische Vorbewertung hat eine über den bisher betrachteten kernphysikalischen, molekularbiologischen, stammesgeschichtlichen und kulturellen Ebenen gelegene weitere Asymmetrie entstehen lassen. So einflußreich diese aller Wahrscheinlichkeit nach ist, so sicher scheint es mir, daß sie den wenigsten jemals zum Bewußtsein kommt. Es handelt sich um den semantisch Werturteile präjudizierenden Einfluß des zur Kennzeichnung bestimmter politischer Positionen seit langem eingebürgerten Begriffspaares »links« und »rechts«. Ein schierer Zufall scheint es gewesen zu sein, der 1814 in der französischen Deputiertenkammer eine Sitzordnung herbeiführte, welche den sogenannten »Bewegungsparteien« (die für einschneidende politische und soziale Veränderungen eintraten) einen Platz zuwies, der, aus dem Blickwinkel des Präsidenten, auf der linken Seite des Parlaments lag.

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Ein bloßer Zufall, aber ein Zufall mit, wie mir scheint, nicht unbeträchtlichen Folgen. Er ist die Ursache dafür, daß diese Seite bis auf den heutigen Tag der Stammplatz der jeweils fortschrittliche Veränderungen der Gesellschaft anstrebenden Parlamentsfraktionen geblieben ist, während auf der anderen, der rechten Seite, die Vertreter der konservativen Parteien saßen, denen zuvörderst daran gelegen war, daß am Bestehenden nicht gerüttelt wurde.

Aufgrund dieser eine bloße Sitzordnung bewahrenden Tradition hat sich später dann die Bezeichnung »politische Linke« oder »Linksparteien« für die eine Gruppierung und »Rechte« oder »Rechtsparteien« für die andere eingebürgert. Wegen der semantischen Asymmetrie der die beiden Seiten jeweils bezeichnenden Wörter wird damit jedoch (ungewollt, wenn auch unvermeidlich) viel mehr ausgesagt und an immanenter Bedeutung transportiert, als bei einer reinen Namensgebung legitim der Fall sein dürfte.

Niemand, nicht einmal das Mitglied einer linken Partei selbst, kann verhindern, daß die Verwendung der Wörter »links« und »rechts« im politischen Sprachgebrauch beim Zuhörer Assoziationen weckt, die über das hinausgehen, was er eigentlich sagen will. Wie im Falle eines bedingten Reflexes (aber noch weitaus unentrinnbarer) löst das Reden von linker Politik beim Zuhörer auch eine Assoziationskette aus, die von links über linkisch bis zu »linken« (im Sinne von arglistigem Hereinlegen) reicht, auch wenn ihm das gar nicht zu Bewußtsein kommen mag. 

Die »Unwucht« dieses von dem Wortpaar »links« und »rechts« unaufhebbar ausgelösten bewertenden Vorurteils wird noch verdoppelt durch den semantischen Bonus, der dem Repräsentanten einer rechten politischen Position ohne Mühe und irgendein Verdienst ebenso selbsttätig in den Schoß fällt wie dem Linken sein Malus. Denn das Wort »rechts« löst atmosphärisch bei jedermann sogleich die Erinnerung an Begriffe wie richtig, rechtschaffen und Recht aus, auch wenn das weder bemerkt wird noch beabsichtigt ist.

Ich weiß nicht, ob die politische Entwicklung in unserem Lande anders verlaufen wäre, wenn die linken Parteien im parlamentarischen Wettstreit nicht fortwährend von dem unfairen Handicap dieser semantischen Asymmetrie behindert worden wären (und die konservative Seite durch den ihnen ebenso regelwidrig in den Schoß fallenden semantischen Bonus bevorteilt). Denkbar scheint mir das durchaus.

Ich führe den Fall hier aber vor allem deshalb an, weil er mir ein ungewöhnlich anschauliches Beispiel für den Umstand zu sein scheint, den ich auch in diesem Buch aus dem Orkus der Verdrängung ans Tageslicht zu ziehen versuche: für die Tatsache nämlich, daß unser geistiger Bewegungs­spielraum auf Schritt und Tritt — und erst recht da, wo wir glauben, in völliger Freiheit zu handeln und zu urteilen — von den durch die biologische Hälfte unseres Wesens gesetzten Rahmenbedingungen auf einen engen langen Auslauf beschränkt wird (im geschilderten Falle von den Konsequenzen einer asymmetrischen Funktions­aufteilung in unserem Gehirn).

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