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314 - Der große Basar 

 

 

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Adenauers Gesellschaftskitt hat sich als nur vorübergehend haltbar erwiesen. Nachdem die von ihm geschürte antirussische Phobie nach seinem Tode langsam ihre Kraft als nationales Bindemittel verloren hatte, war es dann für ein Jahrzehnt die »neue Ostpolitik« Willy Brandts, die in der Bundesrepublik eine demokratisch legitimierte Majorität vorübergehend im Gefühl politischer Zusammengehörigkeit verband. Von einer irgendwie gearteten »Einheit der bundes­republik­anischen Teilnation« konnte aber in dieser Phase nicht die Rede sein.

Im Gegenteil. Brandts Politik der Verständigung mit dem Osten polarisierte die innenpolitische Auseinander­setzung in beispielloser Weise. Sie wurde nicht von politischer Argumentation geprägt, sondern von einem Ausbruch haßerfüllter Ablehnung durch das konservative, rechte Lager. Die ostpolitische Initiative der an die Regierungsmacht gelangten »Roten« löste keine demokratische Auseinander­setzung aus (das hatte man bei Adenauer ja auch nicht gelernt), sondern den verbalen Bürgerkrieg. 

Jetzt machten sich die Folgen der Tatsache verheerend bemerkbar, daß Adenauer die Bundesrepublik nicht auf dem Boden eines Konsenses über konkrete politische Inhalte errichtet hatte, sondern auf der Grundlage einer gemeinsamen Negation: der Angst vor dem Kommunismus.

Das heute von allen politischen Lagern unisono beklagte Fehlen eines bundesrepublikanischen Staatsgefühls hat gewiß viele Ursachen. Es hängt nicht nur - das natürlich auch - mit der unentwegt beschworenen Teilung zusammen. Es ist auch nicht nur eine unausbleibliche Folge der von Adenauers Politik dem geschlagenen Volke kühl zugespielten Offerte, die eigene Mitverantwortung für die nazistische Vergangenheit unaufgearbeitet ad acta zu legen*: Wer die eigene Vergangenheit verdrängt, verlegt sich den Zugang zu einer eigenen (nicht nur der nationalen) Identität.

Wir haben seit einigen Jahren bekanntlich - nie dankbar genug zu rühmende Ausnahme - einen Bundespräsidenten, der seine Mitbürger gelegentlich an diese nach wie vor nicht gern gehörte Binsenwahrheit erinnert und der dafür denn auch (keineswegs zufällig aus dem rechten Lager) kritisch-distanziert beäugt wird. 

 https://www.bundespraesident.de/DE/Die-Bundespraesidenten/Die-Bundespraesidenten-node.html

Nein, die Bundesrepublik hatte auch deshalb von vornherein kaum eine Chance, von der Gesamtheit ihrer Bürger als der allen gemeinsame Staat akzeptiert zu werden, weil Adenauers Politik diese Republik von Anfang an gleichsam »ex negativo« definiert hatte: nicht positiv, als politisches Gebilde mit einer bestimmten politischen und historischen Identität, sondern negativ, als Zweckverband aller antikommunistisch gesonnenen Individuen zur Verteidigung gegen eine aus dem Osten dräuende Gefahr.

Als Willy Brandt, Herbert Wehner und Egon Bahr darangingen, eine neue, auf Verständigung anstatt auf Konfrontation angelegte Ostpolitik in die Wege zu leiten, rührten sie daher unstreitig an den Magneten, der den bundesrepublikanischen Zweckverband bis dahin zusammengehalten hatte. Alsbald erwies sich, daß über den Fall nicht rational, nicht politisch also, diskutiert werden konnte. Die Antwort des konservativen Lagers bestand vielmehr in einem Ausbruch haßerfüllter Ablehnung.

* Ein Regierungschef von Adenauers Statur und Autorität, der einen Mann mit der Vergangenheit Hans Globkes (s. dazu die ausführliche Fußnote auf Seite 131) zum Staatssekretär macht und ihm die Organisation und alle Personalentscheidungen im Kanzleramt überträgt, demonstriert damit unverhohlen und aus freien Stücken, daß er administrative Effektivität allen moralischen Kriterien überordnet. - Ganz selbstverständlich hatten an höchster Stelle getroffene Entscheidungen wie diese in der Aufbauphase der Nachkriegsjahre immer auch Modell- und Vorbildcharakter und multiplizierten dadurch die Tendenz zu einer zynisch-pragmatischen Haltung in der übrigen Gesellschaft. Apropos: Während der Hamburger Pädiater Rudolph Degkwitz Anfang der fünfziger Jahre in die USA emigrierte (aus familiären Gründen), saßen die von ihm wegen nachweislicher und jedermann bekannter nazistischer Verstrickungen 1945 aus ihren Lehrämtern entfernten akademischen Kollegen (mit vereinzelten Ausnahmen) längst wieder in ihren Sesseln.

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Der irrationale Charakter der konservativen Kampagne gegen Brandts Ostpolitik wird durch nichts deutlicher unterstrichen als durch die Tatsache, daß die damalige Opposition diese Politik nahtlos fortsetzte, als sie wieder an die Regierung kam. Sachlich gab es keine Alternative. Groteskerweise neigt die konservative Koalition inzwischen sogar dazu, sich die »Aussöhnung mit dem Osten« als eigenes Verdienst zugute zu halten. 

Als Kanzler Kohl kurz vor seiner ersten Moskaureise im Oktober 1988 in einem Fernsehinterview gefragt wurde, ob er nicht auch einige Vertreter der SPD mit auf die Reise nehmen wolle, gab er mit spöttisch herablassendem Lächeln die Antwort: »Na, meinetwegen. Das Ganze ist ja ein großer Erfolg unserer Politik. Wenn da jetzt einige Herren von der Opposition auch noch schnell den rollenden Zug besteigen wollen, sollen sie es ruhig tun.«

Die Unterstellungen und Verleumdungen, zu denen sich in den siebziger Jahren Vertreter der sogenannten besseren Kreise, vor allem naturgemäß aber die Mitglieder der damals die Opposition bildenden »christlichen« Parteien, hinreißen ließen, wenn es galt, die führenden sozialdemokratischen Politiker beim Wahlvolk herabzusetzen und anzuschwärzen, finden in der deutschen Nachkriegsgeschichte an Bösartigkeit und Skrupellosigkeit nicht ihresgleichen.

In der Vorstandsetage von Mannesmann wurde wie selbstverständlich darüber geredet, daß Herbert Wehner seine Urlaube »in seiner Datscha bei Moskau« zu verbringen pflege, was ihm die Gelegenheit verschaffe, die Fortsetzung seiner politischen Kampagnen mit »seinen kommunistischen Genossen« abzustimmen. Abermals ein Beispiel für die realitätsblind machenden Wirkungen starker Affekte, denn Wehners Feriendomizil lag, wie alle Welt wissen konnte, in Schweden. Auch der Hinweis, daß der CDU-Kanzler Kiesinger demnach während der Großen Koalition »einen von Moskau abhängigen alten Kommunisten« mit dem Posten eines gesamtdeutschen Ministers betraut hätte, machte in der ansonsten intelligenten Runde niemanden stutzig.

Bundeskanzler Brandt hieß in den mir bekannten konservativen Hamburger Ärztekreisen »Genosse Frahm«. (Die Usance erinnerte mich fatal an »Tante Martha«, meine gute alte Großmutter aus Bückeburger Tagen, die den Reichspräsidenten Ebert stets nur als »den Sattlergesellen« zu apostrophieren pflegte.) 

Eine abendliche Tischrunde versuchte mich damals, nach Willy Brandts Wahlsieg, allen Ernstes davon zu überzeugen, »daß unser neuer Bundeskanzler zu Hause bekanntlich nur norwegisch spricht«.

*(d-2014:)  wikipedia  Usance  Eine Usance (frz. ‚Brauch‘, Usanz) ist ein Handelsbrauch, der im Handel zwischen Geschäftsleuten in einem gesetzlich begrenzten Gebiet (z.B. Österreich) und bzw. oder in einer bestimmten Branche (z. B. Holzhandel) angewandt wird.

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Und mein Ahrensburger Zahnarzt verriet mir durch eine unerwartete Frage, welche handfesten Sorgen ihn und seine konservativen Freunde sonst noch plagten. Wir standen vor unserem Haus, als der Arzt mit diplomatischen Wendungen behutsam vorfühlte, ob er mir einmal eine ganz persönliche Frage stellten dürfe. Ich ermutigte ihn dazu. Ob ich meine Stimme bei der Bundestagswahl wirklich Willy Brandt und der SPD gegeben habe, wollte er wissen. (Ich hatte mich im Wahlkampf zum Befremden meiner Nachbarn öffentlich für »die Sozis« engagiert.) Als ich bejahte, folgte im Tone ratloser Verwunderung die Frage: »Bei dem Haus?«, wobei mein Gesprächspartner mit einer beziehungsvollen Kopfwendung auf unser (in der Tat ansehnliches) Domizil wies. 

Ich verstand im ersten Augenblick nicht recht und wollte es im zweiten Augenblick nicht glauben. Aber der Mann, ebenfalls Hausbesitzer in Ahrensburg, bestätigte mir tiefbesorgt, daß er nunmehr ernstlich mit der Gefahr rechne, als »Kapitalist« von den neuen »sozialistischen Machthabern« enteignet zu werden. 

Eine Sorge, deren Abstrusität noch heute verräterische Rückschlüsse auf die Qualität der im Bundestagswahlkampf 1972 von der christ­demo­kratischen Union benutzten Munition zuläßt.

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Es ist bemerkenswert (und beunruhigend), mit welcher Hartnäckigkeit diese wirklichkeitsferne Sichtweise die Zeiten überdauert. Bei einem Streitgespräch anläßlich der Bundestagswahlen 1987 warnte der CDU-Vertreter vor der Möglichkeit eines Wahlsieges der SPD unter anderem mit dem Argument: »Wenn die ans Ruder kommen, werden sie Deutschland zum dritten Male ruinieren.« Woran dachte der Mann bloß? 

Er steht mit seiner Auffassung keineswegs allein, was auf die psychische Verfassung unserer politischen Gemeinschaft ein noch beunruhigenderes Licht wirft. 

Ist das Unglück des Vaterlandes bisher nicht stets aus der entgegengesetzten Ecke gekommen? Säßen wir etwa nicht immer noch in Ostpreußen und Schlesien, wenn die Politik der »vaterlandslosen Gesellen« sich gegen die säbelrasselnde Politik der Kaiserzeit und die auf nackte Eroberung gerichtete Politik der Nationalsozialisten in unserem Volk hätte durchsetzen lassen?

Die Liste vergleichbarer, noch dümmerer und bösartigerer Beispiele, vor allem aus den siebziger Jahren, ließe sich auf eine deprimierende Länge bringen. Mich erfüllt die Erinnerung an das, was ich an dergleichen Kostproben auch im Kreise von Verwandten, Bekannten und Kollegen zu hören bekam, noch heute mit Traurigkeit.

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Ich habe damals den Glauben daran verloren, daß man mit dem Menschen in seiner heutigen (»rezenten«) Konstitution das politisch verwirklichen kann, was die meisten von uns bei ruhiger Überlegung unter »Demokratie« verstehen. 

So, wie ich, auch aus anderen Gründen, überhaupt bezweifle, daß wir das »Tier-Mensch-Übergangsfeld« unserer stammesgeschichtlichen Entwicklung wirklich, wie Philosophen und Anthropologen uns glauben machen wollen, schon ganz durchschritten haben.

»Nicht mehr Tier und noch nicht Engel«, dieser Satz Pascals trifft unser Wesen ganz gewiß präziser und ehrlicher als die verbreitete Ansicht, wir seien schon identisch mit dem Lebewesen, das wir als »Menschen« theoretisch zu beschreiben in der Lage sind. 

Es ist nicht unsere Schuld, daß wir uns im Ablauf der Zeiten just an jener Stelle der Entwicklung vorfinden, an der wir das Ziel der Menschwerdung schon klar zu erkennen vermögen, dem unsere Art allem Anschein nach zusteuert, an der wir jedoch noch zu sehr unter der Knute des Neandertalers in unserem Hirnstamm stehen, um dem Anspruch gerecht werden zu können, den der Begriff »Mensch« setzt. 

Die Evolution hat uns bis an den Punkt geführt, von dem aus wir das Ziel sehen können. Aber wie Moses, den der Engel des Herrn auf einen Berg führte, um ihm das »Gelobte Land« zu zeigen, bleibt es auch uns versagt, das Gezeigte schon erreichen zu können. Es ist nicht unsere Schuld. Und wer es tröstlich findet, mag unsere Situation für tragisch halten. Aber wir sollten sie zur Kenntnis nehmen. Anthropologische Bescheidenheit ist geboten.

Ein in der Wolle gefärbter Konservativer lebt in einer Welt, in der er sich auf allen Seiten von Gefahren umstellt sieht: zuvörderst selbstredend von Kommunisten und »Sozis«, deren Ziel es ist, unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung zu zerstören. Aber auch von Chaoten und Terroristen, unter deren Umtrieben die Fugen unserer Gesellschaft für seine Ohren bereits hörbar zu knistern begonnen haben. Damit keineswegs genug: Verunsichert wird er auch von modernen Künstlern und Schriftstellern, die sein Kunstverständnis provozieren, von der Popszene, welche »die Jugend verdirbt«, von einer »pornographischen Welle«, die Kultur und Moral unter sich zu begraben droht, und des weiteren von allen möglichen Bürgerinitiativen, die sich unterfangen, die Autorität und Kompetenz der Obrigkeit in Zweifel zu ziehen.

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Selbstverständlich verbergen sich hinter diesen Befürchtungen Risiken, die nicht nur aus der Luft gegriffen sind. Gleichwohl ist das Ausmaß der durch sie ausgelösten Bedrohungsängste ohne Zweifel irrational: Wenn die noch so abscheulichen Verbrechen von zehn oder zwanzig Terroristen ein ganzes Land an den Rand der Panik zu treiben vermögen und wenn Briefträger oder Lokomotivführer ihrer kommunistischen Einstellung wegen mit der Begründung aus dem Staatsdienst entlassen werden, sie könnten »im Ernstfall« ein Sicherheitsrisiko darstellen, dann stehen Anlaß und psychologisch ausgelöste Reaktion zueinander in einem grotesken, rational nicht mehr begründbaren Mißverhältnis.

 

Es ist leicht verständlich zu machen, daß es kein Vergnügen bedeutet, in einer Welt voller Bedrohungen zu leben. Leicht zu begreifen ist ferner, daß viele ihrer Bewohner unter einem emotionalen Druck stehen, der ihre Fähigkeit zur selbstkritischen Überprüfung der eigenen Weltsicht spürbar behindert aufgrund der allseits bekannten reziproken Beziehungen zwischen gedanklicher Schärfe und aktuellen Affekten. Womit die Chancen, jemanden mit der bloßen Kraft rationaler Argumentation von seiner konservativen (oder gar reaktionären) Plattform herunterzuholen, a priori äußerst beschränkt sind. 

Diese Beschränktheit bildet die eigentliche Erklärung für die Unerschütterlichkeit, mit der die konservativen Bastionen — allen inneren Wider­sprüchen und objektiven Irrtümern zum Trotz — den kritischen Attacken ihrer politischen Gegner in aller Regel ohne Wackeln und Wanken standhalten.

Ein Konservativer strenger Observanz zählt seinem Wesen nach ungeachtet aller Lippenbekenntnisse nicht gerade zur Kerngruppe demokratisch gesonnener Mitbürger. Wer als rechter Politiker davon ausgeht, daß die Interessen des Vaterlandes letztlich nur in seinen Händen gewährleistet sind, neigt automatisch dazu, diese Interessen für gefährdet zu halten, sobald die Verantwortung für sie dem politischen Gegner zufällt. »Ein Sieg der SPD wäre der Untergang Deutschlands«, lautete folgerichtig ein Wahlslogan der Adenauer-Regierung. Da wird ausgesprochen, was ein Konservativer im tiefsten Herzen von demokratischer Parteienkonkurrenz hält. Sie ist ihm in Wahrheit ein Greuel. Denn er hat sich innerlich längst in solchem Maße mit »seinem« Staat identifiziert — was er in aller Unschuld für einen Ausdruck nationaler Loyalität hält —, daß es ihm nicht als demokratische Normalität erscheint, sondern als ein Akt un»recht«mäßiger (linker) Usurpation, wenn der politische Gegner ihm in einer demokratischen Wahl die Regierungs­macht aus den Händen nimmt.

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Folgerichtig und ohne falsche Scham wurde von der Springer-Zeitung <Die Welt> seinerzeit die Bildung der SPD-FDP-Koalition, die eine zur Ablösung des CDU-Kanzlers Kiesinger ausreichende Majorität herstellte, als »Links-Putschismus« qualifiziert.

Auch dieses in seinem Kern undemokratische Selbstverständnis der politischen »Rechten« bildet eine der Ursachen für den unleugbaren und allseits beklagten Vertrauensverlust gegenüber der staatlichen Obrigkeit. Das Gefühl, daß dieser Staat in Wirklichkeit gar nicht mehr »unser« Staat ist, sondern daß er von einer konservativen Regierungskoalition als in deren Verständnis »recht«mäßiger Besitz vereinnahmt worden ist, findet immer neue Nahrung. 

Insbesondere die Art und Weise, in der die Obrigkeit mit abweichenden Meinungen und Minoritäten umzuspringen sich angewöhnt hat, lähmt die Bereitschaft zum »Staatsvertrauen«.

Die Barschel-Affäre* war gewiß ein Exzeß und, hoffen wir es, eine einmalige Ausnahme. Aber selbst in ihrer kriminellen Übersteigerung trug auch sie gleich einer Karikatur noch die unverkennbaren Züge der ultrarechten Weltsicht. Denn wer mit dem Übergehen der Macht »an die Linken« eine Gefährdung nationaler Interessen assoziiert, dem erscheinen konsequenterweise auch kriminelle Methoden noch als Akte patriotischer Notwehr und damit in einem höheren als einem bloß formalen, legalistischen Sinne als »rechtschaffen«.

Alle vier Jahre darf der Bürger an der politischen Willensbildung mitwirken durch die Abgabe seiner Stimme für eine bestimmte Partei. Immer häufiger wird er dabei genötigt, sich auf Kopplungsgeschäfte einzulassen, gegen die er sich im ökonomischen Bereich mit Hilfe einschlägiger Wettbewerbsregeln erfolgreich zur Wehr setzen könnte. In der Politik jedoch bleibt ihm diese Möglichkeit versagt. Denn in der auf seine Stimmabgabe folgenden vierjährigen Legislaturperiode unterliegt diese Willensbildung, unterliegen sämtliche politische Entscheidungen dem Monopol der mit Mehrheit gewählten Partei oder Parteienkoalition. 

Während dieser vierjährigen Zeitspanne hat der mündige Bürger den Mund zu halten. Auf keine in diesem Zeitraum zu fällende politische Entscheidung hat er den geringsten Einfluß. Den hat er zusammen mit seiner Wählerstimme bis zum nächsten Wahltag unwiderruflich abgegeben.

*(d-2014:)   wikipedia  Barschel-Affäre  

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So ergab sich, um nur ein einziges Beispiel anzuführen, bei der Bundestagswahl 1983 für nicht wenige Wähler eine Zwickmühle aus der Tatsache, daß es ein und dieselbe Partei war, die mit Nachdruck versprach, »die Arbeitslosen durch die Aufhebung des (angeblich bestehenden) Investitionsstaus von der Straße zu holen«, und die außerdem erklärte, daß sie an der Aufstellung neuer Mittelstreckenraketen und ebenso »an dem zügigen weiteren Ausbau der Kernenergie« festhalten werde. 

Wie sollte da stimmen, wer an das (später uneingelöst gebliebene) Versprechen glaubte und seinen Arbeitsplatz für gefährdet hielt, zugleich aber überzeugt davon war, daß die Durchführung der »Nach«-Rüstung und/oder der Ausbau der Atomenergie Risiken heraufbeschwor, die er ablehnte? 

Ist der Verdacht etwa von der Hand zu weisen, daß derartige »Kopplungen« von bestimmten Parteien ganz bewußt aus taktischen Gründen hergestellt werden? 

Auf diese Weise läßt sich immerhin, gestützt auf die Ergebnisse von Meinungsumfragen, durch die Herausstellung eines von einer Mehrheit dringend erwünschten Angebots (zum Beispiel wirkungsvolle Bekämpfung der Arbeitslosigkeit) ein »Stimmensog« schaffen, in dessen Strom dann auch unpopuläre, von derselben Mehrheit in Wirklichkeit womöglich abgelehnte Entscheidungen formal eine demokratische Legitimation erhalten.

Ich möchte nicht mißverstanden werden. Mir ist klar, wie groß der Fortschritt historisch einzuschätzen ist, den die Einführung des allgemeinen Wahlrechts bedeutet hat. Es darf unter keinen Umständen angetastet werden. 

Jedoch scheint mir fast von Jahr zu Jahr deutlicher zu werden, daß es in unserer fortgeschrittenen Industrie­gesellschaft nicht mehr genügt, wenn der Bürger von diesem Recht in Abständen von vier Jahren einen jeweils einmaligen Gebrauch machen darf. Die in unserem Grundgesetz vorgesehene Mitwirkung der Parteien an der politischen Willensbildung ist infolge dieser Praxis längst zu einem Parteienmonopol entartet.

Fraglich ist dabei vor allem der Umstand, daß die einmalige Stimmabgabe der jeweils als Mehrheit installierten Partei oder Koalition quasi einen für vier Jahre gültigen Blankoscheck ausstellt. Sie erhält das Recht, in den folgenden vier Jahren nach eigenem Ermessen ohne Rücksicht auf abweichende Meinungen und Minderheiten zu schalten und zu walten. 

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Grundsätzlich gehört es zwar zu den demokratischen Tugenden, sich den Entscheidungen einer gewählten Mehrheit zu fügen. Ein durch einen einmaligen Wahlakt erworbenes Entscheidungsmonopol wird jedoch fragwürdig, wenn es Entscheidungen einschließt, die langfristige, über den Zeitraum einer Legislatur­periode weit hinausgehende (oder gar irreversible) Konsequenzen nach sich ziehen.

Die demokratische Verpflichtung einer Minderheit zur Tolerierung von Mehrheitsvoten ist nicht zuletzt durch die Aussicht darauf legitimiert, nach der nächsten Wahl selbst die Rolle des Entscheidungsträgers spielen und vorangegangene Beschlüsse gegebenenfalls aufheben oder korrigieren zu können. Gerade bei den für den zukünftigen Weg unserer Gesellschaft wichtigsten Entscheidungen ist das heute aber nur noch selten möglich. 

Der Ausbau der Kernenergie zum Beispiel bindet ein so gewaltiges Kapital, daß die festgelegten Summen, die sich ja amortisieren müssen, auf Jahrzehnte hinaus wirksame »Sachzwänge« entstehen lassen. Damit aber wird, im Widerspruch zu dem von den Betreibern selbst eingeräumten Übergangscharakter dieser Art der Energieerzeugung, die Energiepolitik entsprechend lange festgelegt und die wahrscheinlich schon in absehbarer Zeit aktuell werdende Möglichkeit, auf günstigere, zukunftweisende Techniken (Solarenergie, Wasserstofftechnologie) umzusteigen, auf lange Sicht verbaut.

Die mit den Strahlenrisiken der Kerntechnik verbundenen Konsequenzen sind durch keinen zukünftigen Regierungswechsel mehr aus der Welt zu schaffen. Sie erstrecken sich nicht über Zeiträume in der Größenordnung von Legislaturperioden, sondern von Lebensgenerationen. Um derart langfristige Folgen aber geht es heute bei allen Entscheidungen im ökologischen Bereich und oft auch darüber hinaus: Ob Sicherheitspolitik, Verkehrspolitik oder Verbraucherschutz, ob Boden- oder Trinkwasserschutz, ob es sich um Maßnahmen zur Vorbeugung gegen die drohende Klimakatastrophe handelt oder zur Erhaltung einer Luftqualität, die es erlaubt, auch in Zukunft noch ohne Sorgen um seine Gesundheit Atem holen zu können — immer häufiger geht es in unserer Gesellschaft um Entscheidungen, die unseren Kindern und Kindeskindern Lasten und »Sachzwänge« aufbürden, mit denen sie sich abzufinden haben werden, ohne je gefragt worden zu sein.

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In einer solchen Lage wären nun äußerste Behutsamkeit und Zurückhaltung bei allen bedeutenden Entscheidungen das vertrauenerweckende Markenzeichen einer Obrigkeit, die den von ihr geleisteten Schwur, »Schaden vom Volke abzuwenden«, nicht lediglich als ein zum Ritual der Amtsübernahme gehörendes Lippenbekenntnis betrachtet. Bei so langfristigen Folgen wären ein besonders großer Respekt vor opponierenden Minderheiten und eine besonders große Sensibilität ihren Einwänden und Bedenken gegenüber beruhigende Anzeichen des Obwaltens einer von wahrhaft demokratischem Geist beseelten Regierung. Jedoch haben wir bekanntlich nicht den geringsten Grund zur Beruhigung.

Unsere Obrigkeit läßt vielmehr keinen Zweifel daran, daß sie auch bei existentiellen Zukunftsfragen nicht daran denkt, die von ihr regierten Untertanen an der Entscheidungsfindung — etwa durch die grundgesetzlich zugelassene Möglichkeit einer Volksbefragung — zu beteiligen. 

Dabei gibt es für die Legitimität des immer deutlicher vernehmbaren Bürgerwunsches nach dieser Form einer Teilhabe an der gesellschaftlichen Kursbestimmung Kronzeugen, die über jeden Zweifel erhaben sind. So legte Ernst Mahrenholz, Richter am Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe, »Sieben Thesen zu Fragen der direkten Demokratie« vor.* In der vierten dieser Thesen heißt es:

»Es muß ein Wechselspiel möglich sein zwischen der politischen Integration des Gesamtspektrums gesellschaftlicher Fragen in ein politisches Programm, das eine in sich kohärente Politik ermöglicht, und einer eigenständigen Artikulationsmöglichkeit des Volkes durch die direkte Entscheidung gewichtiger politischer Einzelfragen. Dies ist auch eine Frage des Freiheits­verständnisses eines freiheitlich-demokratisch verfaßten Gemeinwesens.« (Hervorhebung von mir)

Unsere Obrigkeit jedoch ist auf diesem Ohr stocktaub. Unbeirrt demonstriert sie bei jeder Gelegenheit, daß sie Ansichten und Argumente von außerhalb des Parlaments, die den ihren widersprechen, nicht nur nicht zur Kenntnis zu nehmen gedenkt, sondern sogar als ungehörige Einmischung betrachtet (wenn nicht gar als ein Indiz staatsfeindlicher Gesinnung). 

Das hinter dieser Verweigerung stehende Freiheitsverständnis kann nur noch in eingeschränktem Sinne als »demokratisch« bezeichnet werden. Wieder liefert die Auseinander­setzung um die Frage des Ausbaus der Atomenergiegewinnung die handgreiflichsten Beispiele.

* Ernst-Gottfried Mahrenholz, »Teilhabe, Entscheidungslegitimation und Minderheitenrechte in der repräsentativen Demokratie«, in: Däubler-Gmelin/Adlerstein (Hrsg.), »Menschengerecht, 6. Rechtspolitischer Kongreß der SPD 1986«, Heidelberg 1987, S.371.

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Eines davon ist der seit Jahren schwelende Streit um die Wiederaufarbeitungsanlage bei Wackersdorf in Bayern. Zwar ist der ursprüngliche Grund für ihren Bau, nämlich die seinerzeit befürchtete Verknappung von Natururan, inzwischen hinfällig geworden. (Die Erdkruste enthält mehr als genug von dem Teufelszeug.) Zwar läßt sich nach Ansicht der überwiegenden Mehrheit der Experten auch sonst kein überzeugender Grund für die Notwendigkeit einer solchen Anlage nennen. Trotzdem ist die bayerische Landesregierung mit Unterstützung des Bundes entschlossen, das sachlich nicht zwingende und ökologisch mehr als bedenkliche Projekt allen Widerständen und Einwänden zum Trotz auf Biegen und Brechen durchzuziehen.

Der Grund dafür ist nicht mehr rationaler Natur. Es sei notwendig, daß der Staat in Wackersdorf »Flagge zeige«, erklärte Franz Josef Strauß. Die »Staatsräson« also erzwingt hier angeblich ein Projekt, das, wie von allen Seiten inzwischen stillschweigend eingeräumt wurde, weder vernünftig noch zweckmäßig, noch ökologisch unbedenklich ist. Es komme nicht in Frage, sich »dem Druck der Straße zu beugen«, sagte derselbe Ministerpräsident, der bald darauf in offiziellen Nachrufen und Trauerreden auch als »großer Demokrat« apostrophiert wurde. 

Da scheint mir denn doch eine höchst seltsame Variante von Demokratieverständnis vorzuliegen.

Selbstverständlich hat niemand »von Staats wegen« jemals erklärt, daß ihm Meinungen des regierten Volkes, die von der Regierungsposition abweichen, höchst gleichgültig seien. Die obrigkeitliche Abweisung aufmüpfig protestierender Untertanen (die so naiv sind zu glauben, daß die von ihnen gewählte Regierung sie wirklich als »mündige Bürger« betrachtet) bedient sich einer subtileren und — ich kann das Wort hier nicht vermeiden — perfideren Methode. Die gegen das Wackersdorfprojekt mit niemals widerlegten Einwänden aufbegehrenden Bürger wurden in die »kriminelle Ecke« gestellt. Ich fürchte, daß hier eine Parallele besteht zu der bis vor kurzem in der Sowjetunion geübten Methode, mißliebige Meinungsabweichler (Dissidenten) dadurch in der Gesellschaft zu diskreditieren, daß man sie für geisteskrank erklärte. 

Beunruhigenderweise sind Parallelen zu totalitären Gepflogenheiten im Umgang mit oppositionellen Minderheiten auch sonst nicht zu übersehen.

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So wurde im Dezember 1986 zum Beispiel einer österreichischen Journalistin, die im offiziellen Auftrag des Österreichischen Rundfunks über eine Protestaktion in Wackersdorf berichten wollte, von der bayerischen Grenzpolizei die Einreise mit der vom Münchener Polizeipräsidium telephonisch übermittelten Begründung verweigert, es bestehe »die Gefahr, daß die Journalistin über negative Geschehnisse berichten« werde. So die ungenierte Argumentation eines leitenden Beamten einer Regierung, die bis zur »Glasnost«-Reform keine Gelegenheit versäumte, »die dem Geist von Helsinki widersprechende Behinderung der freien Berichterstattung im Ostblock« mit selbstgerechtem Pathos anzuprangern.

In Wackersdorf und bei anderen Protestaktionen sind es nicht die Steinewerfer und die psychopathischen Berufsrandalierer, welche die Demokratie gefährden. Diese sind »normale« Rechtsbrecher, die mit den für ihre Handlungen vom Gesetz vorgesehenen Strafen zu rechnen haben. Nein, wer in Wackersdorf und anderswo die Demokratie beschädigt, das sind jene, die eine Handvoll von Gewalttätern begierig als Vorwand benutzen, um die Masse der gewaltlos Demonstrierenden zu verleumden, was sie vordergründig der Pflicht enthebt, sich deren Argumente und Einwände auch nur anzuhören.

Wo sonst, wenn nicht unter den gewaltlos Demonstrierenden — und das ist die überwältigende Majorität —, ist der in Wahlreden stereotyp beschworene »mündige Bürger« außerhalb der nur einmal alle vier Jahre wiederkehrenden Wahltage zu finden? 

Welche Möglichkeit hat er sonst, zwischen den Wahlen kundzutun, was ihm in seiner Mündigkeit nicht behagt? Andere, etwa plebiszitäre Formen der Beteiligung an der politischen Willensbildung (Stichwort: »Volksentscheid«) werden ihm ja unter allerlei Vorwänden vorenthalten.*

 

* Einer dieser Vorwände besteht in dem Hinweis auf Gefahren wie die, daß besonders abscheuliche Verbrechen (zum Beispiel Kidnapping mit Ermordung des entführten Kindes) dann auf dem Wege des Plebiszits die Wiedereinführung der Todesstrafe zur Folge haben könnten. Der Einwand ist jedoch nichtig, denn die Abschaffung der Todesstrafe ist grundgesetzlich abgesichert. Plebiszite aber könnten Rechtsänderungen nur innerhalb des grundgesetzlich festliegenden Rahmens herbeiführen. In der Praxis würden sie sich in aller Regel auf ordnungsrechtliche Bestimmungen beziehen, mit denen unterhalb des Schutzes der Verfassung angesiedelte Sachverhalte nach den Gesichtspunkten von Zweckmäßigkeit und gesellschaftlichem Interesse geregelt werden (Wasserschutz, Lebensmittelverordnungen, Verkehrsordnung, Städte- und Landschaftsplanung, Natur- und Artenschutz usw.).

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Also geht er, was bleibt ihm übrig, auf die Straße und macht den Mund auf: gegen die Aufstellung neuer Raketen, gegen die Vergiftung von Atemluft und Trinkwasser, gegen den Bau von Kernkraftwerken, gegen den Egoismus, mit dem manche Industriebetriebe einen Teil ihrer internen Kosten in Gestalt von Emissionen, Abwässern oder Verpackungsmüll auf seine Schultern abwälzen. 

Notabene haben die in dieser Weise Kritisierten bisher (fast) noch nie den Versuch gemacht, sich mit dem Einwand zu verteidigen, die protestierende Gruppe sei nicht sachverständig, so daß man ihren Widerspruch nicht ernst nehmen könne. Ganz am Anfang der Antikernkraftbewegung hat es diese Defensivstrategie gegeben. Seitdem wird von ihr kein Gebrauch mehr gemacht. Die Betroffenen wissen sehr wohl, wie beachtlich die Einwände sind, die ihnen die glänzend informierten Protestbewegungen entgegenhalten.

Eben deshalb greift man nun als Ultima ratio zum großen Knüppel und spricht den Demonstranten kurzerhand ihre demokratische Gesinnung ab. An die Stelle des Arguments tritt die gezielte Verleumdung und, wo immer es staatliche Institutionen sind, gegen die der Protest sich richtet, der Versuch, durch neue rechtliche Konstruktionen auch die gewaltlosen Protestler zu staatsfeindlichen, kriminellen Elementen zu stempeln.

Am deutlichsten war wieder Franz Josef Strauß. Während Helmut Kohl sich anfangs auf die knappe Formel beschränkte, daß es »der Pöbel« sei, der sich da auf den Straßen äußere, diagnostizierte sein »Männerfreund« in München den Aufmarsch »wandernder Bürgerkriegsarmeen«. 

Da wollte sich auch Helmut Kohl nicht lumpen lassen und beschuldigte die Grünen im Sommer 1986 bei einer Ansprache vor Grenzschutzeinheiten, sie forderten die Stillegung aller Kernkraftwerke nur, um die Bundesrepublik »sturmreif zu machen«. 

Der große Demokrat in München respondierte zustimmend und setzte gleich noch einen drauf, indem er die Behauptung aufstellte, daß es das wahre Ziel der Atomkraftgegner sei, das Land »in ein Chaos zu stürzen«, von dem letzten Endes die Sowjetunion profitieren werde, weil sie dann »die Macht in Europa übernehmen könnte«. 

(Was die Kunst angeht, in einem Satz gleich an mehrere bürgerliche Alpträume zu appellieren, hat Strauß eine Lücke hinterlassen, die auch ein Heiner Geißler trotz unbestreitbarer Talente niemals wird ausfüllen können.)? 

* (d-2014)   wikipedia   Franz_Josef_Strauß  

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Es leuchtet ein, daß die Friedfertigkeit protestierender Bürger unter einer solchen Behandlung Schaden nehmen muß. Eine emotionale Eskalation ist unausbleiblich. Die Formen, in denen sich die Entrüstung auf Seiten der staatlich geschmähten Protestler äußert, dienen der jedem Widerspruch zunehmend autoritär entgegentretenden Obrigkeit ihrerseits zur Rechtfertigung dafür, die Schraube juristischer und polizeilicher Gegenmaßnahmen weiter anzuziehen. So kommt der alle demokratischen Spielregeln und Freiräume einengende Kreislauf von staatlicher Gewalt und protestierender Gegengewalt in Schwung — und die Demokratie unter die Räder.

 

Der undemokratische Widersinn, der in unserer Republik inzwischen zum Tagesgeschehen gehört, wird sogleich verständlich und erklärbar, wenn man sich vor Augen führt, welche Kräfte unsere Gesellschaft in Wahrheit regieren

Unser Gemeinwesen ist genaugenommen schon nicht mehr ein »Staat« im konventionellen Sinne. Auch unsere Politiker sind eigentlich nicht mehr »Staatsmänner«, sondern Administratoren innerhalb von Aktionsräumen, die sich unter dem Einfluß wirtschaftlicher Sachzwänge stetig verkleinern. Zugespitzt formuliert, leben wir nicht mehr in einer Republik, sondern in einer Interessengemeinschaft, die mehr von den Regeln der freien Marktwirtschaft gesteuert wird als von demokratischen Gesetzen und die uns alle, die wir einmal Bürger waren, schon längst in Konsumenten verwandelt hat.

Über alle für die langfristige Entwicklung unserer Gemeinschaft wichtigen Fragen wird längst nicht mehr von Politikern, sondern von den Managern der Industrie befunden. Das liegt in der Entwicklungslogik einer fortgeschrittenen Industriegesellschaft: Es ist die Konsequenz des Wissens­vorsprungs der in Wirtschaft und Industrie tätigen Experten. Sie verschaffen der Wirtschaft ein Monopol hinsichtlich aller jener Informationen, ohne die sich ein Industrieland heute nicht mehr steuern läßt.

 

Der Schöpfer des größten europäischen Technologiekonzerns, der Unternehmer Ludwig Bölkow, gehörte einst zu den eifrigsten Fürsprechern eines forcierten Ausbaus der Energiegewinnung durch Kernkraft. Heute räumt er freimütig ein, daß er sich geirrt habe. Auf die Frage eines Reporters, wie ausgerechnet ihm das habe passieren können, gab er zur Antwort: »Was sollte ich denn machen? Bei einer solchen Frage verläßt man sich eben auf die Angaben aus der Stromwirtschaft.«  

Wenn schon ein »Insider« der Wirtschaft das sagt, wie abhängig muß sich dann der normale Politiker erst fühlen? Wen soll er um die für seine Entscheidung notwendigen Informationen bitten? Den mit dem erforderlichen Sachverstand ausgestatteten Spezialisten. Und wo findet er den? In dem mit dem jeweiligen Problem beschäftigten Industriezweig.

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Nun kann aber der in der betreffenden Branche tätige Spezialist aus auf der Hand liegenden psycholog­ischen Gründen nicht so objektiv und unparteiisch sein, wie eine das Interesse der Allgemeinheit berührende Entscheidung es wünschenswert erscheinen ließe. Er kann es nicht, selbst wenn er es wollte und sich nach besten Kräften darum bemühte. Dies von ihm zu verlangen wäre unbillig. Denn der Mann könnte auch bei bestem Willen nicht ad hoc über den Schatten seiner in vielen Berufsjahren erworbenen Betriebsloyalität springen. Er kann folglich auch bei der Beantwortung einer von der Politik an ihn gerichteten Frage gar nicht umhin, sich mit den Zielen zu identifizieren, die den Zweck des Unternehmens definieren, dem er angehört.

Und so kommt es dann, daß in der offiziellen Diskussion über den weiteren Weg der Energiepolitik mit Strompreisangaben (und Bedarfsprognosen!) taktiert wird, die zugunsten des Atomstroms sprechen und unter deren Einfluß die Politik des »zügigen weiteren Ausbaus der Kernenergie« die in den Augen der Betreiber wünschenswerten Impulse erhält. Bis sich dann Jahre später herausstellt (wenn es zu spät ist, weil die Milliardengräber der Kraftwerksbauten inzwischen »unaufhebbare Sachzwänge« geschaffen haben), daß bei der Kostenkalkulation gravierende Faktoren wie Transport­sicherung, Entsorgung und Endlagerung »vergessen« wurden.

 

Den in einer demokratischen Gesellschaft zur Kursbestimmung berufenen Volksvertretern bleibt dann nur noch »ja und amen« zu sagen übrig. Und, angesichts der sonst einzuräumenden eigenen fachlichen Inkompetenz (die ihnen andererseits niemand würde vorwerfen können), die kühne Behauptung, es habe sich um eine von ihnen aus begründeter Überzeugung getroffene Entscheidung gehandelt, die nach wie vor richtig sei. 

Denn das Eingeständnis eines Irrtums oder unzureichenden Wissens verträgt sich, so ehrenwert es wäre, nicht mit dem Selbstverständnis eines Berufspolitikers. Eine Einstellung, aus der sich des weiteren dann der Zwang ableitet, widersprechenden Bürgern mit Entschiedenheit und Selbst­sicherheit entgegenzutreten und ihnen das Recht auf Gehör abzusprechen.

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So kommt es, daß das landschaftszerstörende Milliardenprojekt des Rhein-Main-Donau-Kanals bis zum bitteren Ende fortgeführt werden wird, obwohl seine verkehrspolitischen Voraussetzungen inzwischen auch nach dem Urteil der Experten hinfällig geworden sind. Nach dem gleichen Muster ist es zu erklären, daß kein Politiker sich dazu aufrafft, den irrwitzigen, beliebig fortsetzbaren Wettlauf zwischen Straßenbau und Automobil­produktion zu beenden durch ein der Vernunft zu ihrem Recht verhelfendes gesetzliches Machtwort. Denn auch die Verkehrspolitik in unserem Lande liegt in Wirklichkeit längst in den fachkundigen Händen der Automobilhersteller.

Mit der Folge, daß die Oberfläche unserer Republik weiter mit Asphalt versiegelt wird, daß unsere Luft ungesünder und unsere Wälder kränker werden und daß der autofahrende Bürger für das zweifelhafte Vergnügen, immer häufiger auf verstopften Autobahnen hängenzubleiben, gleich zweimal geschröpft wird: einmal für den Bau von noch mehr Straßen (damit die Autoindustrie ihre Produktion weiterhin absetzen kann) und zum zweiten zur Subventionierung der Bundesbahn, die durch den Irrsinn in die roten Zahlen getrieben wird. 

Wer als Bürger gegen diese offenkundige Unvernunft aufbegehrt, wird von den Verantwortlichen jedoch, notfalls unter Einsatz aller staatlichen Mittel, in seine Schranken gewiesen — denn die Politiker haben eine heilige Scheu davor, öffentlich zuzugeben, daß sie in ihren Entscheidungen nicht mehr frei sind (vielleicht gestehen sie das nicht einmal sich selbst ein).

 

Die Effizienz unserer Industrie ist über jeden Zweifel erhaben. Sie ist in unserem Gemeinwesen konkurrenzlos. Nicht zuletzt darum weht in den Chefetagen der großen Werke und der großen Banken ein deutlich wahrnehmbares Lüftchen von Größenwahn. Man weiß dort, wer dieses Land in der Hand hat, und man hat ein gutes Gewissen dabei. Wann immer eine Regierung, sei es in Bund oder Land, ansetzt, eine Regelung auch nur zu diskutieren, die der Industrie im Interesse des Gemeinwohls spürbare Beschränkungen zumuten würde (Verbot ozonzerstörender Treibgase, Einschränkung eines übertriebenen Verpackungsluxus zur Müllreduzierung, dem Stande der Technik wirklich entsprechende Emissions­schutz­installationen usw.), hört man von »Sorgen um eine Beeinträchtigung des Investitionsklimas«, und schon zuckt der Gesetzgeber furchtsam zurück. 

Dann erweist sich, wer tatsächlich Herr im Hause unserer Republik ist.

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Nun ist nicht zu bestreiten, daß wir unseren beispiellosen Wohlstand der Industrie verdanken. Aber ebensowenig läßt sich bestreiten, daß kaum jemand von uns jemals an den Preis denkt, den wir dafür entrichten müssen, daß wir uns der güterspendenden Produktivität der freien Markt­wirtschaft anvertraut haben.

Längst hat sich der nach der Währungsreform 1948 einhellig begrüßte Konsumgütersegen in eine Konsum­verpflichtung für jeden verwandelt. Die Industrie ist nicht mehr in erster Linie für uns da (zur Erfüllung unserer Bedürfnisse und zur Hebung unseres Wohlstandes). Eher ist es umgekehrt: Wir sind für die Industrie unentbehrlich geworden, weil wir als die Gesamtheit der Konsumenten den Markt bilden, ohne den keine Industrie überleben kann. 

Es ist daher für den Bestand unserer ökonomistisch orientierten Gesellschaft von existentieller Bedeutung, daß wir nicht einfach nur verbrauchen, sondern daß wir das auch in einem wachsenden Ausmaß tun. Verbrauch ist zur staatsbürgerlichen Pflicht geworden. Bescheidenheit grenzt an Sabotage. Daher fällt ein »Aussteiger«, der »Konsumverzicht« treibt, der sozialen Ächtung anheim, in bezeichnendem Unterschied zum Bankrotteur, der sich beim Konsum übernommen hat.

Aussteiger aber sind die Ausnahmen.

Die Werbung hat es mit wissenschaftlich ausgeklügelten Methoden fertiggebracht, fast allen von uns ein konsequentes Verbraucher­bewußtsein anzuerziehen. Wir kaufen seit langem nicht mehr nur das, was wir brauchen, sondern wir kaufen vieles, um zu verbrauchen.

Die Zahl der Menschen, die sich jahrelang krummlegen, nur um ein Auto fahren zu können, das ihr Haushaltsbudget übersteigt (obwohl sie den Erfordernissen ihrer individuellen Mobilität auch mit einem bescheideneren Erzeugnis gerecht werden könnten), dürfte bei uns (und nicht nur bei uns) in die Millionen gehen. 

Der Geist des Kommerzes ist in unserer Gesellschaft so stark entwickelt, daß viele von uns, ohne sich darüber klar zu sein, längst zu Wirtschafts­subjekten geworden sind. Sie haben begonnen, alles, was sie umgibt, als potentielle Ware anzusehen und nach Geldeswert einzuschätzen.

 

Ich erinnere mich noch meiner Verblüffung über die Art und Weise, in der mir ein vermögender Bankier eines Tages voller Stolz seine Gemälde­sammlung vorführte. Mein Gastgeber verlor kein Wort über den jeweiligen Künstler, das Entstehungsjahr oder die Geschichte des Bildes. Dafür erfuhr ich in jedem Falle den Preis, für den das Bild erstanden worden war, die Summe, die es dem Besitzer gegenwärtig bei einem Verkauf einbringen würde, und die für die kommenden Jahre zu erwartende Wertsteigerung. Der Mann hatte an der ästhetischen Qualität seiner Bilder nicht das geringste Interesse. Er genoß sie nicht als Kunstwerke, an denen sein Herz hing, sondern als im Kurse steigende, an seiner Wand hängende Aktien.

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Für deutsche Börsenmakler und ihre Klienten war die Katastrophe von Tschernobyl in erster Linie eine Chance für rasche Gewinne. »Wir hatten einen schönen kleinen Reaktorunfall mitten in der Kornkammer des Ostens«, erklärte ein Sprecher der Hamburger City-Anlageberatungs-GmbH im Mai 1986 erfreut und erläuterte seinen Kunden, wie sich »aus der Sache« durch den rechtzeitigen Ankauf von billigem amerikanischem Weizen »eine schöne Stange Geld machen« lasse.

 

Einen besonders überzeugenden Beleg für die Ansteckungskraft kommerzieller Mentalität erlebte ich vor vielen Jahren auf dem römischen Flugplatz Fiumicino. Als ich nach meiner Ankunft fragte, wo ich mein Geld in italienische Währung umtauschen könne, wurde ich an einen Schalter verwiesen, auf dessen Frontseite in großen Buchstaben die Worte »Banco di Santo Spirito« prangten.

Auf Nachfrage wurde mir bereitwillig bestätigt, daß es sich um ein Geldinstitut des Vatikans handele. Ich empfand es als einen Schock, auf diese Weise zu erfahren, daß 2000 Jahre, nachdem der Mann, auf den sich diese Kirche gründet, die Geldwechsler aus dem Tempel gejagt hatte, der Heilige Geist höchstselbst unter die Geldwechsler gegangen war.

Meines Wissens existiert diese »Bank des Heiligen Geistes« seit einigen Jahren nicht mehr. Ihre Geschäfte wurden von der ebenfalls vatikaneigenen Bank »Instituto per le Opere di Religione« (IOR) übernommen, gegen die Ende der achtziger Jahre wegen des Verdachts der Beteiligung an weltweiten illegalen Devisengeschäften Ermittlungen der römischen Staatsanwaltschaft aufgenommen wurden.

Gegen drei der Verantwortlichen des IOR, darunter einen leibhaftigen Erzbischof, ergingen sogar Haftbefehle, die nicht vollstreckt werden konnten, weil sich die Beschuldigten weigerten, den Vatikanstaat zu verlassen. Wer dem »Gott des Geldes« die Finger reicht, riskiert, und wenn es die Kirche selbst ist, sich seine Finger dabei schmutzig zu machen.

Marktwirtschaft funktioniert nur im Umgang mit Dingen und Beziehungen, die sich in Geldeswert ausdrücken lassen. Wer sich ihr so bedingungslos in die Arme wirft, wie wir es getan haben, erliegt leicht der Versuchung, den in Geld ausdrückbaren Handelswert allen anderen Maßstäben vorzuziehen.

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Eben deshalb, weil sie die Sicherstellung eines anhaltenden Wirtschaftswachstums allen anderen sozialen Zielen überordnet, setzt unsere Regierung die ihr zu Gebote stehenden Machtmittel zum Schutz bestimmter wirtschaftlicher Interessengruppen (zum Beispiel Chemieproduzenten) ein und nicht zur Unterstützung jener, die durchzusetzen versuchen, daß der Vergiftung von Luft, Wasser und Böden endlich Einhalt geboten wird. 

Eine politisch und psychologisch so total von wirtschaftlichen Faktoren bestimmte Gemeinschaft wie die unsere aber ist nicht fähig, ihren Mitgliedern ein Selbstverständnis zu vermitteln, in dem diese sich als Bürger unter dem Dach eines allen gemeinsamen Staates erleben könnten. Der partikulare Charakter der vielfältigen und spezifischen Wirtschafts­zweige, aus denen sie sich zusammensetzt und auf die sich ihre Lebensfähigkeit gründet, läßt diese Gesellschaft vielmehr als ein bunt zusammen­gewürfeltes Mosaik von Interessengruppen erscheinen, von denen jede egoistisch ihre Ziele verfolgt.

So, wie (einem alten Studentenwitz zufolge) ein Paläontologe aus seinem einseitig professionellen Blickwinkel dazu neigt, uns alle als »zukünftige Fossilien« zu betrachten, so drückt sich in den von der Kompetenz und Wirtschaftskraft etwa der Automobilindustrie durchgesetzten Entscheidungen das Bild einer »automobilen Gesellschaft« aus, deren Mitglieder den Erfolg offizieller Politik an der Zahl der neu zugelassenen Pkw und der neu gebauten Straßenkilometer zu messen pflegen. 

Analog dazu sieht die Energiewirtschaft uns alle in erster Linie als Stromverbraucher. Die Tourismusbranche wiederum geht von Bürgern aus, für die Bäume in Hanglagen eine potentielle Unfallursache bei Abfahrtsläufen darstellen, und setzt sich damit scharf ab von der Sichtweise der Hersteller (tatsächlich oder auch nur angeblich) umweltfreundlicher Produkte. Und aus der Perspektive der Pharmaindustrie handelt es sich bei uns um vorläufig gesunde Mitmenschen.

Nun kann man die Zahl und Art der Steinchen, aus denen sich unsere Gesellschaft in dieser Weise zusammen­gesetzt denken läßt, beliebig vergrößern. Das Bild wird dann entsprechend schärfer. Aber so weit man das Spiel auch fortsetzt, niemals erreicht man einen Punkt, an dem das Mosaik zu einem geschlossenen Ganzen zusammenfließt. 

Die Gesellschaft präsentiert sich stets als ein Sammelsurium verschieden­artigster Interessengruppen, die allein von ihren branchen­spezifischen Motiven gesteuert werden und in deren Gesichtsfeld für übergeordnete Begriffe wie etwa den des »Gemeinwohls« kein Platz ist. In ihrer Gesamtheit bietet sie so den Anblick eines riesigen Basars. Eine Konsequenz dieser Struktur sind die innenpolitischen Spannungen, wie ich sie beschrieben habe. 

Es erscheint mir möglich, für sie eine letztlich allen Bürger­protesten zugrunde­liegende gemeinsame Wurzel anzugeben: Eine wachsende Zahl von Menschen fühlt sich irritiert von der Tatsache, daß die den Kurs ihres Gemeinwesens bestimmenden Faktoren immer häufiger von Sachzwängen vorgegeben werden, die primär wirtschaftlichen Entscheidungen entsprungen sind. Sie beweisen damit angesichts der aus dieser Tendenz erwachsenden Gefahren eine weitaus größere Sensibilität als die Politiker, die dem Phänomen gegenüber bisher blind zu sein scheinen. 

Denn es wäre in der Tat ein alarmierendes Symptom beginnenden kulturellen Niedergangs, wenn unsere Gesellschaft die Kraft einbüßen sollte, die ihren zukünftigen Kurs bestimmenden Daten aufgrund eigener, humaner Wertvorstellungen zu definieren und ihren Entscheidungen zugrunde zu legen.

Die Gesellschaft hat das Recht und sogar die Pflicht, die Wirtschaft in ihren Dienst zu nehmen. Nicht umgekehrt. Hinter der Unruhe, die sich seit etlichen Jahren, vor allem unter unseren jüngeren Mitbürgern, rührt, steht ein sicheres Gespür dafür, daß die Dinge im Augenblick eher einer bedenklichen Umkehrung dieser Beziehung zusteuern. 

Es war ein Wirtschaftswissenschaftler, G. Kirsch, Ordinarius für Finanzwissenschaften an der Universität Fribourg/Schweiz, der mir 1985 im Verlaufe einer gemeinsamen öffentlichen Diskussion sagte, er halte es für möglich, daß wir noch einmal dankbar dafür sein würden, daß 1968 »die Träume einer nicht ausschließlich materiell orientierten Gesellschaft geträumt worden sind«.

In der Tat, wir sollten an die Möglichkeit denken. 

Eigentlich müßte doch gerade den Parteien, die sich so oft auf das christliche Menschenbild als Grundlage ihrer Politik berufen, die Einsicht leichtfallen, daß uns wenig damit geholfen wäre, wenn wir zwar materiell immer mehr gewönnen, dabei aber Schaden nähmen an unserer Humanität.

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