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   309  »... wenn die Kosaken kommen«

 

 

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Während ich mich in den zwölf Jahren meiner Tätigkeit an der Universitätsnervenklinik Würzburg, von 1948 bis 1960, tief in die faszinierende Welt der psychischen Störungen vergrub, lief die Welt außerhalb der Krankensäle und Fachbibliotheken weiter. Ich bekam davon nicht allzuviel mit, in des Wortes mehrfacher Bedeutung. Es waren die Jahre des Wiederaufbaus. Wer etwas werden wollte, wer überhaupt noch daran glaubte, daß es mit dem bedrückenden Mangel in der von uns bewohnten Trümmerlandschaft jemals ein Ende haben könnte, sah nicht nach links und nicht nach rechts. Man schuftete, ein jeder auf seine Weise, in der Hoffnung, dadurch dem allgemeinen Schlamassel eines Tages entkommen zu können.

Wenn meine Frau und ich — wir hatten 1949 geheiratet — abends oben im verwilderten Klinikgarten saßen, bot sich die unter uns liegende Stadt bei heraufkommender Dämmerung als ein Lichterkranz dar, in dessen Mitte ein schwarzes Loch gähnte. Es markierte die Lage des Stadtzentrums, in dem kein Stein auf dem anderen geblieben war, in dem niemand mehr wohnte und in dem man vernünftigerweise daher auf die Installation von Straßenlaternen vorerst verzichtet hatte. 1956 konnten wir mit unseren dann schon fast vier Kindern endlich aus der Klinik in die zweieinhalb Zimmer eines Neubaus in der Innenstadt ziehen — der Wiederaufbau vollzog sich in atemberaubendem Tempo.

Hand in Hand mit ihm ging ein sich jäh ausbreitender Wohlstand, der uns im Verlaufe unserer letzten Würz­burger Jahre dann um so mehr auffiel, als er um uns einen sorgfältigen Bogen schlug. Mittelständische Händler, Bauunternehmer, Makler und mancherlei andere Selbständige waren die Hauptgewinner in der Lotterie des »Wirtschaftswunders«, von dem jetzt alle Welt sprach. Klinikassistenten und — ab 1958 — Privatdozenten gehörten zu dem Heer derer, die sich zu bescheiden hatten. Wir nahmen, vorerst, keinen Anstoß daran. Es gab Wichtigeres. Ich hatte mich bis über beide Ohren in die Wissenschaft vertieft.

Wie selbstverständlich ging ich damals davon aus, daß auch Frau und Kinder sich meiner Prioritätenliste zu fügen hätten. Meine Frau tat das auch, mit einem mich noch heute beschämenden und mit Dankbarkeit erfüllenden Verzicht auf alle Möglichkeiten der »Selbstverwirklichung«. Sie hielt mir die Kinder vom Leib, wenn ich arbeitete, und duldete es in schweigender Ergebung, wenn ich mich auch abends noch in meine Bücher und Manuskripte vergrub.


Was in diesen Jahren außerhalb der Welt der Universität geschah, nahm ich nur mit halbem Ohr wahr. Wie durch psychische Osmose ergriff die geistige Verfassung der Wirtschaftswunderwelt jedoch auch von meinem Bewußtsein Besitz. Jedenfalls erinnere ich mich an Episoden, die beweisen, daß ich angesteckt gewesen sein muß von gewissen Gedankengängen, die damals in der Gesellschaft der erst wenige Jahre alten Bundesrepublik grassierten. So grotesk sie sich im Rückblick ausnehmen, ich hielt sie damals für so evident wie die meisten meiner Mitbürger.

In Würzburg wurden wir gelegentlich von einem Freund besucht, der noch aus dem »harten Kern« unserer ehemaligen Hamburger Clique stammte. Caspar, genannt Cassi, war in meinen Augen das Schulbeispiel dessen, was man ein »Sonntagskind« nennt. Ich bewunderte ihn neidlos nicht nur wegen seiner intellektuellen Gewandtheit, die ihn in meinen Augen in den Rang eines Genies hob. Er imponierte mir auch durch eine überlegene gesellschaftliche Selbstsicherheit. Sein familiärer Hintergrund hatte ihn überdies mit weltlichen Gütern in einem uns märchenhaft erscheinenden Übermaß gesegnet. Als ich mir endlich, im Alter von fast vierzig Jahren, mit stolzgeschwellter Brust einen leicht angerosteten — und daher erschwinglichen — Uralt-VW leisten konnte, fuhr Cassi längst Porsche. Er hatte, wie überraschend viele aus dem alten Kreis, auch zur Psychiatrie gefunden und arbeitete als Privatdozent an der Frankfurter Nervenklinik, deren Chef sein Stiefvater war — ein »Sonntagskind« eben.

Unserer Freundschaft taten diese äußeren Unterschiede keinen Abbruch. Cassi besuchte uns in kurzen Abständen. Eines Tages rückte er bei einem solchen Anlaß mit einem Problem heraus, das ihn offensicht­lich schon seit längerem beschäftigte und zu dem er gern meinen Rat gehört hätte. Er ging, wie er mir eröffnete, mit dem Gedanken um, sich im Frankfurter Raum ein eigenes Haus zu bauen, ein Vorhaben, das mich erneut mit ehrfürchtiger Bewunderung erfüllte.

Cassi war von meiner Reaktion schmeichelhaft berührt, wie mir nicht verborgen blieb, wobei ich zugeben muß, daß er sich redlich bemühte, mich seine Befriedigung nicht spüren zu lassen. Sie war auch nicht der Grund seiner Mitteilung. Was ihn beschäftigte, war das Problem einer geeigneten Lage für das geplante Heim. Er würde am liebsten, sagte er mir, auf dem Frankfurt zugewandten Hang des Taunus bauen.

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Da gebe es die besten Grundstücke, und auch verkehrstechnisch sei das die günstigste Lage. Warum er dann zögere, fragte ich ihn. Ja, so Cassi, da gebe es schließlich noch das Problem der Atombombe. Einmal angenommen, er baue tatsächlich auf dem stadtwärts gelegenen Hang, müsse er dann nicht für den Fall, daß es zu einem russischen Angriff auf Europa komme, die Möglichkeit des Abwurfs einer Atombombe auf Frankfurt einkalkulieren? Wenn sein Haus dann auf dem erwähnten Hang stehe, würde es von der Druckwelle doch unweigerlich »flachgelegt« werden. Und mit einer seitwärts wischenden Bewegung seiner flachen Hand deutete Cassi an, wie man sich die Wirkung auf ein so unüberlegt plaziertes Gebäude in einem solchen Falle konkret vorzustellen habe.

Die Befürchtung meines Freundes ließ mich in tiefe Nachdenklichkeit versinken. Das war auch in meinen Augen ein fürwahr ernst zu nehmender Einwand. Was sollte ich raten? Schließlich fiel mir ein Gegeneinwand ein, der das einzukalkulierende Risiko vergleichsweise wieder auf Null brachte: Wenn du dein Haus auf der anderen Seite des Taunus baust, so gab ich zu bedenken, dann würde es eine Atomexplosion über Frankfurt zwar überstehen. Aber dafür müßtest du dann natürlich damit rechnen, daß die Russen dich aus dem Haus hinauswürfen, weil sie die wenigen stehengebliebenen Häuser für ihre Stäbe beschlagnahmen würden. Cassi leuchtete das sofort ein, und wir beendeten das Thema mit dem befriedigenden Gefühl, ein äußerst vernünftiges Gespräch geführt und mit einem nützlichen Ergebnis abgeschlossen zu haben. (Das Haus wurde dann aus anderen Gründen übrigens niemals gebaut.)

Wenn meine Erinnerung an solche und ähnliche Gespräche es mir nicht heute noch bewiese, würde ich es selbst nicht glauben. Fester Bestandteil unseres Lebensgefühls in diesen Jahren war die Überzeugung, daß jederzeit mit einem russischen Angriff auf Westeuropa zu rechnen sei. Wir Westdeutschen würden dabei innerhalb von Stunden überrollt werden, soviel stand für uns fest. In Zeitungen und Illustrierten wurde anhand von Zahlen, die angeblich von Militär­experten stammten, diskutiert, wie viele Tage — vier, fünf, vielleicht sogar sechs? — die Panzer der Roten Armee brauchen würden, um bis zur französischen Kanalküste durchzustoßen. Dramatisch aufgemachte Illustriertenserien schilderten den Ablauf des sowjetischen Blitzangriffs mit allem Realismus, den die Alpträume ihrer Autoren hergaben.

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Wer in unserem Bekanntenkreis ein Auto hatte, hortete in Keller oder Garage Kanister mit Benzin. Es galt, mit der Familie im Ernstfall früher am Kanal sein zu können als »der Russe«. Nun bot das russische Imperium damals gewiß nicht das Bild einer auf Frieden und Entspannung erpichten Großmacht, das ist zuzugeben. Zuzugeben ist desungeachtet aber auch, daß unsere Russenangst damals alle Züge einer krankhaften, paranoischen (»verfolgungs­wahnsinnigen«) Maßlosigkeit aufwies. Nachträglich glaube ich dafür mehrere Gründe zu erkennen.

 

Verräterisch scheint mir insbesondere eine Redewendung zu sein, mit der sich die verbreitete Furcht damals häufig artikulierte. Man habe Angst davor, so hieß es, daß »die Russen wieder über uns herfallen« könnten. Denn sie hatten es doch wenige Jahre zuvor — gemeint war das Jahr 1945 — schon einmal getan. Äußerte sich da ein schlechtes Gewissen? War die panische Angst vor einem russischen »Überfall« womöglich auch geboren aus dem Gefühl einer Schuld dem östlichen Nachbarn gegenüber, deren Ausmaß die Deutschen aus ihrem Bewußtsein bereits erfolgreich verdrängt zu haben glaubten? 

Wir waren 1945 nicht, wie mein Vater es Jahre vor dem Kriegsende prophezeit hatte, mit Zaunlatten erschlagen worden wie wildgewordene Hunde. Hatten die Deutschen in der ersten Nachkriegszeit vielleicht unbewußt selbst das Empfinden, in ihrer Majorität unverdient billig davongekommen zu sein, und fürchteten sie deshalb, die Strafe stände ihnen in Wirklichkeit erst noch bevor?

Als Projektion uneingestandener Schuldgefühle hätte die nahezu pathologische Russenphobie der fünfziger Jahre immerhin einen ehrenhaften Kern gehabt. Daß dies ihre Wurzel war, ist aber nicht mehr als eine plausible Vermutung. Leider ist eine viel weniger ehrenhafte Ursache mehr als bloß das. Die Russenparanoia der bundesrepublikanischen Nachkriegsgesellschaft ist nachweislich (auch) bewußt kultiviert und geschürt worden. Offiziell und regierungsamtlich.

Es hat, die Zeit des Naziregimes ausgenommen, wohl niemals eine deutsche Obrigkeit gegeben, von der die Pflege eines möglichst furchteinflößenden Feindbildes konsequenter und systematischer betrieben worden wäre, als die christlich-demokratische Regierung Adenauers. Das ist, so sehr mancher über diese Feststellung zu Recht erschrecken mag, leider unbestreitbar und aufgrund der von jedermann nachprüfbaren Zeitdokumente leicht zu beweisen.

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Ich erinnere mich an ein Wahlplakat der CDU aus diesen Jahren, auf dem hinter der Silhouette eines deutschen Domes ein Kopf mit unverkennbar asiatischen Gesichtszügen hervorlugt, der von einer Fellmütze mit dem Hammer-und-Sichel-Emblem gekrönt ist. Darunter die beschwörende Zeile: »Wollt Ihr ihn hierhaben?«, gefolgt von der Mahnung, zur Verhinderung des Schlimmsten Adenauers Partei zu wählen. Was andernfalls drohe, dies die stillschweigend unterstellte Voraussetzung des »Arguments«, dürfte ja jedem Deutschen noch in frischer Erinnerung sein. Schließlich hatte die Sowjetunion »1945 Deutschland bestialisch vergewaltigt«, wie es auf der Seite 55 eines Buches hieß, das den Titel »Die Grenzen des Wunders« trug und, 1959 in zweiter Auflage erschienen, in kürzester Zeit zum konkurrenzlosen Politbestseller avancierte.

William S. Schlamm, der Autor, hatte sein demagogisches Pamphlet in einer Geistesverfassung geschrieben, die jeden noch so grotesken Exzeß eines Unterwanderungswahns à la McCarthy weit in den Schatten stellte. Zur Stützung dieser Diagnose ein einziger Beleg: Sogar »die Zeitungen des Hamburger Springer-Verlages« (bei denen er später, als sein Stern erloschen war, als Gelegenheitsschreiber seinen journalistischen Lebensabend fristen durfte) sah Schlamm noch 1959 fest in den Händen raffiniert getarnter »Fellow Travellers« des sowjetischen Propagandaapparats. (S. 134) Der Verkaufserfolg dieses unglaublichen Buches und die Tatsache, daß es in der deutschen Öffentlichkeit seinerzeit lebhaft und überwiegend zustimmend diskutiert wurde, erinnern unabweislich an einen Aspekt der Seelenlandschaft der Adenauerschen Republik, den wir längst vergessen oder schamhaft verdrängt haben.

Das Bild wird dadurch abgerundet, daß William S. Schlamm überdies noch die Gelegenheit bekam, die manischen Thesen seines Buches bei Vortragsreisen zu verbreiten, auf denen er wie ein Wanderprediger durch die Bundesrepublik hetzte. Auch im Würzburger Huttensaal beschwor er sein Publikum eines Winterabends, sich nicht aus schwächlicher »Friedensgier« (S. 185) zum verächtlichen Opfer kommunistischer Welteroberungspläne herabwürdigen zu lassen. Pazifisten und Atomkriegsgegner, so rief er seinem Auditorium mit schneidender Stimme zu, verdienten »nichts als Verachtung und den Sowjetstiefel im Genick«. (S. 184) Und: »Vielleicht wird es sich wirklich für eine christliche Zivilisation als unmöglich erweisen, eine Epoche zu überstehen, in der die Bereitschaft, einen Krieg nach dem anderen zu führen, die Voraussetzung des Überlebens ist. In diesem Falle gibt es eben keine Rettung für den Westen.« (S. 185)

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Warum erwähne ich das so ausführlich?

Nun, der Herr Schlamm war in den fünfziger Jahren keine Randfigur der bundesrepublikanischen Gesellschaft. Seine Vortragsreisen wurden vielmehr offiziell vom Bundespresseamt organisiert, das den Redner für seine Strapazen fürstlich entlohnte. Die Thesen des Politparanoikers waren höherenorts auf wohlwollende Zustimmung gestoßen. Und daher halfen ihm die zuständigen Regierungsstellen nach besten Kräften, sie in der Bevölkerung zu verbreiten.

Die mit zwingender Suggestivität nahegelegte Schlußfolgerung der Schlammschen Botschaft lautete: Um die höchst reale Gefahr einer Wiederholung sowjetischer Bestialitäten vom deutschen Volke abzuwenden, sei äußerste Wachsamkeit am Platze. Sie aber setze vor allem anderen den Erhalt der Regierungs­macht für die einzige Partei voraus, welche das heimtückische Sowjetsystem in all seiner asiatischen Verschlagenheit klar durchschaut habe — im Unterschied zu gewissen anderen Parteien, deren Abwehrkräfte von den weltfremden Utopien wohlmeinender Friedens- und Entspannungsträumer längst ausgehöhlt worden seien. Darum gelte (so der Text eines andere Wahlplakats der Adenauer-Ära): »Alle Wege des Sozialismus führen nach Moskau.«

Die Kampagne war bekanntlich in vielen Wahlen erfolgreich. Auch Parteien neigen dazu, an erfolgreichen Rezepten festzuhalten. Daher kehrte das Motiv in den achtziger Jahren in kaum abgewandelter Gestalt wieder. Jetzt kleidete sich die Drohung (mit welcher die Obrigkeit den »mündigen Bürger« als Stimmvieh in den christlich-demokratischen Stall zu treiben gedachte) in die Formel »Freiheit oder Sozialismus«. Und auch der mahnende Hinweis auf die unvermindert anhaltende russische Bedrohung gehörte bis vor wenigen Jahren zum bewährten Bestand christdemokratischer Argumentation. Noch 1975 benutzte ihn Helmut Kohl, um einen Gesetzentwurf der damaligen sozialliberalen Koalition aus dem einzigen Grunde in Mißkredit zu bringen, weil er »von links« kam. »Was nutzt uns«, so fragte der spätere Bundeskanzler rhetorisch, »was nutzt uns die beste Sozialpolitik, wenn die Kosaken kommen?«

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Nun bin ich bereit, die Möglichkeit zuzugestehen, daß sich unter den damaligen Umständen — an denen die Sowjetunion nicht völlig unbeteiligt war — alle vor den Russen gefürchtet haben, selbst ein Mann wie Adenauer. Was aber wohl ohne die Notwendigkeit weiterer Begründung ausgeschlossen werden kann, ist der Gedanke daran, daß Adenauer sich in dem von William S. Schlamm gepredigten Ausmaß gefürchtet haben könnte. Adenauer und seinen Mitarbeitern kann nicht verborgen geblieben sein, daß es ein demagogisch begabter Fanatiker war, den sie mit staatlichen Mitteln subventionierten. Daß der Mann, den sie auf die von ihnen regierte Gesellschaft losließen, objektiv nichts anderes betrieb als Volksverhetzung.

Was aber um alles in der Welt konnte sie, die Mitglieder einer sich bei jeder Gelegenheit auf ihr christliches Fundament berufenden Partei, veranlassen, dazu die Hand zu reichen? Die Antwort ist ebenso einfach, wie das Motiv zynisch war: Adenauers Leute bedienten sich der demagogischen Peitsche deshalb so bedenkenlos, weil die Schürung der Russenangst die einfachste und wirksamste Methode darstellte, den verstörten Haufen der Nachkriegsdeutschen zu einer politisch lenkbaren Gesellschaft zusammen­zuschweißen.

Vielleicht sogar die einzige praktikable Methode. Das muß man der Adenauer-Regierung als erster Nachkriegsregierung zugute halten. Denn das Gebiet der späteren Bundesrepublik wurde damals noch nicht von Menschen bewohnt, die eine »Gemeinschaft« oder gar eine Gesellschaft bildeten. Die Bevölkerung von »Trizonesien«* war nichts als ein amorpher Haufen ebenso rücksichtslos wie planlos um ihre Existenz kämpfender Individuen. Diese Bevölkerung war in einem Maße individuell »atomisiert«, das man sich heute kaum mehr vorstellen kann. Ein allen gemeinsames »Vaterland« gab es nicht mehr. Verbindliche Weltanschauungen oder andere die Menschen miteinander verbindende Überzeugungen ebensowenig. Die Verantwortung für die Politik hatten einem die Besatzungsmächte abgenommen. Alle überindividuellen, über den eigenen Lebensbereich hinausgreifenden Wertvorstellungen hatten sich verflüchtigt. Der einzige von allen anerkannte Wert war das Eigeninteresse, der Erfolg privater, ganz ungeniert egoistischer Anstrengungen.

* Dies der vom Volksmund seinerzeit spöttisch geprägte Name für das aus den drei Besatzungszonen der Amerikaner, Engländer und Franzosen gebildete »gemeinsame Wirtschaftsgebiet«, das der Gründung der Bundesrepublik voranging.

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»Das Geschäft der Deutschen ist das Geschäft«, das Streben nach dem eigenen Vorteil — das hat William S. Schlamm ganz richtig gesehen. Wie aber soll man einen solchen »Haufen« regieren, das heißt, zu einer gemeinschaftlicher Leistungen fähigen Gesellschaft organisieren? Hier hat Adenauer offensichtlich — gewiß nicht bewußt, aber mit dem untrüglichen Instinkt, der ihn auszeichnete und zum »großen Staatsmann« hat werden lassen — auf die solidarisierende Kraft kollektiver Affekte gesetzt. Darauf, daß in jedem von uns, wenn schon nichts sonst uns miteinander verbindet, noch immer der alte Neandertaler steckt, der jederzeit imstande ist, zumindest eine emotionale Verwandtschaft zwischen uns zu stiften.

Der für das Schicksal Westdeutschlands aus eigenem Entschluß Verantwortliche unternahm es daher, die Eingeborenen Trizonesiens durch eine gemeinsame Angst zu einer politischen Gemeinschaft zusammenzukitten, eine Angst, die naturgemäß groß genug sein mußte, um alle privaten Motive und Bestrebungen als zweitrangig erscheinen zu lassen. Da kam »der Russe« (vor dem die Nachkriegsdeutschen sich — Schuldprojektionen! — ohnehin latent fürchteten) als großer Buhmann gerade recht. Und im weiteren Verlaufe natürlich auch Herr Schlamm, der sich als in so einzigartiger Weise begabt erwies, das emotionale Feuer zu schüren. Das Projekt war erfolgreich. Aber dafür war, wie für jeden Erfolg, ein Preis zu entrichten. In diesem Falle war der Preis so hoch, daß ernste Zweifel angebracht sind angesichts des bis heute nicht abgeebbten offiziellen Applauses über die Adenauersche Leistung.

Niemand kann an den Neandertaler in uns ungestraft appellieren. Auch Adenauer konnte es nicht (wenn er auf die Konsequenzen wohl auch keinen Gedanken verschwendet hat). Wer es unternimmt, einen amorphen Haufen isolierter Individuen mit Hilfe paranoischer Kollektivängste zu konsolidieren und den eigenen politischen Zielvorstellungen verfügbar zu machen, handelt wie ein Arzt, der ein suchtgefährdetes Patientenkollektiv durch die Verteilung von Drogen an sich kettet (anstatt seine Rekonvaleszenz zu befördern). Die Analogie besteht nicht nur formal und sachlich, sie ist auch moralisch gegeben. Die Deutschen waren damals Rekonvaleszenten. Sie waren gerade dabei, von dem paranoischen Realitätsverlust zu genesen, in den sie sich von der nazistischen Ideologie hatten verstricken lassen. Von dem Rückfall in barbarische Verhaltensweisen zu erholen, der ihnen deshalb zugestoßen war, weil sie der von demagogischer Verführungskunst suggerierten Versuchung erlegen waren, die durch die Freisetzung des Neandertalers aus dem Käfig ihres Unbewußten mobilisierten archaischen Affekte für einen Gewinn an Kraft und Freiheit zu halten.

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Anstatt diesen noch wenig gesicherten Heilungsprozeß verantwortungsbewußt zu fördern, nutzte die Nachkriegsobrigkeit den labilen Zustand des deutschen Rekonvaleszenten bedenkenlos für ihre Zwecke aus. Anstatt jeden erkennbaren Ansatz zu einer sachlichen, selbstkritischen Betrachtung der eigenen Situation und ihrer selbstverschuldeten Ursachen zu unterstützen, wurde erneut die Droge demagogischer Affektmobilisierung verabfolgt. Es war, natürlich, der einfachere und kürzere Weg, wieder eine »deutsche Gesellschaft« zu begründen. Der Kaufpreis bestand jedoch in dem Verzicht auf die Immunität gegen neuerliche Formen der Realitätsverkennung, wie sie nur durch einen ungestörten Prozeß kritischer Selbstbesinnung zu erwerben gewesen wäre.

Die Folgen der aus dieser ideologischen Immunitätsschwäche resultierenden Anfälligkeit stellten sich unverzüglich ein. Je abstoßender das Bild geriet, das die regierungsamtliche Propaganda und die von ihr in Furcht und Schrecken versetzte Seele des neudeutschen Bürgers vom Russen und den in ihm personifizierten Bedrohungen entwarfen, um so blasser erschien im Vergleich dazu das Grauen der nazistischen Ära.*

Die von Alexander und Margarete Mitscherlich mit so großem Recht beklagte deutsche Unfähigkeit zu trauern, das heißt, die Verantwortung für das in den Jahren vor 1945 angerichtete Unheil zu übernehmen und im Interesse der eigenen seelischen Gesundheit innerlich zu verarbeiten, hat hier eine ihrer wichtigsten Wurzeln.

Schon der erste Ansatz, sich dieser Aufgabe zu stellen, wurde von der sich abermals meldenden Stimme des Neandertalers übertönt. Er flüsterte den Deutschen zu, angesichts der bolschewistischen Gefahr sei es weitaus wichtiger, solidarisch zusammenzustehen, als sich »in typisch deutscher Manier« mit Gewissensbissen selbst zu zerfleischen und in den eigenen Reihen nach Missetätern zu schnüffeln. Im Vergleich zu den im Osten auf das kleinste Zeichen westlicher Schwäche lauernden bolschewistischen Horden (und den ihnen mit ihren wühlerischen Umtrieben in die Hände spielenden »Linksradikalen«) nahm sich der Nazi schließlich aus wie ein Biedermann.

* 1983 konnte man in der von dem Vorsitzenden der Konrad-Adenauer-Stiftung Bruno Heck herausgegebenen Zeitschrift <Die politische Meinung> die Behauptung lesen: »Die Rebellion von 1968 hat mehr Werte zerstört als das Dritte Reich.«    wikipedia  Bruno_Heck  1917 bis 1989

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So konnte es dazu kommen, daß von den Nazis einst ins KZ gesperrten Widerstandskämpfern von der bundesrepublikanischen Gerichtsbarkeit bis heute der gesetzliche Entschädigungsanspruch versagt wird, wenn es sich bei ihnen um Kommunisten handelt. Und daß demgegenüber der Witwe Roland Freislers zusätzlich zu ihrer Witwenrente noch eine »Schadensausgleichsrente« zugesprochen wurde mit der Begründung, daß der ehemalige Präsident des berüchtigten »Volksgerichtshofes« nach dem Kriege, wenn er ihn überlebt hätte (Freisler kam im Februar 1945 bei einem Luftangriff um), voraussichtlich Karriere gemacht hätte, »da eine Amnestie oder ein zeitlich begrenztes Berufsverbot (...) in Betracht zu ziehen sind« (so der damalige CSU-Sozialminister Fritz Pirkl).*

Während der Bundesgerichtshof 1956 feststellte, daß Widerstand, wie ihn etwa Dietrich Bonhoeffer geleistet habe, nach den damals geltenden Gesetzen unzweifelhaft Hochverrat gewesen sei, weshalb man Bonhoeffer letztlich rechtens zum Tode verurteilt und hingerichtet habe.**

Auf den gleichen Haufen deutscher Schande gehört die Tatsache, daß nicht ein einziges Mitglied des nazistischen »Volksgerichts­hofes« jemals vor ein bundesdeutsches Gericht gestellt oder gar verurteilt worden ist und daß viele dieser willfährig-beflissenen Gehilfen des Naziterrors, die Todesstrafen auch aus den nichtigsten Anlässen wie am Fließband zu verhängen pflegten, in der Nachkriegsjustiz unbehelligt Karriere gemacht haben.

Mit der in den Gründungsjahren unserer Republik vorgenommenen Weichenstellung allein ist es zu erklären, warum bundesdeutsche Richter den ehemaligen SS-Oberscharführer Wolfgang Otto nach vorangegangener Verurteilung in einem Berufungsverfahren 1988 von der Mittäterschaft an der Ermordung Ernst Thälmanns 1944 im KZ Buchenwald freisprachen mit der Begründung, daß dem Angeklagten eine »direkte Tatbeteiligung« nicht nachzuweisen sei.

*  Nachzulesen auf S. 156f. des erschütternden Buches »Die zweite Schuld...«, in dem Ralph Giordano eine bestürzende Vielzahl vergleichbar skandalöser Entscheidungen dokumentiert hat.
**  G. Spendel, Rechtsbeugung durch Rechtsprechung, Berlin 1984, S. 89ff.

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Während sie den ehemaligen RAF-Terroristen Peter-Jürgen Boock, obwohl dieser zur Tatzeit unwiderlegt in Bagdad war, wegen Mittäterschaft bei der Ermordung Schleyers zu einer lebens­langen Zuchthausstrafe verurteilten mit der Begründung, daß er ein aktives Mitglied der für Schleyers Tod verantwortlichen Terrorgruppe gewesen sei. Otto war ein »rechter« Tatverdächtiger (und das Opfer ein Chef der kommunistischen Partei in der Weimarer Republik). Und Boock war ein der »linken« (sprich: kommunistischen) Ecke zuzurechnender Angeklagter (und das Opfer in seinem Falle ein angesehener Repräsentant der deutschen Industriegesellschaft).

Der gleiche Augenfehler der bundesdeutschen Justitia ist auch der Grund für die Tatsache, daß nicht eine einzige der 454 ihr von der Tschechoslowakei zur Verfügung gestellten Ermittlungsunterlagen gegen NS-Verbrecher zur Einleitung eines gerichtlichen Verfahrens geführt hat, worüber sich ein Mitglied der tschechoslowakischen Regierungskommission zur Verfolgung von NS-Verbrechen kürzlich offiziell beschwerte. Die Beschwerde wird nichts fruchten. Denn die Beschuldigten sind Mitglieder der eigenen Gesellschaft, und der Beschwerdeführer ist Repräsentant eines kommunistischen Staates.

Niemand bestreitet, daß wir Adenauer viel zu verdanken haben. Er hat uns fast über Nacht wieder zu einer festgefügten staatlichen Gemeinschaft zusammenwachsen lassen. Er hat uns unsere nationalen Selbstzweifel genommen und die Energien freigesetzt, die zu dem in ganz Europa als »Wirtschafts­wunder« bestaunten Erholungsprozeß führten. Aber die Methoden, deren er sich zu diesem Zweck bediente, haben uns einen hohen Preis gekostet.

Wir sind, materiell, sehr schnell sehr reich geworden. In unserem Stolz darüber übersehen wir leicht, wie tief wir dabei zurückgefallen sind in einen Bewußt­seinszustand, aus dessen Blickwinkel sich uns die Realität abermals in egozentrischer Verzerrung darbietet. Wieder einmal erscheint uns der Balken im nationalen Auge bedeutungslos im Vergleich zu dem Splitter, den wir im Auge der anderen entdecken.

Über den moralischen Aspekt der Angelegenheit zu reden ist müßig. Wer von ihm nicht von selbst betroffen ist, mit dem kann man ihn ohnehin nicht diskutieren. Aber über die Risiken, die eine Gesellschaft auf sich nimmt, die ihren Bezug zur Wirklichkeit unbelehrt abermals ihren politischen Vorurteilen unterordnet, über die müßte sich eigentlich sachlich reden lassen. 

Wenn ich außenpolitische Diskussionen verfolge, fühle ich mich erschreckend oft an die Gespräche erinnert, denen ich als Kind im elterlichen Wohnzimmer lauschte. Wir sind wieder da, wo wir waren.

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Da ist er wieder, der altbekannte Ton nationalistischer Gekränktheit, die sich blind stellt gegenüber allen selbst zu verantwortenden ursächlichen Zusammen­hängen (»geraubte Ostprovinzen — ein schreiendes Unrecht«). Da meldet sich erneut die altvertraute konservative Borniertheit zu Wort (»schließlich hat Willy Brandt alias Frahm Deutschland nach dem Kriege in norwegischer Uniform betreten«). Und da wird die fremde Untat entrüstet angeprangert und die eigene Mitverantwortung ungeniert verschwiegen (schließlich hat die Sowjetunion »1945 Deutschland bestialisch vergewaltigt«). 

Wir haben nichts dazugelernt, und das, obwohl die Lektion furchtbar war. Die Chance zum Lernen wurde verpaßt, weil auch Adenauer der Versuchung nicht widerstehen konnte, den Neandertaler zu Hilfe zu holen. Umsonst ist dessen Unterstützung nicht zu haben. Noch einmal: Die Folgen eines Realitätsverlustes sind immer bedenklich, ganz abgesehen von der moralischen Frage. 

Ende der fünfziger Jahre unternahm Adenauers Außenminister, Heinrich von Brentano, erstmals einen Versuch der Versöhnung in Richtung Osten. Er wandte sich dabei an die Polen. In einer denkwürdigen Bundestagsrede versicherte er diesen nicht ohne ergriffenes Pathos, daß die Westdeutschen aufrichtig entschlossen seien, sich mit ihnen zu versöhnen. Deutschland wolle dazu sogar den ersten Schritt tun. Und deshalb erkläre er ihnen feierlich und mit ausgestreckter Hand, daß das deutsche Volk bereit sei, den Polen zu verzeihen.* Heinrich von Brentano war ohne jeden Zweifel ein redlicher Mann. Ich bin sicher, daß er nicht verstanden hat, warum er auf sein aufrichtig gemeintes Angebot niemals eine Antwort bekam.

Alle diese Zusammenhänge habe ich aber, wie ich zugeben muß, erst nach und nach und viel später durchschaut. Anfangs bin ich den demagogischen Sirenen­klängen genauso kritiklos erlegen wie die meisten anderen. Daß wir uns — während wir in höchst vernünftiger Weise die günstigste Lage für Cassis Eigenheim zu erörtern glaubten — in Wirklichkeit wie konditionierte Ratten in einer Pawlowschen Versuchs­anordnung in dem von einer fürsorglichen Obrigkeit vorgegebenen Rahmen einer fiktiv-demagogisch konstruierten Wirklichkeit bewegten, das ist mir (und vermutlich auch Cassi) erst viele Jahre später aufgegangen. 

Aber wahnhafte Verkennungen der Realität kommen nicht nur im politischen Bereich vor, sondern von Zeit zu Zeit bemerkens­werterweise auch in der Wissenschaft. Hier finden ihre Produkte Unterschlupf, wenn es ihnen gelingt, sich nach dem Prinzip »heiliger Kühe« zu tarnen.

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* Ich zitiere die entscheidenden Sätze dieser Rede, die ich damals mit eigenen Ohren gehört habe (wobei es mir schwerfiel zu glauben, was ich da zu hören bekam), aus dem Gedächtnis.

 

 

 

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