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308 - Leben und Zeit  

 

 

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Wer aber, wie der Mensch, aus einer solchen Geschichte hervorgegangen ist, der ist auch selbst nur als ein sich in der Zeit entfaltendes Wesen zu begreifen. Das klingt einigermaßen hochtrabend und akademisch. Wie konkret die Aussage jedoch zu verstehen ist und um wie viele Dimensionen sie das Verständnis dessen vertieft, was wir »menschliche Existenz« nennen, das habe ich in den Jahren gelernt, die ich als Assistent an der Universitäts­nervenklinik Würzburg verbracht habe.

Das wieder war kein Zufall. Denn wir sind in die von uns gelebte Zeit so tief eingebettet, daß uns normaler­weise das Minimum an Abstand fehlt, das man braucht, um die Bedeutung der »Zeitlichkeit unserer Existenz« entdecken zu können. Erkennbar wird sie erst bei bestimmten psychischen Erkrankungen: Psychosen sind Formen des seelischen Zusammenbruchs, bei denen plötzlich psychische Teilfunktionen und Zusammenhänge freigelegt werden, die der Selbsterfahrung des Gesunden verborgen zu bleiben pflegen. So, wie ein Bauwerk die Strukturen, von denen es getragen wird, erst dann den Blicken preisgibt, wenn es abbrennt.

Es war in anderem Zusammenhang schon davon die Rede, daß unsere Gemütsbewegungen als Wahr­nehmungsakte zu verstehen sind, die uns die für unser Leben bedeutsamen Aspekte der Welt vor Augen führen: Während diese sich uns an »schlechten« (depressiven) Tagen als zu Vorsicht und Furcht Anlaß gebende Quelle möglicher Bedrohungen und permanenter Risiken präsentiert, kann uns dieselbe Welt, sobald wir »positiv« (euphorisch) gestimmt sind, wie ein attraktives Tummelfeld zum Ausspielen unserer Fähigkeiten vorkommen. Wie mit einem Suchscheinwerfer tasten unsere Stimmungen so in ihrem ständigen Wechsel die Welt für uns auf ihre Angebote und Gefahren ab — fortwährend, solange wir leben, denn wir sind immer in irgendeiner Weise gestimmt.

Die Sache hat ihren guten Sinn. Denn in aller Regel sind wir an einem »schlechten« Tag tatsächlich nicht auf dem Höhepunkt unserer Leistungsfähigkeit. Wenn wir dann vor einem Problem zurückschrecken, weil es uns in unserer »depressiven« Verfassung unüberwindbar erscheint, sind wir gut beraten und subjektiv im Recht. Mitunter genügt dann eine einzige gut durchschlafene Nacht, um uns die Dinge in einem neuen, ganz anderen Licht sehen zu lassen: Das am Vortag noch entmutigend wirkende Problem scheint jetzt nur noch eine Lappalie darzustellen, und wie eine Lappalie lösen wir es dann auch im Handumdrehen (weil unsere jetzt »gute« Stimmung eben Ausdruck einer entsprechend besseren allgemeinen Verfassung und damit höheren Leistungsfähigkeit ist).

Jeder kennt das. Und jeder weiß auch, daß die Schwingungsbreite und der Schwerpunkt auf der Stimmungs­skala bei verschiedenen Menschen konstitutionell recht unterschiedlich sein können. Da gibt es den »geborenen Pessimisten«, dessen Stimmungen vorwiegend um den negativen, depressiven Pol des Spektrums schwingen und der womöglich ein Leben weit unterhalb der Möglichkeiten führt, die ihm sein Verstand und seine Begabungen grundsätzlich eröffnen, weil er alle Hindernisse wie durch ein Vergrößerungsglas zu sehen pflegt. Auf der anderen Seite steht der konstitutionelle Optimist, der sich auf übermäßige Risiken einläßt, weil er alle Gefahren regelmäßig unterschätzt.

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Das alles hält jedermann zu Recht für normal. Wir stören uns, so normal erscheint es uns, nicht einmal an der doch eigentlich seltsamen Konsequenz, daß wir infolge dieser Bewegungen unseres Gemüts daran gehindert sind, die Welt in einer objektiv festliegenden Qualität zur Kenntnis zu nehmen, hinsichtlich derer etwa ein allgemeiner Konsens denkbar wäre. Mit welchem Recht kann denn ein Weltbild schon objektiv genannt werden, das seinen Charakter mit der Flüchtigkeit unserer Stimmungen wechselt? Unsere Welterkenntnis wird in der Tat nicht bloß durch den begrenzten Horizont unserer kognitiven Fähigkeiten eingeschränkt. Zwar beschäftigt sich die klassische Erkenntnisforschung allein mit ihnen. Die Qualität unseres Weltbildes — im wahrsten Sinne des Wortes — wird aber nicht minder auch von der in diesem Zusammenhang fast regelmäßig übersehenen Unentrinnbarkeit unserer Stimmungsschwankungen beeinträchtigt.

Wie auch immer: Für den Homo sapiens ist das die normale Situation. Dies zeigt sich mit unüberbietbarer Deutlichkeit dann, wenn der emotionale Gezeiten­wechsel der menschlichen Psyche ausnahmsweise angehalten wird. Unsere Seele rastet dann gleichsam an einem der beiden Enden des Stimmungs­spektrums ein, um dort für Wochen oder Monate, in ungünstig verlaufenden Fällen auch einmal für Jahre zu verharren. (Andererseits klingt der Zustand bei allen Patienten, auch ohne Behandlung, vollständig wieder ab.) Dieser Ausnahmezustand einer emotional »eingefrorenen« Psyche ist klinisch als Gemütskrankheit bekannt.

Wenn die Erstarrung, wie in den bei weitem meisten Fällen, im unteren, depressiven Bereich der Skala eingetreten ist, spricht der Psychiater von einer »endogenen Depression«. Durch den Zusatz »endogen« wird diese krankhafte psychische Störung terminologisch von allen Formen einer normalen, psychologisch entstandenen Traurigkeit abgegrenzt. Im Unterschied zu dieser gibt es bei der endogenen Depression keinen die Schwere der Verstimmung erklärenden Anlaß. Als ihre (noch immer nicht aufgeklärte) Ursache sind vielmehr krankhafte Funktionsstörungen in bestimmten Hirnregionen anzunehmen, wofür auch ausgedehnte Untersuchungen des Erbgangs sprechen.

Der an einer endogenen Depression leidende Patient befindet sich ausweglos in einer entsetzlichen Situation. Denn der krankhaften Schwere seiner Verstimmung entspricht naturgemäß das Bild, in dem sich die Welt ihm darbietet.

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Ein Gesunder ist außerstande zu ermessen, was es heißt, in eine Welt versetzt zu sein, die voll von unfaß­baren Drohungen ist, aus der jede Hoffnung auf ein Entrinnen oder eine Besserung verbannt scheint. Was es heißt, im Zustand permanenter Angst auf ein Ende der Schrecken warten zu müssen, das nur entsetzlich ausfallen kann, während einem Angehörige oder Pflegepersonal ungerührt (und objektiv in bester Absicht) versichern, daß es nicht den geringsten Grund zur Sorge gebe. Kein Wunder, daß die einzige Gefahr, die diesen Patienten wirklich droht, die des Selbstmordes ist. Die meisten Suizide, die »erfolgreich« verlaufen, werden, so schätzen erfahrene Psychiater, von depressiven Patienten begangen, deren Zustand niemand rechtzeitig als krankhaft erkannt hat.

Wenn die Krankheit schwer ist und länger anhält, entwickeln sich bei den Patienten depressive Wahnideen, die ungemein typisch sind und bemerkenswerter­weise in nur drei Varianten auftreten. Der depressive Wahn kann sich einmal als wahnhafte (= objektiv unbegründete) Angst um die leibliche Unversehrtheit äußern. Es sind dies die vielfältigen Formen des sogenannten hypochondrischen Wahns: Der Kranke ist — ungeachtet aller seinen Befürchtungen widersprechenden ärztlichen Befunde — davon überzeugt, daß er unheilbar krank ist, daß er an Krebs oder einer anderen noch unentdeckten Krankheit leidet, der er unrettbar zum Opfer fallen werde.

Die zweite Variante ist die wahnhafte Angst um die wirtschaftlichen, materiellen Lebensgrundlagen (»Verarmungs­wahn«). Die wahnhafte Gewißheit des unmittelbar bevorstehenden Ruins kann so weit gehen, daß ein Patient mit üppigem Bankkonto einen Selbstmordversuch unternimmt, weil man ihm die Befürchtung nicht ausreden kann, er sei nicht mehr in der Lage, seine Familie vor dem Verhungern zu bewahren.

Die dritte und letzte Form, in welcher der depressive Wahn auftritt, ist die wahnhafte Angst um die eigene moralische Integrität (»Versündigungswahn«). Die Patienten grübeln plötzlich selbstquälerisch wegen belangloser, oft Jahrzehnte zurückliegender Versäumnisse. Sie werden von Schuldgefühlen gepeinigt, für die sie hartnäckig nach Gründen suchen (die sie dann mitunter selbst erfinden, um, wie ein Psychiater treffend gesagt hat, »einen Text zu haben für die Melodie ihrer wahnhaften Verstimmung«). Nicht selten geht mit alldem einher die felsenfeste Überzeugung von der unmittelbar bevorstehenden Bestrafung in Form von Verhaftung, Hinrichtung oder göttlicher Verdammung.

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Bevor ich den Versuch mache zu erläutern, wie diese verschiedenen Wahnformen mit der »zeitlichen« Natur unserer Existenz zusammenhängen (was sie partiell erklärt und andererseits ebendiese Zeitlichkeit unseres Wesens sichtbar werden läßt), eine kurze Zwischenbemerkung. Je schwerer eine depressive Psychose ausfällt, um so mehr verwischt sie alle individuellen Unterschiede. Die Patienten liegen schließlich nur noch reglos erstarrt im Bett oder hocken, apathisch in sich gekehrt, auf dem Stuhl, beherrscht von schwersten Schuldgefühlen, hypochondrischen Todesängsten oder der Gewißheit ihres bevorstehenden wirtschaftlichen Ruins.

Immer wieder sind es diese drei Bedrohungen, um die ihre Gedanken unablässig kreisen. Man wird folglich davon ausgehen können, daß diese Wahnthemen Möglichkeiten der Gefährdung ans Licht bringen, die für den Menschen eine zentrale, existentielle Bedeutung haben. Diese Vermutung findet darin eine Stütze, daß die Inhalte des depressiven Wahns nachweislich unabhängig sind von ständischen, kulturellen oder anderen Umwelteinflüssen. Die vergleichende »transkulturelle« Psychiatrie hat herausgefunden, daß jemand, der einen depressiven Wahn entwickelt, stets von einer der genannten drei Ängste erfaßt wird — ob Atheist oder frommer Christ, ob Europäer, Chinese oder Afrikaner. Hier ist demnach von der extremen Belastung der krankhaften Schwermut etwas aufgedeckt worden, was man als anthropologisches Existential bezeichnen könnte, als ein den Menschen in seinem innersten Kern konstituierendes Wesensmerkmal.

Hier wird mit anderen Worten (um nur das eine Beispiel herauszugreifen) sichtbar, daß die Fähigkeit, ein »schlechtes Gewissen« zu bekommen, oder, ins Positive gewendet: der Wunsch nach Freiheit von Schuld doch mehr ist als bloß eine von der kulturellen Umwelt andressierte (und dies womöglich zu reinen Herrschaftszwecken) neurotische Unart, von der es den aufgeklärten Menschen schleunigst zu befreien gelte. (Womit andererseits keineswegs bestritten werden soll, daß sich bestimmte Institutionen dieser menschlichen Eigenschaft, Schuldgefühle entwickeln zu können, immer wieder als Instrument zur Festigung ihrer Herrschaft bedient haben.)

Der depressive Wahn ist nichts anderes als das Resultat einer krankhaften Störung unseres Zeiterlebens, dies sei hier vorwegnehmend schon gesagt. Um nun begreifen zu können, wie die Entstehung dieses Wahns mit der Zeitlichkeit unserer Existenz zusammenhängt, muß man sich den Unterschied zwischen objektiver und gelebter Zeit in Erinnerung rufen. Er ist fundamental, unbeschadet des Umstands, daß sicher nur wenige sich jemals über ihn den Kopf zerbrechen.

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Kennzeichnendes Merkmal der objektiven (physikalischen, astronomischen) Zeit ist ihr gleichmäßiger »Fluß«. Ihr klassisches Eichmaß waren denn auch bestimmte periodisch verlaufende objektive Vorgänge, von deren Gleichmaß man aus guten Gründen überzeugt war. Die klassische Grundlage ihrer Messung war »das ewige Gleichmaß« der Bewegung der Gestirne, etwa der Durchgang der Sonne durch den Meridian (»Mittagskreis«).*

Uhren, mit denen dieses Gleichmaß möglichst präzise technisch reproduziert und in eine transportabel-handliche Form gebracht werden konnte, ermöglichten — beginnend vor kaum mehr als einhundertfünfzig Jahren! — schließlich jene nahezu perfekte Synchronisation aller Mitglieder und Abläufe innerhalb unserer heutigen Industriegesellschaft, ohne welche diese Gesellschaft längst in ein funktionelles Chaos versinken würde. Ganz anders die »gelebte« Zeit: Sie wechselt ihr Fließtempo je nachdem, ob sie uns erfüllt oder leer erscheint. Sie kann »wie im Fluge« vergehen, sie kann sich aber auch, etwa in der Langeweile, endlos dehnen.

In unserem Zusammenhang noch wichtiger ist ein zweiter Unterschied. In der objektiven Zeit gibt es eigentlich nur den »Augenblick«. Real ist bei ihr nur der punktförmige Moment eines »Jetzt«, der aber sofort von einem nächsten Augenblick abgelöst wird, der seinerseits wieder nur die gleiche flüchtige Realität aufweist. Vergangenheit und Zukunft sind in dieser objektiven Zeit entweder immer schon vorbei oder noch nicht da und daher eigentlich gar nicht real. Umgekehrt bei der gelebten Zeit. So paradox es zunächst klingt: In sie eingebettet, erleben wir den gegenwärtigen Augenblick genaugenommen niemals als Realität. Was unser Erleben erfüllt und ausschließlich bestimmt, sind vielmehr Vergangenheit und Zukunft.

 

* Den heute von uns erhobenen Genauigkeitsansprüchen genügt die astronomische Zeitbestimmung bekanntlich nicht mehr. Es wurden Unregelmäßigkeiten der Erdrotation entdeckt, die den von ihr bewirkten scheinbaren Sonnenumlauf am Himmel als Eichmaß für eine wirklich präzise (das heißt Unterschiede von millionstel Sekunden berücksichtigende) Zeitbestimmung obsolet werden ließen. Ein wirklich perfektes Gleichmaß trauen die Experten heute nur noch bestimmten atomaren Schwingungsvorgängen zu. Daher wird die Sekunde heute nicht mehr, wie noch bis zum Ende der fünfziger Jahre, als der 86400. Teil des mittleren Sonnentages definiert, sondern mit Hilfe periodischer Schwingungsvorgänge im Caesiumatom, die als Zeitgeber für sogenannte Atomuhren dienen.

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Nehmen wir, um den in der Tat eigentümlichen — und dabei alltäglichen — Sachverhalt anschaulich zu machen, Geld als einfaches Beispiel. Unbestreitbar ist der Besitz von Geld etwas Erfreuliches. Sobald man darüber aber etwas näher nachdenkt, geht einem auf, daß es eigentlich ja gar nicht der (gegenwärtige) Besitz des Geldes ist, der das Erfreuliche an der Sache ausmacht, sondern die Aussicht darauf, es (in Zukunft) ausgeben zu können. Wenn ich mich über den Besitz, den augenblicklichen Besitz von Geld freue, dann deshalb, weil er mir Möglichkeiten verheißt, die naturgemäß in der Zukunft liegen.

Ein anderes Beispiel ist die Erfahrung, die man bei einem schweren Verlust, etwa dem Tode eines nahestehenden Menschen, machen kann. In einem solchen Fall kommt es — im Unterschied zu den sonstigen Erfahrungen bei starken Gemütsregungen — häufig vor, daß der Schmerz in der ersten auf den Verlust folgenden Zeit noch zunimmt (um erst dann allmählich abzuklingen). Der volle Umfang des Geschehenen wird hier also auch nicht in dem Augenblick erlebt, in dem der Verlust objektiv eintritt, sondern erst spürbar als Verarmung zukünftiger Möglichkeiten. Was wirklich geschehen ist, erfassen wir in der Trauer meist erst, wenn das Leben »weitergeht« und sich dabei konkret herausstellt, wie sehr sich die Zukunft für alle Zeit verändert hat.

Gegenwärtig sind für jeden von uns, so paradox es klingt, eigentlich nur Zukunft und Vergangenheit. In jedem Augenblick unseres Lebens werden unsere Entscheidungen und Urteile, wird unser ganzes Tun und Lassen nicht vom gegenwärtigen Augenblick bestimmt, sondern von den Folgen, die wir für die Zukunft erwarten, befürchten oder erhoffen. Aber nicht nur Zukunftserwartungen sind es, die in unserem Erleben den gegenwärtigen Augenblick selbst völlig in den Hintergrund treten lassen. Auch die Vergangenheit ist in unserem Kopf ständig präsent. Während bei der objektiven Zeit das Vergangene endgültig verschwunden ist, nimmt die gelebte Vergangenheit in unserem Bewußtsein von Jahr zu Jahr weiter zu. Die gelebte Zeit, so könnte man auch sagen, schwindet nicht, sie sammelt sich, ganz im Gegenteil, im Laufe unseres Lebens als persönliche Vergangenheit in uns an. Was ich als Person bin, wird durch die Fülle meiner vergangenen Erfahrungen, Taten und Erinnerungen festgelegt. Vor dem Hintergrund meiner Erinnerungen und Erfahrungen treffe ich die Entscheidungen, vermittels derer ich von Augenblick zu Augenblick die mir offenstehenden Möglichkeiten der Zukunft in endgültig festliegende, nicht mehr beeinflußbare, nicht mehr korrigierbare Bestandteile meiner Vergangenheit verwandele.

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Erstmals in den zwanziger Jahren kam nun der Verdacht auf, daß es sich bei der krankhaften »endogenen« Depression um eine Störung dieser gelebten Zeit handeln könne. Alle depressiven Patienten klagen in den typischen Fällen über eine als besonders peinigend empfundene Lähmung ihrer Fähigkeit, körperlich oder geistig noch irgend etwas »wollen« zu können. Kernsymptom der klassischen Depression ist eine psychische und körperliche (motorische) Hemmung. Das erinnerte die Psychiater an die Feststellung des Philosophen Max Scheler, daß das Urerlebnis der Zeitlichkeit in dem Erlebnis eigenen Könnens, der eigenen Wirkmöglichkeit bestehe. Je genauer man das Erleben depressiv gehemmter Patienten daraufhin analysierte, um so mehr festigte sich der Eindruck, daß sie an einer »Werdensstörung« litten, einem Verlust der psychischen Fähigkeit, sich lebensgeschichtlich entfalten zu können. Es ist, einfacher ausgedrückt, so, als ob dem Menschen im Zustand extremer Depression die Zukunft abgeschnitten und er endgültig auf seine Vergangenheit festgelegt worden sei.

Die unausbleiblichen psychischen Folgen eines solchen »Herausfallens« aus der gelebten Zeit aber werden durch Erfahrungen aus dem normal-psychologischen (Extrem-)Bereich illustriert, die verständlich machen können, wie es zur Entstehung eines depressiven Wahns kommt. Beim Tode eines nahestehenden Menschen macht fast jeder die Erfahrung, daß sich in den Schmerz über den Verlust noch ein anderes Gefühl mehr oder weniger aufdringlich zu mischen pflegt, und zwar das Gefühl einer Schuld dem Toten gegenüber, für das zunächst gar kein greifbarer Anlaß vorzuliegen scheint. Denn als der Verstorbene noch lebte, hatten wir, wenn wir an ihn dachten, keineswegs ein schlechtes Gewissen. Nun aber, da er tot ist, rührt es sich mit einem Male.

Der Psychiater Victor-Emil von Gebsattel war es, der die Zusammenhänge entschlüsselte. Die Gründe, aus denen sich in der beschriebenen Situation unser Gewissen regt, bestanden objektiv immer auch schon zu Lebzeiten des Verstorbenen: Wir hatten uns nicht genug um ihn gekümmert. Wir hatten es an Anteilnahme ihm gegenüber fehlen lassen. Wir hatten ihm unsere Zuneigung zu selten oder auch gar nicht gezeigt, hatten ihn mit seinen Sorgen allein gelassen und uns nicht genug Zeit für ihn genommen. Jeder von uns läßt es an diesen und anderen Formen der Zuwendung auch all denen gegenüber Tag für Tag fehlen, denen er sich aus Überzeugung verbunden fühlt. Man kümmert sich nie »genug« um den Nächsten.

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Solange dieser Nächste lebt, berührt uns unser Versäumnis in der Regel nicht. Deshalb nicht, weil er noch lebt. Denn das ist gleichbedeutend mit der Aussicht darauf, daß wir ihn wiedersehen und daß wir folglich noch Gelegenheit haben werden, das Versäumte nachzuholen. Unser Gewissen regt sich deshalb nicht, weil wir unbewußt stets die Möglichkeit einkalkulieren, in Zukunft noch abtragen oder nachholen zu können, was wir bisher schuldig geblieben sind. Auch hier also entscheidet über unser Empfinden nicht die im gegenwärtigen Augenblick objektiv bestehende menschliche Situation. Unsere Beziehung zu einem bestimmten Mitmenschen beurteilen wir vielmehr vor dem Hintergrund der Erfahrungen, die wir in der Vergangenheit mit ihm gemacht haben, nicht weniger aber auch unter dem Einfluß der Erwartungen, die wir an zukünftige Begegnungen mit ihm knüpfen. Unsere Versäumnisse ertragen wir nur angesichts der uns von der Zukunft eingeräumten offenstehenden Möglichkeiten.

Die Beziehung zu einem Verstorbenen ist aber durch dessen Tod dieses in der Zukunft gelegenen Freiheits­raumes unwiederbringlich verlustig gegangen. Das ganze Leben des Toten ist endgültig zu Vergangenheit geronnen, nicht mehr wandelbar und in keinem Punkt durch zukünftiges Geschehen mehr zu korrigieren. Dadurch aber haben auch alle meine menschlichen Versäumnisse diesem einen Menschen gegenüber mit einem Male einen endgültigen Charakter angenommen. Sie sind für alle Zeiten besiegelt und auf keine Weise mehr aus der Welt zu schaffen. Das ist der Grund dafür, daß unser Gewissen sich in der Erinnerung an den Toten vernehmlich rührt. (Mit einer Instinktsicherheit, die wahrhaft Staunen erregen muß, denn man bedenke doch: In wessen Bewußtsein sind die hier auseinandergesetzten Zusammenhänge wohl jemals präsent?)

Wenn nun die krankhafte depressive Hemmung den Schwung zum Stillstand bringt, mit dem die gelebte Zeit uns immer schon in die persönliche Zukunft vorauseilen läßt, dann wird auch das Lebensgefühl eines noch lebenden Menschen von dieser Zukunft abgeschnitten. Der depressive Patient befindet sich, mit anderen Worten, in der einzigartigen Lage, schon als Lebender nur noch Vergangenheit zu sein. Sein Dasein stellt sich ihm als erstarrt, als in allen Einzelheiten endgültig fixiert und unabänderlich dar.

Das aber ist eine Situation, die ein Mensch offensichtlich nicht ertragen kann, ohne in Entsetzen und Hoffnungslosigkeit zu verfallen. In dieser Verfassung drängen unaufhörlich alle die kleinen, aber doch zahllosen Fehler und Versäumnisse ins Bewußtsein, die wir alle uns unvermeidlich und tagtäglich zuschulden kommen lassen. Ihre in einem Dasein ohne Zukunft nicht mehr abzutragende Summe und Endgültigkeit erweckt in dem auf seine Vergangenheit festgelegten Depressiven jenes abgrundtiefe Schuldgefühl, das der Kliniker dann als »typischen depressiven Wahn« diagnostiziert.

Aber auch hypochondrischer und Verarmungswahn lassen sich aus der gleichen Verfassung ableiten. Auch beim Gemütskranken entspricht das subjektive Bild der Welt der eigenen emotionalen Verfassung. Auch seine Welt enthält daher die Dimension des Zukünftigen nicht mehr. Damit hat sie die Kategorien des Werdens und Wachsens, des Wiederaufbauens und Heilens eingebüßt. Im Erleben des Patienten wird sie einseitig nur noch von den Mächten des Zerfalls und Sichauflösens, von Vergänglichkeit und Verwesung beherrscht. Die zukunftslose, depressive Welt ist daher eine Alptraumwelt totaler Hoffnungslosigkeit.*

In der Tat, die dreizehn Milliarden Jahre währende Vorgeschichte hat — wen darf es wundern — auch in unserer Psyche untilgbare Spuren hinterlassen. Wir sind in die sich in der kosmischen Geschichte entfaltende Zeitlichkeit so tief eingebettet, daß Wahn und Verzweiflung die Folgen sind, wenn eine krankhafte Störung uns von ihr abschneidet.

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* Die hier kurz skizzierte psychologisch-anthropologische Analyse der depressiven Verfassung und des depressiven Wahns stammt, wie bereits erwähnt, von Victor-Emil von Gebsattel, von dem in anderem Zusammenhang noch die Rede sein wird. Die Leistung dieses brillanten Psychiaters wird nicht geschmälert durch die Tatsache, daß ein anderer schon vor Jahrhunderten auf den gleichen Gedanken verfallen ist: Der spätantike Philosoph Plotin lehrte, »daß wir in unserem zeitlichen Zustande nicht sind, was wir sein sollen und möchten, daher wir von der Zukunft stets das Bessere erwarten und der Erfüllung unseres Mangels entgegengesehen.« Zitiert nach: Schopenhauer, a.a.O., S. 73.

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