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213 - »Was du nicht willst, das man dir tu ...«  

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180-208

Die Rückreise in die Heimat verlief abwechslungsreich und beanspruchte mehrere Wochen. Unser Marschbefehl gab nicht nur den Zielort an (»Berlin«!), sondern legte auch die Strecke fest. Diese beim »Barras«* übliche Gepflogenheit — die unter anderem verhindern sollte, daß man auf Dienstreisen kleine Umwege zum Besuch einer Freundin einbaute — erwies sich in diesem Falle als höchst unpraktisch, was uns aber nicht scherte.

Der an irgendeinem fernen Schreibtisch sitzende Planer hatte angeordnet, daß wir von dem finnischen Hafen Hangö aus mit einem deutschen Frachter die Fahrt nach Danzig anzutreten hätten. Nun hätte er eigentlich wissen können, daß die Ostsee im Februar 1942 längst meterdick zugefroren war. Aber was tat's, Befehl ist Befehl. Unser inzwischen auf etwa zwei Dutzend Köpfe angewachsener Trapp schlug sich also in voller Kenntnis der Sinnlosigkeit dieser Zwischenetappe nach Hangö durch und richtete sich dort auf eine längere Wartezeit ein. Denn der deutsche Dampfer war natürlich nicht da, und wenn er dagewesen wäre, hätte er, wie einige andere Schiffe auch, eingefroren im Finnischen Meerbusen festgesessen.

Deshalb aber hatten wir als simple Muschkoten natürlich noch keineswegs etwa das Recht, unsere Reiseroute eigenmächtig abzuändern. Mit Hilfe der nächstgelegenen Wehrmachtsleitstelle bemühten wir uns daher um weiterführende Instruktionen aus Berlin. Nach einer Woche erhielten wir die Erlaubnis, mit der Bahn auf dem Wege über Nordfinnland, Schweden und Norwegen auf dem gleichen Weg zurückzukehren, auf dem wir ein halbes Jahr zuvor gekommen waren. 

  wikipedia  Barras 

Daraufhin saßen wir aber in Rovaniemi, am nördlichen Polarkreis, nochmals eine gute Woche fest. Jetzt zögerte das neutrale Schweden mit der Durchfahrtgenehmigung, weil unser Trupp nicht, wie üblich, einige Wochen vorher angemeldet worden war.

Rund vier Wochen nach unserem nächtlichen Aufbruch am Swir trudelten wir aber schließlich bester Dinge in Oslo ein und bezogen abermals für einige Tage Quartier in der dortigen Frontleitstelle. In dieser Zeit verfiel ich auf den Gedanken, einen norwegischen Geschäftsfreund meines Vaters aufzusuchen, einen Herrn Bofors, der, wie ich mich plötzlich erinnerte, die Siemens-Niederlassung in Oslo leitete. Er sprach ausgezeichnet deutsch, hatte uns vor dem Kriege wiederholt in Potsdam besucht und wurde von meinem Vater menschlich sehr geschätzt. Vor meinem inneren Auge zeichnete sich die verlockende Aussicht auf eine Nachmittags­einladung zu Kaffee und Kuchen in ziviler Umgebung ab.

Herr Bofors sah die Situation zu meiner Verblüffung aber ganz anders. Als ich sein Büro betrat, prallte er zurück. Nun erfolgte mein Auftritt — ohne daß ich mir dessen sonderlich bewußt gewesen wäre — natürlich in einer Aufmachung, aus der ich ein halbes Jahr lang praktisch nicht herausgekommen war. Ich begriff aber rasch, daß ich Herrn Bofors nicht deshalb Abscheu einflößte, weil ich stank, sondern deshalb, weil ich eine deutsche Uniform trug. Darauf war ich nicht im mindesten gefaßt gewesen. Zwar hatte auch ich meine Zweifel daran gehabt, daß die Norweger uns, weil wir sie, wie es hieß, als ein uns rassisch engverwandtes Volk gerade noch rechtzeitig vor einer Besetzung durch die Engländer bewahrt hatten, wirklich aus so tiefem Herzen dankbar waren, wie unsere Zeitungen behaupteten. Aber diese unverhüllte, ja eisige Ablehnung durch einen Mann, den mein Vater fast als seinen Freund ansah, das machte mich betroffen.

Am Nachmittag kam es zu einem kurzen, verlegenen Treffen in einem Stadtrandcafe, dessen Adresse mir der Norweger hastig auf einen Zettel gekritzelt hatte, bevor er mich aus seinem Büro hinauskomplimentierte. Mit einer gewissen Förmlichkeit erklärte er mir dort, daß er überhaupt nur deshalb mit mir rede, weil ich der Sohn eines Mannes sei, den er schätzen gelernt habe. Solange ich mich in seinem Lande als deutscher Soldat aufhielte, komme ein persönlicher Kontakt für ihn überhaupt nicht in Frage.

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Um mir die Peinlichkeit des Schweigens, das sich nach dieser Mitteilung zwischen uns ausbreitete, ein wenig zu erleichtern, stellte er, bevor er sich etwas übergangslos verabschiedete, noch einige Fragen nach meinen Erfahrungen an der Front. Ich drückte meine Überraschung aus über die Verbissenheit, mit der die Russen kämpften. Fassungslos seinen Kopf schüttelnd, sah Herr Bofors mich an. »Aber, Herr v. Ditfurth«, sagte er, nachdem er sich von seiner Verblüffung erholt hatte, »verstehen Sie denn gar nicht, die verteidigen doch ihre Heimat!« 

Ich hatte es wirklich nicht verstanden. Das klingt heute grotesk und für manchen womöglich unglaubhaft. Die nationalsozialistische Propaganda hatte uns die Brutalität der stalinistischen Unterdrückung jedoch viele Jahre lang in so lebhaften Farben ausgemalt — Stalins unleugbarer Terror gegen das eigene Volk lieferte den Mitarbeitern des Goebbelsschen Ministeriums ausschlachtbares Material in Hülle und Fülle —, daß wir eigentlich erwartet hatten, die russischen Soldaten würden sich nicht ernstlich wehren, sondern bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu uns überlaufen. Deshalb war mein Erstaunen über die Hartnäckigkeit ihres Widerstandes echt.

 

Erst Jahrzehnte nach dem Kriegsende — während meines Engagements für die Friedensbewegung im Rahmen der »Nach«-Rüstungsdebatte der frühen achtziger Jahre — ist mir die volle Bedeutung dieser kleinen Episode in einem Cafe am Stadtrand von Oslo aufgegangen. Erst da begriff ich, daß der wahre Grund (und damit die Erklärung) für die absurde Unwirklichkeit des leidenschaftlichen Streits zwischen den Gegnern und Befürwortern einer »Nach«-Rüstung mit atomaren Mittelstreckenraketen in Westeuropa in eben jener seltsam irrealen Mentalität zu sehen ist, der auch ich 1942 erlegen war.

Da erkannte ich, daß zum Beispiel die unkritische Selbstverständlichkeit, mit der ich erwartet hatte, von dem Norweger Bofors zum Nachmittagskaffee eingeladen zu werden, der psychischen Verfassung der »Nach«-Rüstungsbefürworter wesensverwandt ist. Sowenig es mir damals in den Sinn gekommen war, zu bedenken, daß ich in dem besetzten Land als deutscher Soldat die leibhaftige Unterdrückung personifizieren könnte, so unfähig war ein »Nach«-Rüstungsbefürworter, den Gedanken zu fassen, daß »die Russen« sich von der dem Westen auch ohne »Nach«-Rüstung bereits gebotenen Möglichkeit bedroht fühlen könnten, sie fünf- oder sechsmal hintereinander auszulöschen (»Overkill«). »Schon mit unserer zweiten Salve könnten wir drüben eigentlich nur noch die Trümmer tanzen lassen«, konstatierte Henry Kissinger, gewiß ein unverdächtiger Zeuge, in der damaligen Diskussion ebenso anschaulich wie treffend.

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Lassen wir einmal außer Betracht, daß sich über den Akt einmaligen Umbringens hinaus aus naheliegenden Gründen ohnehin auf keine denkbare Weise mehr drohen (oder »abschrecken«) läßt. Daß folglich das von den Befürwortern stillschweigend zugrunde gelegte Axiom — demzufolge eine von einem sechsfachen Overkillpotential gewährleistete Sicherheit durch die Hinzufügung der Fähigkeit zu einer weiteren (siebten) tödlichen Attacke vergrößert werden könne — a priori den Inbegriff eines irrationalen Konzepts darstellt. Beschränken wir uns also darauf, das Reden von einer »Nach«-Rüstung prinzipiell einmal unter die Lupe zu nehmen.

Sobald man dazu ernsthaft ansetzt, sieht man sich wieder mit der Mentalität konfrontiert, die mich 1942 überrascht reagieren ließ, als Herr Bofors mich an die Selbstverständlichkeit erinnerte, daß die russischen Soldaten, deren Verbissenheit mich so verwunderte, ihre Heimat verteidigten. Ich war es doch, das schien mir offensichtlich zu sein, der allen Grund hatte, sich vor dem »asiatischen Bolschewismus« zu fürchten. Ich spürte die von ihm ausgehende Bedrohung geradezu körperlich. Um erkennen zu können, daß »die Bolschewisten« sich ihrerseits, und zwar unter anderem von mir als Angehörigem der großdeutschen Wehrmacht, bedroht fühlen könnten, bedurfte es eines gesonderten Hinweises. Und ebenso kann auch von »Nach«-Rüstung ehrlichen Herzens nur sprechen, wer im Gefühl eigenen Bedrohtseins blind ist für die Tatsache, daß sein potentieller Gegner den unter dieser Bezeichnung angekündigten Aufrüstungsschritt zwangsläufig als erhöhte Bedrohung seiner Sicherheit empfinden wird, was wiederum ihn unausbleiblich zu einem »Nach«-Rüstungsschritt veranlassen muß, so daß das Wettrüstungskarussell immer in Gang bleibt.

In den Köpfen der meisten Politiker ist für diese Einsicht kein Platz. In ihrem Metier kommt es zuvörderst ja auch nicht darauf an, eine Situation möglichst objektiv (»wahr«) zu schildern, sondern so, daß möglichst viele Wähler in die eigenen Scheuern getrieben werden. Beides geht selten zusammen. Deshalb belobigt sich unsere offizielle Regierungspolitik bis auf den heutigen Tag dafür, daß sie durch ihr »unbeirrtes Festhalten am Nachrüstungs-Doppelbeschluß der NATO« die Russen zum Einlenken gezwungen, gewissermaßen also zur Vernunft gebracht habe.

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»Wer's glaubt, zahlt 'n Taler«, pflegte mein Vater in solchen Fällen zu sagen. Denn das ist, wie ein kurzer Blick auf die Nachkriegsgeschichte zeigt, selbst­verständlich barer Unsinn. Das jahrzehntelange Wettrüsten nach 1945 war nichts anderes als eine fortlaufende Kette kontinuierlich aufeinander­folgender Schritte von »Nach«-Rüstungen, die von »Nach«-Rüstungen der jeweils anderen Seite beantwortet wurden, um damit nur wieder erneute »Nach«-Rüstungen des Kontrahenten auszulösen.*

Daß nun ausgerechnet der »Nach«-Rüstungsschritt des Jahres 1983, der uns die Pershing-2-Raketen und die »Cruise Missiles« bescherte, diesen sich quasi aus eigener Kraft nährenden Eskalationsprozeß, anstatt ihn weiter voranzutreiben, angehalten habe, ist eine tolldreiste Behauptung, für die nicht das geringste Indiz existiert. Weltweit aufgefallen ist dagegen das in diesem Zusammenhang anscheinend lediglich in den Bonner Regierungskanzleien übersehene Faktum, daß im Osten ein neuer Mann namens Gorbatschow auftauchte, der das Steuer in seinem Machtbereich in sensationeller Weise herumriß und dabei auch in der Rüstungspolitik einen radikal neuen Kurs einschlug.**

Anstatt uns auf die Schultern zu klopfen in dem größenwahnsinnigen Anspruch, daß wir diesen Mann durch unser stures Beharren auf der letzten »Nach«-Rüstung zum Einlenken gezwungen hätten, sohlten wir uns im stillen Kämmerlein lieber mit der Frage beschäftigen, ob wir nicht womöglich Anlaß haben, beschämt zu sein, weil das östliche Lager es gewesen ist und nicht der »friedliebende Westen«, der durch seine mutigen Vorschläge erstmals seit dem Kriegsende konkrete Abrüstungsschritte in Gang gebracht hat.

* Den objektiven Verlauf dieses permanenten Wettrüstens — der so gar nicht dem Klischee der bis heute bei uns grassierenden Bedrohungsängste entspricht — habe ich in meinem Buch »So laßt uns denn ein Apfelbäumchen pflanzen« (Hamburg 1985, S. 146ff.) eingehend geschildert und anhand ausschließlich westlicher, allseits zugänglicher Quellen dokumentiert. Es stimmt schon, daß »Sowjetrußland seit 1945 immer nur aufgerüstet hat« (Bundeskanzler Helmut Kohl in der »Nach«-Rüstungsdebatte des Deutschen Bundestages Anfang November 1983). Nur: Trotz aller Bemühungen hat Sowjetrußland es in keinem einzigen dieser Jahre geschafft, den Rüstungsvorsprung des Westens aufzuholen, der ihm immer und ausnahmslos um Längen (in Gestalt neuer Waffensysteme und aus ihnen sich ergebender strategischer Optionen) vorauseilte.

** Immer dann, wenn Helmut Kohl sich dessen rühmt, und er tut es gern und oft, daß seine »Standfestigkeit in der Nachrüstungsfrage die Russen, wie ich es stets vorhergesagt habe, an den Verhandlungstisch gebracht hat«, erinnert er mich an die Geschichte von dem kleinen Jungen, dem seine Mutter zu Weihnachten eine Bahnhofsvorsteheruniform schenkte. Mit dieser angetan, steht er dann auf dem Bahnhof der Stadt und trillert auf seiner Pfeife. Plötzlich setzt sich ein Zug dampfend und zischend in Bewegung. Da zupft der kleine Junge seine Mutter am Ärmel und sagt stolz zu ihr: »Guck mal, Mama, das war ich!«

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»Was du nicht willst, das man dir tu, das füg' auch keinem andern zu!« Das Sprichwort formuliert eine Binsenwahrheit. Seine Existenz belegt andererseits, wie notwendig es ist, an diese Wahrheit zu erinnern, weil alle Welt ständig gegen sie verstößt. Denn in der subjektiven Realität des rezenten Homo sapiens — was nichts anderes heißt als: in der von uns allen erlebten Wirklichkeit — gilt diese Wahrheit bedenklicherweise nicht. Hier, im Allerweltslebensgefühl, ist sie durch jene Betrachtungsweise ersetzt, die in dem bekannten alten Text mit den Worten charakterisiert wird, daß wir imstande seien, den Splitter im Auge eines anderen Menschen zu entdecken, während wir den Balken im eigenen Auge zu übersehen pflegten.

Das gilt nicht etwa nur für abstrakte Schuldzuweisungen. Es gilt auch für konkrete Situationen. Die Rakete in der Hand eines potentiellen Widersachers zum Beispiel erscheint uns in furchteinflößender Vergrößerung. Die von ihr ausgehende Bedrohung erleben wir mit nahezu physischer Intensität. Die gleiche Rakete aber nimmt sich, wenn wir selbst sie in der Hand halten, in unseren Augen vergleichsweise harmlos aus. Wir wissen ja, daß wir sie nur zu unserer Verteidigung ergriffen haben, nur für den äußersten Notfall, von dem wir sehnlichst hoffen, daß er niemals eintreten möge. Daß sich im Kopfe des Widersachers, vor dessen Rakete wir uns so sehr fürchten, die gleichen Überlegungen abspielen könnten, bleibt für uns dagegen bloße Hypothese. Eine Hypothese, die wir für um so unwahrscheinlicher halten, je größer unsere Angst ist.

Diese allen Mitgliedern unseres Geschlechts angeborene (und daher nicht aufhebbare, wenn auch einsehbare) Asymmetrie unseres Angsterlebens produziert im mitmenschlichen, erst recht im zwischenstaatlichen Umgang fortwährend verheerende und nicht selten sogar tödliche Mißverständnisse. Sie ist der wahrscheinlich bedenklichste Fall des »Überlebens« archaisch-instinktiver Handlungsanleitungen, die wir als Erbe einer lange zurückliegenden frühmenschlichen Urzeit noch immer mitzuschleppen haben. In jener längst vergangenen Epoche mag das angeborene Verhaltensrezept seinen guten Sinn gehabt haben. In unserer heutigen Welt stellt es nur noch angeborenen Unsinn dar. Da dieser jedoch in unserem Kopf nistet, werden wir seiner immer erst in selbstkritischer Anstrengung gewahr.

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In der Praxis heißt das, daß er uns ständig veranlaßt, anderen in ganz unbefangener Gedankenlosigkeit zuzufügen, was wir unter gar keinen Umständen uns selbst angetan sehen möchten.

Er ist der Motor, der den Zyklus aufeinanderfolgender »Nach«-Rüstungs- und »Nach-Nach«-Rüstungs­schritte in Schwung hält.* Er allein liefert die Erklärung für den Brief eines Regierungsbeamten, der mich auf dem Höhepunkt des Nachrüstungsstreits von meinem Protest durch die Information abzubringen gedachte, daß die Russen jetzt sogar mit dem Bau von Marschflugkörpern begonnen hätten, woran er die entrüstete Frage anknüpfte, ob wir uns das vielleicht auch noch gefallen lassen sollten. (Auf meine Erwiderung, daß »wir« das gleiche der anderen Seite doch bereits seit einigen Jahren zumuteten, habe ich nie eine Antwort bekommen.)

Seine Wirksamkeit erklärt das paradoxe Phänomen, daß ein Buchautor bei uns mit der einhelligen Zustimmung des Publikums rechnen darf, wenn er es unternimmt, das furchtbare Schicksal der deutschen Ostvertriebenen dem drohenden Vergessenwerden zu entreißen (was unstreitig verdienstvoll und angebracht ist), wohingegen sein Kollege, der sich mit den Leiden der Polen während der über fünfjährigen deutschen Besetzung beschäftigt, unfehlbar zu hören bekommt, er solle die alten Geschichten doch endlich ruhen lassen.

Auf dem hintergründigsten Kriegsphoto, das ich kenne, ist das just im Moment der Aufnahme von fassungslosem Erstaunen in blankes Entsetzen übergehende Gesicht eines amerikanischen Marine­infanteristen festgehalten, der auf den blutigen Stumpf seines noch in der Ausholbewegung erhobenen Unterarms starrt. Wo einen Augenblick zuvor noch seine Hand war, hängen jetzt zerfetzte Sehnen herunter, mit deren Hilfe seine plötzlich verschwundenen Finger noch vor dem Bruchteil einer Sekunde die Handgranate umklammert hielten, die er, es liegt erst einen winzigen Augenblick zurück, mit einer von keinerlei Skrupeln getrübten Entschlossenheit auf den Gegner zu schleudern beabsichtigte.

* Ich will keineswegs bestreiten, daß das globale Wettrüsten unter anderem auf industrielle und großmachtpolitische (imperialistische) Motive zurückzuführen ist. Ich behaupte jedoch, daß diese Motive nicht zu den aberwitzigen Rüstungsexzessen der vergangenen Jahrzehnte hätten führen können, wenn sie nicht die Möglichkeit gehabt hätten, sich der von der asymmetrischen Struktur des menschlichen Angsterlebens gelieferten Antriebe zu bedienen.

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Ein Mißgeschick ließ sie vorzeitig explodieren, und auf einmal ist das, was er dem anderen anzutun gedachte, ihm selbst zugestoßen. Und sofort macht seine Angriffslust anklagender Verzweiflung Platz. In diesem kurzen Augenblick stoßen in seinem Kopf, ganz ausnahmsweise, die beiden alternativen Bewertungs­maßstäbe zusammen, die in unserem Erleben normalerweise durch die grundverschiedenen Perspektiven von Täter und Opfer fein säuberlich getrennt werden.

Gottfried Benn meinte, daß die menschliche Geschichte sich wie eine psychiatrische Krankengeschichte lese. Man muß ihm beipflichten. Über die Ursachen hat Benn geschwiegen. Im Lichte der Erkenntnisse der modernen Humanethologie — die sich mit den auch beim Menschen noch vorhandenen instinktiven Verhaltensdispositionen beschäftigt — wird man der angeborenen Parteilichkeit unseres moralischen Bewertungsmaßstabs einen Großteil der Schuld geben müssen. Mitglieder einer Spezies, die dazu tendieren, jedweden Anspruch der eigenen Gruppe a priori für besser legitimiert zu halten als die sämtlicher anderer Kollektive, leben zwangsläufig in permanenter Konfliktgefahr.

Das muß nicht in jedem Falle zu konkretem Streit führen. Sonst wäre diese Tendenz von der »natürlichen Auslese« eliminiert worden, bevor sie sich erblich in der Konstitution unserer biologischen Ahnen hätte festsetzen können. Aber während der für ihre Entstehung maßgeblichen vorgeschichtlichen Äonen hatte es auf diesem Planeten noch so viel Platz gegeben, daß man sich zur Vermeidung von Auseinandersetzungen gegenseitig mühelos aus dem Wege gehen konnte. Während dieser (die wenigen Jahrtausende der »zivilisierten« Menschheitsgeschichte an Dauer tausendfach übersteigenden) Vorgeschichte überwogen daher die Vorteile dieser bedingungslos egozentrisch-egoistischen Weltsicht so sehr, daß sie in die vormenschliche Erbausstattung Eingang fanden (indem im Ablauf der Generationenfolge jene, die ihr zuneigten, mehr Nachkommen großziehen und damit entsprechend häufiger ihre Anlagen an die nachfolgende Generation weitergeben konnten).

Aber der Wert einer biologischen Anpassung steht eben niemals absolut fest. Er erweist sich immer erst in der Auseinandersetzung mit der Umwelt, in der das so oder so angepaßte Individuum zu überleben hat. Und diese Umwelt — zu der auch die über längere Zeiträume hinweg ständig sich ändernde Vielfalt der anderen Lebewesen gehört — bleibt niemals konstant.

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Für unsere Art haben sich nicht zuletzt die räumlichen Bedingungen auf diesem Planeten dramatisch geändert. In einem Zeitraum, der um ein Vielfaches zu kurz gewesen ist, als daß unsere genetische Veranlagung auch nur die geringste Chance gehabt hätte, sich auf die veränderten Bedingungen umzustellen,* führte der Vermehrungserfolg unseres Geschlechts global eine Situation herbei, in der kein menschliches Kollektiv mehr dem anderen auszuweichen vermag. An allen Grenzen, die es auf diesem Planeten gibt, treten sich seitdem, bildlich gesprochen, menschliche Gruppen unterschiedlicher Sprache, Rasse und Wertvorstellungen gegenseitig auf die Füße. Die potentielle Konfliktträchtigkeit der uns angeborenen einäugig-egozentrischen Weltsicht, unsere unausrottbare Neigung, uns selbst zu überschätzen und auf alle anderen herabzusehen, gebiert unter diesen Umständen, wen kann es wundernehmen, Konflikte in nicht enden wollender Zahl.

Das Problem hat in unserer Zeit, seit einigen Jahrzehnten, bekanntlich besondere Beachtung gefunden und Besorgnis ausgelöst. Nicht etwa, weil es neu wäre. Im Gegenteil, es ist uralt. Es ist mindestens so alt wie die menschliche Geschichte. Es hat in aller Vergangenheit die Völker übereinander herfallen und sich gegenseitig mit Lust und Ausdauer zerfleischen lassen, wobei alle Beteiligten mit Gründlichkeit zur Sache gingen, beflügelt von der tief innerlichen Überzeugung, daß es sich um eine »gute Sache« handele.

Selbst ich als passionierter Zivilist (und fraglos unzählige meiner wie ich schamvoll darüber schweigenden Altersgenossen) wurde seit dem Kriegsausbruch 1939 von Minderwertigkeitsgefühlen und Selbstzweifeln geplagt, bis man auch mich schließlich 1941 in Uniform steckte. Es half mir wenig zu wissen, daß meine Beteiligung sich rational nicht zwingend begründen ließ. (Von allem anderen einmal abgesehen: In diesen Anfangsjahren war »das Vaterland« ja keineswegs in Not, da fügte es die Not vorerst noch anderen Völkern zu.) Ich hoffte sehnlichst, möglichst spät »zur Fahne gerufen« zu werden. Aber bis es dazu kam, irritierte mich gleichzeitig der Gedanke, ein »Drückeberger« zu sein.

* In unserer etwas einseitig »geisteswissenschaftlich« geprägten Bildungslandschaft ist es vielleicht nicht ganz überflüssig, vorsorglich nochmals darauf hinzuweisen, daß auch psychische Sachverhalte, soweit sie, wie die hier diskutierten Erlebens- und Verhaltenstendenzen, dem Fundament unserer genetisch festgelegten Konstitution entstammen, als biologische Anpassungen anzusehen sind.

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Mein Verstand mochte daran zweifeln, ob unser Krieg ein »gerechter« Krieg sei. Der Neandertaler in den archaischen Abgründen meiner Psyche war sich seiner Sache sicher. Und so beneidete auch ich die aus Polen heimkehrenden uniformierten Sieger heimlich glühend. »Wenn die Fahnen flattern, ist der Verstand in der Trompete«, sagt ein böhmisches Sprichwort.

Nein, neu ist das Phänomen wahrhaftig nicht. Die menschliche Historie nimmt sich im Rückblick als eine einzige Kette kriegerischer Auseinandersetzungen aus, die von Erschöpfungspausen unterbrochen werden, die wir euphemistisch »Friedenszeiten« nennen, wobei es schwerfällt zu unterscheiden, wann jeweils die letzte »Nachkriegszeit« zu Ende war und die nächste »Vorkriegszeit« begann.* Die Zahl der Opfer ging spätestens seit dem Dreißigjährigen Krieg schon in die Größenordnung von Millionen. Das Entsetzen über die Massaker war stets lebhaft — hinterher. Es hielt jedoch immer nur für kurze Zeit an, allenfalls bis zur nächsten Generation, die das Grauen nicht selbst miterlebt hatte.

Neu ist allein der freilich nicht bedeutungslose Umstand, daß dem in kurzen Abständen die Völker jählings überfallenden Impuls zum kriegerischen Abschlachten seit kurzem »Waffen« zu Gebote stehen, die erstmals in der Geschichte die buchstäbliche »Vernichtung«, die Auslöschung des Widersachers, gestatten. Da endlich begannen sich offizielle Zweifel zu regen an der Vernünftigkeit kriegerischen Massen­mordens. (Während in den wilhelminischen Offizierskasinos noch ganz unbefangen von dem »frisch-fröhlichen Krieg« gesprochen werden konnte, dessen Herannahen man herbeisehnte.)

Ob die neuerdings sich rührenden Bedenken genügen werden, ein abermaliges Desaster zu verhüten, steht ungeachtet aller für diesen Fall zu gewärtigenden, alle bisherigen Schrecken weit überbietenden Folgen aber keineswegs fest.

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* Der Aachener Politologe Winfried Böttcher gibt für den Zeitraum von 650 v. Chr. bis zum Jahre 1975 n. Chr. mehr als 1600 Kriege an.

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14  Das Blatt wendet sich 

 

 

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Nach der Rückkehr aus Finnland wurde ich zur Sanitätsschule in Guben, Schlesien, versetzt und von dort aus einige Monate später zur Spezialausbildung als Narkotiseur an ein Reservelazarett in Antwerpen. Im Sommer 1942 ging es von da aus wieder, quer durch ganz Westeuropa, nach Rußland, an den Nordabschnitt. Jetzt war ich jedoch kein Frontsoldat mehr, sondern ein »Etappenhengst«.

Ich war als Narkotiseur der Operationsabteilung eines Kriegslazaretts zugeteilt worden, das in dem zwei­stöckigen Holzbau einer russischen Schule untergebracht war. Den Begriff des Anästhesisten gab es noch nicht. Er wäre angesichts meiner Aufgaben und Fertigkeiten auch mehr als hochtrabend gewesen. Wir tropften Äther auf eine mit Mull bespannte kleine Maske, die dem Patienten über Nase und Mund gestülpt wurde, ließen den Mann laut zählen und beobachteten, wenn er damit aufhörte, seine Pupillen, um die Tiefe der Narkose abzuschätzen. Es wurde weder intubiert* noch der Blutdruck oder das EKG (die Herzstromkurve) überwacht. Da wir außerdem, weil die Erfindung muskelentspannender Präparate noch in der Zukunft lag, notgedrungen eine so tiefe Bewußtlosigkeit herbeiführen mußten, daß der Operateur nicht mehr durch reflektorische Muskelspannungen des Patienten behindert wurde, war unser Vorgehen nach heutigen Maßstäben schlicht kriminell.

Aber das war damals die Norm. Sicherheitsansprüche und Risikotoleranz ändern sich im Verlaufe des technischen Fortschritts mit Windeseile. Ich kann aber mit noch heute dankbar empfundener Erleichterung berichten, daß ich von unserem Chirurgen zwar einige Male gröblich beschimpft worden bin, weil ihm meine Narkosen nicht tief genug waren, daß der rüden Äthertropfmethode unter meinen Händen aber niemand zum Opfer gefallen ist. Als ob es letztlich einen großen Unterschied gemacht hätte. Die Mehrzahl unserer Patienten starb ohnehin, qualvoll und langsam, an Wundinfektionen.

* Intubation nennt man die Einführung eines elastischen Röhrchens durch Mund und Kehlkopf bis in die Luftröhre, um der Erstickungsgefahr infolge der Erschlaffung von Rachen- und Zungenmuskulatur bei tiefer Bewußtlosigkeit vorzubeugen.


Jedes Geschoß und jeder Splitter riß ein kleines Stückchen verdreckten Uniformtuchs in die Tiefe des getroffenen Körperteils. Die darin steckenden Erreger fanden in dem blutig durchtränkten, zerfetzten Gewebebrei, bei für ihr Wachstum optimaler Körpertemperatur, ideale Vermehrungsbedingungen. Die Folgen waren zum Verzweifeln.

Unser junger, glänzend ausgebildeter Chirurg (er kam, wenn ich mich recht erinnere, aus der Berliner Charite, dem besten denkbaren »Stall«) bemühte sich Tag und Nacht, von Kaffee und Pervitin wachgehalten, mit unermüdlicher Gewissenhaftigkeit um die ihm (und uns) nach größeren Kampfhandlungen vom nahe gelegenen Frontabschnitt in schier endloser Kette zugelieferten Opfer.

Es waren grauenhafte Verstümmelungen darunter. Der Tod war dann oft eine Erlösung. In diesen Fällen kam es vor allem darauf an, Schmerzen zu lindern, zu verhindern, daß Männer, denen ein Granatsplitter den ganzen Gesichtsschädel zertrümmert hatte, qualvoll erstickten, oder daß Unterleibsverletzte Koliken bekamen, weil sie nicht mehr Wasser lassen konnten.

In mir steigt Zorn auf, wenn ich daran denke, daß auch das, was diese jungen Männer, oft noch halbe Kinder, in den letzten Stunden oder Tagen ihres Lebens durchgemacht haben, von unserer Gesellschaft versteckt wird hinter der feige verschleiernden Formel, sie seien »gefallen«.

Aber noch zermürbender war, was sich abspielte, wenn jemand an einer Wundinfektion erkrankte, wozu es bei größeren Gewebezertrümmerungen, insbesondere nach Schußfrakturen, fast unweigerlich kam. Es kann sich schon heute kaum noch jemand vorstellen, was das in einer Zeit bedeutete, in der es noch keine wirksamen Antibiotika gab.

Da kam dann ein junger Mann etwa mit einem Schulterschuß auf unseren Operationstisch, in seiner verdreckten Uniform, das zerschossene Gelenk notdürftig mit blutverkrusteten Binden umwickelt, die ihm der »Sani« in der vordersten Linie angelegt hatte. Sonst ging es dem Mann eigentlich gut. Diese Verwundeten waren fast immer bei klarem Bewußtsein und voll ansprechbar. Einige von ihnen brachten es sogar fertig, nachdem man ihnen eine schmerzstillende Injektion gemacht hatte, den fünf oder sechs Kilometer langen Weg von der Front bis zu unserem Lazarett aus eigener Kraft zurückzulegen.

In tiefer Narkose entfernte unser Chirurg im Bereich der Einschußöffnungen und, so gut es ging, auch in der Tiefe der Wunde möglichst viel des zertrümmerten Gewebes, streute reichlich Sulfonamidpuder in die blutige Höhle und gipste dann die Schulter ein.

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Die Wunde wurde offengelassen, damit »Licht und Luft« die zu erwartende Infektion hintanhalten konnten. Außer Licht und einigen ihrer geringen Wirksamkeit wegen heute längst vergessenen Sulfonamiden (Prontosil, Albuzid) verfügten wir zu deren Bekämpfung über nichts. Es genügte in den seltensten Fällen.

In den ersten Tagen ging es diesen Männern ausgezeichnet. Sie waren guter Dinge, dankbar für unsere Pflege und warteten voller Hoffnung auf den Termin des Heimtransports. Am dritten oder vierten Tag aber bekamen sie Fieber. Ihre Wunde schwoll an. Sie begann von neuem zu schmerzen und ein übelriechendes, trüb-wäßriges Sekret abzusondern. Mit Nachoperationen, schließlich mit ausgedehnten Amputationen versuchte unser Chirurg, ihr Schicksal noch zu wenden — so gut wie immer vergeblich. Glatte Durchschüsse, auch durch den Brustkorb, wurden meist überlebt. Sogar Männer mit Bauchschüssen haben wir, nach penibler chirurgischer Versorgung, in vielen Fällen durchbekommen. Verwundete mit Schußfrakturen, bei denen die Wucht des Geschosses einen Knochen in Hunderte von winzigen Splittern hatte zerplatzen lassen, die das Gewebe weiträumig zertrümmerten und mit Erregern regelrecht impften, schafften es fast nie.

Viele Jahre nach dem Kriege sah ich in einer Badeanstalt einen Mann den Beckenrand entlanghumpeln, dessen einer Oberschenkel von mehreren großen, tief eingezogenen Narben verunstaltet war. Ich sprach ihn an und gab mich als Arzt zu erkennen. Er bestätigte meine ungläubige Vermutung und erzählte mir in beiläufigem Ton, daß er in Rußland eine Oberschenkelschußfraktur erlitten habe. »Sehen Sie nur«, sagte er, während er auf sein verkürztes Bein zeigte, »da bin ich damals einem Stümper in die Hände gefallen«. Ich ließ mich nicht auf eine Diskussion mit ihm ein. Aber unter allen Menschen, die ich jemals getroffen habe, war er der einzige, der eine Oberschenkelschußfraktur in Rußland überlebt hatte.

Im November 1942 zog ich mir eine schwere, damals im Osten grassierende Hepatitis* zu, die mich für mehrere Monate dienstunfähig machte. Ich wurde in Etappen in die Heimat zurückverlegt und landete zu guter Letzt — nicht ohne diskrete Mitwirkung alter Verbindungen meines Vaters — im Reservelazarett Potsdam. So kam es, daß ich die Weihnachtstage zu Hause verbringen konnte.

* Infektiöse Lebererkrankung mit Gelbsucht.

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Es war kein frohes Fest. Auch mir hatte inzwischen zu dämmern begonnen, daß wir alle auf eine Katastrophe zusteuerten, der niemand mehr Einhalt zu gebieten vermochte und deren Ausmaße man sich lieber nicht ausmalte. In den Monaten der Bettlägerigkeit hatte sich in meinem Kopf einiges bewegt. Nicht die ungewohnte Muße allein hatte das bewirkt. Sie fiel in eine Zeit, die auch ich vage als eine entscheidende Wende des Krieges empfand. Ende Oktober 1942 hatte der britische General Montgomery Rommel nahe der ägyptischen Grenze eine schwere Niederlage zugefügt.

Anfang November war eine englisch-amerikanische Armee im Rücken des deutschen Afrikakorps gelandet. In der zweiten Hälfte des gleichen Monats hatten die Russen die 6. Armee — über zwanzig deutsche Divisionen! — bei Stalingrad eingekesselt. Ich erinnere mich noch des unguten Gefühls, das mich beschlich, als ich in der Wochenschau zum erstenmal den ominösen Begriff »siegreiche Abwehrschlacht« hörte. Es stand offensichtlich keineswegs mehr fest — sozusagen kraft einer Zusage der »Vorsehung« —, daß Deutschland siegen würde. (Die Frage, ob das grundsätzlich überhaupt wünschenswert gewesen wäre, lag noch jenseits meines Horizonts.) Aber wenn wir — im Grunde nach wie vor gänzlich unvorstellbar — tatsächlich verlieren sollten, was war dann eigentlich?

Mich irritierte diese Frage auch deshalb, weil mir die Risiken klar vor Augen standen, die jeder Versuch mit sich brachte, sie mit jemandem zu erörtern. Das Problem, das mich zu beunruhigen begann, richtete zwischen mir und meinen Kameraden eine Schranke auf. Um mich herum wurde mit stumpfsinniger Ausdauer Skat gespielt (natürlich um Geld, obwohl das bei Strafe verboten war) und stundenlang das unerschöpfliche »Thema Nr. 1« erörtert (wahre und phantasiereich ausgeschmückte sexuelle Erlebnisse).

Die Atmosphäre war geisttötend. Von Zeit zu Zeit tauchte in der ständig wechselnden Belegschaft ein Biologielehrer oder Geistlicher auf, was die ersehnte Gelegenheit zu ernsthafteren Gesprächen gab. Im übrigen nutzte ich die Zeit nach Möglichkeit zum Lesen. Ich erinnere mich, daß ich in diesen Wochen Arthur Eddingtons »Weltbild der Physik« (mit dem verheißungsvollen Untertitel »Ein Versuch seiner philosophischen Deutung«) durchackerte, ein Buch, das einen unauslöschlichen Eindruck auf mich machte.

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Die politischen Probleme aber, die mich zunehmend beschäftigten, konnte ich in dieser Umgebung, in der man niemanden lange genug kennenlernte, nicht zur Sprache bringen. Man riskierte den Kopf, wenn man an den Falschen geriet. Zweifel am »Endsieg« fielen unter die Rubrik »Wehrkraftzersetzung«. Diese aber galt als Ausdruck niedriger, verräterischer Gesinnung, die um so erbarmungsloser »gesühnt« wurde, wenn sie sich in der Heimat regte, »hinter dem Rücken der kämpfenden Front«. Man werde auf keinen Fall, so hämmerte es uns die nationalsozialistische Obrigkeit unablässig und absolut glaubhaft ein, den Fehler des Wilhelminischen Reiches wiederholen, das den Sieg verschenkt habe, weil es zu schwach gewesen sei, mit der erforderlichen Härte durchzugreifen. Verständlicherweise war ich nicht im mindesten darauf erpicht, dieser Obrigkeit die Gelegenheit zu bieten, dem Publikum zum Zwecke der Warnung auch meinen Namen auf einem der bewußten roten Zettel zu präsentieren.

Zu gewinnen war der Krieg also nicht mehr. Es gab die ersten, denen das zu dämmern begann. Wie lange er noch dauern mochte, war nicht abzusehen. Was bis dahin noch alles zu erwarten war, stand in den Sternen. Es fiel schwer, sich die näheren Umstände seines Endes vorzustellen. Die Aussicht war unersprießlich, daß man jahrelang darauf zu warten haben würde, in der Gewißheit, daß die Zeiten nur schlechter werden konnten, bis die abschließende Katastrophe über einen hereinbrach. Das galt natürlich vor allem für jene Altersgenossen, die diese Wartezeit unter ständiger Lebensgefahr zu absolvieren hatten, jene, von denen nach wie vor verlangt wurde, daß sie bereit seien, ihr Leben für einen »Endsieg« zu riskieren, an den zu glauben jemandem, der seine fünf Sinne beieinander hatte, von Monat zu Monat schwerer fallen mußte.

Aus diesem Grunde schrumpfte die Zahl derer, die in Deutschland ihre fünf Sinne beieinander hatten, in diesen Jahren so sehr, wie man es heute kaum noch für möglich hält. In jedem Lehrbuch der medizinischen Psychologie kann man nachlesen, daß der Mensch in ausweglosen Situationen die Fähigkeit an den Tag legt, die Realität zu verdrängen und sich in Wunsch weiten zu flüchten. Die Gültigkeit dieser psychologischen Grundregel erwies sich damals an einem ganzen Volk. Es ist nachträglich schier unfaßbar, mit welcher Ernsthaftigkeit sich die Menschen — intelligente und gebildete »Volksgenossen« keineswegs ausgenommen — damals über die Wolkenkuckucksheime unterhielten, in denen sie sich häuslich eingerichtet hatten.

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Ich erinnere mich eines Hauptmanns, der in Hamburg während eines Heimaturlaubs von den schweren englischen Bombenangriffen Anfang August 1943 überrascht worden war. Der Zufall fügte es, daß wir in trauter Zweisamkeit, in für die großdeutsche Wehrmacht absolut unüblicher Nichtbeachtung des zwischen uns klaffenden Rangunterschieds — ich war damals noch Sanitätsgefreiter — eine Nacht hindurch damit beschäftigt waren, den erstaunlich üppig assortierten Weinkeller einer lichterloh brennenden Villa zu bergen, deren Besitzer aufs Land geflohen waren.

Als wir uns nach getaner Arbeit den »Finderlohn« in Gestalt einer oder auch zweier mit Sorgfalt ausgewählter Flaschen gleich an Ort und Stelle zuführten, vertraute mir mein Trinkkumpan mit bereits schwerer Zunge leutselig ein Geheimnis an. Während um uns herum Hamburg brannte und der Boden unter uns von gelegentlichen Nachzüglerexplosionen erschüttert wurde, erfuhr ich unter dem Siegel strengster Verschwiegenheit, daß der Führer mit den Japanern ein Abkommen getroffen habe, das diese verpflichte, in den nächsten beiden Wochen London Tag und Nacht zu bombardieren. (Notabene: Selbst in diesen hirnrissigen Wahneinfall hatte sich insofern noch ein winziges Quentchen Einsicht in die wahre Lage hineingemogelt, als nicht einmal er die Vergeltung noch der eigenen Kraft zutraute!)

Beklemmender und folgenschwerer als solche fast schon komischen akuten Fälle wahnhafter Wunsch­erfüllung war aber eine in fast allen Köpfen um sich greifende alltägliche Tendenz zur Verleugnung der Realität. Die Propaganda hegte sie mit Sorgfalt. Sie kam ihr zupaß, weil sie Menschen, die sonst verzweifelt hätten, aushalten und ein beispielloses Stehvermögen entfalten ließ (mit dem sie ihr Unglück nur vergrößerten). Alle, auch die äußersten Opfer, so hämmerte sie es den in ihrer Angst pathologisch glaubensbereiten Volksgenossen unaufhörlich ein, seien berechtigt und notwendig, denn eben die rückhaltlose Bereitschaft, sie zu bringen, werde den »Endsieg« aller »vorübergehenden Rückschläge« ungeachtet unfehlbar herbeizwingen.

Viele pflegten damals ganz ernsthaft die Marotte, in Zeitungen und Rundfunkkommentaren nach »zwischen den Zeilen« versteckten hoffnungs­trächtigen Andeutungen und Botschaften zu fahnden. Die zentrale Steuerung der Presse durch Goebbels' Ministerium für Volksaufklärung und Propaganda trug dafür Sorge, daß ihre Suche nicht vergeblich blieb. Es erschienen Artikel, die in dunklen Andeutungen von einer entscheidenden Wende raunten, die unmittelbar bevorstehe.

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Fabeln wurden abgedruckt, deren Inhalt sich als Hinweise auf ermutigende Entwicklungen interpretieren ließ. Die Dunkelheit aller dieser Andeutungen leuchtete jedermann ein: Gerade weil es um »kriegsentscheidende« Sachverhalte ging, war strikte Geheimhaltung selbstverständlich. Aber im Laufe der Zeit ließ sich, wie es bei der Anwendung psychisch wirksamer Drogen immer der Fall ist, eine allmähliche Steigerung der verabfolgten Dosen nicht vermeiden. Jetzt war im Klartext von »Wunderwaffen« die Rede, deren furchtbare Wirkung den Krieg beenden werde. »V-Waffen« wurden sie auch genannt, Waffen der Vergeltung für das, was der Feind mit seinen Bombergeschwadern in den deutschen Städten anrichtete.

Eines Tages äußerte sich gar Goebbels höchstselbst zu dem Thema. Selbstredend war auch aus seinem Munde nichts Konkretes zu erfahren. In der eigens für Intellektuelle eingeführten Wochenzeitung »Das Reich« ließ er immerhin aber wissen, daß ihm »das Herz stehengeblieben sei«, als man ihm kürzlich einige der geheimnisumwitterten »V-Waffen« gezeigt habe. »Leider nur vorübergehend«, kommentierte mein Studienkumpel die Meldung trocken. Millionen von Lesern aber genügten derartige »offiziöse Mitteilungen«, um sie an ihrem Durchhaltewahn unbeirrt festhalten zu lassen, all dem zum Trotz, was um sie herum geschah.

»Wir werde'n siegen, weil wir siegen müssen!« Dieser damals mit gebetsmühlenhafter Hartnäckigkeit wiederholte, auf Hauswänden und Spruchbändern prangende Slogan charakterisiert die Atmosphäre ebenso treffend wie verräterisch. Er suggerierte die Möglichkeit, die Realität durch Entschlossenheit wenden zu können. Er enthielt den leisen Wink auf die Greuel, die sich auf den Hals ziehen werde, wer es an dieser Entschlossenheit fehlen lassen sollte. Zugleich jedoch verriet die Palmströmsche Qualität seiner Logik jedem, der sich noch einen Rest klaren Denkvermögens bewahrt hatte, überdeutlich, wie es um das Vaterland in Wirklichkeit bereits stand.

Aber auch die Obrigkeit selbst wurde unvermeidlich zur Gefangenen der eigenen Propaganda. Die von ihr konsequent vertretene These von der Unzulässigkeit, ja der verbrecherischen Qualität des geringsten Zweifels an der Gewißheit des »Endsiegs« trieb am Rande des Geschehens absonderliche Blüten. Sie eröffnete gelegentlich auch mit List nutzbar zu machende Schlupflöcher. Es war ja nicht nur so, daß auf dem riesigen Filmgelände in Babelsberg-Ufastadt Techniker, Komparsen und Bühnenbildner in Regimentsstärke vom Einsatz an der Front verschont blieben.

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Daß Goebbels sich ihrer bediente, um den Deutschen mit läppischen Komödien und aufwendigen historischen Schinken (»Rembrandt«) Normalität vorzugaukeln in einer Zeit, in der ihre Welt in Wirklichkeit schon zum Untergang verdammt war, hatte ja noch einen (perfiden) Sinn. Aber in Berlin waren, wie man nachträglich erfuhr, in dieser Zeit unter der Aufsicht des Führers und seines obersten Architekten Speer auch ganze Stäbe von Zeichnern und anderen Hilfskräften damit befaßt, die einem siegreichen Nachkriegsdeutschland angemessenen Monumentalbauten und Stadtzentren zu konzipieren.

Einige meiner Kameraden entgingen damals einer erneuten Versetzung an die Ostfront, indem sie sich zu einer Spezialausbildung für Tropenmedizin meldeten. Diese Kurse wurden vorübergehend mit der offiziellen Begründung angeboten, daß Großdeutschland nach dem Kriege für die dann wiedergewonnenen Kolonien in Übersee eine hinreichende Zahl ausgebildeter Tropenmediziner benötigen werde. Wer bei derartigen Verlautbarungen seine Mundwinkel nicht im Zaum zu halten verstand, hatte sich schon als »Defätist« entlarvt. Aber die Fertigkeit, mit unseren wahren Gefühlen hinter dem Berge zu halten, beherrschten wir Zeitgenossen des »späten Dritten Reichs« längst in Perfektion.

Ich kann mir nicht helfen: Diese und vergleichbare Absurditäten werden heute von den meisten Zeitzeugen lediglich als Beispiele für die wahnhafte Realitätsferne der damaligen Gesellschaft angeführt. Daran, daß es diese gegeben hat, besteht gewiß nicht der geringste Zweifel. Aber ich werde den Verdacht nicht los, daß so mancher sich damals dieser wahnhaften Verbohrtheit seiner Umwelt in schwejkscher Manier durchaus realitätsbewußt bediente, um die eigenen Überlebenschancen und manchmal auch die seiner Untergebenen zu verbessern.

Zusammen mit insgesamt wohl einigen tausend deutschen Medizinstudenten hat mich diese Variante des großdeutschen Wahns als eine Art Kriegsgewinnler die Katastrophe unbeschadet überstehen lassen. Anfang 1943 — die 6. Armee hatte bei Stalingrad gerade kapituliert — wurden wir in »Studentenkompanien« zusammengefaßt und zur Fortsetzung unseres Studiums zurück auf die Universitäten geschickt. Wir galten weiterhin als »Wehrmachtsangehörige«, mußten Uniform tragen, uns einmal in der Woche auf einer Kompaniegeschäftsstelle melden, auch ein- oder zweimal pro Woche auf irgendeinem Fußballplatz exerzieren, konnten (mußten!) sonst aber die vorgeschriebenen Vorlesungen und Kurse besuchen.

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Wir waren gehalten, uns selbst ein Zimmer zu besorgen, und wir lebten auch sonst »wie richtige Studenten«. Großdeutschland würde nach dem Kriege für die riesigen neugewonnenen Siedlungsgebiete im Osten jede Menge an Ärzten brauchen.

Ich wurde, um meinen Teil zu der Deckung des vorhersehbaren gewaltigen Nachkriegsbedarfs beitragen zu können, zur Studentenkompanie Hamburg versetzt. Da ich viel lieber in Berlin geblieben wäre, mit Potsdam in S-Bahn-Entfernung, wehrte ich mich mit Händen und Füßen. Aber alle Bemühungen und kunstvoll eingefädelten Intrigen blieben vergeblich. Zu meinem Glück, wie sich später herausstellte, denn die Berliner Studentenkompanien wurden in den letzten Kriegswochen schließlich doch noch eingesetzt und weitgehend aufgerieben.

Während dies geschah und auch der »Führer« in seinem Berliner Bunker endlich, sehr verspätet und begleitet von einem nicht unbeträchtlichen Teil der Berliner Einwohnerschaft, das Zeitliche segnete, beschäftigten wir uns in Hamburg unbeirrt mit der Histopathologie der Nierenerkrankungen und anderen medizinischen Kopfnüssen. Und während die für die »Festung Berlin« zuständige militärische Instanz es für angebracht hielt, Rentner und fünfzehnjährige Hitlerjungen an der Panzerfaust auszubilden, übten wir auf einem neben der Universitätsklinik Hamburg-Eppendorf gelegenen Sportplatz zweimal wöchentlich die »Ehrenbezeugung ohne Kopfbedeckung durch Vorbeigehen in gerader Haltung«.

Daß wir uns dabei höchst albern vorkamen, versteht sich. Daß es andererseits unseren Chancen, »übrig­zubleiben«,* zuträglicher war, wenn wir in der vom Exerzierreglement vorgeschriebenen Manier hölzerner Kasperlepuppen über den Fußballplatz stelzten, anstatt in Berlin das Leben des »Führers« um einige Tage verlängern zu helfen, war ebenso offensichtlich. Wir hatten schon mehr — und weitaus Schlimmeres als bloße Lächerlichkeit — auf uns genommen, um davonzukommen. Einige von uns, denen das jetzt doch zuviel wurde, meldeten sich freiwillig an die Front. (Es gab auch im April 1945 noch unrettbare »Idealisten«.) Sie wurden schroff zurechtgewiesen. Sie hätten, so hieß es, »das Ethos des Befehls« auch in diesem ihnen unverständlichen Fall widerspruchslos zu respektieren. Das erschien nun mir als zuviel des Absurden.

»Bleib übrig«, lautete ein sich in der Endphase des Krieges einbürgernder Abschiedsgruß.

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Ich habe bis heute den Verdacht, daß es damals in dem für uns zuständigen »Generalkommando IV« in Berlin jemanden gegeben hat, der inmitten des kompletten Wahnsinns dieser letzten Phase einen klaren Kopf behielt. Was ihn die im Rahmen der offiziellen Sprachregelung unwiderlegbare Wolkenkuckucksthese von der gewaltigen Ärztereserve, die zur Versorgung des im Osten neugewonnenen »Lebensraums« unverzichtbar sein würde, als Vorwand benutzen ließ, um ein paar hundert junge Männer in Hamburg davor zu bewahren, sinnlos »verheizt« zu werden.

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    215 - Der »Zusammenbruch«  

 

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Schließlich, Anfang Mai 1945, war es dann soweit. Das Ende des großdeutschen Imperiums, das sich eine tausendjährige Dauer zugemessen und auf dem Höhepunkt seiner Macht fast ganz Europa unterworfen hatte, war gekommen. Die Ahnung von der Unabwendbarkeit seines Untergangs hatte so nach und nach dann doch fast allen Köpfen gedämmert. In den wenigsten Fällen freilich als klare Einsicht. Bei den meisten »Volksgenossen« vielmehr in Gestalt einer diffusen, sich im Laufe der Zeit steigernden Angst, über deren wahren Grund man lieber nicht nachdachte.

Nach Möglichkeit ließ niemand sich diese Angst anmerken. Ich bin sicher, daß die meisten Menschen sie nach Kräften und mit einigem Erfolg sogar vor sich selbst zu verleugnen bemüht waren. Denn auch hier erschien ihnen das in langen Jahren ohnehin aus vielerlei Gründen eingeübte »Wegsehen« als bewährter Schutz­mechanismus. 

Hinzu aber kam noch ein weiteres: Diese besondere Angst war, als Ausdruck und Folge mangelnden Glaubens an den »Endsieg«, nicht nur (in den Augen eines wahren Patrioten) eine unverzeihliche Schwäche, sondern (in den Augen der Obrigkeit) zudem ein todeswürdiges Verbrechen.

Man bedenke: 

Über diese das Denken aller Deutschen in der Schlußphase des Krieges beherrschende Angst durfte folglich kein Sterbenswort verloren werden. Ihr stand nicht einmal das mitmenschliche Gespräch als das natürlichste aller angstmindernden Ventile offen. Vom engsten und vertrautesten Familien- oder Freundeskreis einmal abgesehen. Aber selbst dort kam es — und das allerdings sprach sich dann im Flüsterton herum — in gar nicht so seltenen Fällen zu schrecklichen Überraschungen mit grauenhaften Konsequenzen.

Denn wenn zwischenmenschliche Solidarität erst einmal über Jahre hinweg dem Zersetzungsprozeß relativierender Einschränkungen ausgesetzt wird — wie wir es seit der nationalsozialistischen »Machtergreifung« immer von neuem allzu willfährig hatten geschehen lassen (erst den Kommunisten und Juden, dann den KZlern und Polen gegenüber) —, dann gibt es schließlich kein Halten mehr. Dann darf sich niemand wundern, wenn Treu und Glauben früher oder später auch in allen anderen Bereichen nicht mehr als absolut gültige, sondern nur noch als relative Werte gelten. Dann ist es nur eine Frage der Zeit, bis ihre Verleugnung sich unter bestimmten Voraussetzungen gar als »patriotisches Opfer« und damit als vaterländische Pflicht hinstellen läßt.

Äußerlich also war den Deutschen von ihrer Angst auch in der letzten Kriegsphase nichts anzumerken. Im Gegenteil, die Menschen waren womöglich noch disziplinierter und fügsamer als zuvor. Nazistische und nationalchauvinistische Zwangsvorstellungen, längst zu einem untrennbaren Amalgam verschmolzen, forderten ihre letzten Opfer. Daß Heldenmut und soldatische Opferbereitschaft, in diesem Kriege ohnehin von allem Anfang an irregeleitet und zynisch ausgenutzt, jetzt nur noch dem durchaus unheroischen Zweck dienten, das überfällige Ende einer Herrschaft von Verbrechern um Wochen oder Tage hinauszuschieben (und die Qualen der Verfolgten und Unterdrückten um das gleiche unnötige Maß zu verlängern), begriff fast niemand. Der Verstand verkroch sich bis zum allerletzten Augenblick in der Trompete.

Da konnte es nicht ausbleiben, daß einige ihre Zuflucht, wie um ihre Köpfe zu benebeln, in dem Genuß einer Überdosis der von »vaterländischen« Phrasen und Ewigkeitsmythen triefenden offiziellen Durchhalte­propaganda suchten. So tauchte im Frühjahr 1944 bei meinen Eltern überraschend ein Offizier auf, der die Absicht bekundete, eine meiner Schwestern zu heiraten, die er kurz zuvor bei einer Familienfeier kennengelernt hatte. Da die Zutaten stimmten — alte Offiziersfamilie, vorzügliche Manieren —, fand mein Vater, obwohl aus allen Wolken fallend, kein rechtes Gegenargument.

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Dies um so weniger, als die erst achtzehnjährige prospektive Braut von der Aussicht schier überwältigt war, als Ehefrau eines fast doppelt so alten Mannes aus der Rolle des Schulmädchens im Handumdrehen in die von ihren Altersgenossinnen neidvoll respektierte Position einer »Dame der Gesellschaft« schlüpfen zu können. Welche Rolle der so plötzlich aufgetauchte Bewerber ihr in Wirklichkeit zugedacht hatte, dürfte ihr, wenn überhaupt, erst viele Jahre später aufgegangen sein.

Von da an ging alles sehr schnell. Der neue Schwager hatte als Universitätsdozent für Geschichte eigentlich einen recht vernünftigen Zivilberuf, den er, wie die Dinge standen, schon Monate später unbehelligt hätte wiederaufnehmen können. Aber danach stand ihm nicht der Sinn. Er heiratete und meldete sich — bis dahin als Reservist unangefochten in rückwärtigen Stabsfunktionen — anschließend sogleich an die Front. (Nicht ohne seine Frau zuvor rasch noch als Rüstungsarbeiterin in einer Fabrik in Nowawes untergebracht zu haben.) Wenige Monate später war er tot, »gefallen für Führer, Volk und Vaterland«, und meine Schwester war »Kriegerwitwe«. Aber Helden brauchen auf die Menschen ihrer Umgebung bekanntlich keine Rücksicht zu nehmen, weil, so Erich Kästner, »im Bereich der Helden und der Sagen die Überlebenden nicht wichtig sind«.*

In einem entscheidenden Punkt jedoch war das heroische Crash-Programm des toten Schwagers nicht aufgegangen: Meine Schwester hatte es versäumt, in der kurzen Zeit ihrer Ehe pflichtgemäß schwanger zu werden und dadurch dem »Bluterbe« ihres Mannes in einem Kind zum Weiterleben zu verhelfen. Daß dieser Gesichtspunkt bei dem ganzen Trauerspiel eine zentrale Rolle gespielt haben mußte, schloß ich aus der Tatsache, daß meine Schwester wegen der »Kinderlosigkeit« ihrer nur wenige Monate währenden Ehe vorübergehend — und sicher nicht aus eigenem Antrieb — schwere und gänzlich unsinnige Schuldgefühle entwickelte.

*  Das Kästner-Gedicht »Loreley« (das von dem tödlichen Absturz eines Meisterturners handelt, der die »Heldentat« eines Handstands auf dem Rheinfelsen vollbrachte) endet mit den Zeilen: »Eins wäre hier noch nachzutragen / der Turner hinterließ uns Weib und Kind. / Hinwiederum, man soll sie nicht beklagen / weil im Bereich der Helden und der Sagen / die Überlebenden nicht wichtig sind.«  

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Andere verfielen der verhängnisvollen Versuchung, sich durch exzessive »Härte« — sich selbst und anderen gegenüber — aus der seelischen Zwickmühle zu befreien. Die grauenhafte Zahl standrechtlicher Erschießungen in den letzten Kriegsmonaten (in einigen Fällen sogar noch nach dem offiziellen Kriegsende und keineswegs nur bei der Marine und nicht nur in Norwegen, wie das viele Jahre später ruchbar gewordene Filbinger-Urteil manchen glauben zu lassen scheint) belegt die Tendenz.

Aber auch wenn man von derartigen, heute kaum noch einfühlbaren Exzessen einmal ganz absieht: Alle gaben wir uns damals wohlweislich diszipliniert und gefügig. Bis zum letzten Tag nämlich war die Angst vor der eigenen Obrigkeit aus guten Gründen immer noch größer als der Horror vor dem »Ende«, vor der Rache der überfallenen Völker. Wenn jemals ein ganzes Land zum Irrenhaus wurde, dann das »Großdeutsche Reich« in der über quälende Jahre sich hinziehenden Phase seines Untergangs. Bis wenige Wochen vor dem Ende faselten Rundfunk und Zeitungen, phantasierte eine Obrigkeit, die es selbst längst besser wußte, und predigten in deren Auftrag zur Festigung des Durchhaltewillens eigens ernannte »national-sozialistische Führungsoffiziere« vom unmittelbar bevorstehenden »Endsieg«. Es überraschte mich schon damals, wie viele meiner Studienkollegen diese windigen Phantastereien begierig als bare Münze zu nehmen schienen.

Aber auch wir anderen, denen es widerstrebte, diesen Realitätsflüchtlingen auf ihren scheinbar bequemen Traumpfaden zu folgen, wechselten allenfalls ein paar flüchtige Blicke und hüteten uns, auch nur einen Mucks von uns zu geben. Die Gespräche, die damals bei »offiziellen Anlässen« in kultivierter, wohlgesetzter Rede über die »ungeachtet aller vorübergehenden Rückschläge« grandiose Zukunft des Dritten Reiches zwischen Menschen geführt wurden, die in Wirklichkeit ganz genau wußten, was die Stunde geschlagen hatte, waren von erlesener surrealistischer Qualität. 

Komisch aber kann ich diese wahrhaft grotesken Situationen auch nachträglich nicht finden. Denn an den psychischen Verrenkungen und Deformationen, den Verdrängungen und Lebenslügen, mit deren Hilfe die Menschen es damals fertiggebracht haben, an der braunen Herrschaft mit ungetrübtem Gewissen zu partizipieren (oder auch: diese Herrschaft als passive Mitläufer zu überstehen), krankt unsere Gesellschaft bis auf den heutigen Tag.

Als der »Zusammenbruch« endlich eintrat, ereignete er sich, jedenfalls in Hamburg, ganz unerwarteterweise höchst undramatisch. In den letzten Kriegstagen kam es vor, daß ein schaulustiges Publikum mit der S-Bahn nach Blankenese aufbrach, um dort bei strahlendem Frühlingswetter ein Spektakel besonderer Art zu genießen. Mit leichtem Gruseln, aber eben auch aus sicherer Distanz, sahen sie zu, wie englischer Panzer vom anderen Elbufer aus auf alles schossen, was sich — ob Lastkahn oder Fischkutter — auf dem Wasser bewegte. »Krieg live« sozusagen.

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Ich selbst übrigens mußte auf jegliche Ausflüge verzichten, ebenso wie alle anderen Angehörigen unserer Studentenkompanie, soweit sie sich noch in Hamburg aufhielten. Für uns wäre es lebensgefährlich gewesen, auf der Straße gesehen zu werden. Nicht wegen der Engländer, die vorerst am Stadtrand halt gemacht hatten, sondern wegen der »eigenen Leute«. Denn in den letzten Tagen war unser Aufenthalt in der Stadt für die Militärjustiz gleichbedeutend mit Fahnenflucht. Wir hatten den Befehl bekommen, Hamburg sofort zu verlassen und uns nach Schleswig-Holstein zur »Gruppe Dönitz« durchzuschlagen, der wir uns »für den Endkampf« zur Verfügung stellen sollten.

Da wir diesem Gedanken keinen rechten Sinn abgewannen und da wir außerdem wußten, daß es nur noch Tage dauern konnte, bis die Engländer ihren Ring um Hamburg lückenlos geschlossen haben würden, ignorierten wir den Befehl, verzogen uns in unsere »Buden« und warteten ab. Einige von uns haben sich damals, brav bis zum letzten Moment, tatsächlich zu Dönitz durchgeschlagen, was sie den Engländern nur um so rascher als Gefangene in die Arme trieb. Wir anderen aber mußten noch ein paar Tage Vorsicht walten lassen. Auf den Straßen Hamburgs patrouillierten nach wie vor die Wehrmachtstreifen, und mit den Kameraden war nicht gut Kirschen essen.

Dann ging es sehr schnell. Der ganze Spuk zerstob in einer einzigen Nacht. Am Vorabend des englischen Einmarsches verlas der Gauleiter von Hamburg eine aufsehenerregende Erklärung im Radio. In einem anerkennenswerten, wenn auch reichlich verspäteten Anflug von Vernunft erklärte er Hamburg im Widerspruch (!) zu den ihm erteilten Befehlen zur »offenen Stadt«. Die Vielzahl der Lazarette im Stadtgebiet und die vielen Frauen und Kinder unter den Bewohnern machten es ihm unmöglich, so etwa sagte er (als ob hier eine Begründung notwendig gewesen wäre), Hamburg zur »Festung« zu erklären und den Befehl zur militärischen Verteidigung der Stadt zu geben. 

Es folgte der denkwürdige Satz: »Wem seine soldatische Ehre gebietet weiterzukämpfen, der hat dazu hinreichend Gelegenheit außerhalb der Stadt.« Es ist heute kaum noch möglich, glaubhaft zu machen, daß das todernst gemeint war. Und ebenso­wenig, daß es tatsächlich Fanatiker gab, die sich daraufhin in die Heide verzogen, um dort auf vorbeikommende englische Kolonnen zu schießen, was sie zu den letzten Kriegstoten im Hamburger Raum werden ließ.

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Als wir am nächsten Morgen vorsichtig durch die Gardinen äugten, fuhren draußen englische Panzer vorbei. Das war's dann schon. Es fiel kein einziger Schuß. Und von dem gleichen Augenblick an gab es in ganz Hamburg keinen einzigen Nazi mehr. Die Engländer benahmen sich uns Besiegten gegenüber herausfordernd arrogant. Sie ließen Häuser, die ihnen für ihre Zwecke geeignet erschienen, in Stundenfrist räumen. Über gravierendere Kriegsgreuel aber verlautete nichts. Keine Plünderungen, keine Gewalttätigkeiten. Im Stadtgebiet verzichteten die Sieger überdies darauf, die hier hängengebliebenen deutschen Soldaten gefangenzunehmen.

Wir durften sogar weiter in unseren Uniformen mit allen Rangabzeichen herumlaufen (viele von uns besaßen gar keine Zivilkleidung) und mußten lediglich die Hakenkreuzembleme von den Kopfbedeckungen und Feldblusen abtrennen. Alle Wehrmachtdienststellen arbeiteten, jedenfalls im Hamburger Stadtgebiet, noch über Monate hinweg weiter. Vor dem Wehrbezirkskommando in der General-Knochenhauer-Straße (heute: Sophieenterrasse), in dem inzwischen das Kreiswehrersatzamt der Bundeswehr residiert, standen bis mindestens Ende August 1945 deutsche Soldaten mit Stahlhelm und Karabiner Posten. Wir konnten uns diese »Großzügigkeit« damals nicht recht erklären. Heute glaube ich, daß die kolonialerfahrenen Briten ganz einfach die organisatorisch wie finanziell wirksamste Methode angewendet haben, die darin besteht, die eroberten Eingeborenen sich so weit wie möglich selbst verwalten zu lassen.

Gemessen an dem, womit zu rechnen gewesen war, kamen wir also unverdient glimpflich davon. Kein Vergleich mit dem Grauen, das den Einmarsch der siegreichen Roten Armee in den ersten Wochen begleitete, dessen entsetzliche Realität von Lew Kopelew, dem Grafen Lehndorff und anderen unverdächtigen Augenzeugen so erschütternd beschrieben worden ist. Aber in England hatten wir auch nicht vier endlose Jahre lang in der Weise gewütet, wie wir es in Rußland getan hatten (und in Polen: Dort waren es sogar fast sechs Jahre gewesen).

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Man sieht sich im Bannkreis dieses Themas heute oft gezwungen, auf Offenkundiges hinzuweisen: Die zwischen Deutschen und Russen vorgefallenen Greueltaten haben ja nicht, wie mancher im Rückblick zu unterstellen scheint, erst 1945 begonnen. Den abgrundtiefen Haß, der sich bei Kriegsende im deutschen Osten auf fürchterliche Weise Luft machte, hatten wir in den vorangegangenen Jahren selbst auf das äußerste geschürt: Wir hatten geglaubt, als »überlegene Rasse« die Völker jenseits unserer östlichen Grenzen als »Untermenschen«, als Sklavenreservoir und wie Ungeziefer behandeln zu dürfen.

So entsetzlich die Menschen im Einmarschgebiet der Roten Armee auch gelitten haben, wir alle, die wir damals besiegt worden sind, können von Glück sagen, daß keine der einmarschierenden Armeen, die russische eingeschlossen, die ungehemmte Vernichtungsbereitschaft an den Tag gelegt hat, die wir selbst während der langen Jahre auslebten, in denen wir im Osten als Besatzer ohne die geringsten Skrupel die Rolle von Herren über Leben und Tod spielten.

Zur Erinnerung ein Zitat aus dem Diensttagebuch des deutschen Generalgouverneurs in Polen, Hans Frank: 

»Der Führer hat mir gesagt: Die Frage der Behandlung und Sicherstellung der deutschen Politik im General­gouvernement ist eine ureigene Sache der verantwortlichen Männer des Generalgouvernements. Er drückte sich so aus: Was wir jetzt als Führerschicht in Polen festgestellt haben, das ist zu liquidieren, was wieder nachwächst, ist von uns sicherzustellen und in einem entsprechenden Zeitraum wieder wegzuschaffen. (...) Wir brauchen diese Elemente nicht erst in Konzentrationslager des Reiches abzuschleppen, denn dann hätten wir nur Scherereien und einen unnötigen Briefwechsel mit den Familien­angehörigen, sondern wir liquidieren die Dinge im Lande.«*

Gleichfalls zur Erinnerung: Von den zwanzig Millionen sowjetischen Menschen, die im letzten Kriege umkamen, sind die meisten nicht im Kampf getötet worden. Ein einziges Beispiel sei hier genannt für die Motive, aus denen die damalige deutsche Obrigkeit, einschließlich des Oberkommandos der Wehrmacht, den Krieg in Rußland führte. Im Sommer 1942 wurde an die Soldaten der in die Ukraine vorrückenden Armee (also reguläre Wehrmacht, nicht Waffen-SS oder »Einsatzgruppen«) eine »Sonderschrift des Oberkommandos der Wehrmacht, Abt. Inland« ausgegeben mit dem Titel »Bereitschaft«.

* Das Diensttagebuch des deutschen Generalgouverneurs in Polen 1939-1945, Veröffentlichungen des Instituts für Zeitgeschichte, Quellen, Bd. 20, Stuttgart 1975, Eintragung vom 6. Februar 1940, S. 104.

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Neben Abbildungen von Skulpturen des wegen seines »heroischen Stils« damals offiziell protegierten Bildhauers Arno Breker enthielt die Schrift unter anderem ein Gedicht, das den »toten Feind« ansprach:

»Dein Tod gibt Land für Deutschlands Söhne
und Raum für deutscher Bauern Treck,
aufblüht unser Volk zu herrlicher Schöne,
unsrer Jugend Trommeln dumpfes Gedröhne,
geht über die sterbenden Völker hinweg.«*

Man muß das heute wieder deutlich in Erinnerung rufen. Nicht, um »das eigene Nest zu beschmutzen«, aber immer dann, wenn von den Greueltaten die Rede ist, zu denen es bei Kriegsende im Osten kam. Wer über sie urteilt und die aus dem hier auszugsweise zitierten Gedicht sprechende Gesinnung verdrängt, verliert den Kontakt mit der Realität und verfällt einer verlogenen Weltsicht.

Nicht allen freilich  — das wäre noch zu ergänzen — ist der Einmarsch den englischen Sieger seinerzeit so undramatisch erschienen wie mir und meinen Studien­kollegen. Erst Jahrzehnte nach dem Kriegsende erfuhr ich durch die Lektüre der »Bertinis«, daß der Lärm der Panzermotoren nur wenige hundert Meter Luftlinie von mir entfernt eine Szene auslöste, die mich heute noch erschüttert, wenn ich sie mir vor Augen führe.**

Das akustische Signal vom definitiven Ende der Naziherrschaft ließ den mir heute freundschaftlich verbundenen Autorenkollegen Ralph Giordano damals mit Eltern und zwei Brüdern aus dem fensterlosen, unter Wasser stehenden Kellerloch eines Trümmergrundstücks ans Tageslicht kriechen. Nach jahrelanger Drangsal und Todesangst hatte sich die Familie mehrere Wochen zuvor unter seiner Anführung dort versteckt, um dem Abtransport der Mutter in ein »Lager« zuvorzukommen. Als die Engländer endlich einrückten, war die Familie fast verhungert. Nur noch auf dem Bauche kriechend, konnte sie ihren Befreiern zuwinken.

Da hatten wir es entschieden leichter, die wir die Ereignisse auf der anderen Seite miterlebten, an der Seite jener nämlich, die für die Leiden der Verfolgten und Untergetauchten die Verantwortung trugen.

 *  Zitiert nach: »Die Zeit« vom 12. August 1988, S. 13.

**  Ralph Giordano, Die Bertinis, Frankfurt am Main 1982. (Der zum Teil an autobiographische Daten anknüpfende Roman schildert das Schicksal einer wegen eines jüdischen Elternteils verfolgten Hamburger Familie.)

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Im Leben geht es wahrhaftig nicht gerecht zu. Als Befreiung, regelrecht als psychische Erlösung, empfanden aber auch wir das Ende des Krieges und der nächt­lichen Bombenangriffe, vor allem aber die Beseitigung des Alptraums der Naziherrschaft.

Ein wenig ratlos mußten wir — ich und der Kreis meiner engeren Studienfreunde — allerdings die Erfahrung machen, daß unsere Erleichterung keineswegs von allen Menschen in unserer Umgebung mit gleich uneingeschränkter Euphorie geteilt wurde. Die Zahl derer, welche die »Niederlage« in erster Linie als »nationale Schmach« empfanden, erwies sich als überraschend groß. In diesen Kreisen, die sich bald recht lautstark rührten, schimpfte man auf die Engländer und nicht etwa auf die Nazis. 

Noch so taktvoll formulierte Hinweise auf einen inneren Zusammenhang zwischen der Naziherrschaft und dem Einmarsch der alliierten Truppen, die ja nicht aus purem Übermut bei uns aufgetaucht seien, lösten pikierte Widerreden aus. Sehr rasch sah sich, wer so argumentierte, dem Vorwurf »typisch deutscher Anbiederung« ausgesetzt, dem schmählichen Verdacht eines Mangels an nationalem Stolz und einer beklagens­wert geringen Bereitschaft, sich »zur deutschen Sache zu bekennen, gerade in Zeiten schwerer Not«.

Immer wieder fühlte ich mich bei diesen Gelegenheiten zurückversetzt in das elterliche Wohnzimmer meiner Kinderzeit, in der Anfang der zwanziger Jahre enttäuschte Patrioten mit so endloser Ausdauer über die »Schmach des Versailler Diktats« gejammert hatten. Auch nach dem »Zusammenbruch von 1945« überwog im Bewußtsein der sich gern »vaterländisch« nennenden Kreise ein Gefühl der Schande. Nicht deshalb, weil man sich mit den Nazis eingelassen und mit ihnen gemeinsame Sache gemacht hatte, Gott bewahre!

Die Sicht auf diese reale Quelle der nationalen Katastrophe wurde in der Welt eines wahren Konservativen von einem an der richtigen Stelle seines Gesichts­felds angebrachten »blinden Fleck« zuverlässig abgedeckt. Schuld am deutschen Unglück war abermals die »Welt voller Feinde«. Die quasi den Regeln sportlicher Fairneß Hohn sprechende zahlenmäßige und materielle Überlegenheit unserer Gegner (»die Amerikaner hätten sich aus der ganzen Sache im Grunde heraushalten müssen«). 

Die Frage, wie es eigentlich zugegangen war, daß wir uns wieder einmal die ganze Welt als »unsere Feinde« auf den Hals gezogen hatten, tauchte im Bewußtsein der beleidigten Patrioten auch diesmal gar nicht erst auf.

Bei einigen von ihnen — häufig bei aus den lichten Höhen ihres anbetungswürdigen Heldendaseins urplötzlich abgestürzten Offizieren —, die sich ganz persönlich beleidigt fühlten, gebar diese Stimmung unverhohlenen Haß gegen »den Feind«. Auf einem Gut entfernter Verwandter, zu dem ich mich auf einer »Hamsterfahrt« mit dem Fahrrad durchgeschlagen hatte, geriet ich in einen Kreis internierter Offiziere und Deutschnationaler, in dem es von engstirnigen nationalistischen Klischees förmlich brodelte. Ich hörte mit eigenen Ohren, wie einer der Anwesenden, ein Oberst, der schon zu Kaisers Zeiten gedient hatte, mit grollender Stimme verkündete: »Wißt ihr, was ich jetzt am liebsten täte? Mich in die Wälder zurückziehen und Engländer umlegen!«

Niemand der erwachsenen Männer in der Runde zeigte sich irritiert. Im Gegenteil, alle nickten, in finsterem Schweigen, unisono zustimmend, mit dem Kopf. Ich selbst erschrak sehr, getraute mich aber auch nicht, meinen Protest laut zu äußern. Es wäre ohne allen Zweifel auch aussichtslos gewesen und hätte mir nur Beschimpfungen eingetragen — wenn es dabei geblieben wäre. 

Natürlich weiß ich, daß mein Schweigen blamabel gewesen ist. Aber nicht nur die alten Herren, die den wahren Patriotismus gepachtet zu haben wähnten, waren von ihrer Vergangenheit unheilbar geprägt. Für mich galt im Grunde das gleiche. Die Erziehung, die ich genossen hatte (»Kinder reden bei Tisch nur, wenn sie gefragt werden«), machte es mir als »jungem Schnösel« schlicht unmöglich, einer Versammlung honoriger Respektspersonen vorlaut zu widersprechen. Außerdem wäre es mir damals auch undenkbar erschienen, daß die absurde Geistesverfassung, von der ich da eine gespenstische Probe mitbekommen hatte, mehr sein könnte als ein bizarres Fossil, das man getrost belächeln dürfte.

Nicht im Traum wäre ich darauf verfallen, daß diese wahnähnliche Einstellung Jahrzehnte nach dem Ende des Wilhelminischen Reiches auch den bodenlosen moralischen und materiellen Bankrott des nazistisch-großdeutschen Abenteuers noch virulent genug überstehen könnte, um den Geist des neuen Deutschlands, auf das wir nach 1945 hofften, vom ersten Anbeginn an so zu vergiften, wie es dann geschehen ist.

207-208

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