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Teil 3  -  Restauration, Wissenschaft, Ökonomie

301 - Der Rausch der Freiheit und der große Hunger 

 

 

210-222

Das Gefühl der Befreiung vom äußeren physischen und psychischen Druck war bei uns Jüngeren elementar und von körperlich spürbarer Intensität. Es machte sich gelegentlich auf kindisch ausgelassene Weise Luft. 

Als einige Tage nach der Kapitulation die Hamburger Hochbahn ihren Betrieb wieder aufnahm, zogen meine Studienkumpel Achim und ich unsere frechsten Zivilklamotten an und bestiegen einen Zug nach Ahrensburg. Dort lag in einem Waldstück — wir hatten an der Endphase der Rodung noch selbst aktiv teilgenommen —, in einem eingezäunten Areal, ein kleiner Barackenkomplex, der unsere Kompanie­geschäfts­stelle und andere Dienststellen der großdeutschen Wehrmacht beherbergte.

Wir waren sicher, daß die perfekte Funktion der deutschen Militärverwaltung auch den Zusammenbruch des Reiches überdauert hatte und daß ihr so blinder wie zuverlässiger Automatismus vorschriftengetreu weiterlaufen würde, solange die Engländer dem kein Ende setzten. Diese Gewißheit hatte uns auf den verheißungsvollen Gedanken kommen lassen, bei unserer alten Schreibstube vorzusprechen und in aller Unschuld ein Anfang Mai, wenige Tage vor Kriegsende, fällig gewordenes Kontingent von immerhin vierzig Zigaretten — pro Kopf, wohlgemerkt — nachzufordern, das beizeiten abzuholen wir durch widrige Umstände gehindert worden waren. (Die »widrigen Umstände« bestanden in dem Marschbefehl zur »Kampfgruppe Dönitz«, dessentwegen wir uns auf der Schreibstube natürlich nicht mehr hatten blicken lassen dürfen.)

Am Eingang zum Gelände wurden wir von einem englischen Wachtposten in der uns schon geläufigen ruppigen Manier am Weitergehen gehindert. Als wir artig parierten, verlor der Mann jedes Interesse an uns und schritt auch nicht ein, als wir über den Zaun hinweg auf gut Glück einige Namen brüllten. Nach kurzer Zeit hatten wir Erfolg. Wir staunten nicht schlecht: Wer da, wohl von der Neugier auf den Anlaß des Lärms getrieben, auf uns zukam, war kein anderer als Stabsarzt Dr. Windfuhr, unser Kompaniechef. Als aktiver Offizier (wegen Verwundung nicht mehr fronttauglich) hatten die Engländer ihn gleich an Ort und Stelle interniert. In unserem ausgesucht dandyhaften Zivil erkannte er uns erst im letzten Augenblick.

Als ihm aufging, wer da vor ihm stand, machte er ein Gesicht, als ob er es mit Gespenstern zu tun hätte. Nach einer längeren Schrecksekunde stotterte er mit sichtlicher Mühe: »Aber ich hatte ihnen doch befohlen, sich zu Admiral Dönitz in Marsch zu setzen.« Gewiß, gewiß, bestätigten wir ihm fröhlich, wir wollten das keineswegs in Abrede stellen. »Nur, wir sind eben einfach nicht gefahren.«

Die Stille, die daraufhin ausbrach, benutzten wir, um höflich und in aller Form den eigentlichen Anlaß unseres Besuches zur Sprache zu bringen: die uns noch zustehende Zigarettenzuteilung. Immer noch schweigend, drehte Stabsarzt Windfuhr sich um und nahm Kurs auf die Schreibstubenbaracke, ein wenig gedanken­verloren, wie uns schien. Wenige Minuten später war er wieder zur Stelle, in jeder Hand zwei Päckchen Zigaretten, die er uns aushändigte, aber erst, nachdem wir die vorgeschriebene Empfangs­quittung unter­schrieben hatten.

Während wir damit beschäftigt waren, gewann der Mann auch sein Sprachvermögen zurück, was ihm Gelegenheit bot, sich bitter über die Behandlung durch die Engländer zu beklagen, die es an jeglichem Respekt einem deutschen Offizier gegenüber fehlen ließen. Wir schüttelten mitfühlend den Kopf und beteuerten, daß wir daran zu unserem Bedauern kaum etwas ändern könnten.

Auf dem Rückweg zum S-Bahnhof drehten wir uns, jeder eine der erbeuteten Zigaretten genießerisch im Mund, noch einmal um. Stabsarzt Windfuhr blickte uns, bewegungslos am Zaun stehend, nach. Wir winkten ihm einen Abschiedsgruß zu, auf den er jedoch nicht reagierte. Im Grunde kein wirklich schlechter Kerl. Man muß wissen, daß der Mann uns noch vierzehn Tage zuvor befehlsgemäß mit Endsiegparolen und Durchhalte­mythen geelendet hatte.

 geelendet: so im Original - vielleicht Armeesprache/Soldatendeutsch.

Wenn man das bedachte, sprach es eigentlich sogar für ihn, daß eine Woche ihm noch nicht gereicht hatte, sich völlig auf die neuen Verhältnisse umzustellen. Auf der Rückfahrt — im Raucherabteil! — juckte uns dann endgültig das Fell. Ich weiß nicht mehr, wer von uns beiden den Einfall hatte. Jedenfalls fingen wir wie auf Verabredung an, mit lauter Bühnenstimme darüber zu schwadronieren, wie froh wir seien, »daß die braune Verbrecherbande« endlich zum Teufel gejagt worden sei, mit dem sogenannten »Führer«, dem »Obergauner Adolf Hitler«, an der Spitze und so weiter in diesem Tenor. 

Wir erlagen, mit anderen Worten, der unwider­stehlichen Versuchung, in dem vollbesetzten Waggon lauthals herauszutrompeten, wovon auch nur im Schlaf zu sprechen uns in allen vergangenen Jahren den Kopf gekostet hätte.

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Die Wirkung auf die mitreisenden Fahrgäste war eindrucksvoll. In dem Wagen erstarben alle Gespräche. Alles sah angestrengt aus dem Fenster oder auf den Boden, niemand blickte in unsere Richtung. Man roch förmlich, wie sich Angst um uns herum ausbreitete. In endlosen Jahren der Unterdrückung unter Lebensgefahr antrainierte Reflexe verlangten von diesen Menschen mit triebhafter Gewalt, jetzt wenigstens der Form halber wütend zu protestieren. Die Anstrengung war schier körperlich spürbar, die es sie kostete, den Impuls zu unterdrücken und unsere Lästereien zu ertragen.

Ich war mir auch klar darüber, daß in der anonymen Menge mehr als eine Handvoll Zeitgenossen stecken mußte, die in der gleichen Situation noch vor einer Woche keine Sekunde gezögert hätten, Achim und mich energisch und aus Überzeugung ans Messer zu liefern. Auch sie mußten sich jetzt darauf konzentrieren, nicht die Beherrschung zu verlieren. Es war die gleiche Hochbahn, und es waren die gleichen Menschen. Nur die jahrelang herrschenden Verhältnisse hatten sich über Nacht geändert. Wer kommt da so rasch mit?

Man darf übrigens nicht glauben, daß ich und mein Studienkumpel bei dieser denkwürdigen Hochbahnfahrt das gleiche psychologische Phänomen etwa nicht auch am eigenen Leibe zu spüren bekommen hätten. Ich erinnere mich noch lebhaft an meine Verblüffung über die Willensanstrengung, die ich aufzubieten hatte, um mit meinen »lästerlichen« Reden fortzufahren. Achim und mir stand buchstäblich der Schweiß auf der Stirn, während wir mit den inneren Widerständen kämpften, die uns daran hindern wollten, gegen ein Tabu zu verstoßen, dessen Verletzung fast unser halbes Leben lang hätte mit dem Leben bezahlt werden müssen.

Der Mensch besteht nicht nur aus Rationalität und Vernunft allein. In unserer Großhirnrinde war die Information über den radikalen Wechsel der politischen Überlebensbedingungen zwar unverzüglich eingetroffen. Den Neandertaler in uns darüber zu belehren nahm etwas mehr Zeit in Anspruch.

Das Erlebnis der nie gekannten individuellen Freiheit erfüllte uns Jüngere mit einem geradezu rauschhaften Glücksgefühl und läßt den Sommer 1945 in meiner Erinnerung als eine »goldene Zeit« erscheinen. Die Universität war von der Militärregierung geschlossen worden. Die Verfügungsgewalt der allmächtigen Wehrmacht, seit so vielen Jahren die unser ganzes Leben bis in den letzten Winkel beherrschende Kraft, hatte sich in Nichts aufgelöst.

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Wir hatten plötzlich unendlich viel Zeit, und niemand scherte sich darum, wie wir sie nutzten. Wochenlang saß ich damals, so scheint es mir, in der warmen Sommersonne auf der Gartenterrasse und las: die Vorsokratiker, Hemingway (dessen Namen ich bis dahin nie gehört hatte) und astronomische Bücher, die ich mir in der Bergedorfer Sternwarte auslieh.

In uns spürten wir eine unbändige Kraft. Sie ermutigte uns, Projekte in Angriff zu nehmen, die zu bewältigen uns nur die außergewöhnlichen Zeitumstände eine Chance gaben. So gründeten wir einen »Studentischen Konzertzyklus«. Einer aus unserer Clique, ein Sohn des damals berühmten Geigers Georg Kulenkampff, hatte den Einfall. Er sprach die vom Kriege nach Hamburg vertriebene Künstlerprominenz an, die darauf brannte, sich dem verehrten Publikum in Erinnerung zu bringen, und sei es durch kostenlose Auftritte. Das aber war gar nicht so einfach, denn alle Konzertagenturen waren, der Himmel weiß warum, von den Engländern in diesem ersten Sommer wie fast alle anderen Organisationen und Institutionen geschlossen worden.

Das machten wir uns zunutze. Wir waren das erste Gremium, das von der Besatzungsmacht eine Konzertlizenz erhielt, um dringend benötigte Unterstützungs­gelder für notleidende Kommilitonen aufzubringen (denn das diesem Zwecke dienende Vermögen des »NS-Studentenbundes« war als das einer nazistischen Organisation selbstverständlich sofort beschlagnahmt worden). Und so spielten sie denn für uns: Detlev Kraus und Conrad Hansen, Ferry Gebhardt und wie sie alle hießen, bekannte Größen damals und für den Kenner zum Teil auch noch heute. 

Wir begannen, ganz bescheiden, mit einem Kirchenkonzert in der alten Eppendorfer Kirche. Der Andrang der Menschen war — was gab es damals sonst schon für kulturelle Angebote — so überwältigend, daß wir schon unser zweites Konzert in das Eppendorfer Gemeindehaus verlegten und in der letzten Phase unserer nur einige Monate währenden Agenturtätigkeit gar in die Musikhalle am Karl-Muck-Platz zogen.

Entsprechend erfreulich waren unsere Einnahmen. Außer verhältnismäßig bescheidenen Saalmieten hatten wir ja keine Ausgaben. Honorar gab es bei uns grundsätzlich nicht. Kartenverkauf, Garderobenbewachung, Platzanweisung, das alles machten wir selbst, unterstützt von unseren Freundinnen.

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Nach dem Ende des Konzerts kamen die Einnahmen in eine mit einem kräftigen Gummiband verschlossene Zigarrenkiste, die sich Cassi Kulenkampff unter den Arm klemmte, um sie die Nacht über neben seinem Bett zu hüten, bevor er sie am nächsten Morgen zur Bank brachte. Im Laufe der Monate kamen so alles in allem über 70.000 Mark zusammen. Es waren bloß Reichsmark, aber sie reichten zum Lebensunterhalt für alle Studenten, die uns davon zu überzeugen vermochten, daß sie durch die Kriegsläufte von den elterlichen Ressourcen abgeschnitten worden waren.

Wir pflegten uns inzwischen regelmäßig an einem bestimmten Wochentag im Wohnzimmer des Hauses Degkwitz in der Hagedornstraße zu treffen. Der »alte Degkwitz« war erst kürzlich aus dem Celler Zuchthaus freigelassen worden, in das ihn die Gestapo Ende 1943 gesperrt hatte. Sein Vergehen bestand nicht nur in der dickköpfigen Weigerung, sein kinderärztliches Kolleg wie vorgeschrieben mit dem »Deutschen Gruß« (»Heil Hitler!«) zu eröffnen — was uns größten Respekt abforderte —, er hatte überdies die Unvorsichtigkeit begangen, seine vehement antinazistische Gesinnung in mehreren Briefen auszudrücken, die der Zensur in die Hände geraten waren.

Der berühmte Kinderarzt entging nur deshalb mit knapper Not einem Todesurteil, weil er in den zwanziger Jahren ein Verfahren entwickelt hatte, mit dem es möglich geworden war, Kinder gegen die bis dahin häufig tödlich verlaufenden Masern zu schützen. Dies gab seinen Freunden die Möglichkeit zu einer Eingabe an das zuständige Gericht, in der sie in mit Bedacht gewähltem nationalen Pathos darauf hinwiesen, daß es Professor Rudolph Degkwitz zu verdanken sei, wenn jetzt im Kriege »einige Divisionen mehr an Deutschlands Grenzen kämpfen könnten«, als es ohne seine Entdeckung der Fall gewesen wäre. So etwas machte damals Eindruck.

Der »alte Degkwitz« also, dem von der Militärregierung alsbald die Aufsicht über die Hamburger Gesundheits­behörde anvertraut wurde (was seine Mitwirkung bei der Säuberung der Medizinischen Fakultät von alten Nazis einschloß), stellte uns in seiner geräumigen Gründerzeitvilla das Wohnzimmer zur Verfügung. Als Empfehlung genügte ihm der uns vorausgehende Ruf, daß man in unserem Kreis sicher davor sei, alten Nazis zu begegnen. Vermittelt hatte die Sache der älteste Sohn, der »junge Degkwitz«, der ebenfalls Rudolph hieß. Ihn hatte die Gestapo wenige Tage vor Kriegsende aus einem Hamburger Gefängnis entlassen, kurz nachdem er vom Volksgerichtshof noch rasch zu Zuchthaus verurteilt worden war.

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Grund waren seine freundschaftlichen Beziehungen zu einem studentischen Zirkel gewesen, dessen Mitglieder sich »Candidates of Humanity« nannten und in loser Verbindung zur »Weißen Rose« der Geschwister Scholl standen. Mehrere »Candidates« wurden noch in den letzten Kriegstagen umgebracht. Auch Rudolph hatte, bevor seine Bewacher ihn schließlich laufenließen, einige alptraumhafte Situationen zu überstehen, in denen die Gefahr bestand, daß man ihn einfach über den Haufen schießen würde. Im Verlaufe der folgenden Wochen stießen noch einige andere Überlebende des Infernos zu uns. So eine Tochter des von den Nazis aus »rassischen Gründen« amtsenthobenen Hamburger Oberlandesgerichtsrats Gerhard Rée, die jetzt — von den Nazis dazu als »nicht würdig« befunden — endlich ihr halblegal absolviertes Jurastudium mit dem Referendarexamen abschließen konnte.

Zwei Jahre zuvor hatte sie dem absolut vertrauenswürdigen Dekan der Juristischen Fakultät, Professor Rudolph Sieverts, ihr Dilemma anvertraut und um einen Rat gebeten. Dieser lautete kurz und bündig: »Studieren Sie nur ruhig Jura. Bis Sie Ihr Examen machen können, sind wir die Nazis wieder los.«

 

Ich erwähne diese Episode hier wegen eines wahrhaft grotesken Begleitumstands: Sieverts gab seine beschwichtigende (und hochverräterische) Auskunft im strahlenden Schmuck der Uniform eines Nazifunktionärs. Der berühmte Jugendrechtler hatte es hinnehmen müssen, daß die Obrigkeit ihm einen hohen »Führerrang« in der Hitlerjugend verlieh, in dessen eindrucksvoll blitzender Uniform er wegen eines offiziellen Anlasses steckte, als »Pums« Ree ihn um Rat anging. Bei Kriegsende wurde Sieverts seiner HJ-»Karriere« wegen von den Engländern denn auch prompt im ehemaligen KZ Neuengamme interniert. Erst 1946 konnten Vater Ree und der mit ihm befreundete erste Hamburger Nachkriegsbürgermeister Petersen ihn dort auslösen, nachdem es ihnen gelungen war, die Engländer über ihren (verständlichen) Mißgriff aufzuklären.

Mit ausgesprochenem Vergnügen wurde ein weiterer Neuzugang willkommen geheißen: Irmgard Zarden, der es unglaublicherweise gelungen war, ein Jahr im Frauen-KZ Ravensbrück und anschließend eine von dem berüchtigten Roland Freisler geleitete Verhandlung vor dem »Volksgerichtshof« in Berlin zu überstehen.

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Ihr Vater, Staatssekretär im preußischen Finanzministerium der Weimarer Republik, hatte sich auf einer privaten Teegesellschaft antinazistisch geäußert und war von einem anwesenden Gestapospitzel namens Reckzeh denunziert worden. Er war zusätzlich durch seine jüdische Abstammung belastet und beging in der Untersuchungshaft angesichts drohender Folter Selbstmord. (Herr Reckzeh seinerseits absolvierte nach dem Kriege übrigens eine recht erfolgreiche Beamtenkarriere in der DDR.) Das Vergehen der Tochter: Sie habe es versäumt, ihren Vater anzuzeigen. Ihre Verteidigung vor dem Volksgerichtshof: Das sei nicht notwendig gewesen, da sie genau gewußt habe, daß der anwesende Herr Reckzeh der Gestapo angehöre (was Freisler erstaunlicherweise gelten und einen seiner seltenen Freisprüche fällen ließ).

Ihr atemberaubendes Temperament (und ihre treffsichere Berliner Diktion) trugen ihr rasch den Spitznamen »die Atombombe« ein, den sie bis auf den heutigen Tag trägt und rechtfertigt. Irmgard wurde für uns, als wir uns mehr oder weniger offiziell in die Reorganisation der Hamburger Universität einzumischen begannen, nun allerdings insofern zum Problemfall, als sie die einzige war, die nicht studierte, also eigentlich gar nicht »dazugehörte«. Da wir auf ihren gesunden Menschenverstand jedoch nicht verzichten mochten, verfielen wir auf den Ausweg, sie als Sekretärin anzustellen, was ihr die weidlich genutzte Gelegenheit gab, bei unseren Diskussionsmarathons, die sie zu protokollieren hatte, nach Herzenslust mitzureden. Bei den Abstimmungen mußten wir ihr jedoch immer sorgsam auf die Finger sehen. Ihr temperamentvolles Engagement verführte sie immer wieder dazu, im Falle ihrer Zustimmung ebenfalls die Hand zu heben. Und das ging ja nun wirklich nicht, sosehr es allseits bedauert wurde.

Außer den (sicher stark überrepräsentierten) Medizinern gab es bei uns auch einige Juristen. So, neben der schon erwähnten »Pums« Ree, den immer fröhlich-schnoddrigen Conny Ahlers, in späteren Jahren lange in der Chefredaktion des »Spiegel« und danach Regierungssprecher unter Willy Brandt. Oder den Kunst- und Mathematikstudenten Markus (»Macke«) Bierich, der Jahrzehnte später dann auf einem Weg, dessen Weichenstellungen ich nie begriffen habe, zu einem der bekanntesten deutschen Wirtschaftskapitäne wurde. Eine seltsam gemischte Runde das Ganze, ein in den Turbulenzen der ersten Nachkriegswochen mehr oder weniger zufällig zusammengelaufener buntscheckiger Haufen. Ein Kreis aber auch, in dem es von Ideen und Einfällen förmlich brodelte und dessen Mitglieder mit Begeisterung die Chance wahrnahmen, das durch den Zusammenbruch des »Tausendjährigen Reiches« entstandene Vakuum im Rahmen ihrer Möglichkeiten zu nutzen.

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Daß dieser Rahmen von uns, jung und unerfahren, wie wir waren, damals in einem mitunter komischen Ausmaß überschätzt wurde, liegt auf der Hand. Wir standen unter dem Eindruck, daß die Welt, die wir gekannt hatten, verschwunden sei und daß wir damit freie Hand hätten, sie von Grund auf neu zu entwerfen. So produzierten wir unverdrossen dicke Papiere für eine »studentische Gerichtsbarkeit«, die — nach politischen Gesichtspunkten — eine strenge Auswahl unter den Studienbewerbern treffen sollte. Wir entwarfen Eingaben an internationale Gremien mit Entwürfen für einen Codex zwischenstaatlichen Verhaltens, der zukünftige Kriege unmöglich machen würde. Selbstverständlich drechselten wir gänzlich ungefragt auch Adressen an Karl Jaspers und Thomas Mann, um sie von unseren Ansichten über die Schuldfrage (im Zusammenhang mit der Unterwerfung der Deutschen unter das Naziregime) in Kenntnis zu setzen.

Jedoch ist festzuhalten, daß wir uns nicht darauf beschränkten, im freien Raum unserer Gedanken zu agieren. Der uns selbst überraschende Erfolg unserer Konzertaktivität ermutigte uns zur Einmischung in die an der Universität schüchtern in Gang kommenden Reformbestrebungen. Eines Tages kam uns die Idee, eine studentische Standesvertretung ins Leben zu rufen. Natürlich wurde das Kind nicht etwa so von uns genannt. Wir waren von allen demokratischen und republikanischen Traditionen so unbeleckt, daß uns nicht einmal deren Terminologie geläufig war. (Ich erinnere mich noch an ein hitziges Streitgespräch über die Frage, was sich eigentlich hinter dem geheimnisvollen Begriff »Gewerkschaft« für eine rätselhafte Organisation verberge.)

Bezeichnend auch, daß wir keine Ahnung davon hatten, daß es in der Weimarer Zeit in Gestalt der »Allgemeinen Studenten-Ausschüsse« (AStA genannt) selbstverständlich längst etwas Derartiges gegeben hatte. Wir glaubten, etwas völlig Neues erfunden zu haben, und tauften das, was uns noch recht nebelhaft vorschwebte, unbeholfen »Zentralausschuß der Hamburger Studenten« (ein Bandwurm, den wir später immer zu »ZA« abkürzten).

Auf alle Fälle war uns zu Ohren gekommen, daß die Universitätsgremien — Senat und Fakultäten — während der von den Siegern verordneten Sommerpause unter Aufsicht der Militärregierung damit begonnen hatten, die für das akademische Zusammenleben maßgeblichen Spielregeln von totalitären Überlagerungen zu säubern und demokratisch neu zu fassen. Und da verlangte es uns danach, dabei ein Wörtchen mitzureden und unsere Stimme als die der lernenden Majorität an der Alma mater mit in die Waagschale zu werfen.

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Nachträglich, angesichts der in späteren Jahren vermittels bitterer Enttäuschungen erworbenen Erfahrungen von der fast unüberwindlichen Trägheit und Starre aller existierenden gesellschaftlichen Strukturen, ist es atemberaubend, mit welcher Geschwindigkeit sich unser nicht ganz unbilliger Wunsch in die Wirklichkeit umsetzen ließ. Die Militärregierung, die als erste gefragt werden mußte, gab rasch ihr Plazet. Der zuständige Kulturoffizier, dem unsere Konzertinitiative gefallen zu haben schien, war offensichtlich von dem Gedanken angetan, daß diese aufmüpfigen jungen Kerle ein bißchen Bewegung in die akademischen Reformbemühungen bringen könnten, die unter dem Einfluß der ihre Privilegien zäh verteidigenden Lehrstuhlinhaber und Institutsdirektoren ein wenig schleppend verliefen.

Im Handumdrehen sahen wir uns im Besitz des Rechtes, in Senat und Fakultäten je zwei stimmberechtigte Vertreter zu entsenden. Was uns, umgekehrt, ebenfalls im Handumdrehen dem Zwang aussetzte, uns mit ungewohnter Intensität in die Finessen universitärer Organisationsabläufe und personaler Kompetenzzuweisungen einzuarbeiten. Wir stellten uns der Aufgabe mit Begeisterung.

Gleich in der Anlaufphase kam es zu einem ebenso komischen wie für die damalige Atmosphäre bezeich­nenden Zwischenfall. Der Zufall wollte es, daß einer der von uns in die Medizinische Fakultät entsandten Vertreter der Neffe des damaligen Dekans war, des Physiologen Professor Mond. Als sich unser Mann zum erstenmal zu Wort meldete, duzte er daher seinen Onkel, der die Sitzung offiziell leitete, mit der größten Unbefangenheit. Die übrigen Fakultätsmitglieder, die von der Verwandtschaftsbeziehung nichts ahnten, zogen daraufhin sichtlich die Köpfe ein, gaben aber keinen Mucks von sich. Wir haben sehr gelacht, als wir hinterher erfuhren, daß die hohen Herren geglaubt hatten, Zeugen einer Kostprobe des neuen Tons zu sein, in dem die Studenten von jetzt an mit ihnen umzuspringen gedächten. Die Herren waren voller Empörung. Niemand von ihnen aber hatte es gewagt, gegen die vermeintliche Respektlosigkeit zu protestieren.

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Man war kleinlaut geworden in diesem Kreis, verunsichert durch die Nachforschungen, welche die Militärregierung über die politische Vergangenheit seiner Mitglieder durchführte, und durch deren Ergebnisse, die sich für so überraschend viele der geschätzten Kollegen als überaus peinlich erwiesen hatten. Um es gleich hier vorwegzunehmen: Die Phase der Bescheidenheit war nur von kurzer Dauer. Aber auch sie prägte die Atmosphäre dieser einzigartigen Sommermonate 1945 in Hamburg.

 

Wir selbst, die Repräsentanten des ZA, waren alles andere als kleinlaut oder bescheiden. Im Gegenteil, im Vollgefühl neuerlebter Einflußmöglichkeiten unterschätzten wir sicher viele der Probleme, um die zu kümmern wir uns bemüßigt fühlten. Immerhin waren darunter Ansätze, die im Rückblick erstaunlich »fortschrittlich« und zukunftsträchtig wirken, auch wenn sie damals fast alle rasch im Sande verliefen. Die »Gleichberechtigung der Frau« war Bestandteil aller unserer Programme. Wir setzten uns — sogar mit vorübergehendem Erfolg — für die Einführung eines »Studium generale« an der Hamburger Universität ein, um der allzu frühen Blickverengung durch berufsbezogene Spezialisierung entgegenzuwirken.

Und überhaupt nichts hielten wir von der Alma mater als »politikfreiem Raum«. Im Gegenteil, mit Nachdruck sprachen wir uns für politische Seminare als Pflichtveranstaltungen aller Fakultäten aus, wobei wir in erster Linie naturgemäß an eine gründliche historische und politikwissenschaftliche Aufarbeitung der gerade überstandenen Naziepoche dachten. Das alles wurde auf unsere Initiative damals — neben anderen, realitätsferneren Vorschlägen wie der Gründung einer am englischen Modell orientierten »College-Universität« im Harz — in den einschlägigen Gremien ernsthaft diskutiert. Allerdings nur, um nach wenigen Monaten wieder in der Versenkung zu verschwinden, als die Universität zu Beginn des Wintersemesters 1945/46 offiziell wiedereröffnet wurde. Da erwachten die altetablierten akademischen Organisationsstrukturen wieder zum Leben und sorgten binnen kürzester Zeit dafür, daß alles erleichtert in den alten Trott zurückfiel.

Wir vom ZA konnten daran nichts ändern. Die Freiräume, die uns in dem Interregnum der ersten Monate nach dem Kriegsende zur Verfügung gestanden hatten, wurden etwa vom Beginn des Herbstes an mit Genehmigung der englischen Militärregierung von den Vorbesitzern, den von allen Nazis nach Möglichkeit (oder auch nur vorgeblich) gereinigten Institutionen, wieder mit Beschlag belegt.

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Sobald die ersten professionellen Konzertagenturen mit ihrer Arbeit wieder begannen, war das natürliche Ende unseres »Studentischen Konzertzyklus« gekommen. Und sobald die Universität den Lehrbetrieb wiederaufnahm und Tausende von Studenten die Seminare und Hörsäle füllten, traten wir vom ZA als beispielgebende Demokraten das Heft an gewählte studentische Gremien ab. Anders als wir konnten deren Mitglieder sich nur noch quasi nebenberuflich, neben der Belastung durch das laufende Studium, um die reformerischen Ansätze kümmern, die wir in Gang gebracht zu haben glaubten. Daß sie dabei in allen wesentlichen Punkten scheiterten, darf man ihnen, die sich bald nach dem Wechsel in »AStA« umbenannten, nicht ankreiden. Die Ausnahmezeit, in der wir unsere mit solchem Hochgefühl erlebten Träume realisieren zu können meinten, war endgültig vorüber.

Überdies hatten wir uns jetzt unseren Abschlußexamina zu widmen. Die meisten von uns hatten vor der Kapitulation noch eine Art »Notexamen« absolviert, dessen Gültigkeit jedoch bei der Neueröffnung der Universität widerrufen wurde. Ich mußte mich daher schleunigst auf die über ein Dutzend Einzelfächer vorbereiten, aus denen das Medizinische Staatsexamen bestand. Dazu war ich in der jetzt hereinbrechenden kalten Jahreszeit auf ein winziges, unbeheizbares Zimmer angewiesen. Am schlimmsten aber war der Hunger.

Nach dem Verbrauch der knappen Vorräte, die ich im Sommer vorsorglich angelegt hatte, war ich mangels Beziehungen (und in Ermangelung nennenswerter Schwarzmarkttalente) auf die offiziellen Zuteilungen beschränkt, die, wie ebenso offiziell zugegeben wurde, den Bedarf eines Menschen nicht völlig abdeckten. Da unser Körper nun aber, wie jeder andere biologische Organismus, den elementaren thermodynamischen Gesetzen unterworfen ist, gilt für ihn auch die Entropieregel. Sie besagt, daß ein geschlossenes biologisches System nur für kurze Zeit überleben kann. Weil sich bei jedem Stoffwechselprozeß ein wesentlicher Teil der umgesetzten Energie in Wärme verwandelt — die nach außen abgestrahlt wird, mit anderen Worten also verlorengeht —, müssen von außen ständig neue Energiequellen in Form von Nahrung zugeführt werden.

Es verschaffte mir keinerlei Vorteile, daß ich diese Zusammenhänge theoretisch durchschaute. Auch auf die Möglichkeit einer Verringerung des Kalorienbedarfs durch Erhöhung der Außentemperatur (Raumheizung = Verminderung des Wärmeverlustes) mußte ich, von unzureichenden Tricks abgesehen, notgedrungen verzichten.

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Ich erinnere mich an lange Tage, die ich, in meine Bettdecke gewickelt, am Tisch sitzend zubrachte, zwischen den Beinen eine primitive elektrische Kochplatte als Wärmequelle (mit der mich die Zimmerwirtin nicht erwischen durfte, weil selbstredend auch der elektrische Strom streng rationiert war), mit behandschuhten Fingern unbeholfen in irgendwelchen Lehrbüchern blätternd.

Stundenweise floh ich als »Wärmeasylant« in die geheizte Halle der Hauptpost am Stephansplatz oder zu Freunden, die das Glück hatten, em Zimmer heizen zu können. Je länger der Winter dauerte, um so mehr übertrieb meine zunehmend labile Verfassung jedoch die Befürchtung, daß meine unerbetenen Stippvisiten als lästig empfunden würden. Chronischer Hunger macht, das habe ich damals unter anderem gelernt, überempfindlich und »soupconös«. In diesen winterlichen Examensmonaten lebte ich mehr und mehr von der Substanz. Sie reichte, wenn auch bei stetig abnehmender Vitalität, gerade lange genug. Als ich Ende April 1946 glücklich mein letztes Examensfach (Mikrobiologie und Hygiene) hinter mich gebracht hatte, waren meine Kräfte am Ende.

Der Kreis der Freunde hatte sich unter der Belastung des Winters nach und nach aus den Augen verloren. Jeder kämpfte für sich allein um die nackte Existenz. Es ist eine bittere Tatsache, daß mangelhafte Nahrungszufuhr früher oder später auch jene Regungen in uns erlöschen läßt, von denen wir in normalen Zeiten mit unerschütterlicher Selbstsicherheit behaupten, daß sie zu den konstituierenden Merkmalen unseres Wesens als Mitglieder der Art Homo sapiens gehörten.*

In unserem Stolz auf die geistige Hälfte unseres Wesens verdrängen wir fortwährend die unauflösliche Abhängigkeit unserer anderen Hälfte von elementaren materiellen, biologischen Voraussetzungen.

* Binnen weniger Jahre hat der »innere Kern« des alten Kreises später, obwohl inzwischen über die ganze Bundesrepublik verstreut, wieder zusammengefunden. Alle Freunde, die ich heute noch habe, männliche wie weibliche, stammen — mit einer einzigen Ausnahme — aus dieser Verbindung. Unsere gemeinsamen politischen Aktivitäten haben, genau besehen, nur wenige Monate gedauert: von der Zeit unmittelbar vor Kriegsende bis zur Wiedereröffnung der Hamburger Universität im Herbst 1945. Aber entscheidend ist eben nicht die objektive Länge einer Zeitstrecke, sondern ihr subjektives Gewicht. Wir alle wurden, wie uns heute bewußt ist, von den wenigen Sommermonaten des Jahres 1945 bleibend geprägt.

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Homo sapiens sapiens — ist es nicht zutiefst paradox, wenn wir allen Ernstes glauben, uns ausrechnet mit dieser, der biologischen Systematik entlehnten Etikettierung aus dem Reich aller übrigen lebenden Kreaturen als etwas total anderes hinausdefinieren zu können?

»Erst kommt das Fressen und dann die Moral!« Der berühmte und häufig als zynisch mißverstandene Ausspruch Bert Brechts hält in messerscharfer Zuspitzung fest, womit wir es in Wirklichkeit zu tun haben. Genau das gleiche hat Ernst Bloch — weniger drastisch — in die Worte gekleidet: »Der Magen ist die erste Lampe, auf die Öl gegossen werden muß.« Die Extremsituation chronischen Hungers reduziert den Menschen, jeden Menschen, auf eine rein vegetative Existenz. Sie läßt ihn auf eine Stufe des Daseins zurückfallen, auf welcher der Raum für jene Verhaltensweisen rapide schrumpft, die wir als »spezifisch menschlich« ansehen. Tief unterhalb der Bewußtseinsebene funktionierende archaische Reflexe und angeborene Handlungsanleitungen übernehmen nun das Regiment und unterwerfen alle überhaupt vorhandenen und zu mobilisierenden Antriebe immer ausschließlicher dem Ziel der Nahrungsbeschaffung.

Mit dem Überhandnehmen dieser angeborenen biologischen Mechanismen verwandelt sich die Welt im Bewußtsein des Hungernden mehr und mehr in eine Welt, die nur noch aus eßbaren oder ungenießbaren Dingen besteht. Der Kreis des noch für genießbar Erachteten erweitert sich gleichzeitig immer mehr, so daß schließlich auch bis dahin als ekelerregend angesehene Objekte gegessen werden, bis selbst im Inhalt von Mülltonnen gierig nach »Eßbarem« gesucht wird. Jeder, der die damalige Hungerzeit miterlebt hat, wird sich derartiger Szenen erinnern. Brecht plädiert mit seinem berühmten Wort nicht »fürs Fressen« unter Hintansetzung sittlichen Verhaltens. Er erinnert bloß daran, daß es inhuman ist, von einem Verhungernden zu verlangen, er solle sich am Moralkodex satter Mitmenschen orientieren.

Im Frühjahr 1946 hatte ich Hungerödeme und war so apathisch, daß ich mein Zimmer und zuletzt mein Bett kaum noch verließ. Zu meinem Glück tauchte eines Sommertages ein alter Freund aus Kinderzeiten auf, der soeben aus der Gefangenschaft entlassen worden war. Er durchschaute meine Situation auf einen Blick und ging als erstes daran, meine Lebensmittelration für den ganzen Monat einzukaufen. In drei Tagen hatten wir alles »verputzt«. Das genügte, um meine Lebensgeister soweit wieder anzufachen, daß ich den Mut aufbrachte, mit ihm mitzugehen — er wollte nach Berlin zu seinen Eltern — und mich über die »grüne Grenze« (der »Eiserne Vorhang« war noch nicht erfunden) nach Potsdam durchzuschlagen. Eine Woche später, nach einer einigermaßen aufregenden »Reise« — wir wurden an der Grenze prompt von den Russen geschnappt, die uns glücklicherweise aber nur einen halben Tag festhielten —, war ich nach drei Jahren zum erstenmal wieder zu Hause.

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