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108  - Welten hinter der Wirklichkeit 

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In diese Jahre - es wird 1932 gewesen sein - fällt eine Episode, die mir wie in einer Offenbarung eine gänzlich neue Welt erschloß. Eine Welt, von deren Existenz ich bis dahin nichts geahnt hatte und von der eine Faszination auf mich ausging, die mich mein ganzes Leben nicht mehr losgelassen hat.

Es begann mit einem Zufallsgeschenk. Von irgendwoher - aus einer der alten Kisten auf dem Bückeburger Dachboden? - kam ich unversehens in den Besitz eines uralten, primitiven Mikroskops. Sein stark zerkratzter Messingtubus wurde durch bloße Reibung von einem Eisenring festgehalten, in dem man ihn mit vorsichtig drehenden Bewegungen auf und ab zu schieben hatte, um die Schärfe einzustellen.

Mein Interesse an dem neuen Spielzeug drohte mangels geeigneter Beobachtungsobjekte schon zu erlahmen, als — zweiter Glücksfall — eine im Obergeschoß unseres Hauses wohnende Biologielehrerin sich die Mühe machte, mir ein Einmachglas mit dem Bodensatz aus einem Aquarium und ein paar Objektträger zu beschaffen. Fräulein Gaßner — mein Gedächtnis hat den Namen in unauslöschlicher Dankbarkeit bewahrt — weihte mich auch in den richtigen Umgang mit den Utensilien ein.

Und dann hatte ich plötzlich die Welt des belebten Mikrokosmos leibhaftig vor Augen: Glockentierchen, die mit ihren feinen Wimpern Wasser in sich hineinstrudelten, um sich bei der leisesten Erschütterung der Tischplatte durch das spiralige Einrollen des lebendigen »Seils«, mit dem sie sich festhielten, blitzartig aus dem Gesichtsfeld in Sicherheit zu bringen. Pantoffeltierchen, die wie kleine Boote im Zickzack durch den Wassertropfen unter dem Mikroskop kreuzten. Gefräßige Rädertierchen und wieselflinke Schwimmalgen. Wann immer ich ein neues Mikrowesen entdeckte, zeichnete ich es sorgfältig auf Papier, um mir von Fräulein Gaßner seinen Namen sagen zu lassen.

Am meisten angetan hatten es mir die »Wechseltierchen«, die Amöben. Wie kleine Schleimtröpfchen flössen sie unter ständigem Wechsel ihrer Form träge mal in diese, dann wiederum scheinbar ziellos in eine andere Richtung. Gestaltlose Winzlinge aus Eiweiß und doch ohne jeden Zweifel »lebendig«. Ihr Anblick konfrontierte mich zwingend und unmittelbar mit der Frage, wie sie das eigentlich machten, worin das Geheimnis bestand, durch welches sie sich von »normalen« (toten) Eiweißtropfen unterschieden.

Ich hatte diese Fragen natürlich nicht in dieser Eindeutigkeit und klar formuliert in meinem Kopf. Aber die Existenz des Geheimnisses, das sich hinter den mikroskopischen Lebewesen in meinem unscheinbaren Wassertropfen verbarg, die ahnte ich mit einer Intensität, die meine Finger beim Umgang mit dem Objektträger zittern ließ. Während der unzähligen Stunden, die ich den folgenden Winter hindurch über meinem Mikroskop saß, hob ich in unregelmäßigen Abständen immer wieder den Kopf, um mich meiner Umgebung zu vergewissern. Es erschien mir nahezu unglaublich, daß die Welt meines Kinderzimmers und die Mikroweit auf meinem Objektträger zur selben Zeit nebeneinander existierten.

Heute bin ich davon überzeugt, daß dieser durch mancherlei Zufälle zustande gekommene Einblick in die Welt der Mikroorganismen vor allem deshalb eine so starke und bleibende Wirkung auf mich ausgeübt hat, weil er mir - glücklichster Zufall von allen - im »richtigen« Alter zuteil wurde. Wäre ich einige Jahre jünger gewesen, hätte mein Aufnahmevermögen mir wohl keine noch so vage Ahnung davon vermitteln können, daß ich etwas Staunenswertes vor Augen hatte. Und nur wenige Jahre später hätte die Gefahr bestehen können, daß die Gewöhnung an die Welt der alltäglichen menschlichen Begebenheiten mich schon so weit mit Beschlag belegt hätte, daß ich den Anlaß zu wirklichem Staunen nicht mehr zu erkennen vermocht hätte. Denn wenn man es sich abgewöhnt hat, Wunder für möglich zu halten, sieht man sie selbst dann nicht mehr, wenn man mit der Nase auf sie stößt. Ich kann mich irren. Verallgemeinerungen sind immer gefährlich. Trotzdem kann ich den Gedanken nicht verdrängen, daß das für alle Kinder gilt. Es ist die geläufige Erkenntnis der Entwicklungspsychologen und selbst­verständlich auch aller Eltern, welche die Entwicklung ihrer Kinder mit offenen Augen verfolgen, daß wir alle in unserer Kindheit phantasievoller, aufgeschlossener, neugieriger und schöpferischer sind als in späteren Jahren.

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Es ist, salopp formuliert, ziemlich deprimierend zu beobachten, mit welch trauriger Regelmäßigkeit aus interessierten und einfallsreichen Kindern Erwachsene mit einem ziemlich langweiligen Innenleben zu werden pflegen. Vielleicht muß ein derartiger Verlauf aber nicht als unabwendbar hingenommen werden? Ist es nicht denkbar, daß die Chance einer rechtzeitigen (zur rechten Zeit erfolgenden) Entdeckung der außerhalb des Horizontes der eigenen Alltagsexistenz gelegenen Wirklichkeiten immunisieren könnte gegen die abtötende Wirkung lebenslanger Gewöhnungsprozesse?

Zeit meines Lebens hat mich der Gedanke an die bedrückend große Zahl der Menschen verfolgt, die - ohne es zu wissen - niemals wirklich zum vollen Leben erwachen. Die den Rahmen ihrer geistigen Existenz während der uns zugemessenen knappen Zeitspanne zwischen Geburt und Tod nicht annähernd auszufüllen imstande sind, weil sie dem seelischen Abnutzungsprozeß alltäglicher Gewöhnung erliegen, ohne der Weite des ihnen grundsätzlich offenstehenden Welthorizonts überhaupt gewahr zu werden. Auch bei ihnen handelt es sich um Fälle »nicht gelebten Lebens«, so lebhaft sie in ihrer Alltagswelt äußerlich auch zu agieren scheinen.

Haben wir einen solchen Zustand womöglich als eine Art partielle seelische Blindheit aufzufassen, die sich infolge des Ausbleibens eines stimulierenden Schlüsselerlebnisses in einer »sensiblen Phase« während der Entwicklungs­jahre einstellt? Vieles spricht dagegen, daß es so simpel zugeht. Auf der anderen Seite aber ist die Verantwortung der Umgebung unübersehbar. Erschreckend deutlich wird sie in den Fällen, in denen extreme äußere Not keine Chancen läßt, über die Zwänge nackten Lebenserhalts hinaus zur Besinnung kommen zu können.

In die Schuld, die wir gegenüber den am Rande des Hungertodes dahinvegetierenden Millionen in den sogenannten Entwicklungsländern auf uns laden, haben wir auch diesen Aspekt einzubeziehen. Die Menschen dort hungern nicht bloß, was allein sie qualvoll genug leiden ließe. Die bestehende politische Weltordnung, für die wir die Verantwortung mitzutragen haben, beraubt sie a priori zugleich aller Chancen, die in jedem von ihnen angelegten Möglichkeiten eigentlicher Menschwerdung verwirklichen zu können: ein Tatbestand millionenfachen Seelenmordes, der zum Himmel schreit. Auch oberhalb der Grenzen minimaler Existenzsicherung aber, und, aus anderer Ursache, gerade in den Sphären satter Wohlhabenheit, sind, was diese Fragen angeht, schuldhafte Einflüsse der Gesellschaft anzuerkennen und heute im Prinzip auch allgemein bekannt (ohne daß sich dadurch an der Situation das geringste änderte).

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In unserer Wohlstandsgesellschaft handelt es sich nicht um seelischen Mord, sondern eher um eine Art psychische Selbstverstümmelung.

Man rennt bei den meisten Zeitgenossen schon offene Türen ein, wenn man auf die geist- und phantasietötenden Effekte einer alle Lebensbereiche, gerade die der Heran­wachs­enden, erfassenden Werbetechnik hinweist. Auf eine mit Hilfe wissenschaftlicher Strategien synthetisch konstruierte »Jugendkultur«, welche den einzelnen seiner persönlichen Individualität beraubt, indem sie ihn unmerklich in das reibungslos funktionierende Objekt eines anonym bleibenden Systems kommerzieller Interessen verwandelt.

Denn die seelische Blindheit für die Faszination der hinter dem alltäglichen Augenschein gelegenen Wirklichkeiten tritt nicht nur als Folge abstumpfender Gewöhnung auf. In unserer Gesellschaft ist sie meist das Resultat einer schon in früher Jugend einsetzenden Blockierung der seelischen Aufnahmefähigkeit durch das von unserer zivilisatorisch organisierten Kunstwelt ausgehende Trommelfeuer belangloser Reize und Informationen. Die Kinder und Jugendliche mit gnadenloser Unwiderstehlichkeit in ihren Bann ziehende Attraktivität der realitätsfernen Videoscheinwelten stellt dafür nur ein (besonders perniziöses) Beispiel dar.

detopia-2012: perniziös?  wikipedia  Perniziöse_Anämie ?

Die weltweit zu beobachtenden »alternativen« Protestbewegungen erscheinen mir in diesem Zusammenhang primär als Symptome einer gesunden Abwehr, die auf diese seelenzerstörenden Zwänge unserer Zivilisation mit bemerkens­werter Instinktsicherheit reagiert. Diese Behauptung behält ihre Gültigkeit als Diagnose auch dann, wenn bedauerlicherweise zuzugeben ist, daß sich solche Bewegungen durch den aggressiven Überschwang ihres Protestes im konkreten Einzelfall unnötig oft ins Unrecht setzen.

Wie immer man die Frage der Ursachen auch beurteilen mag, das Phänomen der seelischen Blindheit besteht, und es ist bedrückend. Die Möglichkeit, daß eine individuelle Lebensspanne verstreichen kann, ohne daß der diese unwiederholbare Zeitstrecke durchlebende Mensch sich im Rahmen der ihm grundsätzlich gegebenen Möglichkeiten »zur Eigentlichkeit seiner Existenz aufschwingt« (wie ein Existenzphilosoph es formulieren würde), ist unüberbietbar tragisch. Ein Mensch, der zeit seines Lebens auf den engen Rahmen unmittelbarer sinnlicher Anschauung beschränkt bleibt, fristet ein Kümmerdasein gemessen an dem, was menschliche Existenz sein kann.

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Ob er sich von der Beschränkung auf solche geistige Enge nun durch philosophische Besinnung befreit oder durch die Hinwendung zu den uns von der Naturwissenschaft erschlossenen Hintergründen unserer Alltagswelt, macht letztlich keinen Unterschied. Auf beiden Wegen kann man die Grenzen naiven Welterlebens hinter sich lassen und den Horizont seiner unmittelbaren Erfahrung überschreiten (»transzendieren«). In beiden Fällen legt dieser Schritt die Sicht frei auf die Voraussetzungen und das Geheimnis unserer Existenz. Wer ihn einmal getan hat, der wird von da ab — auch wenn er zum philosophischen »Räsonieren« gar nicht neigt — sein Dasein und das seiner Mitmenschen mit anderen, neuen Augen sehen.

Die Welt der Protozoen ist ja nur ein konkretes Einzelbeispiel. Der Wege, die über die Grenzen des vom alltäglichen Welterleben ausgefüllten Horizonts hinausführen, gibt es viele.* Durch Fräulein Gaßner lernte ich einen zweiten, vielleicht noch grundsätzlicheren kennen. Allerdings muß hier verdienstes- und dankbarkeits­halber eingeschoben werden, daß der erste Anstoß, ihn zu betreten, wieder von meinem Vater ausging.

Ich erinnere mich noch gut eines gemeinsamen Spazierganges im Harri, dem fast am Rande unseres Bückeburger Gartens beginnenden Bergwald, während eines seiner sporadischen Wochenend­besuche. Auf irgendeine Weise waren wir, oder vielmehr war ich, nachdem ich mir einige in der Zwischenzeit angesammelte Fragen hatte beantworten lassen, darauf verfallen, ihm die Frage zu stellen, ob es eigentlich Dinge gebe, die man nicht erklären könne. Ich habe das damals ganz sicher nicht so präzise ausgedrückt, aber das war der Kern meiner Frage, und mein Vater verstand sofort, was ich meinte.

* In unserer ein wenig einseitig »geisteswissenschaftlich« geprägten Kulturlandschaft grassiert mancherorts noch immer die Meinung, daß naturwissenschaftliche Einsichten zur Erhellung menschlicher Existenz nichts beizutragen ver­möchten. Ich habe in früheren Publikationen wiederholt ausführlich auseinandergesetzt, warum es sich bei dieser Ansicht um ein widerlegbares Vorurteil handelt, und möchte das hier nicht wiederholen. In Wirklichkeit ist natur­wissen­schaft­liche Grundlagenforschung (nicht freilich die technische Ausnutzung des dabei gewonnenen Wissens, was noch immer erstaunlich selten unterschieden wird!) als eine »Fortführung der Metaphysik mit anderen Mitteln« anzusehen, wie ich es schon vor Jahrzehnten formuliert habe. Wer sich für die nähere Begründung dieser Auffassung interessiert, sei zum Beispiel auf meinen Aufsatz »Naturwissenschaft und menschliches Selbstverständnis« (1973) verwiesen (abgedruckt in: »Unbegreifliche Realität«, Hamburg 1987) oder auf mein Buch »Wir sind nicht nur von dieser Welt« (Hamburg 1981).

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Seine Antwort bestand in einem Benehmen, das auf einen zufälligen Beobachter recht seltsam gewirkt hätte: »Jetzt will ich nach links gehen«, sagte er laut in den Wald hinein — und tat es im nächsten Augenblick. »Und jetzt will ich meinen rechten Arm heben«, lautete das nächste Kommando, das er sich selbst gab und ebenso prompt ausführte. Während ich ihm etwas erstaunt zusah, begann er, mir den Zusammenhang zwischen seinen in ähnlicher Weise noch für einige Augenblicke fortgesetzten »Übungen« und meiner Frage zu erläutern. Obwohl er, so etwa lautete seine Erklärung sinngemäß, sich nach Belieben entscheiden könne, diese oder jene Bewegung auszuführen, und das dann auch tun könne (oder auch nicht, wenn er es sich anders überlege), sei er völlig außerstande, mir zu erklären, wie er das mache. Er glaube auch nicht, so fügte er hinzu, daß es irgendeinen Menschen gebe, der das wisse.

Selbstverständlich begann ich im nächsten Augenblick, die bei meinem Vater beobachteten »Übungen« nachzumachen, um auszuprobieren, ob es mir genauso ging. Es ging mir genauso, stellte ich fest, was mich offengestanden mehr befriedigte als beeindruckte, weil mir die Hintergründigkeit des Sachverhalts damals noch verschlossen blieb. Der Fall erschien mir aber doch anregend genug, um die Frage anzuschließen, ob es noch andere solche Unerklärlichkeiten gebe. Nach kurzem Nachdenken konnte mein Vater tatsächlich mit einem weiteren Beispiel aufwarten, das seiner sinnlichen Anschaulichkeit halber meinem Begriffsvermögen sehr viel angemessener war als der abstrakte Fall einer »bewußten Willensentscheidung«. Er verwies mich auf den blauen Himmel über uns und forderte mich auf, einmal zu überlegen, wie weit es da wohl hinaufgehe. In kürzester Zeit waren wir uns einig darüber, daß es sehr schwer war, sich vorzustellen, daß es dort oben »unaufhörlich weiterging«, aber gleichzeitig auch gänzlich unmöglich, sich eine Grenze auszudenken, die dieser Unaufhörlichkeit irgendwo ein Ende setzte.

Ich weiß noch, daß ich versuchte, mir eine riesige Kugel vorzustellen, die den Raum des Himmels über mir irgendwo ganz weit entfernt abschloß. Als ich meinem Vater diese »Lösung« unterbreitete, war es ihm natürlich ein leichtes, mich mit der einfachen Gegenfrage, wie es denn meiner Ansicht nach hinter dieser kugelförmigen Grenze weitergehe, aufs neue in Ratlosigkeit zu versetzen. Auch daß das für jede andere ausdenkbare Grenze ebenso gelte, leuchtete mir unmittelbar ein. Die Angelegenheit beschäftigte mich eine ganze Weile.

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Noch abends im Bett, als ich nicht einschlafen konnte, weil ich meinen Vater schon wieder auf der Rückreise nach Berlin wußte, zerbrach ich mir den Kopf vergeblich über das seltsame Geheimnis.

Der Boden war also vorbereitet, als Fräulein Gaßner Jahre später anfing, mir den Sternhimmel zu erklären. Ich erinnere mich der ersten Lektion noch in allen Einzelheiten. Wir gingen ein Stückchen die nächtliche Straße hinunter bis zu einer Stelle, an der keine Straßenlampe mehr blendete. Angesichts eines winterlich strahlenden Sternhimmels hörte ich dann zum ersten Male davon, daß alle Sterne, die ich da sah, Sonnen waren wie unsere eigene, nur eben »unendlich weit« entfernt. Meine Mentorin versuchte sogar, mir eine Vorstellung zu vermitteln von den Entfernungen, die im Spiele waren. Zum ersten Male hörte ich den Ausdruck »Lichtjahr« und hatte, wie es anfangs allen geht, Schwierigkeiten zu begreifen, daß es sich dabei um eine Entfernungsangabe handelt (»um die Strecke, die ein Lichtstrahl zurücklegt, während ein ganzes Jahr vergeht«).

Natürlich kam auch die Grenzenlosigkeit des Raumes wieder zur Sprache, den ich da leibhaftig vor Augen hatte. Und wieder wurde mir gesagt, daß es sich um eine Frage handele, auf die kein Mensch eine Antwort geben könne. Ich war elf Jahre alt, und mir schwindelte der Kopf. Abermals spürte ich geradezu körperlich die Begegnung mit einem überwältigenden Geheimnis. Die Faszination seines Anblicks ist für mich heute noch so frisch wie damals. Dabei wäre ich gänzlich außerstande gewesen, jemandem zu erklären, was es eigentlich war, das mich so in seinen Bann schlug. Noch Jahrzehnte später, als Erwachsener, empfand ich resignierend diese Unfähigkeit, sobald ich versuchte, anderen meine Faszination verständlich zu machen, um auch ihnen möglichst die Augen zu öffnen für ein Wunder, das sie nicht zu sehen schienen, obwohl sie nur den Kopf hätten zu heben brauchen, um seiner ansichtig zu werden.

Bis ich dann, noch später, auf eine Erklärung stieß, die mich endlich im tiefsten Herzen befriedigte. Karl Popper hat, wie es für seine besten Texte so charakteristisch ist, mit ganz einfachen Worten klar ausgesprochen, worauf die Erschütterung beruht, die vom Anblick des Sternhimmels ausgeht: Er führe uns das ganze Ausmaß unserer Unwissenheit konkret vor Augen. Denn unser Wissen könne immer nur begrenzt sein, während unsere Unwissenheit notwendigerweise grenzenlos sei. Und er fährt fort: »Wir ahnen die Unermeßlichkeit unserer Unwissenheit, wenn wir die Unermeßlichkeit des Sternhimmels betrachten. Die Größe des Weltalls ist zwar nicht der tiefste Grund unserer Unwissenheit; aber sie ist doch einer ihrer Gründe.«*

* Karl R. Popper, »Von den Quellen unseres Wissens und unserer Unwissenheit«, in: Mannheimer Forum 75/76 (1975), S. 50

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 109 - Post von Adolf Hitler  

 

Während ich meine Abende über dem Mikroskop verbrachte oder mich nachts vom Wecker aus dem Schlaf reißen ließ, um mit einem von Fräulein Gaßner gebastelten Primitivfernrohr den Umlauf der Jupitermonde zu verfolgen, beschäftigten andere sich mit ernsteren Dingen. Am Böttcherberg bekamen wir davon nicht viel mit. Manchmal fuhren Lastwagen an unserem Hause vorbei, auf denen Männer saßen, die Fahnen schwenkten und sangen oder laut brüllten, daß man diese oder jene »Liste« wählen solle. Ich konnte damit nicht viel anfangen, erkundigte mich aber auch nicht bei den Eltern, weil es mich nicht interessierte.

Meine »politische Einstellung« — soweit man von einer solchen überhaupt reden konnte — war, wie nicht anders denkbar, das Echo dessen, was ich seit eh und je von den Erwachsenen zu hören bekam. Ich hatte einen »Stahlhelm«-Wimpel über dem Bett hängen — ein Geburtstagsgeschenk von Onkel Gerhard — und war im übrigen, wie mein Vater auch, von der Hoffnung erfüllt, daß irgendwann die »nationalen Kräfte« die Geschicke des Vaterlandes wieder in die Hand nehmen würden. Wenn es soweit war, das stand fest, würde es uns endlich wieder gutgehen, wenn vielleicht auch nicht wieder ganz so gut wie vor 1914. Denn das waren eben »goldene Zeiten« gewesen, wie ich den Schilderungen meines Vaters entnehmen konnte, und so etwas war selten.

Von den »nationalen Kräften«, auf die alle Hoffnungen sich richteten, hatte ich nur eine höchst nebelhafte Vorstellung. Vor meinem geistigen Auge wurde, wenn ich diesen Begriff hörte, aber jedenfalls marschiert. Auf Plakaten und Anstecknadeln war neuerdings häufig der Aufruf »Deutschland erwache!« zu lesen. Ein Schlagwort, das in jedem national gesinnten Herzen eine Saite zum Klingen brachte.

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Deutschland müsse sich endlich wieder auf seine Kraft besinnen, so ging die Rede. Ich verstand das als den Wunsch nach einer größeren Armee als jenem lächerlichen 100.000-Mann-Heer, das unsere Feinde uns gnädigst zugestanden hatten, nach Tanks und Militärflugzeugen. Nicht zum Kriegführen etwa, Gott bewahre! Nur als Beweis deutscher Gleichberechtigung mit den anderen Staaten.

Aber auch, damit endlich Schluß gemacht werden konnte mit der schikanösen Unterdrückungspolitik der ehemaligen Kriegsgegner, allen voran der Franzosen, die uns immer tiefer ins Elend trieb und die wir uns gefallen lassen mußten, weil wir wehrlos waren. Zur nationalen Schande kam jetzt noch eine sich rasch ausbreitende, Hoffnungslosigkeit auslösende Not. Äußerungen eines erbitterten Hasses auf die Franzosen hörte ich jetzt gelegentlich auch von den Eltern meines proletarischen Spielkameraden Heinz Lehmann.* Aber wir Deutschen trügen durch unsere »gottverdammte Zwietracht« ja selbst bei zu dem ganzen Elend, erklärte mein Vater. Mehrmals habe ich erlebt, wie er seine Zeitung — welche es war, weiß ich nicht mehr, aber deutschnational wird sie schon gewesen sein — nach der sonntäglichen Frühstückslektüre voller Zorn auf den Eßtisch warf, angewidert »von dem ekelhaften Parteiengezänk«, bei dem jeder nur seine eigenen Interessen verfolge, anstatt auch einmal »an das Vaterland« zu denken. Aber das »System«, das in Deutschland herrsche, hätten eben nicht Patrioten in der Hand, sondern Sozialdemokraten, Kommunisten und anderes »Pack«. Da sehe man, wohin es führe, wenn man sich auf eine Republik einlasse. In einer Monarchie wäre es niemals so weit gekommen.

 

* Dies etwa war, soweit ich mich daran erinnere, damals die Stimmung in meiner Umgebung. Rückblickend wird man sagen können, daß sie nicht allein als Ausgeburt der nationalen Neurose konservativer Kreise anzusehen war. Ein so unverdächtiger Zeuge wie der englische Historiker Alan Bullock berichtet unter anderem, daß der Versuch der Regierung Brüning, die schlimmsten Auswirkungen des Zusammenbruchs einiger der größten Banken in Deutschland und Österreich im Sommer 1931 durch eine Zollunion zwischen den beiden Ländern abzufangen, auf französischen Druck hin aufgegeben werden mußte.

Infolgedessen vertiefte sich die wirtschaftliche Notlage noch mehr: Die Zahl der Arbeitslosen stieg von drei Millionen im September 1930 auf über fünf Millionen im Dezember 1931. (Alan Bullock, »Hitler. Eine Studie über Tyrannei«, Düsseldorf 2-1953, S. 173ff.). Gleichzeitig aber hatte das Reich auch noch Reparationen an die ehemaligen Gegner zu leisten, deren Weiterzahlung unter anderem durch den Druck der zwölf Jahre nach Kriegsende noch andauernden Besetzung des Rheinlandes durch französische Truppen erzwungen wurde. Man machte es Hitler wahrhaftig leicht, die nationalen Emotionen aufzuputschen!

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Er hat es nie gesagt, jedenfalls kann ich mich nicht daran erinnern, aber ich habe keinen Zweifel, daß er damals die Ansicht vieler aus »unseren Kreisen« teilte, die ganz offen davon sprachen, daß eine Abschaffung des parlamentarischen Systems, in dem immer nur geredet und nie etwas getan werde, und die Rückkehr von Wilhelm II. aus dem holländischen Exil die einzige Lösung darstelle. Daß »demokratische Gleichmacherei« und »parlamentarische Uneinigkeit« ein Ende haben müßten, wenn Deutschland jemals wieder »gesunden« und sich auf seine wahre Stärke besinnen solle, das erschien mir ebenso einleuchtend wie meinem Vater. Das war nach eigenem Bekunden auch die Ansicht derer, die jetzt auf der Straße immer lauter »Deutschland erwache!« schrien. Die hatten zwar keineswegs Kaiser Wilhelm im Sinn. Aber in dem Haß auf das bestehende »System« war man sich in beiden Lagern einig.

Seit Ostern 1931 besuchte ich das Viktoria-Gymnasium in Potsdam. Ich hatte schon einmal während eines Klassenausfluges der Klein-Glienicker Volksschule vor dem häßlichen roten Backsteinbau gestanden, den ich, wie ich bereits wußte, bald darauf täglich aufsuchen würde. Herr Vetter, unser Klassenlehrer, erklärte uns im Verlauf seiner Stadtführung die Bedeutung auch dieses Gebäudes mit Gewissenhaftigkeit. Als er fertig war, fügte er mit halblauter Stimme in einem Ton, in dem sich Neid und andächtige Hochachtung unüberhörbar mischten, noch einen Schlußsatz hinzu. »Ja«, sagte er, den Blick sehnsüchtig auf die Gründerzeitfassade gerichtet, »wer auf diese Schule gehen darf, der bringt es zu etwas!« Wie sehr es ihn in diesem Augenblick schmerzte, selbst nicht zu den Auserwählten gehört zu haben, war mir so sehr bewußt, daß ich mich intuitiv hütete, meinen privilegierten Status zu offenbaren.

Mein Eintritt in diese »Höhere Lehranstalt für Knaben«* vollzog sich unter wenig rühmlichen Umständen. Nach der einen ganzen Tag währenden Aufnahmeprüfung stand ich mit mehr als hundert gleichaltrigen Bewerbern und einer gleichen Zahl erwachsener Begleitpersonen in Erwartung der Urteilsverkündung auf dem Schulhof.

* Die getrennte Schulausbildung der Geschlechter war aus Gründen, die bei der offiziellen Prüderie (und uneingestandenen Sexualangst) der damaligen Gesellschaft auf der Hand liegen, eine schiere Selbstverständlichkeit.

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Ein Lehrer begann, mit lauter Stimme die Namen der Jungen vorzulesen, die das Gymnasium aufgrund ihrer Leistungen bei der Prüfung von nun an würden besuchen dürfen. In alphabetischer Reihenfolge. Als er mit dem Buchstaben »D« fertig war und sich den mit »E« beginnenden Familiennamen zuwendete, ohne daß mein Name gefallen war, bemächtigte sich meiner neben mir stehenden Mutter eine gewisse Unruhe. Schließlich war der Lehrer am Ende der Verlesung angekommen. Während er seine Liste wieder zusammenfaltete, sagte er, mit wesentlich leiserer Stimme, den Blick zu Boden gesenkt, schließlich noch: »Mit Bedenken aufge­nommen: Hoimar v. Ditfurth.«

Mehrere Gesichter drehten sich in unsere Richtung, und meine Mutter bekam einen roten Kopf. Mich selbst ließ der Vorfall völlig kalt. Das hing mit der gleichen Ursache zusammen, die sich zur Erklärung meiner offensichtlich mangelhaften Prüfungsergebnisse anführen läßt. Mein Vater hatte seit so langer Zeit schon mit der unbefragbaren Selbstverständlichkeit seiner Autorität davon gesprochen, daß ich nach der Volksschule das Viktoria-Gymnasium besuchen würde, daß der Fall für mich längst ausgemacht war, als die Lehrer damit anfingen, sich nach meiner Eignung zu erkundigen. Die Aufnahmeprüfung war für mich unter diesen Umständen nur noch eine im Grunde überflüssige Formalität, bei der sich anzustrengen pure Kraftvergeudung gewesen wäre.

Das Viktoria-Gymnasium lag am entgegengesetzten Ende Potsdams, neben dem Nauener Tor. Der tägliche Schulweg warf damit einige Probleme auf. Die Monatskarte für den Klein-Glienicke mit der Potsdamer Innenstadt verbindenden Postomnibus war zu teuer. Seine Benutzung blieb meinen im Babelsberger Prominentenviertel am Ufer des Griebnitzsees wohnenden Schulkameraden vorbehalten. Zu teuer war auch ein Fahrrad (dessen Benutzung für mich nach Ansicht meiner Eltern außerdem viel zu gefährlich gewesen wäre). So tippelte ich an jedem Morgen in aller Frühe in einem Fußmarsch von etwa zwanzig Minuten zur Glienicker Brücke, an deren anderer Seite die Linie 1 der Potsdamer Straßenbahnen ihre Endhaltestelle hatte. (Es war die Brücke, die heute, sonst für jederart Verkehr gesperrt, dazu dient, von Zeit zu Zeit Agenten oder freigekaufte Dissidenten zwischen den beiden Supermächten auszutauschen.) Begleitet wurde ich dabei auf Anweisung der besorgten Eltern von Hertha. Wir unterhielten uns immer lebhaft.

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Auf einem dieser Wege zeigte ich Hertha meine erste Mickymaus, in Gestalt einer Anstecknadel, die ich am Vortage in der Schule gegen Zigarettenbilder eingetauscht hatte. Zu meiner Genugtuung war Hertha das ulkige Wesen auch neu. Einige Zeit später hörte ich von Hertha erstmals von einem anderen Wesen, bei dem es sich allerdings nicht um eine Witzfigur handelte. Hertha erzählte mir zum erstenmal von Adolf Hitler. Es ist zwar nicht völlig ausgeschlossen, daß ich diesen Namen bei den Unterhaltungen der Erwachsenen in unserem Hause vorher noch nie gehört haben sollte. Aber er war bei mir nicht hängengeblieben, war in der Fülle der Politiker­namen als einer unter vielen untergegangen.

Seine Nennung aus dem Munde von Hertha ist mir jedenfalls als die erste in Erinnerung geblieben. Zweifellos deshalb, weil sein Träger bei dieser Gelegenheit als konkrete Person in Erscheinung trat. Hitler hatte Hertha nämlich einen Brief geschrieben. Wie ich an diesem Morgen auf halbem Wege zwischen Böttcherberg und Glienicker Brücke erfuhr, handelte es sich um einen Antwortbrief, gänzlich unerwartet und die Empfängerin dementsprechend beeindruckend. In einer Aufwallung nationaler Gefühle hatte Hertha dem Führer der »nationalsozialistischen Bewegung« Wochen vorher brieflich ihre Zustimmung zu seiner Absicht mitgeteilt, Deutschland wieder groß und stark zu machen und die Arbeitslosigkeit abzuschaffen. Darauf hatte sie nun eine dankende Antwort bekommen. Es dürfte sich um einen gedruckten Standardtext gehandelt haben, eine Möglichkeit, die wir damals gar nicht in Betracht zogen. Hertha hätte sich vermutlich auch daran nicht gestört, denn zu ihrem Entzücken begann der Brief mit einer persönlichen Anrede. »Wertes Fräulein Mehling«, so habe der Brief angefangen, versicherte sie mir mehrmals mit Nachdruck.

Das aber war ein Punkt, der mich stutzig machte. Ich verschwieg es Hertha, um ihre offensichtliche Freude nicht zu trüben. Der Eindruck jedoch, den ich bei dieser ersten Gelegenheit von Hitler gewann, war, ich kann es nicht anders sagen, ausgesprochen ungünstig. »Wertes Fräulein...«, das schrieb ein Herr einfach nicht. »Sehr geehrtes...« oder einfach »Geehrtes...«, das wäre in Ordnung gewesen, ebenso auch »Verehrtes...«, meinetwegen auch noch »Liebes Fräulein Mehling«. Aber »Wertes...«, das war spießig und unmöglich. Soviel war auch mir als Elfjährigem mit absoluter Gewißheit klar. 

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Denn mochten wir auch noch so arm sein, die vielfältigen kleinen sprachlichen und Verhaltensmerkmale, die dem Eingeweihten die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Klasse signalisieren und die jemand, der nicht dazugehört, in aller Regel nicht registriert, die hatte man uns so eingedrillt, daß sie uns in Fleisch und Blut übergegangen waren. Auch wir selbst bemerkten sie nicht, weil sie uns längst selbstverständlich waren. Was uns auffiel, war ihr Fehlen. Was uns peinlich berührte, war, wenn jemand gegen sie verstieß. So jemand war in unseren Augen »erledigt« — aus dem gleichen Grunde, aus dem in den Augen eines passionierten Fußballfans etwa eine Fernsehmoderatorin »erledigt« ist, die einen traditionsreichen Fußballklub versehentlich als »Schalke 05« ankündigt (anstatt als »Schalke 04«, wie es jeder Kenner noch im Schlaf herbeten würde): Weil sie damit verrät, daß sie nicht sattelfest ist und daher dem engeren Kreise der Fußballfreunde nicht zugehörig. Scheinbar nur ein winziger Lapsus. Aber, wie sich gezeigt hat, genug, um eine Karriere zu beenden.

Nun ist bekannt, daß der Stellenwert dieser sozialen Signale, soweit sie sich auf die Zugehörigkeit zu einer bestimmten »Klasse« beziehen, seit dem totalen Zusammenbruch der deutschen Vorkriegsgesellschaft in dem Maße abgenommen hat, in dem sich die ehemaligen Klassengrenzen aufgelöst haben — was zweifellos als Fortschritt anzusehen ist. Ich verstehe deshalb gut die Motive vieler heutiger Jugendlicher, die es mitunter bewußt darauf anlegen, gegen manche ihnen übertrieben (und vor allem »sinnlos«) erscheinende Tischsitten und andere Formen der »Etikette« im sozialen Umgang zu verstoßen. (Wenn auch die meisten von ihnen dabei übersehen, daß viele dieser von ihnen abgelehnten »Rituale« so sinnlos nicht sind, weil sie, unter anderem, dazu dienen, mögliche Reibungsflächen im mitmenschlichen Umgang zu glätten.)

Aber in früher Jugend erworbene Verhaltensweisen sind tief eingewurzelt. Ich muß daher, auch auf die vorhersehbare Gefahr hin, daß mancher mich deshalb für ein Fossil halten wird, bekennen, daß es mich noch heute außerordentlich stört, wenn jemand beim Essen den Ellenbogen aufstützt oder die Kartoffeln mit dem Messer schneidet, wenn jemand am kleinen Finger einen Ring trägt oder einem das Streichholz nicht abnimmt, mit dem man ihm Feuer für seine Zigarette anbietet. Ich würde auch beschwören können, daß der Rücken meiner Mutter, bevor sie ins Greisenalter kam, bei Tische niemals eine Stuhllehne berührt hat. Und daher irritierte es mich damals als Elfjährigen unvermeidlich, daß Hitler seinen Brief an Hertha mit der Anrede »Wertes Fräulein« eingeleitet hatte. Ein »Herr« war Hitler also nicht. Soviel stand damit für mich fest. Was aber war Hitler dann?

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En miniature waren das die Fragen, die auch die deutschnational gesinnte Gesprächsrunde zu beschäftigen begannen, die sich in unserem Hause gelegentlich zusammenfand. Bei den Gesprächen, die mein Vater an den Wochenenden — wochentags war er abends zu müde — mit Verwandten und mit Offizieren der Potsdamer Garnison führte, ging es bald immer häufiger um diesen Punkt. Was war »von dem Kerl« eigentlich zu halten? Die Meinungen waren zwiespältig. Sympathisch war Hitler zweifellos nicht. Sein Auftreten war unmöglich. Bei einem ehemaligen Anstreicher, der es in vier Kriegsjahren bloß bis zum Gefreiten gebracht hatte, war das auch nicht anders zu erwarten. Und das Benehmen seiner SA im nahe gelegenen Berlin war abstoßend vulgär. Die verprügelten ihre politischen Gegner neuerdings unter den Augen der Polizei. Dabei gab es sogar Tote. Andererseits waren das in aller Regel Kommunisten oder »Sozis«. Und daß die endlich mal »einen auf den Hut« bekamen, war so schade nicht. Schön war die Art und Weise gewiß nicht, aber »wo gehobelt wird, da fallen Späne«. War es eigentlich ein Nachteil, wenn »der Pöbel sich gegenseitig in Schach hielt?« Vielleicht sollte man als Offizier froh sein, wenn Hitlers Privatarmee einem »die Dreckarbeit abnahm«?

Und das, was »der Kerl« bei seinen vielen, immer ausführlicher in den Zeitungen abgedruckten Reden so von sich gab, das ließ sich doch hören. Dem konnte man im Grunde nur beipflichten. Seine Empörung über die ungerechten Bestimmungen des »Versailler Diktats« und die offenkundigen Mißstände des republikanischen »Systems«, die Anprangerung der Ungeheuerlichkeit, daß das Ausland dem Deutschen Reich mehr als zehn Jahre nach Kriegsende immer noch die Gleichberechtigung unter den Nationen versagte, das war jedem echten Patrioten aus dem Herzen gesprochen. Daß sich der Mann außerdem stets entschieden für eine Vergrößerung des Heeres und den Abbau der Deutschland auferlegten Rüstungs­beschränkungen ins Zeug legte, war ein weiterer Punkt, den man anerkennen mußte. Dies wurde verständlicherweise vor allem von den Offizieren in der Runde beifällig zur Kenntnis genommen, nicht zuletzt von den ehemaligen Offizieren, die jetzt arbeitslos oder (wie mein Vater) in Stellungen tätig waren, die sie als unter ihrer Würde empfanden.

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Eines Tages verkündete mein Vater beim Frühstück beiläufig, daß er in die Partei Hitlers eingetreten sei, in die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiter­partei, wie sie hieß — zungenbrecherisch und schwer zu behalten. Meine Mutter, offensichtlich informiert, gab keinen Kommentar dazu ab. Mein Vater jedoch fühlte sich bemüßigt, uns Kindern seinen Entschluß zu erklären, wozu er sonst bei seiner unbefangen »autoritären« Einstellung (wie man das heute nennt) nicht neigte. Aber dieser Schritt war für ihn ungewöhnlich. Er hatte bis dahin, ungeachtet seines nationalen Engagements, nie einer Partei angehört. Auch nicht der Deutschnationalen Volkspartei Hugenbergs, der er, wie ich vermute, bei den Wahlen seine Stimme gab. Jetzt aber war er über seinen Schatten gesprungen. Daß es ihm nicht leichtgefallen war, entnahm ich der etwas gewundenen und wenig Überzeugungskraft ausstrahlenden Art und Weise seiner Begründung.

Zwar sei dieser Hitler ein unangenehmer Parvenü, so etwa bekamen wir an diesem Sonntagmorgen im Herbst 1932 zu hören, und seine SA sei, was er, mein Vater, gar nicht bestreiten wolle, ein ordinärer Trupp proletarischer Schläger. Aber man müsse doch auch die andere Seite einmal bedenken: die Tatsache vor allem, daß es so wie bisher nicht weitergehen könne. Irgend jemand müsse dieser korrupten, nur mit Postenschacher beschäftigten Bande linker Systempolitiker endlich das Handwerk legen, wenn es mit Deutschland jemals wieder aufwärts gehen solle. Und da sei weit und breit niemand zu sehen, dem man das zutrauen könne, außer diesem Hitler. Wenn aber die Clique der »Verzichtspolitiker« erst einmal zum Teufel gejagt worden sei, dann würden die »nationalen Kräfte« (zu denen in den Augen meines Vaters Hitler nicht zählte) endlich die Möglichkeit haben, die Zügel in die Hand zu nehmen, um das Vaterland aus dem Elend herauszuführen. Denn die Regierung dürfe man Hitler und seinen Kumpanen selbstverständlich nicht überlassen. Dazu fehle es dieser »Bewegung« an allen Voraussetzungen.

So (sinngemäß) der Kommentar meines Vaters, abgegeben zur Begründung seiner Entscheidung, Hitler »im Augenblick« durch den Eintritt in dessen Partei zu unterstützen. Bei den Voraussetzungen zur Übernahme der Regierung, an denen es dieser Partei nach Ansicht meines Vaters und seiner nationalkonservativen Gesinnungsgenossen so total fehlte, dachten sie alle unglücklicherweise, in (nachträglich!) überwältigend realitätsfern erscheinender Naivität, in erster Linie an die »schlechten Manieren« dieser Leute.

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Nicht nur bei Tisch. (War es nicht einfach grotesk, sich die Männer im Umkreis Hitlers etwa bei einem diplomatischen Empfang vorzustellen?) Es wurde keineswegs übersehen, daß die Manieren der Nazis, wie man sie abkürzungshalber (und damals noch keineswegs unbedingt abschätzig) zu nennen begann, auch im Umgang etwa mit der Rechtsstaatlichkeit einiges zu wünschen übrigließen.

Aber abgesehen davon, daß Zimperlichkeit nicht die Parole sein konnte, wenn sich eine Chance bot, den Klüngel der »Systempolitiker« in die Wüste zu schicken: Vor den Nazis brauchte man sich nicht zu fürchten. Von denen drohte keine Gefahr. Denn da gab es den Feldmarschall Paul von Hindenburg, den von allen Parteien seines Ansehens wegen respektierten Reichspräsidenten. Und wenn es tatsächlich einmal hart auf hart gehen sollte, gab es schließlich auch noch die Reichswehr, auf die absoluter Verlaß sein würde, wenn es wirklich — was ganz unwahrscheinlich war — notwendig werden sollte, Hitler und seine Sturmtruppen in ihre Schranken zu verweisen. Aber Hitler würde sich ja ohnehin nur wenige Monate an der Regierung halten können — und dann schlug die Stunde »der nationalen Kräfte«!

So begann man »in unseren Kreisen« mehr oder weniger unverblümt mit dem Gedanken zu spielen, daß es möglich sein müsse, diese etwas obskure Hitler-Bewegung für die eigenen Interessen einzuspannen: dafür, das verhaßte »System« wegzufegen, womit der Platz frei würde, das Ruder des Schiffes »Deutschland« endlich selbst wieder in die Hand zu nehmen.* 

Daß es allerdings eine spezielle Voraussetzung bei diesem Wettlauf zur Machtübernahme gab, hinsichtlich deren sie Hitler und seinen Gefolgsleuten hoffnungslos unterlegen waren, das kam nicht einem dieser nationalistischen Träumer in den Sinn: Auf die brutale Rücksichtslosigkeit, mit der die National­sozialisten nach Hitlers Ernennung zum Reichskanzler innerhalb weniger Monate alle Schlüsselpositionen bis hinab zu den kommunalen Behörden mit »ihren Leuten« besetzten (zu welchem Behufe sie die legalen Amtsinhaber einfach verhafteten oder notfalls mit Prügeln und Morddrohungen einschüchterten), war niemand von ihnen gefaßt gewesen. 

Es ist einfach, ihnen das nachträglich als schuldhaftes Versäumnis anzukreiden. Natürlich war es ihre historische Schuld. Aber post festum** übersieht man auch leicht die wenigstens diesen Teil ihrer Schuld subjektiv mildernden Faktoren: Mörderische Skrupellosigkeit in dem von den Nazis praktizierten Ausmaß war damals nicht nur ihnen unvorstellbar. Sie war neu, auch im historischen Vergleich. Nicht zuletzt deshalb verlief der nationalsozialistische Staatsstreich ja so glatt. Er überrumpelte seine Gegner. Der eigentliche Vorwurf, den »unsere Kreise« sich ohne Einspruchsmöglichkeit und mildernde Umstände gefallen lassen müssen, ist, daß sie aufgrund ihrer klassenegoistischen Borniertheit Republikfeinde, Antidemokraten gewesen sind.

Einige Wochen nachdem mein Vater aus der Partei Hitlers wieder ausgetreten war — weil das Benehmen dieser Leute ihm schließlich doch zu weit ging —, lasen wir eines Morgens in der Zeitung, daß Reichs­präsident von Hindenburg Hitler zum Reichskanzler ernannt habe. Die Reaktion bei uns zu Hause und bei Nachbarn und Bekannten war eine erwartungsvolle Spannung. Hitlers Vorgänger auf diesem Posten — Brüning, von Papen und von Schleicher — hatten sich jeweils nur kurze Zeit behaupten können. »Jetzt werden wir ja sehen«, sagte mein Vater. Seine Stimme hatte dabei den leicht spöttischen Unterton vorweg­genommener Schadenfreude.

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* Die Metapher vom Vaterland als »Schiff« war seit Wilhelminischer Zeit im Schwange, selbst bei linken Kritikern, wie ein satirischer Vers belegt, der den Mitgliedern der kaiserlichen Familie entsprechende Funktionen zuweist: »Prinz Wilhelm steht am Steuerrad / Prinz Heinrich heizt den Schlot / Prinz Adalbert zieht hinten hoch / die Fahne Schwarz-Weiß-Rot.« 

** (d-2012)  post festum ....

 

 

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