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    Teil 2   Naziregime, Weltbilder, Neandertaler  

  201 - Das Debüt der neuen Herren 

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Die Begeisterung des deutschen Volkes über Hitlers »Machtergreifung« war unbeschreiblich — so jedenfalls stand es in den Zeitungen, die mein Vater jetzt nach dem Sonntagsfrühstück las. Er hielt das in dieser Ausschließlichkeit zwar für übertrieben, räumte aber ein, daß es nicht schade, den Leuten endlich wieder einmal etwas Mut zu machen. Der weitere Verlauf schien ihm ohnehin vorgezeichnet: Hitler und seine Kumpane würden innerhalb weniger Monate »am Ende sein«, weil sie »vom Regieren nun wirklich nicht das geringste verstehen«.

Nachdem ihnen so Gelegenheit gegeben worden sei, sich vor aller Augen unsterblich zu blamieren — womit sie ihre Rolle als mit den »nationalen Kräften« konkurrierende »Bewegung« ein für alle Male ausgespielt hätten —, komme es zu dem entscheidenden Schritt: Der »greise Reichspräsident« von Hindenburg werde Hitlers Regierung wieder absetzen. Damit aber rückte endlich die Erfüllung des Wunschtraums in greifbare Nähe, dem mein Vater und seine deutschnationalen Freunde über all die Jahre hinweg so unbeirrt angehangen hatten. Denn dann würde der Platz frei sein — das republikanische »System« war von den Nazis ja beseitigt worden — für die Bildung einer Regierung der »nationalen Kräfte«. Wie diese Regierung im einzelnen aussehen sollte und wie die politische Ordnung, der sie vorstehen würde, darüber allerdings ist mir niemals etwas auch nur einigermaßen Konkretes zu Ohren gekommen.

Daß die Deutschnationalen und der »Stahlhelm« eine führende Rolle spielen würden, war selbstverständ­lich. Auf irgendeine nicht näher bestimmte Weise würde auch die Führung der Reichswehr der neuen Regierung des Reiches angehören. Eine Beteiligung der »unteren Schichten« dagegen wurde selbst­verständlich nicht erwogen. Auch denen sollte es und würde es, sozusagen automatisch, bessergehen als in den zurückliegenden Jahren des »Systems«. 

Aber abgesehen davon, daß die meisten Angehörigen des Proletariats Kommunisten oder Sozialdemokraten waren, »vaterlandslose Gesellen« also, die es streng im Auge zu behalten galt, waren Arbeiter bekanntlich schon intellektuell meist gar nicht in der Lage, sich ein selbständiges politisches Urteil zu bilden. (Das war es, was sie, obwohl in der Mehrzahl sicher rechtschaffene und fleißige Menschen, so anfällig machte für die Hetzparolen linker Agitatoren.)

Wie auch immer aber die neue Ordnung aussehen würde, parlamentarisch und demokratisch würde sie mit Sicherheit nicht sein. Vom ständigen »Parteienzwist« und dem »parlamentarischen Hader« im Reichstag — dieser würdelosen »Quatschbude« — hatte man die Nase voll.

Innerhalb weniger Wochen jedoch änderte sich die Atmosphäre auf eindrucksvolle Weise. Am 21. März 1933 stand ich mit meinen Klassenkameraden (und Hunderten anderer Jungen und Mädchen, von denen einige in der uns noch neuen Uniform der »Hitlerjugend« steckten) am Rande des Wilhelmplatzes (heute »Platz der Einheit«) in Potsdam Spalier. Wir standen uns »die Beine in den Bauch«. Es störte uns nicht.

Das Wetter war herrlich und unsere Stimmung auch, denn wir hatten, für uns überraschend, schulfrei bekommen. Allerdings durften wir nicht nach Hause gehen, sondern mußten stundenlang am Rande des erwähnten Platzes ausharren, um Zeugen eines offenbar wichtigen Ereignisses zu werden, dessen Natur uns näher zu erläutern sich niemand die Mühe gemacht hatte. Wir hatten nur verstanden, daß Hindenburg und Hitler nach Potsdam kämen und daß wir eine Menge berühmter Leute sehen würden. So waren wir voller Erwartung. Vor allem aber, und das war das wichtigste, brauchten wir uns nicht mit dem »Ludus latinus« herumzuärgern, sondern durften den Vormittag im Freien zubringen.

Der »Tag von Potsdam«, wie er nachträglich genannt wurde, verlief am Wilhelmplatz dann aber recht enttäuschend. Die uns versprochenen berühmten Leute müssen die Garnisonkirche, den Ort des Geschehens, auf anderen Wegen erreicht haben. Die Kirche war von unserer Position aus nicht zu sehen. So war die einzige Attraktion, die mir im Gedächtnis geblieben ist, das Defilee einer zwischen einer SA-Kolonne und einer Gruppe unbekannter Zivilisten eingeschobenen Abordnung katholischer Würdenträger. Ich habe das Bild noch deutlich vor Augen: direkt vor mir die Hauptpost, schräg links davon die Synagoge und davor drei Reihen katholischer Kirchenfürsten. Ihre schwarzen, kleiderähnlichen Soutanen, die mit lila leuchtenden Aufschlägen und Schärpen kontrastierten, und ihre breitkrempigen Hüte ließen sie in dieser Umgebung seltsam fehl am Platze erscheinen. Sie hätten diesen Eindruck in dem erzprotestantischen Potsdam in jedem Falle hervorgerufen.

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Ich habe jedoch den Verdacht, daß sie mir nicht zuletzt deshalb so fremdartig, ja suspekt erschienen, weil ich über ihr Aussehen und die Tatsache einer gewissen »ultramontanen« Fragwürdigkeit ihrer Aktivität bisher lediglich — sicher ein wenig einseitig — durch Wilhelm Buschs Bildergeschichte vom »Pater Filuzius« informiert war.

In den anschließenden Tagen und Wochen kam es zu einem allmählichen, auch für mich als Kind spürbaren Wandel der Atmosphäre. Selbst mein Vater zeigte sich von den Berichten und Bildern beeindruckt, die in allen Zeitungen über die Zeremonie in der Garnisonkirche erschienen. Man denke nur: Hitler hatte dem greisen Feldmarschall und Reichspräsidenten von Hindenburg an diesem Ort, Symbol aller preußischen Traditionen und Grabstätte des großen Friedrich, vor den wichtigsten Repräsentanten von Staat und Reichswehr als Zeugen, in die Hand versprochen, daß er sich den Idealen und Werten der preußischen Geschichte verpflichtet fühle. Und noch ein Detail gab es, das man keinesfalls unterschätzen durfte: Hitler hatte sich für den feierlichen Anlaß einen »Stresemann« (schwarzer Frack, gestreifte Hosen) angezogen und war nicht in der gewohnten Parteiuniform erschienen. Hatte dieser Mann, den seine Anhänger ihren »Führer« nannten, damit etwa nicht schon äußerlich demonstrieren wollen, daß er jetzt, da auf ihm die Verantwortung lastete, entschlossen sei, sich den Traditionen unterzuordnen, die mit seinem hohen Staatsamt verbunden waren?

Noch eine weitere Änderung war in »vaterländisch gesinnten Kreisen« mit Aufmerksamkeit registriert worden. Auch sie hatte Vertrauen aufkeimen lassen, sofern sie nicht sogar unverhohlene Begeisterung auslöste. Das Fahnenmeer, mit dem die neuen Herren die Straßen und Fassaden Potsdams festlich hatten schmücken lassen, war ein Meer von schwarzweißroten Fahnen gewesen. Natürlich, und dafür brachte jedermann Verständnis auf, kam auf jede von ihnen auch eine Hakenkreuzfahne. Aber das »Schwarz-Rot-Mostrich« des verhaßten »Systems« war endlich in der verdienten Versenkung verschwunden, zusammen mit allem, was es symbolisierte. Mit einem ihrer ersten Gesetze hatte die neue Regierung die altehrwürdige schwarzweißrote Fahne wieder zur offiziellen Nationalflagge Deutschlands bestimmt. Eine Entscheidung, der kein echter Patriot seine dankbare Zustimmung versagen konnte, auch wenn er im gleichen Zuge die Hakenkreuzfahne als gleichrangige zweite Nationalflagge zu akzeptieren hatte.

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Der Eindruck, der von der Zeremonie in der Garnisonkirche ausging, war so stark, daß er für längere Zeit alles andere in den Hintergrund treten ließ. So wurde bei uns meines Wissens auch keine Notiz davon genommen, daß nur zwei Tage später, am 23. März, im Berliner Reichstag eine Veranstaltung gänzlich anderen Charakters ablief, mit der Hitler sich »für den Zeitraum von vier Jahren« uneingeschränkte Regierungsvollmachten verschaffte. Er konnte von nun an nach Gutdünken, unabhängig vom Votum des Reichstages oder einer Opposition, Gesetze erlassen, die sofort in Kraft traten. Was eine solche Ermächtigung in den Händen eines Diktators bedeutet, braucht man nicht zu erläutern.

Der 23. März 1933 zerschlug den Parlamentarismus in Deutschland und jedwede andere Möglichkeit einer demokratischen Willensbildung. Ob das »in unseren Kreisen« aufrichtig bedauert wurde, wage ich zu bezweifeln. Wir bekamen, bei uns zu Hause jedenfalls dieses wichtige Ereignis meiner Erinnerung nach ohnehin gar nicht mit. Selbstredend muß darüber etwas in den Zeitungen gestanden haben. Dies jedoch fraglos in einer Form, die niemanden vor den Kopf stoßen konnte, der sich der »typischen deutschen Zerrissenheit und Streitsucht« während der vierzehn Weimarer Jahre noch verbittert erinnerte. Hatte nicht sogar Hindenburg in der Garnisonkirche seine Hoffnung ausgedrückt, daß »der Geist dieser alten, ehrwürdigen Stätte uns von Selbstsucht und Parteihader befreien« möge?*

Und ebenso fraglos blieb in den Zeitungen unerwähnt, wie das scheinbar ganz legale Abstimmungs­ergebnis zustande gekommen war, mit dem der Reichstag Hitler seinen Blankoscheck ausfertigte. Fast die gesamte Opposition hatte man vorher verhaftet. Dennoch: 441 Stimmen für den Antrag der Nationalsozialisten — die über 288 von 647 Reichstagsabgeordneten verfügten — konnten nur zusammen­gekommen sein, weil auch andere Fraktionen der Ansicht zuneigten, daß es nach vierzehn Jahren »Systemzeit« angemessen sei, Hitlers »nationaler Bewegung« eine auf vier Jahre befristete Chance einzuräumen. Das alles aber sind, wie ich hinzufügen muß, nachträgliche Überlegungen. Ich habe das Wort »Ermächtigungsgesetz« erst mehrere Jahre nach dem Krieg zum erstenmal gehört, und ich mußte mir erklären lassen, was es damit auf sich hatte.

* Zitiert nach: Alan Bullock, a.a.O., S. 268.

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»Gebt mir vier Jahre Zeit«, das allerdings ist ein »Führerwort«, an das ich mich lebhaft erinnere. »Gebt mir vier Jahre Zeit, und ihr werdet Deutschland nicht wiedererkennen«, so stand es auf den damals in Mode kommenden Spruchbändern. So zitierten wir es auch zehn Jahre später, als es längst zu spät war, in billiger Ironie angesichts unserer zerbombten Städte. 1933 aber klang der Spruch noch hoffnungsvoll in unseren Ohren. Überall, in der Schule, bei Freunden und Bekannten, bei uns zu Hause, selbst in der Familie von Heinz Lehmann, sprach man davon, daß jetzt vielleicht wirklich »eine neue Zeit« anbreche. Optimismus wurde spürbar, wo bisher fatalistische Resignation oder zornige Verbitterung geherrscht hatten.

Psychologisch gab es damals tatsächlich so etwas wie eine »nationale Erhebung«. Ich erinnere mich noch gut an die Ergriffenheit, mit der uns Dr. Fricke, heißgeliebter Klassenlehrer in der Quinta (und ganz gewiß kein »Nazi« im heutigen Sinne des Wortes) auseinandersetzte, wie großartig es doch sei, daß jetzt die Klassenschranken im deutschen Volk fielen. Er tat es im Zusammenhang mit einem Aufruf, mit dem an alle Schüler appelliert wurde, sich an der Sammlung für das neu ins Leben gerufene Winterhilfswerk zu beteiligen. »Keiner soll hungern oder frieren«, hieß die Parole, der niemand seine Zustimmung versagen konnte.

Und so klapperten wir denn mit unseren Sammelbüchsen die Straßen ab, wobei wir nicht nur Geld einheimsten (in bescheidenster Münze), sondern auch so manchen anerkennenden Klaps auf die Schulter von wildfremden Passanten. Denn Hungernde und Frierende gab es im Winter 1933/34 noch reichlich in Deutschland. »Gemeinnutz geht vor Eigennutz«, das war eine weitere Formel, die von der Regierung damals in Umlauf gesetzt wurde. Sie übte in diesen Anfangsjahren des Naziregimes psychologisch einen nicht zu unterschätzenden Solidarisierungseffekt aus. Vergleichbar dem Effekt des Jahrzehnte später von John F. Kennedy geprägten Slogans: »Fragt nicht nur, was der Staat für euch tun kann, sondern fragt auch einmal danach, was ihr für den Staat tun könnt!«

Heute weiß jeder, wie tief der Abgrund ist, der die Motive voneinander trennt, die sich hinter diesen äußerlich so ähnlichen Formulierungen verbergen. Auch für unsere Ohren bekam der Appell an die völkische Solidarität bald einen neuen, weniger erhebenden Klang, als die Berufung auf den »Gemeinnutz« dazu diente, die totale Verfügung über den einzelnen zu rechtfertigen.

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Zunächst aber sprach das Schlagwort mit schlafwandlerischer Sicherheit ein in der Bevölkerung weitver­breitetes, tiefes Bedürfnis an. Solidarität, das war es doch, woran es den Deutschen in den Jahren der Republik so gefehlt hatte. Nicht nur die Niedertracht seiner Feinde, auch die eigene Zerstrittenheit, die »typische deutsche Uneinigkeit«, war schuld an der zuletzt hoffnungslos erscheinenden Situation des Deutschen Reiches. Wenn damit jetzt Schluß sein sollte, wenn von nun an alle zusammenhielten und am selben Strick zögen, dann würde »alles anders werden«; wie die Nationalsozialisten es versprachen.

Es kostet, aus nachträglicher Sicht, in Kenntnis all dessen, was die Folgen gewesen sind, Überwindung, es hinzuschreiben. Aber kein Zweifel ist daran möglich, daß Hitler damals aussprach, was fast alle fühlten. Zum Beleg nur ein einziges kurzes Zitat: »Einmal muß wiederkommen ein deutsches Volk, dem man sagen kann: Volk, trage dein Haupt jetzt wieder hoch und stolz. Nun bist du nicht mehr versklavt und unfrei, du bist nun wieder frei, du kannst nun wieder mit Recht sagen: Wir alle sind stolz, daß wir durch Gottes gnädige Hilfe wieder zu wahrhaften Deutschen geworden sind.«* Dieser Ton entspricht haargenau der Stimmung, an die ich mich erinnere — einschließlich des auf uns Heutige penetrant wirkenden Pathos.

Natürlich gab es Warner. Es waren zu wenige. Soweit sie nicht im Gefängnis saßen oder in »Schutzhaft« genommen worden waren, mußten sie so leise sprechen, daß niemand sie hörte außer ihren engsten Freunden und Verwandten. Mich erfüllte eine ungetrübte nationale Euphorie. Immer, wenn ich die schwarzweißroten Fahnen erblickte — und dazu gab es oft Gelegenheit, dafür wurde Sorge getragen —, gedachte ich der jahrelangen väterlichen Klagen über das elende republikanische System. Damit war es nun aus und vorbei. Ich zweifelte nicht daran, daß es jetzt aufwärtsgehen würde mit Deutschland, und sammelte, wie meine Mitschüler im Viktoria-Gymnasium auch, mit Passion Bildpostkarten von Horst Wessel, Hermann Göring (mit dem Pour le merite aus dem Weltkrieg als Geschwaderkamerad des Fliegerhelden Manfred von Richthofen) und anderen Nazigrößen.

* Rede in Königsberg, 4. März 1933; zitiert nach: Alan Bullock, a.a.O., S. 263.

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Was mich zunehmend irritierte — und schließlich zu ärgern begann —, war lediglich die Tatsache, daß ich meinen Vater mit meiner Begeisterung unerwarteterweise nicht anzustecken vermochte. Zwar lehnte er die Nationalsozialisten keineswegs rundheraus ab. Er war auch nicht ohne Anerkennung für ihr nationales Engagement. Sie hätten einige im Interesse des Vaterlandes liegende Entscheidungen getroffen, das wolle er gar nicht in Abrede stellen. Zu meiner Enttäuschung blieb er jedoch kühl und skeptisch zurückhaltend. Ich versuchte, ihn durch Schilderungen der Heldentaten Görings während des Krieges für meinen Standpunkt zu erwärmen. Ein probates Mittel bei einem alten Soldaten, wie mir schien. Er jedoch reagierte mit völliger Verständnislosigkeit. Ich spürte Zorn in mir aufsteigen gegen den »sturen Alten«, der nicht begriff — und offenbar auch nicht begreifen wollte —, was mich erfüllte. Zum erstenmal kam mir mein Vater entsetzlich alt vor mit seinen vierzig Jahren.

Was wollte der Mann eigentlich? Jahrelang hatte er uns eingetrichtert, daß es ein Ende haben müsse mit »dem System« und seinen roten Vertretern. Das hatte Hitler geschafft, und nun war er immer noch nicht zufrieden. Seit eh und je hatten die Eltern mir damit in den Ohren gelegen, daß die soldatischen Tugenden wieder zu Ehren kommen müßten, wenn es mit dem Vaterland wieder aufwärtsgehen solle. Auch in dieser Hinsicht berechtigten die Absichtserklärungen der Nationalsozialisten zu den kühnsten Hoffnungen. Wieso blieb die väterliche Anerkennung dann aus? Warum widersprach er mir und meiner patriotischen Begeisterung? Sah er wirklich nicht, daß diese Begeisterung von eben der Entwicklung entfacht wurde, die sehnlichst herbeizuwünschen er mich gelehrt hatte, solange ich zurückdenken konnte?

 

    

2. Wie ich zu einem Paddelboot kam

 

Das Jahr 1934 zog ins Land, und Hitlers Männer saßen immer noch im Sattel. Es war nicht zu übersehen, daß die Verhältnisse sich allmählich zu bessern begannen. Meine Eltern konnten jetzt die obere Etage unseres Hauses dazumieten. Mir bescherte das den Luxus eines eigenen Zimmers, und Hertha konnte endlich ihr dunkles Kellerloch verlassen und nach oben ziehen. Dann brach der Sommer an, und es kam der 30. Juni 1934.

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Im Unterschied zum »Tag von Potsdam« sollte ich von den Geschehnissen, die diesen heißen Tag für einen Zeitgeschichtler zum historischen Datum gemacht haben, ein wenig mitbekommen.

Es war ein Sonnabend, und wir spielten im Garten. Kurz nach dem Mittagessen breitete sich, über die Gartenzäune hinweg, eine mit der üblichen Sensations­lust durchmischte Aufregung in der Nachbarschaft aus. Der General von Schleicher sei am hellichten Tage von Einbrechern überfallen und erschossen worden, hieß es. Kurze Zeit später wurde die Schreckensmeldung durch die Nachricht ergänzt, daß auch seine Frau tot sei. Die Polizei sei bereits am Tatort eingetroffen und habe mit ihren Untersuchungen begonnen. Die Aufregung war verständlich, denn der Doppelmord hatte sich in nächster Nähe abgespielt. Wir alle kannten den General und seine Frau vom Sehen. Mein Vater grüßte ihn, wenn er ihm zufällig auf der Straße begegnete. Es gab aber keinerlei persönliche Kontakte. Kurt von Schleicher, 1932/33 für einige Wochen Reichskanzler, der letzte vor Hitlers »Machtergreifung«, wohnte inmitten anderer Prominenz (seine Nachbarin war die Filmschauspielerin Lilian Harvey) in der Griebnitzstraße, am diesseitigen Ufer des Griebnitzsees, nur durch zwei Querstraßen von uns getrennt. Wir Kinder äußerten die Befürchtung, daß die Einbrecher vielleicht auch bei uns auftauchen und unsere Eltern ebenfalls erschießen könnten. Mein Vater beruhigte uns mit der einleuchtenden Erklärung, daß es bei uns nichts Lohnendes zu stehlen gebe.

Am Abend desselben Tages passierte erneut Ungewöhnliches. Es klingelte an der Haustür, anschließend hörte ich hastiges Getuschel unten im Treppenhaus. Als ich mich, neugierig geworden, über das Treppengeländer beugte, wurde ich von meinem Vater, der im unteren Flur mit einem mir unbekannten Mann in langen weißen Hosen aufgeregt verhandelte, barsch zurückbeordert. Kurze Zeit später erschien mein Vater in meinem Zimmer mit der seltsamen Aufforderung, ich möge es sogleich räumen und vorübergehend wieder zu meinen beiden Schwestern ziehen, da der abendliche Besucher für kurze Zeit bei uns wohnen werde. Nach einigem Hin und Her bekam ich wenigstens die halbe Wahrheit zu hören: Es handele sich um einen entfernten Verwandten, den wir »Onkelchen« nennen dürften und der sich bei uns verstecken müsse, weil er in Gefahr sei. Mehr erfuhr ich zunächst nicht, wurde aber zu strengstem Stillschweigen verpflichtet, insbesondere meinen Spielkameraden gegenüber. Das Schweigegebot wurde mit der furchtbaren Drohung begründet, daß Vater und Mutter ins Gefängnis verschwinden würden, wenn die Sache herauskomme.

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Die Aussicht auf diese beängstigende Möglichkeit verschloß mir wirksam den Mund. In den nächsten Tagen, als die erste Aufregung sich gelegt hatte, wurde ich ins Vertrauen gezogen. Bei dem geheimnisvollen Besucher handelte es sich um Gottfried Treviranus, einen ehemaligen Minister der Regierung Brüning. In dieser Eigenschaft hatte er sich seinerzeit mit Göring angelegt, was der, wie sich jetzt herausstellte, nicht vergessen hatte. Kurz nachdem er von einem seiner alten politischen Freunde telephonisch über die Ermordung Schleichers informiert worden war, fuhr bei ihm in Wannsee ein Auto mit bewaffneten Zivilisten vor, die sofort in sein Haus stürmten. Zu seinem Glück war er in diesem Augenblick auf einem benachbarten Tennisplatz, wo es seiner Tochter gelang, ihn zu warnen. Im Tennisdreß sprang er über den Zaun und in sein Auto. Eine halbe Stunde später stand er vor unserer Haustür am Böttcherberg.

Treviranus hatte eine entfernte Cousine meines Vaters geheiratet und kannte zufällig unsere Adresse. Die beiden Männer waren sich zuvor nie begegnet, was jetzt natürlich von Vorteil war. Wer würde auf den Gedanken kommen, ihn bei uns zu suchen? Der Name Treviranus fiel im übrigen in der folgenden Zeit niemals. Unser unfreiwilliger Gast blieb während seines ganzen Aufenthaltes das »Onkelchen«, damit wir Kinder uns nicht verplapperten. Und daß Hertha »dichthielt«, wenn es um das Wohlergehen meiner Eltern ging, stand fest. »Onkelchen« wurde zunächst einmal von oben bis unten ausstaffiert — außer seinem Tenniszeug hatte er nichts mitgebracht. Dann stand mein Vater vor der sehr viel schwierigeren Aufgabe, Kontakte herzustellen, die eine Flucht ins Ausland ermöglichten.

Die Lösung kam über eine alte Bückeburger Verbindung zustande. Mein Vater war dort einst mit dem Sohn eines Schuhmachers namens Muckermann in die Schule gegangen, dessen Bruder Hermann inzwischen dem Jesuitenorden angehörte und sich am Kaiser-Wilhelm-Institut in Berlin als Professor für Eugenik einen Namen gemacht hatte. Ihm vertraute mein Vater sich an, und alsbald betrieben der ehemalige kaiserliche Offizier und der angesehene Jesuit gemeinsam das allen beiden ungewohnte Geschäft illegaler Aktivität. Ein englischer Paß wurde beschafft, danach mit der Hilfe von Behördenkollegen in seinem ehemaligen (Verkehrs-)Ministerium ein Paßbild von »Onkelchen« aus seinen dort noch archivierten Personalpapieren besorgt — der kitzligste Teil der Unternehmung —, und schließlich wurde auch noch ein vertrauens­würdiger Fachmann aufgetrieben, der beides professionell zusammenfügte.

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In diese insgesamt nur etwa zwei Wochen dauernde Episode fällt eine kleine Begebenheit, die meinem Vater Gelegenheit gab, mir sein Mißtrauen gegenüber den Nationalsozialisten auf die denkbar überzeugendste Weise plausibel zu machen. Die Tatsache allein, daß im Zusammenhang mit dem sogenannten »Röhm-Putsch« am 30. Juni bei einer vor allem gegen die SA gerichteten »Säuberungsaktion« insgesamt an die hundert Menschen erschossen worden waren, genügte dazu keineswegs.* Das hatte sogar in der Zeitung gestanden. Denn es war angeblich aus Gründen des Staatsschutzes unumgänglich gewesen, weil Röhm, »Stabschef« und damit oberster Befehlshaber der SA, mit Unterstützung »einiger abgehalfterter Systempolitiker« einen Staatsstreich geplant habe. Diese Version konnte auch den Tod von Schleicher erklären (der, wie wir inzwischen wußten, nicht »normalen« Verbrechern zum Opfer gefallen war, jedoch landesverräterische Beziehungen zu französischen Politikern unterhalten haben sollte). Meinem kindlichen Verstand leuchtete das ein. Mein Vater aber glaubte von alledem kein Wort. Und diesmal konnte er mir sogar ad oculos demonstrieren, wie gut seine Zweifel begründet waren.

Eines Tages hielt er mir triumphierend einen Zeitungsartikel vor die Nase. »Hier«, sagte er bloß, »lies das mal.« Und ich las (sinngemäß): »Wie sehr die Auslandspresse auch in diesem Falle wieder gegen Deutschland und seine neue nationale Regierung hetzt, wobei sie vor keiner Lüge zurückschreckt, ergibt sich unter anderem aus der Behauptung, daß auch der ehemalige Minister Treviranus erschossen worden sei.« Und dann folgte ein Satz, den ich bis heute praktisch wörtlich in Erinnerung behalten habe, so groß war der Eindruck, den er auf mich machte: »Wie wir aus amtlicher Quelle erfahren, weilt der Herr Reichsminister a.D. Gottfried Treviranus zur Zeit in Wirklichkeit bei Freunden in England.« Der kurze Satz wirkte überwältigend auf mich. Ich las ihn mehrmals. Eine schwarz auf weiß in der Zeitung abgedruckte offenkundige Unwahrheit, das hatte ich bis dahin nicht für möglich gehalten.

* In dieser Größenordnung bewegte sich meiner Erinnerung nach die damals offiziell zugegebene Zahl der Opfer. Die Historiker gehen heute meines Wissens von 200 Toten aus.

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Die Lektüre dieser Mitteilung »aus amtlicher Quelle« (während in demselben Augenblick, nur ein Stockwerk über mir, »Onkelchen« an meinem Schülerschreibtisch saß und geduldig die in seinem englischen Paß stehende Unterschrift übte) vermittelte mir eine gänzlich neue Erfahrung. »Nur, damit du weißt, wie die Kerle lügen«, war der einzige Kommentar, den mein Vater dazu abgab. Die Lektion saß.

Eines Morgens war »Onkelchen« verschwunden. Pater Muckermann hatte ihn in aller Frühe mit seinem Auto abgeholt und an die holländische Grenze gebracht, die er mit seinem offenbar tatsächlich fachmännisch gefälschten Paß ohne Schwierigkeiten passierte. Mir hatte er einen Brief hinterlassen, in dem ein Hundertmarkschein steckte — ein Vermögen in meinen Augen! — als »Miete« für mein Zimmer, aus dem er mich für zwei Wochen vertrieben habe, wie er dazuschrieb. Ich solle mir dafür ein Paddelboot kaufen. Ich mußte mich setzen, meine Knie gaben nach. Natürlich hatte ich »Onkelchen«, der vor lauter Langeweile stundenlang mit mir Karten spielte, auch von meinem Traum erzählt, einmal ein Paddelboot zu besitzen, mit dem ich auf Griebnitzsee und Havel herumfahren wollte. Aber das war ein Traum gewesen, an dessen Erfüllbarkeit ich nicht geglaubt hatte. Und nun hatte ich hundert Mark in der Hand für ein Paddelboot! Nachdem ich mich erholt hatte, rannte ich als erstes zu meinen Eltern — die Faust fest um das kostbare Geschenk geballt: Träume verflüchtigen sich ja so leicht! —, um, ihnen von dem Wunder zu berichten.

Auch sie staunten nicht schlecht über die großzügige Gabe. Vorübergehend wurde mir bänglich zumute, als sie darüber zu diskutieren begannen, ob es vernünftig sei, so viel Geld für ein Spielzeug auszugeben. Ich wäre nicht überrascht gewesen, wenn sie sich dagegen entschieden hätten. Denn Träume solcher Größenordnung erfüllen sich normalerweise nicht, soviel wußte ich. Zu meiner unaussprechlichen Freude sagten sie dann aber, ich solle mir das Paddelboot kaufen. Beraten von Freunden, die sachkundiger waren als ich, kaufte ich mir ein funkelnagelneues zweisitziges Paddelboot aus Holz. Hundert Mark genügten damals für diesen Zweck. Ich taufte es — wie denn sonst? — auf den Namen »Onkelchen« und konnte nun in den großen Sommerferien auf Havel und Griebnitzsee mit meinen Freunden spazierenfahren, ganz so, wie ich es mir jahrelang in meinen Träumen ausgemalt hatte.

Erst viele Jahre später kam ich darauf, wer mir das Boot in Wirklichkeit geschenkt hatte: meine Eltern natürlich! Denn »Onkelchen« muß die Kaufsumme in großzügiger Geste von dem Betrag abgezweigt haben, den meine Eltern für seine Flucht aufgetrieben hatten — woher sonst hätte er sie nehmen sollen? Als er schwitzend vor Hitze und Todesangst bei uns auftauchte, hatte er nicht einmal ein Portemonnaie bei sich, so daß mein Vater, so schwer es ihm fiel, alles Bargeld für ihn zusammenkratzen mußte, das er flüssig machen konnte. Er hat davon nie einen Pfennig wiedergesehen. Auch nach dem Kriege nicht, etwa in der Form eines Lebensmittel- oder Care-Pakets in der Zeit, als meine Eltern in Potsdam fast verhungerten. Obwohl »Onkelchen« in Kanada längst wieder zu ansehnlichem Wohlstand gekommen war, wie sich über die Verwandtschaft herumsprach. Aber ihm, der nie wieder etwas von sich hatte hören lassen, zu schreiben und ihn womöglich gar um Hilfe zu bitten, dazu hätte sich mein Vater unter keinen Umständen überwunden.

Ich habe »Onkelchen« dann kurz vor seinem Tode, Ende der sechziger Jahre, noch einmal getroffen, durch reinen Zufall, anläßlich einer Geburtstagsfeier bei gemeinsamen Verwandten in Dankersen an der Weser. Das Wieder­sehen verlief wenig ergiebig. Nachdem er mich identifiziert hatte, wich »Onkelchen« der Möglichkeit eines Gesprächs mit mir mit diplomatischem Geschick konsequent aus und verabschiedete sich, bevor die anderen Gäste aufzubrechen begannen. Ich konnte es ihm nachfühlen. 

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