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4.  Gesellschaftliche Organisationen

 

Aufstieg, Niedergang und neuer Aufstieg

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In der Natur verläuft die Evolution weder gleichmäßig noch beständig: die natürliche Selektion geht in gelegentlichen Sprüngen vor sich. In der Entwicklung der Menschheit wechseln Sprünge mit trügerischen Seiten­wegen, Regressionen und Perioden der Blindheit ab. Die gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Durchbrüche, die den Weg der Menschheit bestimmen, sind zuweilen unerwartete Nebenprodukte eines Strebens nach ganz anderen Zielen. Der Prozeß wissenschaftlicher Entdeckungen besteht oft darin, den Schutt wegzuräumen, der der täglichen Arbeit im Wege liegt. Immer wieder gab es auch Zeiten der Stagnation und der Amnesie: Das ptole-mäische Weltsystem behauptete sich zweitausend Jahre, und Europa wußte im 15. Jahrhundert weniger von Geometrie als die Schüler des Archimedes.

Im Rückblick kann man sagen, es war nur gut so. Wenn der Fortschritt beständig und organisch vorangeschritten wäre, wäre alles, was wir über die Zahlentheorie oder die analytische Geometrie wissen, innerhalb weniger Generationen nach Euklid entdeckt worden. Die Entwicklung der Mathematik, eines vollkommenen, in sich geschlossenen Systems ohne Widersprüche, ist nicht abhängig vom technischen Fortschritt oder der Bezwingung der Natur. Die Mathematik ist ein Geschöpf des menschlichen Gehirns; die Evolution hat dem Menschen ein Organ beschert, das er nicht immer richtig zu nutzen versteht.

Nach der Feststellung von Neurologen nutzen wir nicht mehr als drei Prozent unseres Gehirnpotentials. Für die große Masse der Menschheit treffen nicht einmal die drei Prozent, sondern viel weniger zu - sie gibt sich noch immer mit einem einzigen Prozent ihres Gehirnpotentials zufrieden. Das gleiche läßt sich von den Möglichkeiten der Soziologie sagen, dem größten und am wenigsten erforschten* Wissensgebiet, dessen Existenz der Mensch entdeckt hat, ohne daß es ihm recht bewußt wurde.

* Der Ausdruck »am wenigsten erforscht« ist wörtlich gemeint. Es gibt zwar an zahlreichen Universitäten sogenannte gesellschaftswissenschaftliche Fakultäten, aber von einer wissenschaftlichen Struktur der Soziologie kann bislang keine Rede sein.

Aus der Verknüpfung von Gerechtigkeit, Freiheit und Toleranz sowie deren jeweiligen Grenzen kann der gründliche Sozialforscher ein Bild verschiedener gesellschaftlicher und politischer Systeme und deren relativer Bedeutung gewinnen. Er kann zum Beispiel untersuchen, welche Form sozialer Organisation genügend Macht, Kontrolle der wichtigen Hilfsquellen und die nötige Flexibilität bereitstellt, um die Probleme der Städte, der Vorstädte und der ländlichen Siedlungen anzugehen. Diese forschungsorientierte Sicht rückt eine Fülle von Problemen ins Blickfeld. Wieviel Toleranz kann sich ein auf dem Gemeinschaf7-Denken beruhendes Gesellschafts­system leisten? Welche Grenzen hat die Toleranz in der Einschaftl Ist die Toleranz eine Frage sozialer Gerechtigkeit? Ist eine faire, objektive Einstellung gegenüber Personen möglich, die in ihren Ansichten, ihrer Lebensführung, Rasse, Religionszugehörigkeit und Nationalität sich von der Mehrheit unterscheiden?

Im Alltagsleben einer Gesellschaft bestehen zahlreiche Verbindungen zwischen den verschiedenen Arten von »Freiheit«. Robespierres Unterscheidung zwischen freiheitlichem und despotischem Terror hat für sich, daß sie in extremer Formulierung klarmacht, warum in einer gesellschaftlichen Revolution, die unternommen wurde, um die Freiheit des Menschen zu stärken, Toleranz nicht leben konnte. Terror als Mittel zur Verwirklichung der Freiheit wurde nicht nur häufig angewendet, sondern geht auch auf tiefwurzelnde Emotionen zurück, die einen hartnäckigen Haß auf die Toleranz - und damit auf die Freiheit selbst - widerspiegeln.

Auf die Unterwerfung Griechenlands durch Mazedonien folgte eine lange Epoche des Niedergangs und der Orthodoxie. Die geistige Toleranz verkümmerte. Die aristotelischen Kategorien wurden zur Grammatik der Existenz. Alles Wissenswerte war bereits bekannt; sämtliche möglichen Erfindungen waren gemacht; was dem »Establishment« nicht genehm war, galt als Häresie. Das heroische Zeitalter war vom Vorbild Prometheus' bestimmt gewesen, der den Göttern das Feuer stahl; die Philosophen der hellenistischen Zeit hielten sich nur an Piatons Ideen und wandten allem Neuen den Rücken zu; wissenschaftliche oder technische Forschungen, die Neuland hätten erschließen können, waren praktisch verboten.

Die griechische Gesellschaft lag in einem Winterschlaf, der 1700 Jahre dauerte. In dieser Zeit ging es mit der Wissenschaft bergab. Julian Huxley schreibt über Rückentwicklungen im biologischen Bereich, daß man einen Wurm dazu bringen könne, »rückwärts zu wachsen«, das heißt, zu verkümmern. Auch die Wissenschaft kann sich zurückentwickeln. Das Neutron wurde zwar entdeckt, aber es ist nicht sicher, ob diese Entdeckung wieder verlorenging. Die Gebildeten des 5. vorchristlichen Jahrhunderts wußten, daß die Erde ein sphärischer Körper ist, der im Raum schwebt und sich um seine Achse dreht; tausend Jahre später hielt man sie für eine flache Scheibe.

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Die Sozialwissenschaft

In der Sozialwissenschaft, einer noch jungen und unreifen Disziplin, sind Rückentwicklungen möglich, zu denen es tatsächlich auch kommt. Wir haben bereits gesagt, daß die Soziologie keine Wissenschaft genannt werden kann. Hinzuzufügen ist, daß manche sozialen Übelstände, Fälle von Intoleranz und Unsicherheiten des Verhaltens ihre Wurzel in der allerfrühesten Geschichte der Menschheit haben. Die ersten Gesetzgeber haben es versäumt, den Kontrast herauszuarbeiten, der zwischen notwendiger Regulierung im Kontext sozialer Gerechtigkeit und der Grunderfordernis besteht, Klassen und Individuen, die für die Gesellschaft »ungleiche« Leistungen erbringen, eben nach dem Maß dieser Leistungen zu entlohnen. Mit diesem Versäumnis nahm eine der ernstesten Verzerrungen im gesellschaftlichen Leben der Menschheit ihren Anfang.

Mit dem Talent ausgerüstet, die herrschenden, ungeschriebenen Rechtsvorstellungen systematisch zusammenzufassen und in schriftliche Form zu bringen, formten die antiken Gesetzgeber ihre Rechtsgebote nach dem Bild der Gesellschaft, in der sie lebten. Sie sahen im »ungleichen Menschen« kein dynamisches, sich entwickelndes Wesen, sondern einen Status quo.

Die Gesetze wurden geschrieben für ungleiche Schichten von Menschen, wobei Gleichheit und Ungleichheit nach der Arbeit, die jemand verrichtet, und nach der Position, die er in der gesellschaftlichen Organisation erreicht, bemessen wird. In den Strafen, die das ungeschriebene Gesetz der Gesellschaft beinhaltet, sieht man oft zornige Schicksalsgöttinnen, die einen einzelnen oder eine ganze Klasse verfolgen. Die Belohnungen gehen nicht auf eine Anwandlung von Hochherzigkeit zurück, sondern sollen bewirken, daß die Menschen sich bemühen, über ihre Grenzen hinauszugehen und über die Schicht, der sie angehören, hinauszuwachsen.

Die Nationalitäten

Belohnungen und Strafen haben sich im Lauf der Zeit immer wieder gewandelt, sie wurden verstärkt, abgeschwächt, wieder verstärkt. Der Akzent verschob sich entsprechend dem Bedürfnis der Gesellschaft zu verurteilen, zu ahnden, zu fördern, zu loben oder Anschlägen entgegenzuwirken, aber die Fragen, um die es innerhalb eines dynamischen Systems ging, sind nie klar definiert worden. Eines dieser Probleme, Nationalität und Nationalismus (den Einstein einmal »die Masern der Menschheit« genannt hat), kann sowohl die Entwicklung des Gemeinsinns beflügeln als auch Gewalt, Haß und Krieg auslösen.

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Ursprünglich bildeten sich Nationalitäten aus verschiedenen Stämmen gleicher oder ähnlicher Herkunft oder Sprache. Dieser Prozeß begann schon tief im Altertum und geht noch heute vor sich. Die polnische Nationalität setzt sich aus Polanen, Wislanen und anderen slawischen Stämmen zusammen; die französische formte sich aus der Vermischung römischer Kolonisten mit gallischen und germanischen Stämmen, Franken, Westgoten und Burgundern; die deutsche aus Schwaben, Bajuwaren, Sachsen und anderen germanischen Stämmen. Ebenso bildeten sich Nationalitäten aus verschiedensprachigen Stämmen, die sich im Gefolge der Eroberung des Territoriums vermengt hatten. Dieser Mischprozeß brachte auch eine umfassende Verschmelzung von Mythen, Glaubensüberzeugungen, Sitten, Regeln und Gesetzen mit sich.

Besitzen Nationalitäten fundamentale Eigenschaften und Fähigkeiten, über die nur sie ganz speziell verfügen? Die Antwort darauf ist eine doppelte. Die moderne Anthropologie berechtigt uns zu der Feststellung, daß sämtliche Rassen ähnliche biologische Entwicklungsmöglichkeiten hatten und haben. Alle Völker können kulturelle Werte schaffen. Ihr Beitrag zur Weltkultur wird nicht bestimmt durch ihre Hautfarbe, die Größe der Augen oder Nasenform, sondern durch die Eigenart ihrer historischen Entwicklung. Die Negervölker wurden durch die alten Ägypter daran gehindert, die Geburtsstätte der Zivilisation - das untere Niltal, das östliche Mittelmeer und Mesopotamien - zu erreichen, und hatten niemals die Möglichkeit zu einer den weißen Völkern vergleichbaren Entwicklung.

Die zweite Antwort liegt in der Wirkung gesellschaftlicher Organisationen auf den Menschen und seine Nachkommen. Wir sprachen von den antiken Gesetzgebern und erklärten, warum der gesamte Bereich menschlicher Beziehungen innerhalb der Gesellschaft ganz bestimmte Vorschriften zur Regelung des Verhaltens benötigt. Sie drücken sich zum Teil im Recht und Rechtsbewußtsein aus und sind in Gesetzen festgehalten. Aber neben dem fixierten Recht gibt es ungeschriebene Gesetze. Diese finden ihren Ausdruck in den Begriffen Gut und Böse, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, Pflicht, Ehre, Gewissen und so weiter. Manche dieser »Gesetze« gelten universell, andere nur für eine bestimmte Nationalität.

Die ungeschriebenen Gesetze sind moralische Verhaltensnormen, Kategorien, welche die Beziehungen der Menschen zueinander bestimmen, nicht gesteuert von Rechtsurteilen, sondern von der Kraft, die vom Pflichtgefühl, von Gewissen und Achtung ausgeht. Im wahren Sinn des Wortes ist moralisches Verhalten ein Verhalten, das auf der Selbstbeherrschung und den inneren Antrieben der Menschen beruht. Hier kommt die Kultur zum Vorschein, der Einfluß der Umwelt und der sozialen Gruppe, der man angehört. Die Struktur der Gesellschaft hängt von den ungeschriebenen Gesetzen

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ab. In Sparta war durch allgemeine Zustimmung der Diebstahl erlaubt, mithin kein Verbrechen. Ein ertappter Dieb wurde zwar bestraft, aber nicht wegen des Diebstahls an sich, sondern weil er sich dabei hatte ertappen lassen. Dies gehörte für die Spartaner zur Erziehung, genauso wie die Jugend zur Untertänigkeit erzogen wurde oder Hunger und Entbehrung als Prüfung der Männlichkeit ertragen mußte. In der spartanischen Gesellschaft war auch eine Sonderform des Konkubinats erlaubt, wonach sich Männer Geliebte zulegen konnten, um im Interesse des Staates ihre Nachkommenschaft zu vermehren. Dies sind Beispiele eines nationalen, nicht universalen Verhaltenskodex. Ungeschriebene Gesetze haben wie alle Denksysteme ihre eigene Mythologie; auch geben sie den Menschen einen gewissen Stolz.

Sie unterscheiden sich zwar nach zeitlichen und örtlichen Gegebenheiten, weisen aber einen gemeinsamen Grundzug auf. Dies ist die uralte Ansicht, daß Wohl, Macht und Gedeihen der Gruppe, in die man geboren ist, wichtiger seien als Wohl, Macht und Gedeihen, ja selbst das Leben der Angehörigen aller anderen Gruppen. Dies ist eine Grundeinstellung aller menschlichen Kollektive, von der Nationalismus und Krieg ihren Ausgang nahmen und nehmen. Daneben gibt es noch eine zweite Regel: Wenn man Furcht empfindet oder sich bedroht fühlt, ist es angebracht, richtig und moralisch, die eigene Fähigkeit zum Töten zu steigern. Dieser Grundsatz bestimmt die »normale« Methode, mit der sich gesellschaftliche Gruppen und Nationen gegen bedrohliche Gegner wehren.

Da die Erziehung und die Geschichtsschreibung, so wie sie gehandhabt wird, auf solchen Vorstellungen beruhen, neigen wir dazu, sie als gottgegeben hinzunehmen. Als Menschen sehen wir in »unserer« Nation, »unserem« Stamm noch immer etwas Vollkommenes oder zumindest jeder anderen Gruppe weit Überlegenes. Das ist ein gefährlicher Unsinn, denn er vernebelt die Tatsache, daß in der Wirklichkeit jede soziale Einheit, Individuum, Gruppe oder Nation, auf andere angewiesen ist.

Sehnsucht nach dem Mittelalter

Die Konditionierung innerhalb eines Kollektivs hat im Laufe der Jahrhunderte zwei ideologische Grundtendenzen hervorgebracht, die immer wieder, in der einen wie in der anderen Richtung, um den Globus gingen: Nationalismus und Sozialismus. Sie haben einen gemeinsamen Ursprung, sie sind vorindustriell und sie versuchen, unvereinbare Elemente zu vereinen, indem sie sich die Sehnsucht der Massen nach Sicherheit und einem »besseren Leben« zunutze machen.

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Nationalismus und Sozialismus neigen beide zu totalitären Methoden in der Politik; sie wollen die Gesellschaft befreien, aber nur nach ihren eigenen Anschauungen, ob diese nun richtig oder irreal sind. Ihre Haltung in allem ist von Widersprüchen geprägt, deren wichtigster vielleicht aus dem Bemühen herrührt, zugleich in die Vergangenheit und vorwärts zu blicken, nach innen wie nach außen.

Der Nationalismus sucht nach Harmonie und Geborgenheit im Kulturerbe des betreffenden Volkes oder Stammes und versucht, aus der nationalen Geschichte die bleibenden Werte abzuleiten, die er zur Bewahrung der geistigen Einheit für notwendig hält. Er bemüht die »Volksseele« und bleibt daher einem engstirnigen Traditionalismus verhaftet. Rückwärts gewandt, fahndet er immer nach Ursprüngen, bis in die primitivsten Grundschichten, und folgt damit dem uralten Drang des Menschen, die Wahrheit in der Vergangenheit zu suchen.

Der Nationalismus strebt nach der Rechtfertigung der hierarchischen Gesellschaftsordnung, wie sie etwa im Mittelalter herrschte, als die Straßen immer enger, die Häuser immer höher wurden und alles auf engstem Raum zusammenlebte, denn dieser war kostspielig und mußte ökonomisch genutzt werden. Im Erdgeschoß arbeiteten die Handwerker und Händler, über ihnen rechneten die Kaufleute, und unter dem Dach drängten sich die Familien zusammen. Schmutz, Düsternis und Gestank prägten dieses Leben, Kargheit herrschte in Schlössern wie Patrizierhäusern.

Trotzdem hatte die mittelalterliche Stadt mit ihren engen Gassen und schmalen Häusern ihre Vorzüge, sie gab Selbstvertrauen, gewährte relative Sicherheit und die Möglichkeit, auf der gesellschaftlichen Stufenleiter aufzusteigen und gute Geschäfte zu machen. Das Leben ging zwar langsam seinen Gang, aber jeder Tag brachte Neues, Begegnungen mit fremden Menschen, ständig wechselnde Eindrücke und Stimmungen. Rege entfaltete sich das öffentliche Leben, mit kirchlichen Festen, Aufzügen und öffentlichen Hinrichtungen, Trauergottesdiensten, Hochzeiten und Empfängen für fürstliche Besucher.

Erfolgsneid, Dünkel und unmäßiger Ehrgeiz waren die Laster jener Zeit. Der Aberglaube stand in Blüte, der Gedanke an den Tod symbolisierte sich im Gerippe des Knochenmannes. Jeder war ein Stück der Natur, die Natur war alles. Seuchen, Fehden, Verbrechen und Hungersnöte sorgten für eine Beschränkung der Bevölkerungszahl, so daß es genug Raum für die Überlebenden gab, wo sie wohnen und arbeiten konnten. Diese Heimsuchungen galten als gottgewollt und wurden allgemein in der gewissen Hoffnung auf ein besseres Jenseits hingenommen. Der einfache Mann fühlte sich in dieser überschaubaren Welt geborgen; er hatte ein Dach über dem Kopf, Beschäftigung, familiäre Fürsorge, bürgerliches Ansehen und die Hoffnung auf einen gnädigen Tod. Alles, was für die mittelalterliche Stadt galt, gilt

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auch für den heutigen Nationalismus. Der Durchschnittsbürger paßte sich willig seiner Umgebung an - was er noch heute tut. Geborgenheit für ewige Zeiten ist das Material, aus dem autoritäre Organisationen gebaut sind. Kleine Verstrebungen fügen sich zum größeren Bauwerk der autoritären Gesellschaft, mit einer Kirche, einer Obrigkeit, einer Wirtschaft, einer Sprache und einer gemeinsamen Lebenseinstellung.

Und doch hatte die ideologische Rüstung des Mittelalters klaffende Risse - die Widersprüchlichkeiten in der Verteidigung ihrer Lebensform. Es gelang dieser nationalistischen, präsozialistischen Gemeinschaft nicht, eine akzeptable und zugleich endgültige Form der kollektiven Existenz zu schaffen. So kam es, daß diese Epoche in Verzweiflung und Auflehnung versank. Die Reformation und ihre Anhänger rebellierten gegen Rom, die Fürsten gegen ihren Oberherrn, das regionale Kulturbewußtsein gegen das universale römische, der Handels- und Gewerbegeist der Städte gegen das agrarische Feudalsystem, die Wissenschaft gegen die scholastische Enge.

Sozialismus

Die Vermählung alter Begriffe mit neuen Bestrebungen brachte die frühsozialistischen Ideen der Romantik hervor. Aber der Sozialismus, Zwillingsbruder des Nationalismus, war kaum besser imstande als dieser, die Gesellschaft umzuformen. Zuerst deformierte er in seinem Freiheitsstreben das Christentum und dann setzte er, vermutlich in einer reuigen Anwandlung, sein Vertrauen auf die abstrakte Vorstellung einer universalen proletarischen Klasse, wobei er sich die Mißstimmung unter den Opfern der Industrialisierung und Verstädterung zunutze machte. Zugleich versuchte der Frühsozialismus, die Wertvorstellungen eines volksnahen Traditionalismus zu bewahren, aber irgendwie mißlang den Theoretikern und Magiern die Mixtur.

»Der Hauptvorteil, der sich aus der Einführung des Sozialismus ergäbe«, sagte Oscar Wilde, »wäre zweifellos der, daß der Sozialismus uns von dem scheußlichen Zwang befreien würde, für andere zu leben, was, wie die Dinge heute liegen, auf fast allen so schwer lastet.« Seriösere Sozialisten als Wilde haben es sorgfältig vermieden, sich mit der entmutigenden Tatsache auseinanderzusetzen, daß es mit den Errungenschaften auf diesem Gebiet nicht weit her ist.

Ein Blick auf die heutigen sozialistischen Staaten, und man hat den Beweis, daß das Gegenteil eingetreten ist. »Der Sozialismus ist die Philosophie des Versagens, das Kredo der Ignoranz und das Glaubensbekenntnis des

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Neides«, kommentierte Churchill sarkastisch. Der Sozialismus sollte die Befreiung der Arbeiter bringen; er scheiterte an dieser Aufgabe, ja er hat das Los der Arbeiter sogar noch verschlimmert.

Das Problem, den Menschen, die mit anderen in einer Gemeinschaft leben, das Gefühl des Glücks und der Freiheit zu geben, ist niemals gelöst worden, nicht einmal annähernd. Wie der Nationalismus, entstand auch der Sozialismus nach der Bildung der Großstädte in Westeuropa; zwar kann er gelegentlich die Geme/nsc/ja/f-Gesellschaft beeinflussen, aber seine unsichere Zielsetzung und seine ungenügenden Mittel machen es ihm unmöglich, mit den Problemen fertig zu werden, die das Leben des einzelnen und das Funktionieren des modernen Gemeinwesens stellen. Dieses Mißgeschick begann schon mit dem großen Propheten dieser Glaubensrichtung. Karl Marx wuchs in der Tradition der deutschen Romantik auf, die in der Nachfolge Rousseaus den Menschen gegen den humanitätsfeindlichen Druck seiner eigenen Zivilisation stärken sollte. Im Namen der Freiheit wandte sich der junge Revolutionsgeist in Deutschland gegen den fürstlichen Absolutismus, aber auch indirekt gegen die Anforderungen der staatlichen Ordnung, welche die verschiedenen Formen autoritärer Regierung hervorgebracht hatte.

Mit dem Übergreifen der Industrialisierung von England auf den europäischen Kontinent, das nach den napoleonischen Kriegen einsetzte, wandte sich die idealisierte Vision des Menschen zunehmend gegen die trostlose Fabrikarbeit und das Wirtschafts- und Gesellschaftssystem, aus dem sie herauswuchs. Marx war nicht der einzige, der sich gegen diese unerfreuliche Realität wandte. Entsetzt äußerte sich Heinrich Heine über die Zustände in der englischen Industriegesellschaft, die um sich greifende Mechanisierung, die nicht einmal vor dem Menschen selbst haltmache und ihn zu einer Maschine herabwürdige.

Solche Gedanken fanden weithin Zustimmung bei den Mittelschichten, die nicht unbedingt sozialistisch eingestellt waren, und bei Intellektuellen, Pazifisten und Menschen, die nach einer Orientierung suchten. Viele Ideen wurden auch aus dem vorhergehenden Jahrhundert, von der Französischen Revolution, übernommen. Eines der Ideale war die Verwirklichung von Gerechtigkeit, Frieden, Glück, Weisheit und Brüderlichkeit für die gesamte Menschheit. Die revolutionäre Bewegung der Jahre 1789-1790 war ja einer der großen Augenblicke des Überschwangs humanitärer Gesinnung gewesen. Und wenn die Menschen in Frankreich sich gute Patrioten nannten, so waren sie deswegen noch keine Nationalisten oder Sozialisten. Was Marx an der Französischen Revolution auszusetzen fand, war ihr Versäumnis, den Klassenkampf zu berücksichtigen.

Wenn die Menschen sich nach einer Hand sehnen, die ihnen den Weg weist, sagte Luther, genügt es oft, daß ein entschlossener Führer auftritt,

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um eine große Bewegung zum Wohl der Menschheit auszulösen. Der Marxismus hatte mit der Reformation gemeinsam, daß er zu einer Zeit des geistigen Umbruchs erschien. Die Atmosphäre war gewitterschwanger, und es bedurfte nur eines Funkens, um die Explosion in Gang zu setzen.

Nationalsozialismus

Eine Demokratie kann nur dann bestehen, nur dann fortbestehen, wenn die Beziehungen zwischen sämtlichen Gesellschaftsgruppen intakt sind. Was Hitler und seiner Bewegung zustatten kam, war der Umstand, daß in Deutschland zahlreiche junge Leute im arbeitsfähigen Alter keinen Platz in der Gesellschaft fanden. Wenn junge Menschen keine Zukunft sehen, entsteht die Gefahr der Entfremdung. Das Fehlen einer Perspektive gibt dem Problem Arbeit kritische Bedeutung; ein altes Sprichwort im Talmud sagt: »Wenn du zu arbeiten aufhörst, bist du tot.«

Während der vergangenen fünfzig Jahre kamen in Europa sämtliche Diktatoren von rechts, Stalin eingeschlossen, durch die Reaktion auf anarchistische Agitation an die Macht. Hitlers Nationalsozialismus war bestenfalls eine mittelalterliche Welteinstellung. Was die soziologische Struktur seiner Anhängerschaft betrifft, so war der Nationalsozialismus eine Bewegung, die vom Kleinbürgertum und vom Mittelstand getragen wurde. Wenn wir uns vor Augen halten, daß der Charakter eines Menschen in seiner Kindheit und Jugend geformt wird, stellen wir fest, daß die Familie bei diesen jungen Menschen die Bereitschaft schuf, Hitlers Gedankengänge zu übernehmen.

Das soziale Leben der Mittelschicht, ihre Unsicherheit und ihre spezielle Form autoritären Verhaltens bildet einen der Autorität günstigen Nährboden, auf dem sozialistische wie faschistische Ideologien gedeihen. Rassische und völkische Vorstellungen verbinden sich mit der Wirkung der gesellschaftlichen Zersetzung und fachen die Leidenschaften an. Solche Stimmungen waren in Deutschland schon lange vor dem Auftreten des Nationalsozialismus vorhanden, der diese zu seinem Vorteil nutzte. Das Führerprinzip, durch den politischen Konservativismus in Deutschland vorbereitet, gab der ehrgeizigen Bewegung des Nationalsozialismus den autoritären Akzent, den sie brauchte.

Die nationalsozialistische Bewegung ruhte auf zwei Pfeilern: auf der Angst des deutschen Mittelstandes vor dem Verlust seiner Privilegien und auf einer Parteiorganisation, die ihren Wählern die Illusion (oder den begründeten Glauben) gab, sie gegen einen Umsturz zu schützen. Die NSDAP war eine Organisation der jungen Generation: Carl Schmitt war Anfang Dreißig,

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Goebbels sechsundzwanzig, Heydrich achtundzwanzig und Hitler selbst erst Anfang Vierzig. Die Sozialdemokraten, eine Partei des politischen Establishment, stützten sich zu sehr und zu lange auf Männer, die geistig nicht mehr auf der Höhe der Zeit waren.

Die Juden im Dritten Reich, die polnischen Offiziere in Katyn, die Bengalen in Bangla Desch, die Biharis, Biafraner und die Indianer Amerikas sind Opfer einer furchtbaren und unerklärlichen Massenhysterie. Untaten und Fehlhandlungen bringt nicht nur der Krieg mit sich. Nichts hat Spanien mehr geschwächt als die Inquisition, die zum gesellschaftlichen Selbstmord führte. Sind sich die Köpfe, die blutige Umwälzungen ausdenken, bewußt, was die Folge sein wird?

Katharina von Medici repräsentierte die Macht des Königtums auf seinem Höhepunkt, als sie den schwachen König Karl IX. zu einem Massaker überredete. 1572 gab es etwa eindreiviertel Millionen Hugenotten in Frank- \ reich: Bankiers, Kaufleute, Ärzte und Handwerker jeglicher Art. Die Königinmutter entfesselte die Bartholomäusnacht aus bloßer Machtgier. Dabei unterlief ihr der Fehler, daß sie eine Möglichkeit, die dann auch eintrat, nicht in Betracht zog: den großen Exodus der Hugenotten aus Frankreich und den dreifachen Schaden, für Moralität, Wissenschaft und Wirtschaft des ! Landes. Am meisten profitierten vom Auszug der Hugenotten Deutschland, die Niederlande, die Schweiz und England - so wie in unserem Jahrhundert England und Amerika von Hitlers Verfolgungsmaßnahmen profitierten. Abgesehen vom Aspekt der Humanität - Massaker zahlen sich nie aus.

Nationalkommunismus

Der Kommunismus ist eine Mythologie mit mehr Tabus und mystischen Riten als viele andere Mythen-Systeme der Gegenwart und der Vergangenheit. Seit Stalin ist er keine revolutionäre Bewegung mehr und schon deutlich geprägt von Alterserscheinungen. Er stellt keine verändernde Kraft mehr dar, sondern ist heute ein Verteidiger des Status quo, wie die Ereignisse des Jahres 1968 in Prag belegen. Er ist keine internationale, sondern eine zutiefst nationalistische Bewegung. Er fürchtet das Wort »Wettbewerb«. Das Bild der »französischen Revolution« vom Mai 1968 wurde von zwei Fahnen bestimmt, aber in höchst ungleicher Weise. Die wirklichen Aktivisten marschierten hinter der schwarzen Fahne des Anarchismus, nicht hinter dem roten Banner der traditionalistischen französischen kommunistischen Partei.

Die neuen Revolutionäre hatten für den Sowjetkommunismus (»der stalinistische Dreck«, wie Cohn-Bendit sagte) nur ein verächtliches Lachen übrig.

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Ihre Propheten hießen Dutschke und Cohn-Bendit, und ihr Schwert war der internationale Terrorismus.

In Rußland und in den Ländern Osteuropas hat der Nationalkommunismus das Los der Armen dadurch gelindert, daß er alle arm machte. Die Unfähigkeit der Bürokratie greift immer weiter um sich. Der Arbeiter, schrieb Marx über die Lebensbedingungen der Werktätigen in seiner Zeit, fühle sich an seinem Arbeitsplatz entfremdet. Er verrichte keine freiwillige, sondern Zwangsarbeit. Frei fühle er sich nur in seinen animalischen Funktionen -beim Essen, Trinken, Zeugen -, während er in den menschlichen auf die Stufe eines Tieres gestellt sei. Daran hat sich im Osten nichts geändert. Bis heute wurden in keinem der kommunistischen Paradiese die Arbeitsbedingungen nach den Vorstellungen von Marx verbessert.

Marxismus, Leninismus und ihr Sprößling Stalinismus haben den Kommunismus nicht zum Gipfel, sondern in die Niederungen des Nationalkommunismus geführt. Heute stehen sie als leblose Monumente da, nationalistische Entartung einer verlorenen proletarischen Revolution. Der Kommunismus, einst eine romantische Bewegung, die soziale Gerechtigkeit schaffen wollte, ist tot und hat nichts hinterlassen als eine aufgeblähte, unfähige Bürokratie von kafkaesken Ausmaßen, der die noch immer bestehenden Gegensätze zwischen sozialistischer Theorie und heutiger politischer Praxis herzlich gleichgültig sind.

Nur wenn man den Sozialismus auf die Abschaffung des Privateigentums an den Produktionsmitteln reduzierte, könnte man - und selbst dann nur eingeschränkt - die sowjetische Gesellschaft »sozialistisch-kommunistisch« nennen. Da sich jedoch die Sowjetunion in sämtlichen anderen sozialen Beziehungen von den kapitalistischen Ländern nicht unterscheidet, kann man nicht behaupten, daß der sowjetische Sozialismus seine proklamierten Ziele erreicht hätte.

Die Mythen des Kommunismus waren einmal der Klassenkampf und die Unfehlbarkeit des Proletariats. Die Mythen von heute heißen: Volk, Land, Blut, zionistische Gefahr, Anti-Intellektualismus und eine neue Art »Klassenkampf«: der zwischen dem Parteifunktionär und dem unterprivilegierten Normalbürger. Der russische Staatskult, der chinesische oder sowjetische Nationalismus werden sich vielleicht noch lange halten, wenn eine Gefahr sie stabilisiert. Sie könnten aber auch aus der menschlichen Gesellschaft verschwinden, wenn man sie friedlich sterben ließe.

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Wachstumsstopp?

Der Nationalkommunismus mit seinen Mythen und seiner Unfähigkeit würde uns nicht so sehr interessieren, stünden wir nicht an der Schwelle einer Epoche geplanter Wachstums- und Wohlstandsbeschränkung. Es könnte sein, daß der Westen gezwungen wird, das wirtschaftliche Niveau auf den ungleich niedrigeren Lebensstandard der Sowjetunion und Osteuropas herunterzuschrauben, statt daß diese den Wohlstand des Westens erreichen, wie es ihr Ehrgeiz ist, namentlich für die Klasse, die immer besser lebt: die politische und kulturelle Elite der Sowjetunion.

Niemand kann mit Bestimmtheit sagen, wie es zum Wohlstands-Overkill im Westen kam. Die Prosperität eskalierte auf eine schwindelnde Höhe, während die Regierungen der USA und Westeuropas von ihren Technokraten die optimistischsten Gutachten erhielten und Meinungsumfragen zeigten, daß die Bevölkerung ihre Wünsche immer mehr steigerte. Wenn eine Regierung die Bevölkerung belügt, es werde immerfort aufwärtsgehen, braucht sie Belege, um ihre Lügen zu stützen, denn in einer Demokratie muß sie für ihre Behauptungen geradestehen. Dann geht durch die Regierungsbürokratie der Aufruf zur Mithilfe, dann heißt es, wie in den USA, »Sie helfen dem Präsidenten, wenn Sie Material beibringen, das seine Position stützt«. Dies hat zur Wirkung, daß der gesamte Informationsfluß zur Regierung getrübt, vergiftet wird.

Bürokraten haben selten klare Zielvorstellungen, aber es ist zuzugeben, daß wir alle irrigen Meinungen anhängen können. Einer der am weitesten verbreiteten Irrtümer ist der allzu optimistische Glaube, die Technologie könne vorhandene Hilfsquellen vervielfachen und es uns ermöglichen, jederzeit neue zu erschließen. Die Technologie ist ein Produkt der Naturwissenschaft, nicht der Magie; und derartige Zauberei wäre einfach zuviel von ihr verlangt. Zwar kann sie hin und wieder ein Kaninchen aus dem Hut zaubern, aber das Kaninchen muß zuerst einmal da sein. Ein anderer Irrtum ist der weitverbreitete Wahn, das Bruttosozialprodukt eines Landes könne immerfort exponential steigen - eine Ansicht, zu der Technokraten vermutlich kamen, als sie durch den Rückspiegel in die Zukunft blickten.

Statistisch betrachtet, gibt das Bruttosozialprodukt den Stand der wirtschaftlichen Leistung an - was sich heute als ein irreführendes Maß erweist. Nutzlose, ja sogar für die Hilfsquellen zerstörerische wirtschaftliche Aktivitäten blähen das Bruttosozialprodukt auf, solange Geld für sie ausgegeben wird. Diese Maßeinheit zeigt die Neigung, über Gebühr jene Art von Wachstum zu betonen, die durch Autos, Computer, Düsenmaschinen, Kühlschränken und Geschirrspülautomaten symbolisiert wird. Dies sind Produkte, die unsere natürlichen Rohstoffvorkommen aufzehren, die Umwelt verpesten und die Grenzen des Wachstums erkennen lassen.

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Aber die entfesselte Technologie führt nicht nur zu Umweltverschmutzung und Erschöpfung der Quellen, sondern nähert sich auch einem Sättigungszustand. In den Industriestaaten, mit Ausnahme Rußlands und Osteuropas, befindet sich das Auto heute eindeutig in der Defensive. Die zunehmende Verstopfung unserer Städte macht es als Verkehrsmittel immer weniger attraktiv. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis der Verbrennungsmotor, wenn nicht das Auto überhaupt, aus den Innenstädten verbannt wird.

Ein Beispiel dafür, wie rasch Grenzen erreicht werden, liefert der Computer. Als er vor zwanzig Jahren in Wirtschaft und Verwaltung eingeführt wurde, erleichterte er zunächst Büroarbeit und Rechenoperationen; heute verwandelt er sich in den schlimmsten und schnellsten Papierproduzenten, den der Mensch jemals erfunden hat. Zwar wird in vielen Fällen die Informationsverarbeitung durch den Mangel an Rechenanlagen behindert, aber noch schlimmer wird es, wenn sie im Übermaß eingesetzt werden; mit jeder neuen Computer-Generation schnellen die Kosten für die gleiche Arbeitsleistung um das Fünffache in die Höhe, obwohl rein rechnerisch die Kosten pro Speichereinheit oder pro Rechenoperation - dank technischer Verbesserungen - absinken. Diese Kostenschwemme bringt allmählich die Industrie davon ab, ihr Computer-Arsenal aus Prestigegründen laufend zu verstärken -und diese Reaktion setzt der Entwicklung eine Grenze.

Ein dritter moderner Wirtschaftszweig, der in Schwierigkeiten geraten ist, ist die Luft- und Raumfahrtindustrie, von der Weltraumforschung bis zur Produktion von Militärflugzeugen und alltäglichen Düsenmaschinen. Das letzte Flugzeugmodell, das seinen Benutzern wirklich gute Dienste leistete, war die Boeing 707. Sie wurde 1957 entwickelt. Seitdem hat die Luftfahrtindustrie nichts Nennenswertes mehr auf den Markt gebracht. Der Jumbo fliegt noch immer mit zu geringer Kapazitätsauslastung, was ihn unrentabel macht, und das Überschallflugzeug Concorde, Produkt der Liaison zwischen allzu ehrgeiziger Technologie und nationalem Prestigedenken, scheint zum größten Fehlschlag zu werden. Daß es billiger kommt, diese Monstren zu unterhalten, als sie aus der Welt zu schaffen, ist nur noch ein ironisches Glanzlicht.

Wachstum Null wäre das richtige Ziel in dieser verschleißorientierten Zivilisation; aber die Expansion der Wirtschaft hat einen eingebauten »Wachstumsmotor«, genauso wie das Elend einen inneren Motor besitzt. Das Problem, vor dem wir stehen, heißt, wie man dem Elend und dem Wachstum zugleich entgehen kann. Die Lösung läge vielleicht in einer Änderung unseres Wertsystems: Grenzen sind immer nötig, doch die notwendige Wachstumsbegrenzung wird von einem bestimmten Wertsystem vorgeschrieben; wenn die Leitwerte verändert werden, ändern sich damit auch die Grenzen. Der Angelpunkt einer solchen Umstellung könnte die geistige Innenwelt des Menschen sein.

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