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5   Gigantomanie  Chorafas-1974

 

Ein wirtschaftliches Moratorium?

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Erregung ist Stimulation, das Erwecken von Gefühlen oder Emotionen. Man kann Ärger erregen, Interesse, Verlangen, Neugier oder das Gefühl, handeln zu müssen. Solche Reaktionen treten nicht nur bei einzelnen Wesen, sondern auch bei ganzen Gesellschaften auf. Manche Systeme, Organisationen oder Organismen geraten wegen ihrer abnormen Größe oder Dynamik in einen Zustand der Selbsterregung, andere, weil sie nicht in der Lage sind, den Stand ihrer eigenen Unfähigkeit zu beurteilen.

Der »Overkill« im Westen, zu dem es durch die hemmungslose Ausbeutung der natürlichen Rohstoffquellen kam, ist ein selbsterregendes System par excellence - und das gleiche gilt für das Unvermögen eines überstrapazierten staatlich gelenkten Systems wie der sowjetischen Wirtschaft, mit den steigenden Erwartungen seiner Verbraucher Schritt zu halten. Dieses führt zu einem Erregungszustand von stark negativer Färbung, der sich in provozierendem Gehabe oder in einem starren Festhalten am Status quo ausdrücken kann. Ein »Status quo« beschreibt einen gegenwärtig herrschenden Zustand, gleichgültig ob es sich um Übersättigung, Wohlstand, Mangel oder Elend handelt. Eine Politik, durch die im Westen der Wohlstand gebremst oder gar vermindert werden soll, fordert die Schonung der wichtigen Hilfsquellen und eröffnet dem hemmungslosen Konsum und der Vollbeschäftigung eine düstere Zukunft.

Das industrielle Wachstum anzuhalten heißt nicht nur einfach, daß die im Überfluß Lebenden von Kinkerlitzchen wie elektrischen Zahnbürsten, Hifi-Anlagen oder automatisch versenkbaren Seitenfenstern im Auto Abschied nehmen müssen. Die Wirtschaftsgeschichte lehrt mit dramatischer Anschaulichkeit, daß die großen Opfer stets von den ärmeren Schichten gebracht werden müssen, und zwar noch bevor diese in den Genuß der Segnungen der galoppierenden Prosperität gekommen sind. Wirtschaftliches Wachstum garantiert keineswegs, daß die Slumbewohner und die unterprivilegierte Landbevölkerung eines Tages die Früchte einer industriellen Zivilisation genießen werden. Aber ein Wachstumsstopp nimmt ihnen sogar die Möglichkeit, ihren heutigen miserablen Status zu verbessern.

In den vergangenen zwanzig Jahren hat sich bei den Massen der Lohnabhängigen und Bauern in den unterentwickelten Gegenden der Welt die Ansicht verbreitet, das (fälschlich so genannte) »gute Leben« sei auch für sie ohne weiteres zu haben - sie brauchten nur die Industriestaaten unter Druck zu setzen. Jahrelang floß die Entwicklungshilfe reichlich, jetzt aber wird sie allmählich gedrosselt. In den Industriestaaten selbst wiederholte sich das gleiche, nur auf einem höheren Existenzniveau: Arbeitnehmer und Bauern brauchten lediglich Management und Staat unter Druck zu setzen. Falls aber hier das Wachstum gestoppt würde, wäre aus der Wirtschaft nichts mehr herauszupressen, und jeder müßte auf einiges von dem Luxusgepäck verzichten, das er in besseren Tagen mit auf die Reise genommen hat.

Die Umverteilung des vorhandenen Reichtums bringt keine Lösung, wie die russische Revolution 1917 zur Genüge bewiesen hat. Die wohlhabenden Klassen wären nicht bereit, ihren Besitz aufzugeben; er müßte ihnen mit Gewalt genommen werden. Außerdem geht enteigneter Reichtum nutzlos zugrunde - so nutzlos wie Tausende Tonnen Getreide infolge Unfähigkeit in indischen Lagerhäusern verrotten. Jede Umverteilung setzt notwendig Revolution, ja Kriege voraus. Und selbst wenn solche Kriege für jene, die sie begonnen haben, erfolgreich ausgehen - wofür keinerlei Garantie besteht -, können sie doch nicht mehr erhoffen als eine Gleichheit des Elends nach sowjetischem Muster, ausgenommen natürlich die Mitglieder der herrschenden Partei (Klasse), die immer oben sind.

Eine Welt ohne Wachstum wäre so verschieden von allem, was wir bisher kennen, und so schwierig zu regieren, daß soziale Gerechtigkeit und Freiheit damit sicher nicht zu vereinbaren wären. Ein Stopp, ja schon eine wesentliche Verlangsamung des Wachstums setzen eine Weltdiktatur voraus, die ganzen Industriezweigen jede Expansion verbietet und neue Kapitalinvestitionen nur noch in dem Maß zuläßt, in dem Fabrikationsanlagen veralten und stillgelegt werden müssen. Man müßte den Menschen sagen, daß sie die Dinge, die sie begehren - oder die ihnen die Massenmedien einreden -, nicht bekommen können, weil Mathematik und Computer bestimmt haben, es dürften künftig keine Rohstoffe mehr in ihre Herstellung investiert werden.

Die Durchsetzung der notwendigen staatlichen Vorschriften wird mit brutaler Härte geschehen. Ja, sie könnte die Form von Massenbestrafungen annehmen, vergleichbar der, die der byzantinische Kaiser Basilios IL an den Bulgaren vollzog, als sie wieder einmal revoltiert hatten; eine lange Reihe geblendeter Männer wurde aneinandergekettet und barfuß durch Städte und Dörfer getrieben, als abschreckendes Beispiel, wie Ungehorsam geahndet wird.

 wikipedia  Liste_der_byzantinischen_Kaiser     wikipedia  Basiliskos (?) bis 476      wikipedia  Basiliskos_der_Jüngere  476-477

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In einer Gesellschaft des Nullwachstums wird eine zentrale, autokratische und vermutlich überaus bürokratische Maschinerie mit der Befugnis ausgestattet sein, das wirtschaftliche Alltagsleben schärfer unter Kontrolle zu nehmen und durch steuerliche Maßnahmen Mittel, die sonst von Privatpersonen und Unternehmen für Käufe und Investitionen verwendet würden, öffentlichen Investitionen zuzuführen. Vielleicht werden sogar Vorschriften erlassen, wie das im privaten Bereich verbleibende Geld auszugeben ist. Der Staat müßte schon deswegen eingreifen, um Makroeffekte wie etwa internationale Währungsbewegungen der Art auszuschließen, wie sie in den vergangenen drei Jahren das englische Pfund ruiniert haben. Nie wieder könnte die Industrie auf den Gedanken verfallen, beinahe jeden neuen Finanztrick, jedes neue Produktionsverfahren anzuwenden, ohne Rücksicht darauf, ob dabei die Hilfsquellen konserviert oder aufgezehrt werden, ob das Währungssystem erhalten bleibt oder zugrunde geht, ob die Umweltverschmutzung verringert oder verstärkt wird.

Der Staat wird alle wichtigen Entscheidungen steuern müssen. Wir brauchen nur an die katastrophalen Fehlschläge in der Sowjetunion zu denken, um festzustellen, wie verkehrt diese »Lösung« sein kann. In gewisser Weise hat die Trennung, die vor etwa dreißig Jahren Europa in zwei Hälften zerschnitt, das größte gesellschaftliche Experiment, das die Menschheit jemals unternahm, erleichtert. Die westliche Hälfte entschied sich für Wohlstand und Selbsterregung, erlebte ein Vierteljahrhundert beispielloser Prosperität, hat aber heute die Wachstumsgrenzen erreicht; die östliche Hälfte Europas hingegen war zur Stagnation verdammt und hat nichts zustande gebracht.

Die Übertreibungssucht

Heute, da wir dem Ende dieses aufregenden Jahrhunderts näher sind als dem Anfang, sehen manche von uns gewisse Elemente, die darauf deuten, daß Freiheit und Sicherheit aus dem Gleichgewicht geraten sind. Die Freiheit von Gesellschaften - zum Unterschied von individueller Freiheit - lag in der Aufrechterhaltung eines gewissen Gleichgewichts der Mächte, das verhinderte, daß irgendeine sich die anderen unterwarf. Dies bedeutet grund­sätzlich, daß, wenn eine bestimmte Macht an Stärke und Stoßkraft zunimmt, ihr Gegenspieler nachziehen muß.

Der Wettlauf um größere Macht, der sich vor dem Hintergrund des beschriebenen Phänomens der Selbsterregung und der Sucht der Regierungen nach neuen Rekorden und gesteigertem Prestige abspielt, wird ausgelöst von Gigantomanie und bringt neuen Gigantismus hervor. Konformität ist die Voraussetzung des Gigantismus; den Beweis dafür liefern die Gesellschaften des Vorkriegsdeutschlands, des heutigen China, der Sowjetunion und der Vereinigten Staaten.

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Es ist noch nicht genügend untersucht worden, welches Leid die Konvulsionen, die zum Gigantismus führen, verursachen. Das erste große Beispiel war die Formung des amerikanischen Westens, die 150 Jahre in Anspruch nahm. Die Ausrottung der Indianer, die sie mit sich brachte, geschah langsam. In Rußland hingegen waren die Geburtswehen des Massenstaates viel heftiger, denn alles ging ungleich rascher vor sich: das Blutvergießen 1917 und in den folgenden Jahren, die tiefgehende und nur schwer zu reparierende Zerrüttung der Wirtschaft, die Zerstörung des Lebensmodus auf dem Lande, die nach dem Gesetz der Wechselwirkung auch die Industrie in Mitleidenschaft zog, sind Beispiele dafür. Dann folgten Reorganisierung und Wiederaufbau. Die Politik Stalins führte zu dem Ergebnis, daß - wie man 1953, in seinem Todesjahr, feststellte - der Viehbestand ungefähr genauso groß war wie 1916; auch die Getreideproduktion war innerhalb von zwanzig Jahren kaum gestiegen und lag etwa auf der Höhe der späten zwanziger Jahre, vor der Kollektivierung.

Wie es kam, daß das gutmütige, humane russische Volk sich dieser neuen Zv/angsgemeinschaft so völlig unterwarf, ist eines der größten Rätsel des 20. Jahrhunderts. Lenins menschliche Seiten, seine persönliche Bescheidenheit, seine Höflichkeit, seine Liebe zur Musik, seine Geduld gegenüber den einfachen Bürgern, traten zurück, wenn es galt, die Revolution ans Ziel zu führen und die Zwecke und Ziele des neuen Staates zu bestimmen. Sobald sich der Nationalkommunismus sicher etabliert hatte, entwickelte er intellektuelle Arroganz, Unduldsamkeit, Schroffheit gegen jede Opposition, Mißachtung der gesellschaftlichen Wertvorstellungen und vor allem Verachtung für die Freiheit des einzelnen.

Der sowjetische Koloß

Der Superstaat, der angeblich errichtet wurde, um dem Volk zu Freiheit und sozialer Gerechtigkeit zu verhelfen, verwandelte sich alsbald in einen Feind des Volkes, der seine Seele knechtete. Allmählich gewöhnten sich die Bürger daran, diese modernisierte autoritäre Gemeinschaft als naturgegeben hinzunehmen. Zwar verficht die sogenannte sozialistische Theorie noch immer ihre Ziele - Vernichtung des Kapitalismus, Errichtung einer neuen Ordnung, Sicherung dieses Systems mit Gewalt -, aber der Nationalkommunismus hat heute weder den Willen noch die Macht, den Westen zu »begraben«.

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In den alten romantischen Zeiten vor der russischen Revolution 1917 hatten führende Köpfe des Sozialismus allgemein erwartet, ihre neue Ordnung werde sich durchsetzen, nachdem der Kapitalismus von selbst zusammengebrochen sei. Aber die Wirtschaftsgeschichte hat eine andere Entwicklung genommen. Der Privatkapitalismus hat sich durch eine eigene juristische Erfindung gewandelt und damit seine Existenz weiter gesichert.

Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts war in England das Recht zur Gründung von Gesellschaften mit beschränkter Haftung - zumal wenn es sich um Unternehmen mit Gewinnabsicht handelte - ein selten gewährtes Privileg gewesen, das nur in vereinzelten Fällen durch »Royal Charter« oder ein besonderes Gesetz (Special Act of Parliament) gewährt wurde. Aber dann trat eine Änderung ein. Jede Gruppe von Personen konnte, sofern der Zweck gesetzlich war, eine solche Gesellschaft gründen, ohne zeitliche oder umfangmäßige Begrenzung. Der juristische Status dieser Organisationen verschleierte ihre reale Stellung als autonome politische und gesellschaftliche Gebilde, und alsbald trat eine neue »Klasse« auf, welche die Eigentümer in den Schatten und ihrer Kontrolle unterstellen sollte: die Manager. Damit war ein internationaler Klan wirtschaftlicher Führungskräfte entstanden, von dem sich die sozialistischen Theoretiker des 19. Jahrhunderts nichts hatten träumen lassen.

Das erklärt ein wichtiges Ereignis der vergangenen Jahrzehnte: daß es dem Wirtschafts- und Gesellschaftssystem des Westens gelang, den Kalten Krieg zu gewinnen, was das gesamte Bild der Welt verändert hat. Der Westen konnte die marxistische Welt zur Zusammenarbeit auf wirtschaftlichem Gebiet nötigen. Damit war die westliche Theorie bewiesen, daß kein Wirtschaftssystem sich in der Isolierung von anderen entwickeln könne, und die These untermauert, daß die ursprünglich romantisch-sozialistischen Ideen im Osten, weil undurchführbar, preisgegeben wurden.

Der Westen gewann den Kalten Krieg. Zwar veränderten und lösten sich viele seiner Wertkategorien und organisatorischen Komponenten auf, entscheidend aber war, daß die Desintegration des Nationalkommunismus noch rascher und umfassender vor sich ging. Solange der Westen einigermaßen stark bleibt, kann er diesen unausweichlichen Prozeß beschleunigen. Nixons Reisen nach Peking und Moskau waren Ergebnis einer pragmatischen Einschätzung der Situation - die gesellschaftliche Organisation, in der es nicht zu ideologischer Versteinerung kommt, hat mehr Überlebenschancen. So gelang es diesmal der Welt, ein Patt zu vermeiden, wie es zwischen dem Christentum und dem Islam nach Jahrhunderten der Kriege bestand, aus denen keine der beiden Seiten als Sieger hervorging.

Die Sowjetunion ist sich der Herausforderung bewußt. Für die Kreml-Führung ist Amerika das Mekka des Managertums, gefolgt von der Bundesrepublik und Japan.

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Darüber können auch die Leitartikel der »Prawda« nicht hinwegtäuschen, die immer wieder »die Größe des revolutionären und schöpferischen Bemühens der kommunistischen Partei« beschwören und die nationalen Errungenschaften preisen, die das Sowjetvolk mit »berechtigtem Stolz« erfüllten.

Aber andererseits ist in den Artikeln der »Prawda« die Rede von notwendigen »neuen Methoden und Lösungen«. Die Zahl der wirtschaftlichen Projekte, die keinen Gewinn einbrachten - teilweise nicht einmal von der staatlichen Planung genehmigt -, habe ein »unerträgliches Ausmaß« erreicht. Ganze Sektoren der Volkswirtschaft sind durch die Bürokratie gelähmt. Mit am stärksten betroffen ist der Beschaffungs- und Verteilungssektor, in dem 200 000 Personen beschäftigt sind. Der sowjetische Nationalökonom Professor Alexander Birman sagte dazu, der Personalbestand könnte um neunzig Prozent gekürzt werden, wenn das System rationell arbeitete.

Wenn in den vergangenen Jahren die Produktion irgendeines sowjetischen Industriezweiges erhöht werden sollte, wurden einfach mehr Arbeiter eingestellt. Inzwischen aber mangelt es an Arbeitskräften, und die »Prawda« betont die Notwendigkeit, den Einsatz der Beschäftigten rationeller zu gestalten. Die Moskauer Führung fordert eine Haltung äußerster Sparsamkeit; jede Minute Arbeitszeit sei kostbar, jede Maschine, jedes Gramm Rohmaterial oder Treibstoff. Jeder Rubel, der investiert wird, muß den höchstmöglichen Ertrag bringen. Heute sind etwa achtzig Prozent der gesamten sowjetischen Wirtschaft in das Reformprogramm integriert, das im vergangenen Jahrzehnt beschlossen und eingeführt wurde.

Das Paradies liegt vor der Tür

Die Schwierigkeiten, die überall in der sowjetischen Wirtschaft auftreten, greifen auch auf das Alltagsleben der Russen über. Hausfrauen beklagen sich über schlechte Versorgung mit Fleisch und Gemüse, an jeder Straßenecke bilden sich Schlangen, wenn ein fliegender Händler eine Kiste Obst oder Gefrierfisch öffnet; häufig gehen in den Geschäften Grundnahrungsmittel wie Käse, Butter und Eier aus. Vor Wurstbuden bilden sich lange Reihen wartender Kunden, und das gleiche gilt für Cafes, wegen der äußerst langsamen Bedienung. Die »Prawda« berichtete kürzlich über zwei Ukrainer, die zu je einem Jahr Gefängnis verurteilt wurden, weil sie tausend schimmelige Brotlaibe auf eine Müllhalde gefahren hatten. Eine andere Moskauer Zeitung behauptete, Moskauer Kantinen hätten 114 Tonnen übriggebliebenes Brot als Viehfutter an landwirtschaftliche Betriebe geliefert, »ein bit-

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terer Anblick für diejenigen, die es abtransportieren mußten - denn jedes Stück Brot verdient Achtung«.

Das kommunistische Parteiorgan klagte, daß wegen organisatorischer Mängel die Ernte zu spät eingebracht werde. Feuchtes Getreide werde zu Lagerhäusern transportiert, die über keine Trockenanlage verfügten. In anderen Fällen stapelten sich Weizenbündel an Nebengeleisen auf, weil nicht genügend Güterwaggons zum Abtransport zur Verfügung standen. Die »Prawda« berichtete von katastrophalen Transportverhältnissen auf dem Lande. In Kisilski konnten nur siebenundachtzig von dreihundert vorhandenen Lastwagen eingesetzt werden, weil die anderen defekt waren. In einem Fall wurde sogar ein Lkw, der dringend für die Erntearbeiten gebraucht wurde, mehr als hundert Kilometer weit geschickt, um ein einziges Kugellager abzuholen.

Chruschtschow prahlte einmal, der Kommunismus werde den Westen »begraben«. Wenn man aber ein Grab schaufeln will, braucht man zunächst einmal Schaufeln, und diese werden für erfolglose Agrarprojekte benötigt, da nahezu die Hälfte der sowjetischen Bevölkerung noch in der Landwirtschaft tätig ist. Im Sommer 1972 waren in der gesamten Sowjetunion schätzungsweise 100 000 landwirtschaftliche Maschinen, Traktoren und Zubehör aus Mangel an Ersatzteilen nicht einsatzfähig. Wegen der Rückständigkeit der russischen Landwirtschaftstechnologie brauchen die Sowjets das Neunfache an Arbeitskräften und zwischen 150 und 300 Prozent mehr Bodenfläche (je nach der Tüchtigkeit der örtlichen Organisation), um etwa drei Viertel der amerikanischen Agrarproduktion zu erreichen. Der angesehene russische Physiker Andrej Sacharow stellte fest, der wirtschaftliche Abstand zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion vergrößere sich noch zugunsten der USA. »Wir hinken in der ölproduktion, der Gasproduktion, der Erzeugung von Strom hinterher, wir sind hoffnungslos abgeschlagen in der Chemie und in aussichtsloser Position in der Computertechnik.«

Während in einem normalen Ladengeschäft in Rußland die Regale leer sind, bietet sich in den Spezialläden, die für Ausländer mit harter Währung reserviert sind, ein reiches Angebot. Der Nationalkommunismus diskriminiert in der Praxis - ungeachtet seiner Gleichheitstheorien - den russischen Durchschnittsbürger in Geschäften und Restaurants. Die Preise sind astronomisch, wenn man bedenkt, daß in der Sowjetunion der Stadtbewohner im Durchschnitt weniger als dreißig Rubel in der Woche verdient. Eine große Dose Birnen, die, um genießbar zu sein, erst noch einmal gekocht werden müssen, kostet einen Rubel, ein Laib Brot einen Drittelrubel, und ein Kilogramm Käse dreieinhalb. Ein diplomierter Ingenieur muß im Monat zusammen mit seiner Familie mit 120 Rubel auskommen. Die russische Wirtschaft bietet ein chaotisches Bild, nur teilweise verschleiert durch propa-

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gandistisch hochgespielte Raumfahrtunternehmen und ähnliche Bluffmanöver, auf die leichtgläubige Beobachter hereinfallen.

Es ist ein höflicher Brauch, daß der Besucher feststellt, die Verhältnisse im Gastland »haben sich gebessert«. Aber statt zu lügen wäre es besser, wahrheitsgemäß zu sagen, daß das bewundernswerteste an der Sowjetunion ihre Bevölkerung ist: höflich, herzlich, gastfreundlich und liebenswürdig. Auf der Liste der Pluspunkte folgen danach Theater, Ballett und Kunst.

Aus eigenem Augenschein ist diesen Feststellungen der Schluß hinzuzufügen, daß die Resultate von fünfzig Jahren Kommunismus wenig Anlaß zum Stolz geben. Es gibt keinen Grund für die - oft dogmatisch vorgebrachte - Behauptung, die sozialistische Produktionsweise bringe der Wirtschaft einen niemals endenden Frühling. Die Sackgassen, in welche die sowjetische Wirtschaft geraten ist, zeigen, daß sie der Produktivität der westlichen eindeutig unterlegen ist und daß das unrationell arbeitende sozialistische Wirtschaftssystem zur absoluten Verarmung der arbeitenden Klasse führt.

Es gibt noch andere Minuspunkte, die man nicht übersehen darf. Im zaristischen Rußland galten die Leibeigenen als Waren, als Eigentum ihrer Besitzer. Der Preis schwankte entsprechend den Fähigkeiten und der Ausbildung des Verkaufsobjekts. Dieser Maßstab gilt heute wieder, nachdem die Sowjetunion erklärt hat, daß bestimmte Bürger das Land nur gegen eine »Sondersteuer« verlassen könnten. Ein jüdischer Leibeigener mit Doktorgrad muß 35 000 Rubel, ein Oberschulabsolvent »nur« die Hälfte dieses Lösegeldes erlegen, und der schlichte Besitzer des Abgangszeugnisses einer Berufsschule noch bedeutend weniger. Benjamin Levich, ein weltweit reno-mierter sowjetischer Elektrochemiker, kommentierte diese Verwandlung von Menschen in Waren mit den dürren Worten: »Die Abgaben schaffen vielleicht eine neue Menschenkategorie - die Sklaven des 20. Jahrhunderts*.«

Soziale Probleme

Ein gesellschaftliches Problem läßt sich definieren als die Differenz zwischen den Erwartungen der Sozietät gegenüber den gesellschaftlichen Verhältnissen und den gegebenen Realitäten. Eine hochstehende Gesellschaft ist eine Sozietät, deren Mitglieder alle sehr hoch von ihren Pflichten denken. Ein zeitgenössischer Historiker kleidet bei der Beschreibung des Niedergangs von Athen seine Ansicht in folgende Worte: »An dem Tag, da die Athener sich nicht mehr fragten, was sie der Gesellschaft schuldeten, sondern nur noch wissen wollten, was die Gesellschaft ihnen schuldig sei, hörten sie auf, an Verant-

'' Unter amerikanischem Druck hoben die sowjetischen Behörden im Frühjahr 1973 zwar die »Sondersteuer« auf - aber für wie lange?

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wortung zu denken, und hatten nur noch Vorteile und Gewinn im Sinn. An diesem Tag brach der athenische Stadtstaat zusammen, und er hat sich nie mehr erholt.«

Jedes Regierungssystem muß nach den Resultaten bemessen werden, die es bewirkt, nicht nach seinen theoretischen Deklamationen. Was hat der Nationalkommunismus dem russischen Volk im Austausch für die Freiheit geboten? Anläßlich von Nixons Besuch kabelte ein amerikanischer Zeitungskorrespondent aus Moskau: »Die neue Mobilität, die das Auto verleiht, wird die Russen mit Sicherheit individualistischer machen, da es sie von der Disziplin des Gemeinschaftslebens befreit. In diesem gewaltigen Land, wo zahlreiche Bürger in Wohnungen leben, nicht viel größer als das Auto, das sie zu kaufen hoffen, bietet das Auto als wichtigsten Pluspunkt eine Fluchtmöglichkeit in die Einsamkeit.« Und Einsamkeit kann keine Massengesellschaft dulden, weder eine kapitalistische noch eine kommunistische.

Was wird vom Kommunismus bleiben nach der großen Umorientierung auf die Bedürfnisse und Wünsche des Verbrauchers, die nun einsetzt? Diese Entwicklung ist natürlich für den Westen eine hocherfreuliche Nachricht. In einer Zeit, da der amerikanische, japanische und westeuropäische Markt sich dem Sättigungspunkt nähert, da unsere Produktionskapazität unser Konsumvermögen überflügelt, stehen in Osteuropa und der Sowjetunion etwa dreihundert Millionen Menschen bereit, die elementaren Bedarfsgüter aufzunehmen, für die wir fortan keine Verwendung haben. Unsere Fabriken können weitere zehn bis fünfzehn Jahre drauflos produzieren, bevor schließlich die Krise als Folge der nächsten Sättigung kommt. Moskau fürchtet sich vor den modernen - besonders den jungen - Revolutionären und giert nach Konsum.

Daß heute alle hochindustrialisierten Staaten vor irrationalen Zwangssituationen stehen, beweist die Wahrheit des Sprichworts, die schlimmsten Katastrophen seien immer Menschenwerk. Maurice Strong, Generalsekretär der UNO-Konferenz über Umweltschutz, berichtete kürzlich, japanische Industrielle planten, in Zukunft einen weit größeren Teil ihrer neuen Werke im Ausland zu bauen, besonders was personalintensive und umweltschädliche Fertigungen betreffe. Dabei verfahren amerikanische Firmen seit Jahren so, und auch die deutsche Industrie zieht inzwischen nach.

Hat unsere Gesellschaft überhaupt die Mittel, ihre Phantasiegespinste zu finanzieren, oder sind die zahlreichen und so vielfältigen Versprechungen nur leere Worte? Während des amerikanischen Wahl kämpf es 1972 speiste ein Anhänger McGoverns aus Kalifornien, der mit elektronischen Rechenanlagen Millionen verdient hatte, in einen seiner Computer die Formeln ein, mit denen der demokratische Präsidentschaftskandidat den Bedürftigen zu Wohlstand verhelfen wollte. Dabei mußte er feststellen, daß zusätzlich

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zu dem gewaltigen Defizit, mit dem die Regierung in Washington heute schon zu kämpfen hat, 42 Milliarden Dollar aufgebracht werden müßten, um diese Zusagen einzulösen. Niemand wußte zu sagen, wer diese Rechnung bezahlen würde, aber das lächerliche Spiel mit Zahlen und Versprechungen ging weiter.

Die Aktenschränke in Ost und West sind vollgestopft mit nicht eingehaltenen sozialen Versprechungen. Ein Beispiel dafür ist die Übernahme des Gesundheitswesens in staatliche Regie, durch die die ärztliche Versorgung der Bevölkerung entscheidend verbessert werden soll. Solche Experimente stellen nur Änderungen an der Fassade dar. Es kann keine Rede davon sein, daß die Gesundheitsprobleme an der Wurzel angepackt würden und daß die Resultate einer solchen Politik auch nur im entferntesten dem ungeheuren Kostenaufwand entsprächen.

Privatkonsum und Gemeinwohl

Regierungen, Gesellschaftsstrukturen und Wirtschaftssysteme erben gewöhnlich von ihren Vorgängern schwierige Probleme, für die sie keine vollkommenen Lösungen sehen. Ihre Fähigkeit, Situationen durch kurzfristig wirksames Handeln zu verbessern, ist beschränkt, aber immerhin können sie einige langfristig effektive Entscheidungen treffen. Das Wirtschaftssystem der Zukunft, in dem wir leben werden, wird darauf ausgerichtet sein, Dienstleistungen über die Produktion von Gütern zu stellen und im Dienstleistungssektor die unpersönlichen über die persönlichen. Der für die Staaten der nachindustriellen Epoche wichtigste Sektor wird das Gebiet der zusätzlichen Aufwendungen sein, die notwendig sind, wenn wir unseren bisherigen Stand nur halten wollen. Wir müssen dafür sorgen, daß die Luftverschmutzung nicht noch schlimmer, daß die Enge in den Städten nicht noch größer wird und daß die Verschmutzung von Flüssen, Seen und Meeren aufhört.

Der zweitwichtigste Sektor betrifft die notwendigen Aktionen, die Umwelt wenigstens so zu gestalten, daß sie den Minimalerwartungen einer frustrierten Gesellschaft entspricht, die nicht weiß, was sie wirklich will. Dabei wird die Psychologie eine führende Rolle spielen - und hoffentlich nicht noch das bißchen Freiheit aufzehren, das in einer Gemeinschaft-orientisTten Gesellschaft übriggeblieben ist.

Der dritte und gegenwärtig akuteste Sektor ist die überhitzte Produktion von Konsumgütern für den selbsterregten Verbraucher. Und der vierte betrifft die ständig wachsenden Ausgaben für Verteidigung, Weltraumforschung, Gesundheitswesen und öffentliche Fürsorge - das heißt, Güter und Dienstleistungen, die nicht der einzelne auf dem Markt kauft, sondern über die öffentliche Gremien durch einen politischen Auswahl­prozeß entscheiden.

Der Begriff der Konkurrenz selbst wird sich wandeln. Wettbewerb in der heutigen Form wird unmöglich sein, es sei denn, bestimmte Konkurrenten verfügten über ungenutzte Hilfsquellen, dank derer sie auf Kosten anderer expandieren können. Aber ungenutzte Hilfsquellen werden immer rarer und gehen überhaupt - obwohl man sie früher für nahezu unerschöpflich hielt - nach unserem heutigen Erkenntnisstand allmählich zur Neige, mit Ausnahme der menschlichen Arbeit. Doch diese wird zunehmend zu einer Ware von geringerer Bedeutung, da immer weniger Aufwand an Arbeitskraft pro Produktionseinheit notwendig ist. Dies zeigt, daß es dringend erforderlich ist, die herkömmliche Wirtschaftstheorie zu überdenken.

Die klassische Wirtschaftstheorie eines frei funktionierenden Marktes beruhte auf Annahmen, die akzeptiert wurden, nicht weil sie ideal der Realität entsprachen, sondern weil sie einfach und für die Praxis genügend genau waren. Geoffrey Vickers* bemerkt zutreffend, daß der freie Markt, auf dem die Kaufentscheidungen der Konsumenten theoretisch auf die Produktion konkurrierender Hersteller einwirkten, eine so große Zahl von Produzenten zur Voraussetzung hatte, daß keiner von ihnen das Gesamtergebnis beeinflussen konnte. Aber solche Bedingungen sind in einer Zeit wirtschaftlicher Konzentration nicht gegeben. In der Situation des freien Marktes wußten die Verbraucher, was sie wollten und wie sie ihre Wünsche am besten befriedigten. Die Produzenten konnten sich nur behaupten und Gewinne erzielen, wenn sie den Bedarf besser errieten oder befriedigten als die Konkurrenz. Auch dies hat sich radikal verändert, denn heute werden ja Bedürfnisse durch massive Reklamefeldzüge erzeugt. Angetrieben von der Propaganda der Werbung drehen sich Angebot und Nachfrage in einem Circulus vitiosus, wie ein Hund, der nach seinem eigenen Schwanz schnappt.

Was die Zukunftsperspektiven betrifft, so stehen wir vor der Entscheidung, Veränderungen jetzt herbeizuführen oder sie unseren Enkelkindern zu überlassen, die es dann mit einer ganz anderen Größenordnung zu tun hätten. Tatsächlich haben wir nur die Wahl zwischen zwei Möglichkeiten: Entweder wir lassen uns weiterhin durch ständige Selbsterregung dem Chaos entgegentreiben oder wir nehmen die Planung der notwendigen Veränderungen in Angriff, nachdem wir unser Ziel bestimmt haben, nämlich wie der Mensch der Zukunft beschaffen sein soll. Es wäre nur Selbstbetrug, wenn wir glaubten, die Uhr zurückdrehen zu können. Das 19. Jahrhundert gibt darauf die Antwort. Ähnlich wie das unsrige war es im Grunde eine Epoche der Entdeckung; gegen Ende mußten die großen Hoffnungen einer trüben Perspektive weichen: Nationalismus, Sozialismus und zwei Weltkriege.

* Freedom in a Rocking Boat<, London 1970.

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