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Vorwort 1962 zur deutschen Ausgabe

von Theo Löbsack

 

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Unsere Zivilisation droht zum Opfer ihrer eigenen Errungenschaften zu werden: Wir verpesten unsere Atemluft mit Abgasen, Rauch und Industriestaub; wir vergiften die Gewässer, wir verseuchen die Erde mit radioaktiven Strahlen. Und mit all dem benehmen wir uns unvernünftiger als jeder Vogel, dem es schwerlich einfiele, sein eigenes Nest zu beschmutzen.

Zu den Techniken des Menschen, das Gefüge der Natur zu stören, zählen auch die Pflanzenschutzmaßnahmen mit giftigen Chemikalien. Sie zählen dazu, obschon es heißt, diese Maßnahmen seien aus dem Obst- und Gemüse­bau, der Land- und Forstwirtschaft heute nicht mehr wegzudenken. Damit sind wir beim Thema des vorliegenden Buches der amerikanischen Biologin Rachel Carson, die wir auch in Deutschland als die Verfasserin des berühmten Buches >The Sea around us< - >Geheimnisse des Meeres< kennen.

Ihr neues Buch >Silent Spring< hat in den Vereinigten Staaten heftigste Kritik ausgelöst. Man hat Rachel Carson vorgeworfen, sie betrachte die Gefahren der chemischen Schädlingsbekämpfung zu einseitig und übersehe ganz deren Nutzen. Sicher ist, daß Frau Carson mit ihrem Buch ein »heißes Eisen« anrührt, nämlich die Frage, ob chemische Gifte im Pflanzenschutz überhaupt geduldet werden sollten - und wenn ja, in welchem Maße. Um dieses Problem geht der Streit der Meinungen in den USA genauso wie in Europa, und darum ist das Buch auch für uns hochaktuell.

Einen schwachen Anhaltspunkt für das Ausmaß des Problems mag die jährliche Welterzeugung von Pflanzenschutzmitteln bieten. Sie wurde schon Anfang der fünfziger Jahre auf rund eine Million Tonnen veranschlagt und dürfte heute noch beträchtlich höher liegen. Die bedenklichsten dieser Mittel sind Insektengifte zweier großer Gruppen: die chlorierten Kohlenwasserstoffe (DDT, Chlordan, Dieldrin, Heptachlor, Endrin usw.), und die organischen Phosphor-Insektizide, unter ihnen das gefürchtete »E-605«. Bei der leichtfertigen Verwendung dieser Präparate sind Gesundheitsschäden bei Menschen und Tieren nicht ausgeblieben, und wer es unternimmt, diesen Schäden nachzugehen, dem bietet sich ein bestürzendes Bild.

Man mag zur chemischen Schädlingsbekämpfung stehen wie man will, um die Tatsache, daß die Wirkungen der Mittel vielerorts schwerwiegende Eingriffe in den Haushalt der Natur bedeuten, kommt niemand herum. Wo eine natürliche Lebensgemeinschaft mit ihren komplizierten Wechselbeziehungen gestört wird, da mag es zwar gelingen, den einen oder anderen »Schädling« zu vernichten; oft werden aber die natürlichen Feinde dieses Schädlings mitvernichtet, und sein späteres, erneutes Auftreten wirkt sich dann um so katastrophaler aus, weil er jetzt nicht nur die Wirtspflanze in Reinkultur vorfindet, sondern auch ungestört von natürlichen Feinden leben und sich vermehren kann. Das zwingt zur Anwendung immer größerer Giftmengen oder neuer, noch giftigerer Mittel, die zugleich die Saat für neue Schädlingskalamitäten legen. In anderen Fällen werden die Schädlinge resistent. Das heißt, das Insektizid wirkt bei ihnen wie ein Filter: Es tötet die empfindlichen Individuen und läßt die widerstandsfähigen weiterleben. Diese werden dann zu den Stammeltern einer neuen, giftharten Rasse, gegen die - bis zum nächsten Resistentwerden - stärkere oder andere giftige Substanzen herhalten müssen.

Wie steht es nun mit der Wirkung der verwendeten Mittel auf den Menschen? Gewiß sind solche Wirkungen nicht einfach zu leugnen. Man hat »Toleranzdosen« ermittelt und diese sehr niedrig angesetzt, zum Beispiel zu einem Hundertstel der toxischen Menge, aber da die Werte zwangsläufig aus Tierversuchen stammen, lassen sie sich nicht mit letzter Sicherheit auf den Menschen übertragen. Auch sind die für zulässig erklärten Rückstandsmengen am und im Obst, Gemüse und so weiter jeweils für das einzelne Mittel festgesetzt worden und sagen wenig über die Gefährlichkeit einer Summe von mehreren.

Hinzu kommt die Frage der »Wartezeiten«: Für jeden Giftstoff, der im Pflanzenschutz verwendet wird, gelten Sicherheitsperioden, die zwischen der letzten Anwendung des Stoffes und der Ernte verstreichen müssen, damit kein Unheil entsteht. Werden aber diese Zeiten immer gewissenhaft eingehalten? Beherzigen die Erzeuger sie in jedem Fall? Wer wollte behaupten, daß hier wirklich jedes Versehen, jede leichtfertige Nichtbeachtung entdeckt und verhindert werden kann? In der Schweiz ist die Kontrolle stellenweise so scharf, daß die Namen der Bauern, deren Ware übermäßige Rückstandsmengen aufweist, in der Lokalpresse genannt werden - ein empfindlicher Denkzettel. Wie notwendig eine wirksame Kontrolle ist, zeigt Rachel Carson an dem Fall eines Farmers, der Salatpflanzen kurz vor der Ernte mit acht verschiedenen Insektiziden behandelte.

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Und was nützen die Angaben der Hersteller, daß ihre Mittel bei den auf den Packzetteln angegebenen Dosiermengen für Warmblüter unschädlich sind, wenn der Praktiker nach dem Motto »Doppelt genäht hält besser« die Mittel in höheren Konzentrationen bzw. größeren Mengen anwendet, wo sie dann doch gefährlich werden?

Redlicherweise muß man nun einräumen, daß die Bauern und Obstzüchter nicht gerade zum Spaß mit dem Spritzgerät umgehen. Von ihrem Standpunkt ist der chemische Pflanzenschutz durchaus notwendig und berechtigt. Sie weisen zum Beispiel darauf hin, daß die Ansprüche der Verbraucher an die Qualität der Früchte ständig steigen und ohne chemische Maßnahmen einfach keine konkurrenzfähigen Ernten mehr zu erzielen sind.

Das läßt uns fragen: War es früher anders? Wie konnte der chemische Pflanzenschutz überhaupt zu seiner heutigen Verbreitung gelangen?

Pflanzenschädlinge gab es schon immer, doch wurden sie als solche erst richtig empfunden, als der Mensch zu intensiven Anbaumethoden überging. Diese wieder waren eine Existenzfrage, und sie sind es heute mehr denn je. Bei der gegenwärtigen Vermehrungsrate der Erdbevölkerung von 1,8 Prozent (das sind rund 150.000 neue Erdenbürger jeden Tag) müssen uns alle Mittel zur Produktionssteigerung willkommen sein, solange sie sich nicht als Bumerang erweisen. Eins dieser Mittel aber war - auch aus Gründen der Rationalisierung - der Reinanbau, der das Schädlingsproblem heraufbeschwor. Wo auf einem Stück Land nur eine Pflanze angebaut wird, da bieten sich allen Tieren, Pilzen und so weiter, die von ihr leben, die besten Existenzbedingungen konzentriert auf kleinem Raum. Solange dezimierende Feinde fehlen oder in der Minderheit sind, vermehrt sich der Schädling massenhaft. Für den Ausgleich muß daher der Mensch sorgen, indem er den Störenfried durch künstliche oder besser durch möglichst natürliche Maßnahmen niederhält.

Ein weiteres Argument für intensive Pflanzenschutzmaßnahmen ist der Existenzkampf der Bauern und Gärtner, deren in- und ausländische Konkurrenz so wenig schläft wie in jedem anderen Beruf. Gerade die ländliche Bevölkerung weiß, wie schwer es heute ist, geeignete Arbeitskräfte zu bekommen. Wer wollte es ihr verübeln, wenn sie möglichst rationelle Methoden anwendet, um Ernten einzubringen, die der Qualitäts- und Preiskonkurrenz gewachsen sind?

Wer wollte es ihr verargen, wenn sie - statt das Wochenende mit der Hacke auf dem Feld zu verbringen - die »chemische Sense« eines Unkrautvertilgungsmittels die Arbeit tun läßt?

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»Viele Bauern und Gärtner«, schreibt der Stuttgarter Pflanzenschutzforscher Professor B. Rademacher, »hätten nichts dagegen, wenn sämtliche Pflanzen­schutz­mittel mit einem Schlage abgeschafft würden, wenn die Ver­braucher­schaft bereit wäre, die natürliche Konsequenz daraus zu ziehen, nämlich höhere Preise zu zahlen.« Und der Klagenfurter Professor E. Reisinger faßt die Lage zusammen: »Unsere Kulturlandschaft ist nichts >Natur­gewolltes<, sie ist eine künstliche, durch ständige Menschenarbeit stabilisierte Biozönose, für die nun einmal, will man sie weiterhin dem Menschen dienstbar erhalten, andere Regeln als für die unberührte Natur gelten!«

Alle diese Gesichtspunkte sind natürlich unbestritten. Wenn irgendwo, so keinesfalls hier läßt sich das Kind mit dem Bade ausschütten. Das weiß auch die Biologin Carson, und darum liegt ihr gar nichts daran, den chemischen Pflanzenschutz völlig aus der Welt zu schaffen. Die eigentliche Frage, um die es geht, ist vielmehr die nach dem beängstigenden Ausmaß und dem rapiden Umsichgreifen der Giftspritzungen, die vielfach von krassestem Profitdenken bestimmt sind. Daß es auch ohne sie geht, beweisen auch heute noch die nicht gerade wenigen Landwirte und Obstbauern, die chemische Maßnahmen weitgehend ablehnen und sich der Methoden des biologischen Pflanzenschutzes bedienen.

Rachel Carsons Buch bezweckt zweierlei: Es will aufmerksam machen auf die Gefährlichkeit der Mittel, die in der Hand des Laien nicht wiedergutzumachende Verheerungen anrichten, und es will erreichen, daß der Mißbrauch mit ihnen aufhört. Wie berechtigt, ja notwendig die Alarmierung der Öffentlichkeit durch Carsons Buch war, beweist die am 15. Mai 1963 von der USA-Regierung im Auftrag Präsident Kennedys herausgegebene Schrift über den Gebrauch von Pflanzenschutzmitteln. J. B. Wiesner, der wissenschaftliche Berater Präsident Kennedys, erklärte, daß die unkontrollierte Verwendung giftiger Chemikalien einschließlich der Pestizide eine potentiell größere Gefahr darstelle als der radioaktive »fallout«. Wiesner forderte eingehende Untersuchungen über die Wirkung der Mittel und verlangte, ihren Gebrauch einzuschränken, solange niemand genau wisse, was sie anrichteten.

Auch in Deutschland ist die Unwissenheit darüber leider groß, nicht zuletzt bei den Bauern, Gärtnern und Obstzüchtern selbst.

Die Werbemaßnahmen der Industrie, »Pflanzenschutz-Tips« auf Postkarten mit überzeugenden Farbfotos, hübsche Verpackungen und eindringliche Plakatzeilen (»Jetzt fällt die Entscheidung! Nicht mit Spritzbrühe sparen!«), all das leistet einer großzügigen Anwendung der Mittel noch Vorschub. Man halte sich nur einmal vor Augen, daß bei uns die Apfel- und Birnbäume bis zum Herbst rund zwölfmal gespritzt werden sollen, und daß in italienischen Obstkulturen bis zu dreißigmaliges Spritzen in einer einzigen Vegetationsperiode durchaus kein Sonderfall ist.

Rachel Carson schildert zahlreiche Fälle, in denen der Mensch die Natur mit seinem tödlichen Nebel vergewaltigt hat. Sie alle zeigen, mit welch gefährlichen Mitteln wir hier umgehen. Wir sind wie Kinder, die mit groben Werkzeugen an einem komplizierten Uhrwerk basteln, dessen Geheimnis zu begreifen sie noch weit entfernt sind. Die angeblich dem Fortschritt dienenden Präparate, die wir anwenden, suchen ihre Rechtfertigung letzten Endes in der Massenvermehrung des Menschen auf der Erde. Es sind aber Mittel, deren übertriebene Anwendung den Fortschritt am Ende selber fragwürdig macht, denn erkrankte Menschen in einer vergifteten Umwelt werden sich schwerlich noch über die Errungenschaften dieses »Fortschritts« freuen.

Wenn Rachel Carsons Buch nun auch bei uns erscheint, so möchte man ihm nichts sehnlicher wünschen, als daß es alle verantwortlichen Stellen wachrufe, künftig mehr für die schonenden biologischen Methoden des Pflanzen­schutzes einzutreten, damit diese die chemischen allmählich zurückdrängen. Mehr denn je verdienen heute die einschlägigen Forschungsarbeiten eine Förderung: Bekämpfung der Schädlinge durch gezielte Infektion, Sterilisierung der Männchen, Vernichtung durch artspezifische Lockstoffe, die mit Insektiziden kombiniert sind, Geräuschfallen usw.

Auch die Forderungen weitsichtiger Biologen nach standortgerechtem Anbau, sinnvoller Fruchtfolge und einer natürlichen Bodenbearbeitung, die gesunde und damit wenig anfällige Pflanzen garantiert, verdienen gehört und nicht einfach in den Wind geschlagen zu werden. Wo einem einst gesunden Boden nach jahrelangen Anbaufehlern immer wieder »chemische Korsettstangen« eingezogen werden müssen, da darf man sich nicht wundern, wenn die Natur die Rechnung eines Tages in Gestalt widerstandsarmer Pflanzen präsentiert. Auch staatlicherseits sollte weit mehr als bisher für die Erforschung biologischer Pflanzen­schutzmethoden getan werden.

Es wäre überdies zu wünschen, daß die chemischen Pflanzenschutzmaßnahmen mehr auf genossenschaftlicher Basis durchgeführt und die Kontrollen über die Einhaltung der Wartezeiten schärfer würden. Ganz allgemein sollten all jene, die heute im Pflanzenschutz tätig sind, mit den chemischen Todbringern mehr maßhalten - wenn schon ein Einhalten beim gegenwärtigen Stand der Forschung nicht zumutbar erscheint.

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Theo Löbsack

 

 

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