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Absinken ohne Sturz?

 

Das ökotopianische Bevölkerungsproblem 

 

 

San Francisco, 20. Mai 1999 

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Zahlenmäßig ist die ökotopianische Bevölkerung seit fast 15 Jahren in einem allmählichen Absinken begriffen. Diese aufsehen-erregende Tatsache – die allein als solche Ökotopia schon in einen Gegensatz zu den USA und allen anderen Nationen (ausgenommen Japan) bringt – hat Spekulationen genährt, daß hierzulande rücksichtslos Abtreibung oder vielleicht sogar Kindestötung praktiziert werde. Ich konnte mir inzwischen jedoch hinreichend Gewißheit verschaffen, daß die rückläufige ökotopianische Bevölkerungsziffer auf humanem Wege zustande gekommen ist.

Wir vergessen leicht, daß sich schon vor der Unabhängigkeit das Bevölkerungswachstum in den Gebieten, die heute zu Ökotopia gehören (wie übrigens auch in den meisten anderen Staaten der USA), verlangsamt hatte. Nach Meinung amerikanischer Demographen war das teils auf die anhaltende Inflation bzw. Rezession, teils auf die Lockerung der Abtreibungsgesetze, in erster Linie aber vielleicht auf die zunehmende Erkenntnis zurückzuführen, daß Kinder in einer hochentwickelten Industriegesellschaft – genau umgekehrt wie in agrarischen oder unterentwickelten Gesellschaften – eher eine Last als ein Vorteil für die Familie sind. Außerdem hatten die schrecklichen Hungersnöte im Gefolge der ›Grünen Revolutionen‹ Millionen von Menschen in Pakistan, Indien, Bangladesch und Ägypten das Leben gekostet und neue bittere Lehren über die Gefahren der Übervölkerung erteilt.

 

Nach der Sezession erklärten die Ökotopianer ein Absinken des Bevölkerungsstands zum offiziellen Ziel der Nation – wenn auch erst nach langen und heftig geführten Debatten. Man war sich weitgehend einig darüber, daß ein gewisser Rückgang erforderlich sei, um die Belastung der natürlichen Rohstoffquellen und den Druck auf Flora und Fauna zu mindern und die allgemeine Lebensqualität zu erhöhen. Aber in der Frage, mit welchen Mitteln und in welchem Ausmaß nun genau ein Absinken erreicht werden könne und solle, gingen die Meinungen weit auseinander. Die Fürsprecher eines Bevölkerungsrückgangs konnten die tief verwurzelte Furcht vor einem Niedergang der Nation nur schwer durchbrechen, und Wirtschaftswissenschaftler warnten vor einer Erschütterung der Staatsfinanzen.

Schließlich einigte man sich auf ein Drei-Stufen-Programm. Die erste Stufe bis Ende 1982 bestand in einer breitangelegten medizinischen Aufklärungskampagne, die alle Frauen mit den verschiedenen Empfängnisverhütungsmethoden vertraut machen sollte. Abtreibung auf Wunsch wurde legalisiert, und die Kosten dafür sanken bald erheblich. Der Eingriff wurde an sämtlichen kleineren und größeren Krankenhäusern des Landes durchgeführt. Soweit die Statistiken eines so kurzen Zeitraums Aufschluß geben können, senkte dieses Programm die Zahl der Geburten um einige Zehntelprozent unter die Zahl der Todesfälle – fast ausreichend, um die steigende Lebenserwartung auszugleichen. (Ironischerweise war gerade in den Monaten der Sezession die Zahl der Schwangerschaften angestiegen!)

Die zweite Phase der Jahre 1983/84 ging einher mit der radikalen Dezentralisierung des Wirtschaftslebens im ganzen Land und war daher eher politischer Natur. Während dieser Periode bauten die Ökotopianer das nationale System der Steuern und öffentlichen Ausgaben weitgehend ab, und die Gemeinden erhielten die Kontrolle über alle grundlegenden Lebenssysteme. Auf diese Weise wurden die Menschen in die Lage versetzt, bewußt über die Art ihres künftigen Zusammenlebens und die sich daraus ergebenden Konsequenzen für Bevölkerungszahl und -verteilung nachzudenken. Nachdem die Lebensbedingungen auf dem Land günstiger geworden waren, nahm die starke Bevölkerungskonzentration in San Francisco, Oakland, Portland, Seattle wie auch in den kleineren städtischen Zentren etwas ab.

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An geeigneten Standorten wuchsen neue Kleinstädte mit eigenen Transit-Verbindungsnetzen: so zum Beispiel Napa an seinem windungsreichen, endlich wieder unverschmutzten Fluß, der an die Seine erinnert, oder Carquinez-Martinez, das sich am Fuß ›rollender‹ Hügel entlangzieht, die zur Meerenge hinunter abfallen, und viele andere Städte im ganzen Land. Einige alte Wohnviertel wurden aufgegeben und abgerissen, das frei werdende Gelände für Parks und Wälder genutzt. Eine Reihe von Städten auf dem Land, wie etwa Placerville, die eine Einwohnerzahl zwischen 10.000 und 20.000 hatten, gewannen kleine Satellitenstädte dazu, die die Gesamteinwohnerzahl innerhalb von zehn Jahren auf 40.000 bis 50.000 steigern sollten – eine Zahl, die als (in etwa) ideal für eine städtische Siedlung angesehen wird.

Die Dezentralisierung erfaßte sämtlich Aspekte des Lebens. So wurde die medizinische Versorgung entflochten: anstelle riesiger Krankenhäuser in den Stadtzentren mit langen Schlangen wartender Patienten richtete man überall kleine Kliniken und Hospitäler ein; die medizinische Betreuung orientierte sich nun an einem Nahbereichssystem. Schulen wurden aufgefächert, die Verfügungsgewalt auf neuer organisatorischer Basis den Lehrern überantwortet. Ebenso wurden Landwirtschafts-, Fischerei- und Forstunternehmen neu organisiert und dezentralisiert. Landwirtschaftliche Großbetriebe wurden aufgelöst, indem man strenge Flächenbewässerungsvorschriften durchsetzte, die in der Zeit vor der Unabhängigkeit nicht beachtet worden waren; statt dessen förderte man Farmen, die von Kommunen und Familiengruppen bewirtschaftet wurden.

 

Alle diese Veränderungen rückten – so mein Informant – viele Probleme der Bevölkerungspolitik in ein neues Licht, und die Voraussagen mancher Gegner des Bevölkerungsrückgangs bestätigten sich: es schien nicht mehr so viele ›überschüssige‹ Menschen zu geben wie früher!

So kam es, daß die Forderungen nach weiteren bevölkerungsregulierenden Maßnahmen im Laufe des Jahres 1984 verstummten. Die endgültigen Statistiken zeigten tatsächlich, daß die Bevölkerungszahl erstmals deutlich abgesunken war, und zwar, auf das ganze Land gesehen, um etwa 17.000 Menschen.

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Diese Entwicklung wurde jedoch keineswegs mit der in weiten Kreisen prophezeiten Hysterie aufgenommen, und man empfand wahrscheinlich grimmige Genugtuung, als man erführ, daß die amerikanische Gesellschaft mit ihrem allgemein bekannten Bevölkerungsüberschuß im gleichen Zeitraum um weitere drei Millionen Menschen gewachsen war.

Auf der – wenn man sie so nennen will – dritten Stufe, der Stufe des Abwartens, befindet sich Ökotopia auch heute noch. Die Abtreibungskosten sind weiter gesunken, die Anzahl der Abtreibungen pro Jahr ist stabil geblieben. Die Anwendung empfängnisverhütender Mittel scheint sich inzwischen landesweit durchgesetzt zu haben. (Sie sind übrigens ausschließlich für die Frauen bestimmt; eine ›Pille für den Mann‹ gibt es hier nicht.) Die Bevölkerung verringerte sich um etwa 65.000 Menschen pro Jahr, so daß die ursprüngliche Bevölkerungszahl Ökotopias inzwischen von 15 auf 14 Millionen Menschen abgesunken ist. Nach Ansicht einiger Radikaler bewirkt der Bevölkerungsrückgang Jahr für Jahr eine Steigerung des Pro-Kopf-Einkommens und trägt zur Lebensfähigkeit der ökotopianischen Wirtschaft bei. Obwohl die Abnahme unverkennbar eine zuversichtliche politische und ökonomische Atmosphäre schafft, bleibe ich skeptisch, was ihre unmittelbaren Auswirkungen angeht – der Rückgang beträgt schließlich nur 0,4 % pro Jahr.

 

Wie wird sich der ökotopianische Bevölkerungsstand in Zukunft entwickeln? Die meisten Leute hierzulande sagen ein weiteres langsames Absinken voraus. Ihrer Meinung nach könnte ein zu schneller Abfall die Nation in Gefahr bringen, weil er sie verwundbarer für Angriffe der Vereinigten Staaten machen würde – man fürchtet in weiten Kreisen immer noch, daß die USA versuchen könnten, sich die verlorenen Gebiete‹ gewaltsam wieder einzuverleiben. Auf der anderen Seite hoffen einige Leute, daß die amerikanische Bevölkerung bald selbst zu schrumpfen beginnt – in diesem Fall würden viele Ökotopianer ein unbegrenztes Absinken ihrer eigenen Bevölkerungszahl für akzeptabel halten. Einige radikale Theoretiker der Survivalist Party glauben allen Ernstes, daß die anzustrebende Bevölkerungsquote identisch mit der Zahl der Indianer ist, die in dem Gebiet siedelten, bevor die Spanier und die Amerikaner hierher kamen – etwas weniger als eine Million Menschen für das gesamte Land, die ausschließlich in kleinen, weit verstreuten Gemeinschaften lebten!

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Die meisten Ökotopianer gehen jedoch davon aus, daß das Problem nicht länger mehr eine Frage von Quantitäten ist. Eine Verbesserung der Lebensbedingungen versprechen sie sich von der weiteren Umorganisation ihrer Städte zu Verbänden von Kleinstädten und davon, daß sich der Trend zum Wohnen auf dem Lande fortsetzt. Im Zusammenhang damit führen die Radikalen gerade eine Kampagne durch, in der sie den Nulltarif für alle Bahnreisen fordern dies, behaupten sie, werde das Leben auf dem Land auch für Leute anziehender machen, die Wert auf die Vergnügungen und Annehmlichkeiten des Stadtlebens legen, weil sie in diesem Fall, sollten sie Lust dazu verspüren, jederzeit in die Stadt fahren können.

 

Amerikaner sind bekanntlich seit jeher davon überzeugt, daß nur ein Wachstum von Wirtschaft und Bevölkerung zu verbesserten Lebensbedingungen führen könne, und die ökotopianischen Experimente sind – ihren offenkundigen Erfolgen zum Trotz – noch weit davon entfernt, diese grundlegende Überzeugung ins Wanken zu bringen. Schließlich sind die Umstände in Ökotopia, verglichen mit denen in den übrigen USA, ungewöhnlich günstig gewesen; die besonderen Vorteile Ökotopias – fruchtbare landwirtschaftliche Nutzflächen, ein Überschuß an Wohnraum sowie das traditionell größere Selbstvertrauen des amerikanischen Westens – haben sämtlich dazu beigetragen, daß die Ökotopianer sich vorrangig mit Überkapazitäten und nicht mit Problemen des Mangels auseinanderzusetzen hatten. Ein Mangel bestand (oder entstand vielleicht auch) lediglich auf dem Energie- und auf dem Metallsektor.

Amerikaner würden die ökotopianische Bevölkerungspolitik schon deshalb beunruhigend finden, weil parallel zum Bevölkerunsgsschwund die Kleinfamilie, wie wir sie kennen, in einem raschen Auflösungsprozeß begriffen ist. Die Ökotopianer sprechen zwar nach wie vor von ›Familien‹, meinen damit aber Wohngemeinschaften von fünf bis zwanzig Mitgliedern, die keineswegs immer miteinander verwandt sind. In vielen dieser Familien teilt man sich nicht nur die Versorgungs- und Haushaltspflichten, sondern auch die Kindererziehung; dabei scheinen Männer und Frauen zwar gleich viel Zeit zu investieren, jedoch in einer eigentümlichen Verteilung der Befugnisse. 

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Allgemein hat sich die Gleichberechtigung im ökotopianischen Leben in erstaunlichem Maße durchgesetzt – Frauen üben verantwortliche Berufe aus, erhalten gleiche Bezahlung und bestimmen nicht zuletzt den Kurs der Survivalist Party. Die Tatsache, daß sie auch absolute Verfügungsgewalt über ihren Körper haben, verleiht ihnen ganz offen eine Macht, die in anderen Gesellschaftsformen nur im Verborgenen oder überhaupt nicht existiert: das Recht, die Väter ihrer Kinder selbst zu bestimmen. "Keine ökotopianische Frau bekommt jemals ein Kind von einem Mann, den sie nicht frei gewählt hat", wurde mir mit aller Deutlichkeit erklärt. Und während der Betreuung der Kinder in deren ersten beiden Lebensjahren setzt sich die Dominanz der Frauen fort; auch die Männer kümmern sich zwar intensiv um die Säuglinge und Kleinkinder, aber im Zweifelsfall haben die Mütter das letzte Wort und machen von ihrem Recht mit großer Selbstverständlichkeit Gebrauch. Die Väter nehmen eigenartigerweise diese Situation widerspruchslos hin, als wenn es sich dabei um die natürlichste Sache der Welt handele; sie haben offensichtlich das Gefühl, daß ›ihre‹ Zeit, in der sie es dann sind, die erhöhten Einfluß auf die Kinder nehmen, noch kommen wird, und daß dies der richtige Lauf der Dinge ist.

Für einen Außenseiter ist es schwierig, die verbindenden Momente innerhalb solcher Kommunengruppen zu erkennen, möglicherweise aber spielen Kinder dabei eine Schlüsselrolle; auch der wirtschaftliche Faktor ist zweifellos von großer Bedeutung. In einer der Familien, bei der ich zu Gast war, wurde ich an den früheren amerikanischen Brauch der Patenschaft erinnert – Verwandte oder Bekannte übernehmen einen gewissen Teil der Verantwortung für die Kinder, kümmern sich in besonderem Maße um sie, tragen dazu bei, ihr Leben zu verschönern – oder bieten ihnen Zuflucht vor den eigenen Eltern! Ökotopianische Kinder wachsen normalerweise inmitten solcher inoffiziellen ›Paten‹ auf, und ich habe noch nie eine fröhlichere Kinderschar gesehen als hier. Die Bereitschaft, an der Kindererziehung teilzunehmen, mag der Prüfstein bei der Aufnahme in eine solcher ›Familien‹ sein. Aber es gibt auch kinderlose ›Familien‹ mit einer völlig anderen Atmosphäre: sie sind für gewöhnlich größer und weisen auch eine stärkere Fluktuation auf. 

Bei einigen von ihnen ist die gemeinsame Grundlage der Beruf – Gruppen von Journalisten, Musikern, Wissenschaftlern,

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Handwerkern oder Leuten, die z.B. in einer Schule oder in einer Fabrik zusammenarbeiten, gründen eine Wohngemeinschaft. Die Mitglieder sind hier meist jünger, während die ›Familien‹ mit Kindern alle Altersstufen umfassen. (Anders als bei uns leben alte Menschen in Ökotopia nur selten allein; zumeist haben sie Familien, in denen sie bei der Kinderbetreuung und Vorschulerziehung eine wichtige Rolle spielen.)

Immer wieder kursieren in den Vereinigten Staaten Gerüchte über das ausschweifende Sexualleben der Ökotopianer, aber ich muß sagen, daß die sexuellen Bindungen innerhalb dieser Familien nicht weniger stabil zu sein scheinen als bei uns. Vorherrschend ist im allgemeinen die heterosexuelle Zweierbeziehung mehr oder weniger dauerhafter Art – aber es gibt auch männliche und weibliche Homosexuellenpaare, und nach meinen Beobachtungen werfen die gleichgeschlechtlichen Beziehungen weniger psychologische Probleme auf als bei uns. Monogamie ist kein offiziell proklamierter Wert, aber die Paare sind gewöhnlich monogam (außer an vier Feiertagen im Jahr, zur Zeit der Sonnenwende und der Tagundnachtgleiche, wenn Promiskuität weit verbreitet ist). Ledige Familienmitglieder nehmen häufig Beziehungen zu Partnern ›außerhalb‹ auf, was zuweilen zur Vergrößerung oder Verkleinerung einer Familie um ein Mitglied führt. Es scheint eine stetige, langsame Fluktuation unter den Mitgliedern der einzelnen Familien zu geben – die darin wahrscheinlich den Großfamilien vergleichbar sind, die vor einigen Jahrzehnten bei uns bestanden.

Ich habe mich intensiv bemüht, etwas über die Haltung der Ökotopianer zu einer genetischen Bevölkerungs­planung in Erfahrung zu bringen. Bekanntlich ist darüber in den USA leidenschaftlich diskutiert worden: über die Unterstützung der natürlichen Auslese durch Förderung oder Verbot der Fortpflanzung, über die ferne Möglichkeit, durch das ›Klonen‹ von Genen eines Tages genetische Duplikate höherwertiger Individuen zu erzeugen, und sogar über eine Veränderung der Genstrukturen selbst zur Züchtung einer Supermenschenrasse. Aber kein ökotopianischer Wissenschaftler und kein Bürger war bereit, über diese Dinge mit mir zu diskutieren, denen man mit großem Abscheu gegenübersteht. 

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Auch als ich die Hypothese wagte, daß der Mensch möglicherweise nur das Bindeglied zwischen dem Affen und einer künftigen, überlegenen Rasse ist, reagiert man nur mit herablassender Skepsis. Die allgemeine Abneigung gegen derartige Spekulationen beweist vielleicht, wie blind die Ökotopianer für die faszinierenden Möglichkeiten sind, die der Fortschritt der modernen Wissenschaft uns bietet. Sie mag aber auch Beweis dafür sein, daß die Ökotopianer eher als wir bereit sind, mit den biologischen Gegebenheiten zu leben.

 

(21. Mai) Alles sitzt plötzlich wie gebannt vor den Fernsehschirmen. Das ökotopianische Warnsystem, das äußerst empfindlich auf radioaktive wie auch auf jede andere Umweltverschmutzung reagiert, hat eine plötzliche Zunahme der Strahlungsmenge in der vom Pazifik einströmenden Luft festgestellt. Die Ursache ist noch unbekannt. Viele Spekulationen, auf der Straße wie auch in den Medien: eine chinesische Atomexplosion, über die man die Kontrolle verloren hat? Ein Unglück in einem japanischen Reaktor? Auseinandersetzungen an der chinesisch-russischen Grenze? Havarie eines Atom-U-Boots vor der Küste? 

Die Leute haben Angst, sind deprimiert, zornig. In dieser Krisensituation wenden sie sich dem Fernsehen zu, das sie in größeren Gruppen angespannt verfolgen, aber nicht auf die passive und unselbständige Art der Amerikaner – sie schreien es regelrecht an, und die Zentrale wird mit Bildtelefonanrufen überflutet. Vera Allwen und ihr Außenminister sahen sich gezwungen, innerhalb einer Stunde auf dem Bildschirm zu erscheinen und, in die Defensive gedrängt, aufgebrachten Bürgern Rede und Antwort zu stehen, die gezielte und unbequeme Fragen stellten, warum die Regierung nichts unternehmen könne (Darunter auch Hitzköpfe, die verlangten, man solle Kommandos ausschicken und alle Werksanlagen in Japan, China und Sibirien funktionsuntüchtig machen, die ihre Abfallprodukte in die Luft oder ins Wasser ableiten!) Vera Allwen versicherte, daß sie eine scharfe Protestnote an den oder die Verantwortlichen vorbereite, wer immer es auch sei. Inzwischen sind ökotopianische Schiffe und Agenten im Rahmen eines Notprogramms dabei, die Quelle der Verseuchung ausfindig zu machen. Bisher keinerlei Berichte von Seiten der US-amerikanischen Nachrichtenagenturen, die in Vancouver empfangen und hierher weitergeleitet werden, obwohl der amerikanische Aufklärungssatellit längst ausgemacht haben muß, was passiert ist.

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Es besteht eine weit verbreitete Tendenz, die Amerikaner für alle technischen Katastrophen verantwortlich zu machen, und entsprechend hat man mir in den letzten Stunden nicht gerade das Gefühl gegeben, sonderlich willkommen zu sein. Die Leute, mit denen zusammen ich mir Vera Allwen und andere politische Größen des Landes im Fernsehen angeschaut habe, sind anscheinend der Meinung, daß die ökotopianische Regierung zu tolerant auf die von außen kommende Umweltverschmutzung reagiert. Im Fernsehen diskutiert man über ›Reparation‹ – offenbar ist tatsächlich irgendeine internationale Regelung im Gespräch, die Bußgelder für Umweltverschmutzung vorsieht. Die Japaner werden sich freuen.

Habe das alles hauptsächlich vom Cove aus verfolgt, wo ich heute auf ihre Einladung hin eingezogen bin (und auch gedrängt von Marissa, die Hotels nicht ausstehen kann). "Du bist doch Journalist", meinten sie. "Nun, dann solltest du auch bei uns wohnen!" Ein willkommener Gedanke, und ich glaube, ich werde auch die Zeit erübrigen können, in ihren Koch- und Putzgruppen mitzuarbeiten. Mein kleines Zimmer befindet sich im obersten Stockwerk; vom Dachfenster aus hat man einen Blick auf die Insel Alcatraz – einen kleinen Hügel, der mit seinem fröhlichen orangefarbenen Leuchtturm aus der Bay herausragt. Kaum zu glauben, daß auf diesem friedlichen grünen Eiland einmal unsere gefährlichsten Gewaltverbrecher untergebracht waren und daß die Insel völlig unter Beton und Stahl verschwunden war.

 

(Später) Die Arbeit in der Gruppe hat mich doch einige Nerven gekostet. Als ich das erste Mal in einer mitmachte, ging es um den Abwasch nach dem Abendessen. Ich stürzte mich in amerikanischer Manier auf die Arbeit, flitzte hin und her und trug die Teller zur Spülecke. Nach einigen Augenblicken bemerkte ich, daß die anderen ihr übliches Schwatzen unterbrochen hatten und mich entgeistert ansahen. "Du lieber Himmel, Will", sagte Lorna, "was veranstaltest du denn da, ein Wettrennen?" Alles lachte.

Ich wurde rot, oder mir war jedenfalls so. "Wie meinst du das?" "Na, du schleppst die Teller durch die Gegend, als würdest du für jeden einzelnen bezahlt. Sehr unökotopianisch!

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Ich blickte mich um und mir wurde plötzlich klar, daß alle anderen im Vergleich zu mir sehr gemächlich gearbeitet hatten; Lorna und Brit hatten eine Art Spiel entwickelt, bei dem sie abwechselnd spülten und sich einander den Rücken rieben. Bert hatte unterdessen von einem lustigen Auftritt mit einem Leser erzählt, der ihm an diesem Tag Prügel angedroht hatte. Red trank Bier und tat sonst eigentlich so gut wie gar nichts; gelegentlich, wenn ihm ein schmutziger Topf oder sonst irgendetwas ins Auge fiel, brachte er ihn zum Spülbecken.

"Wollt ihr die Sache denn nicht hinter euch bringen?", verteidigte ich mich. "Wenn ich eine Arbeit habe, erledige ich sie gern möglichst schnell. Was ist gegen ein wenig Effektivität einzuwenden?" "Ein wenig kann viel heißen. Will", sagte Lorna. "Wenn etwas es wert ist, getan zu werden, sollte es unserer Meinung nach so getan werden, daß es Spaß macht – sonst kann es nicht wirklich die Arbeit wert sein."

"Wie wollt ihr dann jemals fertig werden?" fragte ich erbost. "Ihr wollt mir doch nicht erzählen, daß Spülen auch noch Spaß macht?" "So, wie wir es tun, schon", sagte Bert. "Fast alles kann Spaß machen, wenn man den Vorgang selbst, und nicht das Ziel im Auge hat."

"In Ordnung", sagte ich, "ich werde es versuchen." Also fing ich an, auf ökotopianische Art und Weise herumzutrödeln – trank ein wenig Bier, warf einige Messer und Gabeln ins Spülbecken, erzählte einen Witz, den ich im Laufe des Tages gehört hatte, und wischte ein paar Tische ab. Aber es war schwer, mein Tempo zu drosseln, und noch schwerer, in gutem Kontakt mit den anderen zu bleiben – immer wieder konzentrierte ich mich ganz auf die Aufgabe und verlor sie völlig aus dem Blick. Aber sie merkten es und machten ein Spiel daraus. "Heh, Will!" riefen sie, "hier sind wir!" Und jemand kitzelte mich oder gab mir einen Klaps. Sie werden mich noch völlig umkrempeln.

 

(23. Mai) Marissa besitzt definitiv hypnotische Fähigkeiten: wenn sie da ist, vergesse ich alles um mich herum, die Zeit, übernommene Verantwortungen, meine amerikanischen Vorurteile. Sie lebt in einem Zustand unmittelbarer Bewußtheit, der ansteckend ist. In irgendeinem Winkel ihres Gehirns müssen sich das Waldcamp, ihre Pflichten dort und ihre Pläne befinden, morgen zurückzufahren. 

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Aber sie scheint in der Lage zu sein, total abzuschalten und ganz einfach zu sein. Sie scheint überhaupt alles zu können – sie ist die freieste und furchtloseste Person, die mir je begegnet ist. Soweit es mir gelingt, ihrem Beispiel zu folgen, fühle ich mich in eine eigentümliche Hochstimmung versetzt, als stünde ich unter Drogen. Sie ist immer noch so etwas wie ein wildes Tier für mich: natürlich reagiert sie auf die Einflüsse und Zwänge, die von den anderen Tieren um sie herum (mich eingeschlossen) ausgehen, aber irgendwie nimmt dies alles keinen Platz in ihrem Denken ein. Sie ist äußerst unberechenbar, launisch, wechselhaft, aber gleich, wo sie ist, sie ist stets ganz und gar da, bei mir oder bei wem auch immer. (Ich weiß nicht, wie ich mit der Eifersucht fertig werden soll, die ich empfinde, wenn sie ihr Interesse wie den schönen Strahl eines Suchscheinwerfers auf jemand anderen richtet. Aber ich ertrage es.)

Nicht, daß wir die ganze Zeit über im Bett lägen – wir haben sogar eine ganze Menge unternommen, waren unterwegs, um Leute zu besuchen, die sie kennt, haben Ausflüge gemacht zu ihren Lieblingsplätzen in San Francisco, in absonderlichen kleinen Restaurants gegessen, gelacht und manchmal nur dagesessen und Leute, Vögel oder auch Bäume betrachtet. In der ganzen Stadt hat sie besondere Lieblingsbäume, die ihr wirklich viel bedeuten. (Sie findet, ich müsse einen Bericht über die Bäume in Ökotopia schreiben!) Sie studiert ihre jeweilige Eigenart, besucht sie immer wieder, um zu sehen, wie sie gewachsen sind und sich verändert haben, klettert gern in einigen von ihnen herum (sie ist wendig und sicher), ist unendlich glücklich, wenn sie gut gedeihen, und niedergeschlagen, wenn sie es nicht tun. Sie spricht sogar mit ihnen – oder genauer gesagt, sie murmelt, weil sie weiß, daß ich das für verrückt halte.

Mir wird klar, daß ich schrecklich an ihr zu hängen beginne. Was am Anfang nur als Spielerei erschien, als die übliche flüchtige Liaison eines Reisenden, ist schnell unheimlich ernst geworden. Marissa ist zweifellos eine kraftvolle und bemerkenswerte Persönlichkeit: durchschaut den ganzen Mist bei mir, entdeckt aber etwas Wertvolles darunter. Wenn ich sie rückblickend mit Pat vergleiche – ein beinahe künstliches Wesen, fade, steif und von einer schrecklichen, schrecklichen Beherrschtheit. Selbst Francine, meine geliebte übergeschnappte Francine, mit der ich so viele kleine und große Vergnügen hatte, verblaßt allmählich neben ihr.

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Marissa weckt in mir Empfindungen, von deren Existenz ich zuvor nie eine Ahnung hatte: ein tiefes, überwältigendes, fremdartiges Gefühl der Gemeinsamkeit, das unser ganzes Wesen und auch unsere Körper einschließt. Sinnlos, es abzustreiten – wir beginnen einander zu lieben. Und trotz ihrer freizügigen Art und obwohl sie im Camp noch immer mit Everett zusammenlebt, entwickelt sie eine heftige, besitzergreifende Zuneigung zu mir – sie wird jedesmal wütend, wenn die Sprache auf meine Heimreise kommt.

Waren gestern mit einigen Leuten aus dem Cove draußen in der Bay segeln. Marissa hatte ihren Bruder Ben eingeladen. Er ist älter als sie und erwies sich als bärbeißiger und erbitterter Gegner Amerikas. Wir hatten kaum abgelegt, als er sich schon mit Behauptungen und Vorwürfen auf mich stürzte. Ich bemühte mich, höflich zu parieren, aber es war zwecklos. Die Saison hat gerade erst begonnen, und der Wind ist noch nicht besonders frisch – so wendeten wir mehrmals und versuchten, die Segel in den Wind zu bringen. Dann legten sich alle aufs Vorderdeck, um sich zu sonnen und in das vorüberströmende Wasser zu sehen. Ich setzte mich achtern zu Ben und erbot mich, das Ruder zu übernehmen. Sein Blick verfinsterte sich, und plötzlich sagte er mit gesenkter Stimme: "Was zum Teufel treibst du dich mit meiner Schwester herum? Ihr Scheißamerikaner könnt auch von nichts die Finger lassen!" 

Ich antwortete besänftigend: "Wir mögen uns – was ist daran schlimm?" "Das weißt du genau, du blöder Hund – erst fängst du was Ernstes mit ihr an, und dann läßt du sie sitzen." "Ich habe nie irgend jemanden im unklaren über meine Absichten gelassen, Ben." Er sah mich an. "Ich sollte dich einfach über Bord stoßen und weitersegeln!" Er machte eine plötzliche Handbewegung. Ich glaubte, er würde es wirklich versuchen, und faßte nach der Reling. Er grinste boshaft. "Du mieser Typ!" sagte ich. "Wie stellst du dir das eigentlich vor? Deiner Schwester willst du vorschreiben, wie sie leben soll? Und mir willst du drohen? Wofür halst du dich, für die Mafia oder so was?" Die anderen hatten uns gehört, setzten sich auf und kamen nach hinten. Ben und ich tauschten böse Blicke aus. "Wir hatten gerade einen kleinen Streit", sagte er. Ich stand auf und setzte mich zu Marissa auf der anderen Seite der Plicht. Sie sah erst mich an, dann Ben. 

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"Ich erzähl es dir später", sagte ich. "Ich ebenfalls", schlug Ben zurück. Wir segelten weiter zu einer verlassenen Walfangstation auf der Ostseite der Bay und legten dort für einen Weile an. Heute ist die Station ein Museum, in dem bedrückende Ausstellungsstücke Auskunft über den Walfang und die Ausrottung von Säugetieren im allgemeinen geben. Ben ließ keine Gelegenheit aus, darauf hinzuweisen, daß die Amerikaner und ihre Technologie an vorderster Front in diesem tragischen und nicht umkehrbaren Prozeß gestanden haben. Und in der Tat, ich hatte mir nicht klargemacht, welche Ausmaße die Ausrottung angenommen hat: es ist wirklich eine erschreckende Geschichte, und einen großen Teil der Verantwortung dafür tragen wir. Tausende von wunderbaren Geschöpfen, die einst diese Erde bevölkerten, sind nun unwiederbringlich aus dem Universum verschwunden. Unser rücksichtsloses Wachstum war ihr Untergang. Die Erdbevölkerung hat inzwischen ein Gewicht, das vierzigmal so hoch ist wie das aller wild lebenden Säugetiere zusammengenommen!

Marissa sah sich hauptsächlich die Ausstellungsstücke an, die das Leben der Wale zeigten. (Die Ökotopianer haben unglaublich gute Tierfotografen – sie scheinen regelrecht mit den Tieren zu leben, die sie aufnehmen –, obwohl sie, soweit ich sehen kann, nicht die bei uns üblichen Schnappschüsse machen, die ›den Augenblick festhalten‹ sollen.) Wie sich herausstellte, ist sie schon einmal zusammen mit Delphinen geschwommen, will aber nicht viel mehr darüber sagen, als daß es ungeheuer aufregend und etwas unheimlich war.

Auf dem Rückweg kamen wir an Krabbenfangbooten und anderen kleinen Fischereifahrzeugen vorbei – anscheinend ist die Bay, einst eine offene Sickergrube, wieder der fruchtbare Lebensraum geworden, den ein Mündungsgebiet natürlicherweise ist (so mein begeisterter Informant). Man erzählte mir stolz, wieviel Tonnen der winzigen, fleischigen Buchtkrabben konsumiert und täglich verschifft werden; selbst die Venusmuschel, deren Schalen die hier lebenden Indianer einst zu riesigen Abfallbergen auftürmten, ist wieder an der Küste zu finden.

Vom Wind zerzaust, mit einem kleinen Sonnenstich und einem kleinen Schwips kehrten wir zum Cove und in unser Bett zurück. "Es ist wirklich schön, Ben zum Bruder zu haben, aber ich habe ihm nie klarmachen können, wo die Grenze ist", sagte Marissa entschuldigend. (Ich hatte beobachtet, wie sie ihm am Kai Vorhaltungen machte, während wir die Bootsausrüstung verstauten.)

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"Er kümmert sich sehr um mich, wenn er auch nie gelernt hat, mich zu verstehen. Er mag es nicht, wenn ich irgendwelche Risiken eingehe – vermutlich ein Relikt aus der Vergangenheit unserer Familie, als die Frauen noch total abhängig waren. Aber wenn ich keine Risiken einginge, hätte ich nicht das Gefühl zu leben." Sie lächelte mich mit süßer, aber unergründlicher Liebenswürdigkeit an und bettete sich in meine Arme.

Was kann ich dieser außergewöhnlichen Frau nur bedeuten? Meinen Fragen, was sie von mir hält, weicht sie aus. Wenn sie zurück ins Holzfällercamp geht, schläft und lebt sie offensichtlich wieder mit Everett, wie vorher; doch verbringt sie inzwischen einen immer größeren Teil ihrer Freizeit mit mir. Andererseits macht sie sich wohlwollend über mich lustig und hält mir meine ökologischen Fehler vor (wenn ich z. B. Waschwasser oder Elektrizität verschwende), als sei sie der Fortschritt in Person und ich ein noch etwas unzivilisierter Hinterwäldler.

Manchmal, wenn ich darauf zu sprechen komme, wie die Ökotopianer oder sie selbst auf mich wirken, wird sie sehr still und aufmerksam. Neulich erwähnte ich, daß mir der hierzulande übliche Augenkontakt außerordentlich lang erscheint und daß er in mir Empfindungen weckt, mit denen ich nur schwer fertig werde. "Was für Empfindungen?" fragte sie. "Nervosität, der Wunsch nach Entspannung und danach, eine Weile wegsehen zu können." "Und wenn du der Nervosität nicht nachgibst und weiter zurückblickst?" (Bei alledem sind natürlich ihre großen dunklen Augen aufmerksam auf meine gerichtet.) "Dann, glaube ich, Zärtlichkeit, der Wunsch nach körperlicher Berührung – ich habe Angst, ich könnte anfangen zu heulen." "Dann heul doch, du seltsamer Mensch!" Sie umarmte mich lange und innig. Ich mußte ihr das erklären. "Bei uns wäre das unmöglich! Aber hier könntest du es mir ja beibringen. Hier bei dir brauche ich mich nicht so zusammenzunehmen." "In Ordnung", sagte sie, ein wenig Verwunderung in ihrem Blick. Bin ich vielleicht für sie, ohne daß es mir bewußt wäre, ein geheimnisvoller, exotischer Fremder?

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Rückfall in die Barbarei – Ökotopias Schattenseite

 

 

Marsh all by the Bay, 24. Mai. Nach langem Hin und Her habe ich nunmehr die Erlaubnis erhalten, als Beobachter jenen abstoßenden Brauch mitzuerleben, der unter den zivilisierten Nationen solchen Abscheu hervorgerufen hat: die rituellen Kriegsspiele. Gestern wurde ich – soweit bekannt als erster Amerikaner überhaupt – Zeuge dieses bedrückenden Schauspiels. Meine Begleiter und ich machten uns noch vor Sonnenaufgang auf den Weg und nahmen den Zug von San Francisco zu der im Norden gelegenen Stadt Marshall. Ein Fußmarsch von zwanzig Minuten (bei dem wir an zwei selbstgefertigten Weihestätten vorbeikamen, wie sie überall im Land zu finden sind) führte uns dann auf einen Hügel, von dem aus man das sanft gewellte offene Land und einen Flußlauf überschauen konnte, der sich hier zu den Sümpfen an der Küste hinunterzieht.

Bei unserer Ankunft waren die Vorbereitungen für das Ritual bereits in vollem Gange. Zwei Gruppen von jungen Männern hatten sich an beiden Ufern des Flusses versammelt – etwa 25 auf jeder Seite. Beide Gruppen hatten eine Feuerstelle angelegt und sich in einem großen Kessel irgendein Gebräu zubereitet, offenbar ein Stimulans, das sie für die kommenden Schrecknisse unempfindlich machen sollte. Jeder der Männer (sie waren zwischen 16 und 30 Jahre alt) hielt einen langen, bedrohlich wirkenden Speer mit einer Spitze aus geschliffenem schwarzen Stein. Und jeder bemalte seinen Körper mit primitiven, wilden, bunten Mustern.

Als sich nach einiger Zeit mehrere Hundert Zuschauer versammelt hatten, wurde als Zeichen zum Beginn ein großer Gong geschlagen. Daraufhin trat Stille ein; die Spannung unter den Zuschauern wuchs. Die ›Krieger‹ marschierten auf beiden Seiten des Flusses auf und bezogen ihre Positionen, jeweils eine Speerlänge voneinander entfernt. Die eine Gruppe, die angriffslustiger als die andere wirkte, stimmte einen Kriegsgesang an, der ziemlich blutrünstig klang, vielleicht aber auch ein wenig an unsere Sprechchöre bei Sportveranstaltungen erinnerte. Als der Gegner auf der anderen Seite zu zögern und sich vom Flußlauf zurückzuziehen schien, überquerte die aggressive Gruppe ihn speerschwingend und begann mit einer Reihe von Vorstößen das andere Ufer hinauf.

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Die Verteidiger ließen sich jedoch nicht in Panik versetzen. Immer wenn eine Anzahl von Angreifern einen ihrer Männer hart bedrängte, sammelten sich die Mitstreiter in seiner Nähe mit lauten Schreien zu seiner Verteidigung und setzten ihre Speere ein; dieses flexible, sich ständig verschiebende und verändernde Wechselspiel von Angriff und Verteidigung schien die gesamte Kampffront zu beherrschen. Zuweilen sammelte sich eine der beiden Gruppen und unternahm einen Vorstoß gegen die feindliche Verteidigungslinie, der jedoch sofort mit einem Gegenstoß beantwortet wurde – selbst wenn man den scharfen Obsidianspitzen der gegnerischen Speere dabei oft gefährlich nahe kam.

Dieses Schauspiel dauerte, unter anhaltendem Geschrei und wachsender Begeisterung der Zuschauermenge, vielleicht eine halbe Stunde. Gelegentlich kehrten die Krieger zu ihren Kesseln zurück, um sich zu erfrischen. Dann erscholl plötzlich ein Schrei an einem Ende der Kampflinie. Meine Aufmerksamkeit war in diesem Augenblick auf etwas anderes gerichtet, so daß ich den entscheidenden Stoß nicht mit eigenen Augen sah, aber wie man mir später erzählte, war einer der Krieger während eines Vorstoßes auf dem Gras der Uferböschung ausgeglitten, und ein Gegner hatte die Gelegenheit genutzt und ihm mit dem Speer die Schulter durchbohrt.

Wie durch ein Wunder endeten damit schlagartig alle Feindseligkeiten. Die beiden ›Stämme‹ zogen sich auf ihre Ausgangsstellungen zurück. Die Anhänger der ›siegreichen‹ Seite wirkten freudig erregt, fast ekstatisch, klopften einander auf die Schulter und umarmten sich; die Anhänger der Verliererseite dagegen waren niedergeschlagen. Ärzte lösten sich aus der Zuschauermenge und kümmerten sich um den Verwundeten. Das Gras war blutüberströmt, aber den Bemerkungen der Umstehenden konnte ich entnehmen, daß das Opfer trotz seiner bösen Verwundung nicht in Lebensgefahr schwebte.

Die Sieger begannen nun zur Feier einen Tanz aufzuführen, und ihre Anhänger liefen den Hügel hinunter und gesellten sich zu ihnen. Musik erklang, und alles begann zu tanzen. In einer Atmosphäre erregten Jubels teilten die Krieger den Inhalt ihres Kessels mit allen Anwesenden. Einige Krieger der siegreichen Seite verschwanden mit Frauen in den Büschen. Auf der Verliererseite schien es viel Wehklagen, Kummer und Tränen zu geben.

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Nach einer Weile wurden die Feuer wieder geschürt, man brachte Essen, und ein Fest begann Gestalt anzunehmen. Es wurde im Lager der Gewinner abgehalten, die großherzig anboten, die Besiegten zu bewirten – was diese ehrerbietig annahmen.
Ich erfuhr, daß ein Krankenwagen, der in Bereitschaft gestanden hatte, den (nunmehr sauber verbundenen) Verwundeten in Kürze abtransportieren würde. Also ging ich hinüber, um mit ihm zu sprechen. Man hatte ihn auf eine Art Bahre aus rotem Tuch gelegt, auf dem ein weißes Kreuz prangte. Sein ausgestreckter Körper war mit Gurten an Handgelenken und Knöcheln befestigt; das Ganze hatte eine erschreckende Ähnlichkeit mit einem Kruzifix. Mehrere Frauen beugten sich über die Bahre, wehklagten und wischten von Zeit zu Zeit die Stirn des Verwundeten mit einem feuchten Tuch ab.

"Oh, wie hast du gelitten!" jammerte eine von ihnen unter Tränen. "Ich habe meine Mannespflicht getan", erwiderte er in recht mechanischem Tonfall. "Du Armer, du bist verletzt worden, du hättest sterben können!" klagten die Frauen. "Denkt nicht an mich, denkt an unsere Familie: für sie habe ich meine Wunden empfangen." "Wir alle leiden mit dir!"

Der junge Mann sah sie beinahe mitleidig an. "Es ist vollbracht", sagte er leise und schloß die Augen. Aus dem, was er sagte, schloß ich einen Augenblick lang, daß die Ärzte sich geirrt hätten und er im Sterben liege. Aber offenkundig war es nur ein Zeichen für die Frauen, ihn allein zu lassen – denn als sie gegangen waren, öffnete er wieder die Augen und blickte mit ausgesprochen heiterer Miene drein. Ich ergriff die Gelegenheit und trat an seine Bahre. "Wie fühlen Sie sich?"

"Wie ein Mann", erwiderte er, wobei er in die monotone Sprechweise zurückfiel. "Wieder habe ich überlebt." "Können Sie mir sagen, worum der Kampf ging?" "Natürlich darum, wer gewinnen würde – wir oder sie." "Einen anderen Grund gab es nicht?" Er sah mich neugierig an. "Es ging auch darum, uns selbst zu prüfen – begreifen Sie nicht, wie angenehm es ist, Angst zu empfinden und zu überwinden?" "Würden Sie all das noch einmal tun?" "Gewiß. Wir werden es wieder tun, wahrscheinlich zum zweiten Vollmond von jetzt an gerechnet. Sind Sie fremd hier?"

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"Ich bin amerikanischer Zeitungsreporter und schreibe einen Artikel für mein Blatt", erwiderte ich. "Darf ich Sie fotografieren?" Da ich keinerlei Einwände erwartete, zog ich schon meine Kamera hervor, aber der junge Mann rief: "Nein! Auf gar keinen Fall! Haben Sie keinen Anstand?" Eine Gruppe von Männern in der Nähe wurde auf uns aufmerksam und nahm eine drohende Haltung ein.

"Entschuldigen Sie bitte", sagte ich, denn mir wurde klar, daß ich einen groben Fehler gemacht hatte. Rasch steckte ich meine Kamera wieder weg. (Später erfuhr ich, daß die Ökotopianer der Fotografie Eigenschaften der Schwarzen Magie zuschreiben, weil sie die ›Zeit einfriere‹ und gegen die biologischen Gesetze von Wandel und Tod verstoße – so daß sie gerade in einer solchen Situation besonders fehl am Platze sein mußte.) Die Ökotopianer ließen es aber nicht damit bewenden. Einer der älteren Männer lud mich ein, neben ihm Platz zu nehmen, bot mir eine fleischgefüllte Pastete an und begann, mich über den Sinn der Kriegsspiele aufzuklären, deren Zeuge ich geworden war.

Die Ökotopianer – so fing er an – hatten die Anthropologie stets als ein Fach von großer praktischer Bedeutung angesehen. Nach der Unabhängigkeit wurde versuchsweise damit begonnen, die anthropologischen Hypothesen in die Lebenspraxis umzusetzen. Trotz der Findigkeit der besten Rechtsanwälte waren allerdings noch große Widerstände zu überwinden, ehe eine so radikale Idee wie die der rituellen Kriegsführung juristisch praktizierbar wurde. Aber die Verfechter dieser Idee hatten sich nicht beirren lassen – in der festen Überzeugung, daß die Entwicklung einer offenen, zivilisierten Ausdrucksform für die physische Konkurrenzhaltung, auf die der Mensch anscheinend biologisch programmiert ist, unentbehrlich sei – da sie sich sonst in pervertierter Form, wie dem Krieg, Ausdruck verschaffe.

Man hoffte, daß die Ökotopianer nicht gezwungen sein würden, irgendwann einmal einen wirklichen Krieg zu führen, weil die verheerenden Folgen allgemein bekannt waren. Andererseits schien es außer Frage zu stehen, daß der Mensch von seiner Anlage her nicht für ein völlig und gleichförmig friedliches Leben geschaffen sei. Besonders den jungen Männern mußte die Möglichkeit geboten werden, gegen

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›die anderem zu kämpfen, anzugreifen und zu fliehen, ihre Kameradschaft unter Beweis zu stellen, ihr wunderbares Potential an Schnelligkeit und Kraft einzusetzen, ihr Adrenalin auszuschütten, tapfer und furchtsam zu sein. "In Amerika", erläuterte mein Gegenüber mit selbstgefälligem Grinsen, "erreicht man einige dieser Ziele durch Kriege und durch Autos. Sie bieten die Möglichkeit, die Konkurrenzhaltung auszuleben, Aggressionen abzureagieren und sich gegenseitig zu vernichten. Natürlich gibt es bei Ihnen auch den Profi-Football. Aber das ist nur ein Zuschauer-Sport – außerdem verfügen die Spieler nicht über tödliche Waffen. Ich muß jedoch zugeben, daß wir dem Football einige Anregungen verdanken."

Im weiteren behauptete er, daß bei den rituellen Kriegsspielen in Ökotopia nur sehr wenige Todesfälle zu beklagen seien: etwa fünfzig junge Männer finden alljährlich bei den Spielen den Tod. Diese Zahl wollte er in Beziehung setzen zu der Anzahl der tödlichen Unfälle auf unseren Autobahnen von 75 000 pro Jahr sowie zur Zahl unserer Kriegsgefallenen, die, aufs Jahr umgerechnet, bei etwa 5000 liegt. Nebenbei erfuhr ich, daß Frauen niemals an den Kriegsspielen teilnehmen; aber bevor unsere Feministinnen sich darüber ereifern, sollten sie wissen, daß die Spiele nur Teil des grundsätzlich auf Kooperation ausgerichteten Programms der Survivalist Party sind und daß die Ökotopianer den Konkurrenzgeist der Frauen lieber auf andere Gebiete lenken: auf den Wettkampf um die politische Führung, auf die Arbeitsorganisation – wo Frauen über herausragende Fähigkeiten verfügen sollen – und auf die Rivalität zu den Männern, die von den Frauen in selbständiger Entscheidung zu Vätern ihrer Kinder gemacht werden.

Es sind also überwiegend junge Männer, die an den Spielen teilnehmen, und die Begegnungen finden ähnlich wie unsere Schulsportwettbewerbe – wenn auch in noch begrenzterem Rahmen – größtenteils auf lokaler Ebene statt. Im heutigen Spiel trafen beispielsweise zwei Landkommunen zusammen, deren Gebiete aneinander grenzen. Die eine betreibt Schafzucht und Milchwirtschaft, während die andere in einem Meeresarm der Bay eine Austern-›Farm‹ bewirtschaftet. Offenbar werden die Wettkämpfe in den Städten in der Regel zwischen Nachbarschafts- oder Arbeitsgruppen ausgetragen – Fabrik gegen Fabrik, Geschäft gegen Geschäft, wie es bei uns zwischen den Bowling-Vereinen der verschiedenen Firmen üblich ist. 

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Es gibt allerdings keinerlei Ligen, Meisterschaften oder ähnliches. Jede rituelle Veranstaltung ist ein in sich abgeschlossenes Ereignis, ein Selbstzweck. "Was hat es mit dem Kreuz auf sich?" fragte ich. "Nun, Ökotopia blickte bei seiner Entstehung auf ein jüdisch-christliches Erbe zurück", lautete die Antwort, "wir haben das Beste daraus gemacht. Sie werden in unserer Kultur vieles finden, das Ausdruck dieses Erbes ist. Im vorliegenden Fall leidet der junge Mann offenbar wirklich für seine Familie oder seinen ›Stamm‹. Ein großer Teil unserer Dichtung und Musik beschäftigt sich eben mit diesem Leiden, aber auch mit Mut und Tapferkeit. Wenn ein Verwundeter aus dem Krankenhaus kommt, findet wiederum eine kleine Zeremonie statt. Vielleicht ahnen Sie, wie diese Feier heißt: die Auferweckung. Er steht auf und wandelt."

Es ist somit offensichtlich, daß das erschreckende Schauspiel, in dem gesunde junge Männer in vollem Bewußtsein aufeinander losgehen, um sich gegenseitig zu töten, ein halbreligiöser Ritus und keineswegs ein leichtfertig eingeführter Brauch ist – gleichgültig, wie wir Amerikaner dazu stehen mögen. Möglich, daß die Vorformen des Ritus im Stierkampf, im Football, in der Heiligen Messe oder in den rituellen Stammeskriegen der Wilden zu suchen sind, in jedem Fall aber werden die sinnlose Gewalt, das grundlose, ungerechtfertigte Blutvergießen den Namen Ökotopias in den Augen der zivilisierten Welt für immer herabsetzen.

 

(25. Mai) Diese verdammte Frau ist unmöglich! Bei denKriegsspielen war sie irrsinnig aufgekratzt – stand während der ganzen Kämpfe neben mir und erklärte mir alles mit gesenkter, erregter Stimme. Hinterher rannte sie dann zum Kessel, trank einen riesigen Becher, blickte einladend in die Runde und zeigte keinerlei Widerstand, als einer der siegreichen Kämpfer auf sie zukam, ihr einen Antrag machte und sie buchstäblich davontrug. (Sie wiegt etwa 130 Pfund, wie ich zufällig weiß, aber das schien ihm nicht das geringste auszumachen.) Kein Blick herüber in meine Richtung.

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Später, als wir anderen beim Essen saßen, kam sie zurückgeschlendert, verschwitzt und mit gerötetem Gesicht. Meine unverkennbar schlechte Laune ignorierte sie. Als wir dann später zurück ins Marshall-Hotel gingen, war sie entspannt und gelöst, und ich warf sie ein wenig grob auf dem Bett herum, zwang sie, liegen zu bleiben und vergewaltigte sie mehr oder weniger. Sie schien das fast erwartet zu haben. Ich hatte anfangs ein gemischtes Gefühl, war zwischen Haß und Verlangen hin und her gerissen, aber dann verschmolz beides in einer heftigen, innigen Umarmung – ein erneutes Willkommen auf ihrer Seite, und ein tiefempfundenes Akzeptieren auf meiner. Ich liebe ihre Ungezwungenheit, selbst wenn sie weh tut.

 

Kurz, bevor ich aufwachte – ich wollte anschließend den Artikel über die Kriegsspiele schreiben – hatte ich einen schrecklichen Traum. Ich bin in voller Kriegsbemalung und kampfbereit. Der Körper eingefettet, glänzend und schön – ich fühle mich sehr lebendig, sehr stark. Frauen lächeln an den Seitenlinien, ich möchte sie alle besitzen. Dann ertönt ein fürchterlicher Gongschlag – dröhnt in meinem Kopf, Panik überkommt mich. Ich packe meinen Speer fester und laufe mit den anderen Männern los. Als wir aber an die Kampflinie kommen und anfangen zu fintieren und kurze Stöße führen, drehen sie sich plötzlich um und sehen mich erstaunt an; sie entdecken, daß ich nicht zu ihnen gehöre. Da ergreift mich äußerste Verzweiflung, denn das bedeutet, daß sie nicht für mich kämpfen werden: ich gehöre nicht zu ihrem Stamm und stehe allein auf dem Feld, den scharfen Speeren des Feindes ausgesetzt, meine Stunde hat geschlagen...
Erwachte schweißgebadet, die Hände um meinen Traumspeer gekrallt. Wünschte, ich wäre zu Hause in New York und in Sicherheit.
Wilde!

 

 

Ihre und unsere Kunststoffe

 

San Francisco, 25. Mai. Eine überraschende Übereinstimmung zwischen Ökotopia und dem heutigen Amerika besteht darin, daß beide riesige Mengen von Kunststoff verwenden. Anfänglich schloß ich daraus, daß sich unsere Lebensweisen im Grunde doch nicht so weit auseinanderentwickelt hätten. Genauere Nachforschungen haben jedoch ergeben, daß die Ähnlichkeiten nur oberflächlicher Natur sind und die beiden Länder Plastik auf ganz unterschiedliche Weise verwenden.

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In Ökotopia werden Kunststoffe ausschließlich aus lebenden biologischen Grundstoffen (Pflanzen) und nicht, wie es bei uns die Regel ist, aus fossilen Stoffen (Petroleum, Kohle) gewonnen. Unmittelbar nach der Unabhängigkeit wurde auf diesem Gebiet eine intensive Forschungstätigkeit entfaltet , die bis heute andauert. Wie es heißt, verfolgte man dabei zwei große Ziele. Zum einen sollte mit geringem Kostenaufwand eine breite Palette der verschiedensten Kunststofftypen hergestellt werden (leichte, schwere, starre, flexible, durchsichtige, opake usw.), und zwar in einer Technik, die ihrerseits nicht zur Umweltverschmutzung führte. Das zweite Ziel bestand darin, sämtliche Kunststofferzeugnisse biologisch abbaubar, d. h. verwesungsfähig, zu machen. Das bedeutete, daß man sie den Feldern wieder als Dünger zuführen konnte, als Nahrung für neue Pflanzen, die man dann wiederum zu Kunststoff verarbeiten würde – in einem endlosen Kreislauf, von dem die Ökotopianer mit beinahe religiösem Eifer als einem System des ›stabilen Gleichgewichts‹ sprechen.

Zu den interessantesten Ergebnissen des angestrebten biologischen Abbaus gehört ein Kunststoff, der nur eine begrenzte Lebensdauer hat und sich nach Ablauf einer bestimmten Zeit oder unter bestimmten Bedingungen von selbst zersetzt. (In ihrer typischen, von der Biologie geprägten Denkweise bezeichnen die Ökotopianer den beginnenden Zerfall derartiger Plastikerzeugnisse als ›Absterben‹.) Aus Kunststoffen dieses Typs stellt man Bierdosen, Behälter für verschiedene Nahrungsmittel, zellophanähnliches Verpackungsmaterial und vieles andere mehr her. Die Materialien ›sterben‹ nach etwas mehr als einem Monat ab, besonders, wenn sie den ultravioletten Strahlen des Sonnenlichts ausgesetzt werden. Ich habe festgestellt, daß die sonst so ordnungsliebenden Ökotopianer ohne Zögern leere Bierdosen auf die Straße werfen (und sie zertreten); sie wissen ja, daß die Überreste innerhalb weniger Wochen zerfallen und die Bestandteile vom Erdboden aufgenommen werden. Aus der gleichen Überlegung heraus wird in ökotopianischen Haushalten Verpackungsmaterial auf den Komposthaufen geworfen, wo es im Zuge des allgemeinen Zersetzungsprozesses zu wertvollem Gartendünger wird.

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Eine andere Entwicklung auf dem Kunststoffsektor brachte eine Vielfalt von haltbaren Materialien hervor, die man in steigendem Maß an Stelle von Metall einsetzt. In der Frühzeit Ökotopias, als eine ausschließlich schrottverarbeitende Metallindustrie die wenigen Berg- und Hüttenwerke ablöste, wurde Metall zu einer echten Mangelware. Ein amüsanter Aspekt dieses Mangels war die landesweite Kampagne, Schrottautos zurückzuschleusen, die genau wie bei uns die Landschaft verunzierten. Die Preise, die für die bis dahin wertlosen Schrotthaufen gezahlt wurden, schössen in astronomische Höhen. Man barg die Wracks aus Flußbetten, schleppte sie von verlassenen Grundstücken, spürte sie in einsamen Scheunen auf und holte sie natürlich von den Autofriedhöfen. Im Rahmen einer parallel dazu laufenden Kampagne wurden mehrere Milliarden Bier- und Sodadosen gesammelt und rückgeschleust.

Die haltbaren ökotopianischen Kunststofftypen, die für Kleinbuskarosserien, Preßhäuser, Münzen, Flaschen und eine Vielzahl von Maschinen verwendet werden, besitzen eine ähnliche Molekularstruktur wie unsere Kunststoffe und sind unter normalen Bedingungen praktisch zerfallsicher – insbesondere, solange sie nicht mit dem Erdboden in Berührung kommen. Aber mittels bislang geheim gebliebener chemischer Neuerungen gelang es ökotopianischen Wissenschaftlern, in die Moleküle sogenannte ›Schlösser‹ einzubauen, die nur von Mikroorganismen im Erdboden ›geöffnet‹ werden können! Ist das Molekül einmal ›aufgeschlossen‹, zerfällt die gesamte Struktur innerhalb kurzer Zeit. In der Praxis bedeutet dieses unheimliche, aber geniale System, daß selbst große Kunststoffgegenstände allmählich zerfallen, wenn sie über längere Zeit mit feuchter Erde in Berührung kommen. Gewöhnlich zerkleinert man aber die Plastikgegenstände, die für das Recycling vorgesehen sind, in handliche Stücke und wirft sie in sogenannte ›Biofässer‹ – riesige Bottiche, die mit einem speziellen Erdbrei gefüllt sind, der einen guten Nährboden für die Mikroorganismen abgibt. Nach einiger Zeit werden die Ergebnisse des Verwesungsprozesses zu Schlamm getrocknet und als Dünger wieder dem Boden zugeführt. (In solche Fässer wird der Inhalt der mit ›P‹ bezeichneten Abfallbehälter gekippt.)

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Trotz ihrer offensichtlichen Vorzüge aber zeigen sich nicht alle Ökotopianer von den Kunststoffen beeindruckt, besonders diejenigen nicht, die in Holz vernarrt sind. Man erkennt natürlich an, daß Kunststoff formbarer, widerstandsfähiger, flexibler und häufig auch haltbarer ist als Holz. Die Radikalen protestieren jedoch weiterhin gegen jede Verwendung von Kunststoffen, da sie der Überzeugung sind, daß es sich dabei um unnatürliche Materialien handelt, für die in einer ökologisch vollkommenen Welt kein Platz ist. Diese Puristen wollen ausschließlich in Holzhäusern leben und verwenden nur Behältnisse wie Holzkisten, geflochtene oder gewebte Taschen und Tontöpfe. Die Befürworter von Kunststoffen bringen ihrerseits zahlreiche stichhaltige wirtschaftliche Gründe vor und sind meiner Ansicht nach auch relativ erfolgreich in ihrem Bemühen gewesen. Plastikarten herzustellen, die für das Auge und den Tastsinn kaum noch Kunststoff-Charakter haben.

Doch trotz der unbestreitbaren wissenschaftlichen Fortschritte auf dem Gebiet der Kunststoffherstellung habe ich den Eindruck, daß Ökotopias Zukunft den Puristen gehört. Denn hier wie in so vielen anderen Lebensbereichen besteht noch immer eine starke Tendenz, sämtliche Errungenschaften der modernen Technik abzulehnen – gleichgültig, wie harmlos sie sein mögen –, und statt dessen lieber den romantischen, aber kostspieligen Schritt zurückzutun zu dem, was die Radikalen den ›Naturzustand‹ nennen.

 

(26. Mai) Bekam heftigen Streit mit Bert wegen des Artikels über die rituellen Kriegsspiele – nicht über den Artikel selbst, sondern darüber, daß ich ihn nicht, wie verabredet, mit ihm durchgesprochen hatte. "Verkriechst du dich immer und machst alles ganz allein?" fragte er verärgert. "Hast du keine Angst, daß du etwas übersehen könntest? Offenbar weißt du nicht, wie fruchtbar kollektive Arbeit sein kann?" "Na ja", verteidigte ich mich, "ich war sehr in Eile, und du warst nicht da und –". "Ich scheiße auf deine Ausreden", sagte er grob. "Ich habe mich erboten, mit dir zusammenzuarbeiten wie ein Bruder. Das war wichtig. Hast du überhaupt eine Vorstellung davon, wie konkurrenzwütig und einzelgängerisch du in unseren Augen wirkst?" 

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Er war wütend, und ich hatte das unangenehme Gefühl, daß er recht hatte – ich hatte eine wichtige Gelegenheit verpaßt. Wir sprachen eine Weile miteinander, und ich erklärte ihm, daß es mir leid tue, aber es wird einige Anstrengung kosten, bis wieder eine Vertrauensbasis zwischen uns hergestellt ist. Was mich mehr betrübt, als ich erwartet hätte; wir sind Freunde geworden.

Vermisse die Kinder dieses Mal sehr viel mehr als sonst auf meinen Reisen und kann mir nicht erklären, warum. Ich vernachlässige sie, weiß Gott, wenn ich zu Hause bin – streiche meine Wochenenden mit ihnen, sobald irgend etwas Ungewöhnliches im Gange ist, und versuche dann, es mit Geschenken wiedergutzumachen. (Habe ihnen allerdings in Ökotopia noch nichts gekauft – hier gibt es nichts, das sich mitzubringen lohnte. Oder besser gesagt, es gibt hier viele lohnende Dinge, aber keines davon kann man kaufen oder mitnehmen.)

Es müßte schön sein, wenn ich sie jetzt bei mir hätte, wenn sie sehen könnten, was ich sehe, und meine Bekannten kennenlernten. Was sie wohl von Marissa halten würden? Sie jedenfalls würde sofort genau wissen, woran sie mit ihnen ist, auch daß sie ziemlich verzogen sind (womit sie bei ihr gerade an der richtigen Adresse wären!), sie würden sie respektieren und mögen. Als Fay ungefähr sechs war, sagte sie einmal, daß sie kein Vertrauen zu Francine habe. Zu Marissa kann man leicht Vertrauen haben. Aber sie läßt einen niemals darüber im unklaren, daß ein Risiko damit verbunden ist...

Habe mich heute früh mit Kenny unterhalten, einem kleinen Jungen, der im Cove wohnt. Seine Mutter ist für eine Woche nicht da, und ich habe ihn gefragt, ob er sich einsam ohne sie fühle. "Warum soll ich einsam sein? Die anderen sind doch alle da." Mir ist plötzlich zum Heulen, weil die Kinder so weit weg sind und ich nicht bei ihnen bin, weil sie ein Leben leben, daß schließlich gefährlich ist und immer gefährlicher wird. Nicht nur wegen der Kriminalität und der verrückten Leute überall um sie herum, sondern weil abzusehen ist, daß Smog und Chemikalien noch unsere Kindeskinder vergiften werden. (Oder hat man in New York und Tokio vor, eine Mutantenrasse zu züchten, die Kohlenmonoxyd atmen kann?)

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Wie sähe ihr Leben aus, wenn sie in Ökotopia geboren wären? Kein Ballettunterricht, keine Tretautos, keine Einkaufsexpeditionen in Warenhäuser. Sie würden in Gärten, Läden und Schulen harte Erwachsenenarbeit leisten. Sie würden in einem Durcheinander von einem Dutzend oder mehr Leuten leben, wären einer Fülle von sexuellen Stimmungen und Erlebnissen ausgesetzt, die sie früher erwachsen – und wahrscheinlich auch innerlich stärker – werden ließen, obwohl mir die Vorstellung Angst macht. (Ich möchte, daß sie behütet aufwachsen.) Aber ich muß zugeben, daß dies eine realere Welt wäre als New York. Mit einem gesünderen Verhältnis zu den grundlegenden natürlichen Vorgängen und den Schwierigkeiten des Zusammenlebens. Es würde einen unglaublichen Umschwung in ihrem Leben bedeuten. Aber wer weiß, vielleicht wäre es gut für sie.

 

Einige Randnotizen, die nicht in meine Pläne für die Artikelreihe passen:

Habe herausbekommen, was es mit den Kleidern auf sich hat, die aussehen wie nasse Anzüge. Die Leute nennen sie ›Vogelanzüge‹ – und sticken auch oft Vögel darauf; oder ›Unitards‹. Eigentlich aber keine Uniformen, sondern eine völlig neue Art von Kleidung. Viele Ökotopianer mögen sie nicht, trotz ihrer praktischen Vorteile. (›Vogelanzüge‹ deshalb, weil sie eine fast ebenso gute Körperbedeckung sein sollen wie die Federn eines Vogels!) Hergestellt aus irgendeiner neuartigen Mischfaser – unklare Geschichte, einige sagen aus Keratin, was bedeuten würde: aus Knochen, Hufen, Haaren – andere glauben, sie sei aus Holzfasern. Auf jeden Fall ist die Innenschicht gewebt, dick, flauschig (einen halben Zentimeter dick).

Die Eigenschaften, die dem Anzug nachgesagt werden, klingen geradezu märchenhaft: wenn es regnet, quillt die Außenschicht aus Baumwollfasern auf und wird so dicht, daß der Regen abperlt; wenn es warm ist, glätten sich die Fasern der Innenschicht und werden luftdurchlässiger, so daß die Körperwärme schneller abgeleitet wird; bei Kälte kräuseln die Fasern sich, lassen weniger Luft durch und speichern so die Körperwärme! (Aus diesem Grund müssen die Anzüge offenbar hauteng sein.) Eine zusätzliche weiche Innenschicht sorgt dafür, daß die Anzüge sich angenehm auf der Haut tragen. Ich habe sie probiert und sogar zwei gekauft, um sie mit nach Hause zu nehmen – wenn ich mich auch nicht gerade damit auf den New Yorker Straßen blicken lassen möchte! Es wird interessant sein, sie bei unseren Minustemperaturen zu testen – werde aber vorsichtshalber noch einen Mantel mitnehmen.

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›Präventives Transportmittel‹ – so beschreibt Dr. Jake, Marissas Cousin, Zyniker, dabei aber Optimist, das Fahrrad. Er behauptet, daß jede Herzattacke die öffentliche Gesundheitsfürsorge, die Wohngruppe des Patienten, die Arbeitsgruppe des Patienten usw. ungefähr ein bis zwei Jahresgehälter kostet. Für einen verhinderten Herzanfall kann man also an die 500 kostenlos zur Verfügung stehende Provo-Räder anschaffen. Abgesehen davon ist das Fahrrad seiner Meinung nach ein ästhetisches Fahrzeug, vom Energieverbrauch pro Person und Kilometer her gesehen das effektivste Fortbewegungsmittel überhaupt – selbst Jumbo Jets verbrauchen, wie er sagt, mehr Energie. (Er musterte mich wie einen medizinischen Fall und meinte, für einen Amerikaner sei ich in gar keiner so schlechten Verfassung. "Noch einige Wochen Aufenthalt hier, und Sie werden sich wahrscheinlich lebendiger fühlen. Das Essen, die Luft, die bessere Einstellung zu sich selbst." "Was meinen Sie damit?" "Daß Sie sich als animalisches Wesen auf dieser Erde begreifen lernen, so wie wir es tun. Man fühlt sich wohler dabei als bei Ihrer Lebensweise." "Nun, wir werden sehen", sagte ich.)

Notiz über den Außenhandel: Kautschuk kommt aus Vietnam und Indonesien. Kunststoff und Maschinen zur Kunststoffherstellung scheinen die wichtigsten Exportgüter zu sein. Einige elektronische Geräte werden aus Japan importiert. Bücher, Schallplatten, Videoplatten, Musiker, Künstler aus der ganzen Welt – mit Ausnahme der Vereinigten Staaten! Wie machen sie das nur?

Hübsche Sache gestern abend: Bert machte sich über den alten Dupont-Slogan lustig: ›Schönere Dinge für ein schöneres Leben durch Chemie.‹ "Alles, was dabei herauskam, war Nylon, Orion und die völlige Prostitution des Staates Delaware", erklärte er. "Wir wollen ein schöneres Leben durch Biologie. Wir denken nicht in Kategorien von ›Dingen‹, ein ›Ding‹ für sich gibt es nicht – es gibt nur Systeme." Zum ersten Mal hörte sich das für mich nicht wie Geschwafel an. Es würde auch für mich zutreffen: ich bin Teil von Systemen; niemand, nicht einmal ich selbst, kann mich aus diesen Systemen als Einzelwesen herauslösen. (Diese Erkenntnis wurde von einem ozeanischen Gefühl begleitet, das nicht unangenehm war. Hmm?)

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Ein unerträglich selbstgefälliges Volk: ein Grünschnabel von kaum 20 Jahren erklärt mir, "Autos sind derartig kuriose Überbleibsel aus dem 19. Jahrhundert – warum hängen Sie bloß so daran?" Dennoch sind die Ökotopianer in gewisser Beziehung echte Amerikaner. Mit einem merkwürdig französischen Einschlag – Dinge wie Zugfahrpläne und Preislisten sind streng systematisch aufgebaut. Vielleicht ist die intellektuelle Disziplin ein notwendiges Gegengewicht zur Zwanglosigkeit und Entspanntheit im persönlichen Bereich?

Geld: Als ich die ökotopianischen Banknoten zum ersten Mal sah, kamen sie mir komisch vor. Jetzt, nach drei Wochen, finde ich sie aber reizvoller als die grünen Lappen in meiner Brieftasche. Sehr romantisch aufgemacht: üppige Rousseausche Szenen, fast tropisch, mit seltsamen Tieren und phantastischen Pflanzen. Keine Abbildungen berühmter ökotopianischer Staatsmänner – auf die Frage, warum nicht, lachen die Leute nur. Vielleicht eine Konsequenz ihrer entspannten Haltung zum Geld, die nur seinen Nützlichkeitswert kennt – sie bündeln es zu Rollen und werfen es einander so lässig zu, wie ich es bisher nur bei Spielern beobachtet habe.

Wohnungseinrichtung: In ökotopianischen Häusern sieht man kaum Möbel aus dem Laden. Es gibt Matratzenbetten auf dem bloßen Boden, riesige, primitive Bettgestelle aus schweren Holzbrettern – wie bei den alten Wikingern; es gibt Häuser ganz ohne Betten, nur mit Bettrollen, die nach japanischer Art abends hervorgeholt werden. Aber richtige Betten, wie sie bei uns üblich sind, mit Rahmen, Querleisten, Metallfedern und einer Sprungfedermatratze findet man nirgends!

Habe inzwischen mehrere ökotopianische Familiengruppen besucht und staune immer wieder über die Ruhe, die dort herrscht. Nach der Unabhängigkeit wurden, wie man mir sagt, große Anstrengungen unternommen, die Dinge geräuscharm zu machen, und man hat eine Menge Arbeit investiert, um praktisch lautlose Versionen vieler Maschinen und Geräte zu entwickeln.

So sind ihre Kühlschränke, die bei uns Tag für Tag ihr Rattern, Rütteln, Ächzen und Rumpeln produzieren, geräuschlose Modelle, die auf der Basis von Haushalt-Methangas aus septischen Tanks arbeiten. (Äußerst einfache Konstruktion, zwar nicht frostfrei, aber sehr sparsam im Energieverbrauch, wie man mir erklärte).

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Das Auto, die andere große Quelle städtischen Lärms, wurde selbstverständlich abgeschafft. Waschmaschinen und Wäscheschleudern, die nicht geräuschlos arbeiten können, sind für gewöhnlich außerhalb des Wohnhauses in einem separaten Häuschen untergebracht. Spülmaschinen, vielleicht unsere größten Nervtöter, werden überhaupt nicht hergestellt.

Sollte ich mich je an die Stille gewöhnen können, wird es vielleicht ganz angenehm sein, ausschließlich natürlichen Geräuschen ausgesetzt zu sein – dem Wind, der Musik aus Nachbarhäusern, Schritten, dem Weinen von Säuglingen ...

 

Ich frage mich, wie ich draußen im Waldcamp je etwas zu Papier bringen soll. Wenn ich dort bin, bedrängen mich Marissas Freunde, weil ich mich nicht an allen ihren Arbeiten beteilige. Selbst sie, die meine Situation doch kennt, meint, daß ich stärker mitarbeiten solle. Ich war schockiert, als ich erfuhr, daß sie praktisch ihrer gesamten ›Familie‹ zahlreiche Details über unsere Beziehung erzählt hatte. "Hast du denn überhaupt kein Gefühl fürs Privatleben?" fuhr ich sie an. Wütende Reaktion ihrerseits. "Was soll das heißen? Diese Leute leben mit mir zusammen und lieben mich. Es ist ganz natürlich, daß sie wissen wollen, was mit mir los ist! Also erzähle ich es ihnen. Sie sagen mir, was sie davon halten, geben mir Ratschläge, beobachten mich, und ich sehe mich durch ihre Augen genausogut wie durch meine." "Es gefällt mir aber trotzdem nicht. Du hättest mir wenigstens vorher sagen können, daß du mit ihnen darüber sprechen wolltest." Noch größere Wut. "Sag mal, schämst du dich etwa unserer Beziehung? Was ist so schlimm daran, wenn ich anderen Leuten davon erzähle?"

Wir versöhnten uns schließlich wieder. Ich sah allmählich ein, daß ich ein übertriebenes Bedürfnis habe, romantische Regungen für mich zu behalten, und ihr habe ich, glaube ich, klarmachen können, wie fremd mir die Sitten hier sind. Sie geht immer davon aus, daß ich mich ohne weiteres völlig integrieren könne. Ärgerlich – obwohl es auf der anderen Seite auch ein schönes Gefühl ist, wenn es mir tatsächlich einmal gelingt, wenn ich z. B. eine Arbeit leiste, für die ich gelobt werde, oder wenn ich wirkliches Einfühlungsvermögen für die Entwicklung einer zwischenmenschlichen Beziehung zeige.

Würde wahnsinnig gern mehr Zeit mit Marissa verbringen, aber die meisten meiner Informationsquellen befinden sich hier in der Stadt. Es tut weh, mit ihr am Bildtelefon zu sprechen und sie nicht berühren zu können. Aber sie will noch nicht sofort wieder herkommen. Vielleicht fahre ich heute abend raus, wenigstens für eine Nacht.

Mir ist klar geworden, daß etwas Beängstigendes darin liegt, in einem so engen Verhältnis zur Natur zu leben wie die Ökotopianer. Bin mir nicht sicher, wie ich es bewältigen würde. Ihre kleinen Weihestätten sind allerdings keineswegs nur Ausdruck frommer Natur Verehrung. Es gibt sogar eine, die an einen berühmten Mord erinnert – durchaus vergleichbar wohl unserem Tombstone-Mythos –, die meisten aber sind Geistern geweiht, von denen man glaubt, daß sie über besonders schöne Zeiten und Ereignisse im Leben gewacht haben (manchmal auch über sehr traurige, etwa den Tod eines Kindes). 

Bei einigen handelt es sich um nicht viel mehr als um ein Stück Holz, in das ein Gedicht eingeritzt ist und das bald vermodern wird – aber das ist offenbar Teil der Tradition. "Sie sind wie Strohhalme", erklärte mir ein junges Mädchen, "sie stehen eine Zeitlang da, und man sieht, daß hier einmal etwas gewachsen ist, aber eine Jahreszeit folgt auf die nächste." Meine liebste Weihestätte bis jetzt ist ein geschmackvoll verziertes Labyrinth aus schimmernden Austernschalen. Es befindet sich auf einem Hügel, von dem aus man das Meer überblickt, und in seiner Mitte steht auf einem Stück Treibholz geschrieben:

Sonne, hier haben wir dich untergehen sehen
Als sei es das letzte Mal gewesen.
Wir danken dir für den Morgen.

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